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KRITERION, Nr.5 (1993), pp.16-30
Christoph Landerer
BERNARD BOLZANO, EDUARD HANSLICKUND DIE GESCHICHTE DES MUSIKÄSTHETISCHEN OBJEKTIVISMUS
ZU EINEM KAPITEL (ALT)ÖSTERREICHISCHER GEISTESGESCHICHTE
1. "Vom Musikalisch-Schönen"
1. Vorbemerkungen
Der allgemeine Trend zur Objektivierung der philosophischen Kunstbetrachtung, der in der ersten Hälftedes 19. Jahrhunderts einsetzt und schließlich zur
Ausbildung spezieller phänomenologischer undstrukturalistischer Methoden (auf deren grundsätzliche Ähnlichkeit 1. Hroch in einem in dieser Nummervon Kriterion abgedruckten Artikel hinweist) führt,markiert sicherlich einen der geistesgeschichtlich be
deutendsten Einschnitte in der Entwicklung der neuzeitlichen Ästhetik. Als Gegenbewegung zur subjek
tivistisch-psychologischen Kunstbetrachtung, die inGestalt der Affektenlehre das Feld der musikästhetischen Auseinandersetzung noch im 18. und frühen19. Jahrhundert vollständig dominierte, sind sich so
wohl Phänomenologie als auch Strukturalismus darineinig, daß philosophisch-ästhetische und psychologische Betrachtungsweise streng voneinander geschieden werden müssen. Wenn Jan Mukarovsky, dasHaupt der tschechischen Strukturalistenschule, betont, daß "das Kunstwerk ... sich weder mit dem Seelenzustand seines Schöpfers noch mit irgendeinemder Seelenzustände identifizieren [läßt], die es beiden Subjekten hervorruft, die es wahrnehmen, wiedie psychologische Ästhetik dies wollte" I , so sprichter damit eine Überzeugung aus, der sich auch die
Vertreter einer phänomenologisch orientierten Ästhetik verpflichtet fühlen. Daß die tschechische Variantedes Strukturalismus vor allem auch in der Traditionder "Prager ästhetischen Fonnschule" steht, die maßgeblich an Herbart anschließt, wird von Hroch besonders hervorgehoben. Ich möchte hier versuchen zu
zeigen, daß die formal-objektive Betrachtungsweise,
die in der Ästhetik meist mit dem Namen Herbartsverbunden wird und sich in Österreich durch die offizielle Förderung der Herbartsehen Philosophie aufbesondere Weise entfalten konnte, daneben aber aucheine bedeutende und meines Wissens völlig übergangene spezifisch österreichische, ja sogar Prager Wur
zel hat, die sich über Vermittlung der sicherlich einflußreichsten musikästhetischen Schrift des 19. Jahr-
1. Mukarosky (KsF), p.138.
16
hunderts, Eduard Hanslieks Vom Musikalisch-Schö
nen, auf den Objekivismus Bemard Bolzanos zurückfuhren läßt und damit die formalästhetische Betrachtung direkt mit der Tradition phänomenologischer
Forschung verbindet.
2. Hanslick, der Reaktionär
Wer war Eduard Hanslick? Im Musikunterricht anösterreichischen Gymnasien begegnet uns Hansliek je nach Parteinahme des unterrichtenden Professors meist entweder in Gestalt des ebenso kleinlichen wiekleingeistigen musikalischen Prinzipienreiters Beckmesser, mit dessen Figur ihm Richard Wagner in denMeistersingern ein wenig ehrendes Denkmal gesetzthat (in früheren Prosaentwürfen findet man"Hanslich" bzw. "Veit Hanslich" an der Stelle des
Namens "Beckmesser") oder - was seltener vorkommt - als wahrscheinlich bedeutendster Musikkritiker des 19. Jahrhunderts und frühzeitliche Gründungsgestalt der österreichischen Musikwissenschaft
(der Jurist Hansliek hatte seit 1856 den ersten Lehrauftrag für Musik an der Wiener Universität, einePrivatdozentur "für Geschichte und Ästhetik der Musik", die 1870 in eine ordentliche Professur umgewandelt wurde), die gegen Ende des 19. Jahrhundertsdurch die Juristen Guido Adler und Richard Wallaschek ihre systematische Fassung erhielt. Eine gerechte und einigennaßen ausgewogene Beurteilungder Person Hanslieks und seiner musikästhetischtheoretischen und musikkritisch-praktischen Leistungen ist schwierig. Das Bild Hanslieks ist auch inÖsterreich bis heute durch die Bewertung seiner Kritiken als reaktionär und den Vorwurf des Festhaltensan einem überkommenen Schönheitsbegriff. den man
dem Ästhetiker gemacht hat, getrübt. Das Urteil, dasHans Sachs in den Meistersingern über Beckmesserfällt, "so ganz boshaft noch keinen ich fand", ist zumdominierenden Merkmal der gängigen Hanslick-Auffassung geworden und hat eine unvoreingenommeneund sachlich-kritische Auseinandersetzung mit Werkund Person bis heute entscheidend erschwert. Im Musikunterricht lernt man Hansliek in der Regel als jenen Mann, der den Österreichern ihren Bruckner
BOLlANO, HANSLICK UND DIE GESCHICHTE DES MUSIKÄSTHETISCHEN OBJEKTIVISMUS
vermiesen wollte und überhaupt als Spaßverderberkennen; "Schumann vermochte mit seinen Kritikendem jungen Brahms den Weg zu ebnen, Hansliek dagegen Wagner und Bruckner den Weg zu erschweren", hieß es dazu in meinem Schulbuch lapidar undan anderer Stelle erfahren wir - im wohltuend sachlichen österreichischen Schulbuch-Stil der sechzigerJahre (mein Schulbuch ';Musik in Europa", Bd.2,
durfte 1982, als ich danach unterrichtet wurde, gerade sein silbernes Verwendungsjubiläwn feiern):
Es wirkt wie ein Wunder, daßauf den nachtschwarzen"Tristan" die sonnenhellen "Meistersinger von Niirnberg" folgten. In einer Zeit der Sorge geschrieben, daWagner unruhig in Deutschland und Frankreich umherwanderte, entstand ein großer Teil der Vertonungin Biebrich am Rhein; auch in Wien arbeitete er andem Werk. Hier erregte er durch die Vorlesung desTextes in einem Privathaus den Haß des KritikersEduard Hanslick, der sich in der Gestalt des Stadtschreibers und Merkers Beckmesser getroffen fühlte.
Sonst erfahren wir nichts über Hanslick, und bei solcher Aufnahme kann es nicht verwundern, daß überden bedeutendsten Musikkritiker und MusikästhetikerÖsterreichs, als den wir Hansliek unbestritten ansehen müssen, allgemein recht wenig bekannt ist. Einehistorisch-kritische Gesamtausgabe seiner Schriften wie sie seit den zwanziger Jahren immer wieder gefordert wurde - wird erst seit diesem Jahr 0) verlegt,die historisch-kritische Ausgabe seiner ästhetischenHauptschrift Vom Musikalisch-Schönen erschien1990, Hanslieks Lebenserinnerungen werden seit1987 wieder aufgelegt. Das Bild des "verbohrt konservativen FeWkritikers", wie es etwa auch eine derwenigen Kritikensammlungen (ein Buch der"Österreich-Reihe" mit dem unverfänglichen Titel"Also sprach Beckmesser") lancierte, hat seine Wirkung gründlich getan.
Wie auch immer man zu Hansliek stehen mag, einegenauere Lektüre seiner Kritiken ergibt jedenfalls,daß er - den die musikpädagogische Überlieferungnur als erbitterten Gegner Wagners und Brucknersund ebenso entschiedenen wie unkritischen FörderetBrahms' kennt - sich durchaus ein differenzierteresUrteil erlaubt, manche Werke Wagners wie Bruckners günstig und wohlwollend besprochen hat undsich auch sonst - vor allem durch mehrmaligen persönlichen Einsatz für die insgesamt freilich überwiegend ungünstig Rezensierten- - nicht ins gängige
2. So setzte sich Hansliek etwa persönlich für Brucknerein, als diesem die Ehrendoktorwürde der WienerUniversität verliehen werden sollte und erreichte gegenstarke Widerstände, daß anIäßlich der Eröffnung der
17
musikalische Wadibeißer-Bild fügt. Auch heute aberist das musikalische Lagerdenken im Fall Hanslieksnoch nicht endgültig überwunden, sodaß wir - zusätzlich erschwert durch den Umstand, daß eine historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Schrifteneben gerade erst erarbeitet wird - uns an ein auch nuransatzweise abschließendes Urteil über HanslieksLeistungen als Musikkritiker und "Reformator derÄsthetik" und die Bedeutung und Berechtigung seiner musikpraktischen wie musiktheoretischen Tätigkeit eigentlich noch nicht heranwagen dürfen. Derfreilich Hansliek-freundlich gesinnte Hans Weigelmeint dazu: "Man weiß heute zuwenig über Hansliek.Man ist der Suggestion erlegen, die das Heerlager derWagnerianer verbreitete und verbreitet. Man sieht inHansliek einen Typus: den gehässigen, voreingenommenen, heimtückischen, böswilligen, übelwollenden Reaktionär'": Daß eine solche Auffassungauch eine allgemeinere Berechtigung haben dürfte,läßt sich schon daran ersehen, daß Friedrich Blwne inseinem im bedeutendsten deutschsprachigen musikwissenschaftlichen Nachschlagewerk Musik in Geschichte und Gegenwart abgedruckten Hanslick-Artikel eine ähnliche Meinung vertritt:
Die geschichtliche Gestalt Hanslieks ist der Nachweltzumeist im Zerrspiegel kenntnisloser Entstellung oderübelwollender Verunglimpfung überliefert worden.Der bittere Haß R. Wagners hat den Schwarm seinerAnbeter veranlaßt, Hansliek mit der verbohrten Engstirnigkeit der Proselyten zu verfolgen. Dadurchwurde der Fall Hansliek zum Schulbeispiel dafür, wieverfälschende Propaganda über fast einhundert Jahrehin kaum je nachgeprüften Urteilen zu allgemeinerGeltung verhilft."
Ein solches Zerrbild scheint mir auch im Urteil vonJanikfToulmin in ihrem ansonsten überaus lesenswerten und kenntnisreich verfaßten Wittgenstein 's Vien-
Wiener Hofoper unter den Büsten großer Komponistenauch die Büste Wagners im Foyer aufgestellt wurde. Inseinen Lebenserinnerungen schreibt Hansliek immerhin:"Das wissen wir sehr gut, daß Wagner der größte lebendeOpern-Komponist ist und der einzige, von dem in historischem Sinn ernsthaft die Rede sein kann. Er ist dereinzige deutsche Komponist seit Weber und Meyerbeer,den man aus der Geschichte der dramatischen Musik nichtwegdenken kann. Selbst Mendelssohn und Schumann, vonRubinstein und den Neueren nicht zu reden, können wiruns wegdenken. ohne daß in der Geschichte der Oper eineLücke entstünde. Zwischen diesem Zugeständnis und derwiderwärtigen Vergötterung, die mit Wagner getrieben undvon ihm patronisiert wird, liegt freilich eine unendlicheKluft." ((AmL), pA71)3. (AM), p.332.4. (EH), p.1485.
KRITERION
na vorzuliegen, die Hansliek in einem Atemzug mit
dem Arrangeur grob-deftiger historischer Schlacht
platten Makart nennen und es zum Paradoxon erklä
ren, daß Hansliek für Wagners Tannhäuser stets ein
günstiges Urteil reservieren konnte, während die nach
dessen Wotanscher Wende komponierten Bühnen
werke in seinen Kritiken auf schärfste Ablehnung
stießen.
In music as in painting the voice of mediocrity, personified in Hansliek and Makart, was able to dictateto Viennese society as a whole critical standards andjudgments that were for the most part sterile and academic. And Hansliek too was himself a part of theaustrian paradox: in an enthusiastic review of Tannhäuser in 1846, this champion of Brahms has beenamong the first to sing the praises of Richard Wagner,whose archenemy he later became. In a city thatprided itself as a matrix for cultural creation, life wasthus made as difficult as possible for real innovators.P
Wer je sowohl Tannhäuser als auch eine Oper aus
dem Ring-Zyklus gehört hat, wird bestätigen können,
daß diese Werke durchaus nicht aus dem gleichen
musikalischen Holz geschnitzt sind. Auch versteht
sich eigentlich von selbst, daß es nicht das Geschäft
des Kritikers sein kann, alle Werke eines Komponi
sten, zumal dann, wenn es sich um Arbeiten aus un
terschiedlichen Personalstilphasen handelt, über ei
nen Leisten zu scheren. Wie darin ein "austrian para
dox" gesehen werden kann, ist mir unverständlich.
Etwas einem "Paradoxon" zumindest Angenähertesläßt sich da schon eher darin erblicken. daß der ehe
malige "Davidsbündler" Hansliek in dem relativ kurzen Zeitraum zwischen dem Revolutionsjahr 1848
und 1854, dem Erscheinungsdatum von Vom Musikalisch-Schönen (in der Folge VMS) seine musikästhe
tischen Ansichten von Grund auf änderte und von der"Fortschrittspartei" ins Lager des musikalischen
Akademismus überwechselte. Aber warum sollte man
ihm nicht zugestehen dürfen, "über Nacht klüger"
geworden zu sein?
Die Gleichbehandlung von Hansliek und Makart,wie sie JanikfToulmin - die uns schon durch die be
harrliche, anglophonen Lesern gewiß gefälligere
Schreibweise "Edward" anstelle von "Eduard" ihrer
intimen Vertrautheit mit der Materie versichern (da
die Autoren dabei mehrmals aus Eduard Hanslieks
Hauptschrift Vom Musikalisch-Schönen zitieren, darf
man als gesichert annehmen. daß nicht ein zufällignamensähnlicher Ästhetiker. sondern tatsächlich der
Verächter Dick Wagners und Verherrlicher Johnny
5. Janik/Toulrnin (VV). p.35.
18
Brahms' Gegenstand ihrer Ausführungen ist) - pro
pagieren, ist zumindest grob ungerecht, überdies auch
äußerst irreführend. Makart, der Maler des Über
schwangs, der "Gefühlsfarben" (Ludwig Hevesi), der
Arrangeur monströser Festumzüge, war mit seinen
von Dekor und Kostüm überbordenden, in Gold und
Brokat erstickten Historienschinken und Riesenlein
wänden die perfekte Personifikation jenes ästheti
schen Sensualismus und jener künstlerischen Maß
losigkeit, die Hansliek - in einer anderen Kunstgat
tung - aufs entschiedendste bekämpfte. Es kann da
her auch nicht verwundern, wenn über Makart, mit
seinem Hang zur Inszenierung und zum Überschrei
ten der Grenzen der Einzelkünste noch am Ausgang
seiner Epoche geurteilt wurde: "einer allein, in einer
anderen Kunst, kommt ihm an dämonischem Ratten
fängergenie gleich: Richard Wagner'". Die Aufnah
me, die Makarts Werke im damaligen Wien fanden,
ist ein äußerst anschauliches Beispiel für jeneEinstellung der Kunst gegenüber, die Hansliek als
"bloß pathologisch" und als Ausdruck der "Lust am
Elementarischen" ansah und der er den "rein geisti
gen Genuß" der ästhetischen Qualitäten entgegen
stellte. "Ohne geistige Tätigkeit gibt es überhaupt
keinen ästhetischen Genuß", betont Hansliek7 . Daher
wird "Hörern, deren geistige Tätigkeit gering ist, der
Genuß leichter, und solche Musikbolde können Mas
sen von Musik verzehren, vor welchen der künstlerische Geist zurückbebt.t" 9
6. Ludwig Hevesi, zit. nach Sotriffer (DaK), p.SS.7. (VMS), p.78.8. ebd., p.79.9. Als Prototyp des sensualistischen, gefuhlsorientiertenMusikhörers, gegen den Vom Musikalisch-Schönen gerichtet war, gilt Ferdinand Graf Laurenein d'Armond, ein Kritikerkollege und Freund Hanslieks, dessen recht eigenenZugang zu musikalischen Produktionen Hansliek in seinenLebenserinnerungen schildert. Der Kuriosität halbermöchte ich einige Passagen davon ausführlicher zitieren."Laurencin ... konnte unglaubliche Massen von Musik ertragen, mit der gleichen Empfänglichkeit. Selbst die allerbekanntesten Werke wie Beethovens Quartette op.18 oderMozarts G-Moll-Symphonie verfolgte er in jeder Aufführung eifrig mitlesend in der Partitur. Dabei kritzelte er unaufhörlich mit seinem Bleistift Notizen, deren Inhalt ichniemals enträtseln oder erfahren konnte. Bei jeder schönenStelle, und deren gab es für Laurenein sehr viele, nickte ervergnügt mit dem Kopf, tat einen Ausruf des Entzückens.schmunzelte, lachte und setzte seinen Bleistift in wütendeBewegung. Seine musikalische Empfänglichkeit und Begeisterung kannte keine Grenzlinie. Eine kanonischeStimmführung in irgendeiner unbedeutenden SchulmeisterMesse, eine sentimentale Modulation von Spohr, der gewaltigste Bachsehe Choral und Beethovens neunte Symphonie - alles tauchte den beneidenswerten Mann in die
BOLZANO, HANSLICK UND DIE GESCHICHTE DES MUSIKÄSTHETISCHEN OBJEKTIVISMUS
3. Hansliek. der Fortschrittliche
Hanslieks Schrift ist vielleicht überhaupt das erstebedeutende Dokument einer Opposition gegen denoberflächlichen Sensualismus, die Freude an Ver
kleidung und Effekt, das Vergnügen am ästhetischenSinnenkitzel, am Augen- und Ohrenschmaus, die imWien des 19. Jahrhunderts eine besondere Blüte hatten und der letztlich auch die entscheidendsten Neuerungsimpulse, wie sie am Ende des Jahrhunderts vonKraus, Loos und Schönberg ausgegangen waren, zuverdanken sind. Betrachtet man die - wesentlich frü
heren - Attacken Hanslicks, die, da sie nicht dasösterreichische, sondern vornehmlich das deutscheMusikestablishment trafen, hierzulande kaum als besonders "progessiv" gelten konnten, in diesem Licht,so wird vielleicht etwas leichter verständlich, wes
halb Schönberg, wie JanikJToulmin mit Verwunderung bemerken ("one of the curiosities of Viennesecultural history is the fact that the theories by whichAmold Schönberg created a revolution in composition are so strikingly in accord with those of the conservative critic Hanslick"10, auf seine Weise an
Hansliek anschließen konnte. Schönberg gab sich allergrößte Mühe, seine Kompositionstechnik: als in derTradition Brahms' (!) stehend darzustellen. Zu diesem Zweck verfaßte er gar einen Aufsatz mit dem Titel "Brahms, der Fortschrittliche", der dem Nachweisdienen sollte, "daß Brahms, der Klassizist, der Aka-
gleiche Flut von Entzücken. ... Laurenein schrieb unterdem Namen Philokales in der »Wiener Musikzeitung« vonAugust Schmidt und versah sie insbesondere mit Berichtenüber die Kirchenmusik-Aufführungen. Er hatte einen Artikel über Mendelssohns »Elias« angekündigt, von dessenSchönheit er ganz erfüllt war. Der Gewalt seiner Empfmdung entsprach aber leider auch ein in Superlativen überströmender, sich in den längsten Perioden fortwindenderStil. Laurenein hatte viel Hegel gelesen, was schwerlichzur Klärung seiner etwas konfusen Darstellungsweise beitragen konnte. Da begarm er nun mit einer lange philosophischen Untersuchung des Begriffs »Oratorium«, welchemehrere Nummern der Zeitung füllte, dann folgte ein historischer Rückblick, abermals von ansehnlicher Länge,endlich war er bei der Ouverture angelangt und kam unterder bedrohlich anwachsenden Ungeduld der Leser und derRedaktion nicht vom Fleck mit seiner gründlichen Analyse. Der Aufsatz gelangte ungefähr bis zur Kritik der zweiten oder dritten Nummer des Oratoriums - Ja riß dem guten August Schmidt die Geduld: er strich das fürchterliche»Forrsetzung folgt« unbarmherzig von dem Manuskriptund versetzte dem bestürzten Grafen den vernichtendenBescheid: »Jetzt ist's aus.« Es ist niemals eine Fortsetzungdes großartigen »Eliaso-Artikels erschienen" ((AmL),p.89f.)10. (VV), p.l 06.
19
demische, ein großer Neuerer, ja, tatsächlich ein gro
ßer Fortschrittler im Bereich der musikalischen Sprache war."u. Aber der Rückgriff auf die Tradition warfür die österreichischen Neuerer des Fin de siecle ja
überhaupt keine bloß gefällige Parole, die man nuneinmal im Mund führen mußte, sondern selbst Mittelder Erneuerung. Es gibt in der österreichischen Kul
turgeschichte eine überaus bedeutende Tradition des"konservativen Revolutionismus" , in die sich diemeisten der bei oberflächlicher Betrachtung a- oder
gar antitraditionellen Strömungen der Jahrhundert
wende mühelos einordnen lassen. Adolf Loos, einenger Vertrauter Schönbergs, dem dieser (vor allemin seiner Harmonielehre) wichtige Anregungen verdankt, nahm sich für sein im damaligen Wien als revolutionär empfundenes Haus am Michaeierplatz ein
barockes Wiener Herrengassenpalais (!) zum Vorbild
und verkündete in der kurzen Programmschrift MeineBauschule:
An die stelle der auf unseren hochschulen gelehrtenbauweise, die teils aus der adaptierung vergangenerbaustile auf unsere lebensbedürfnisse besteht, teils aufdas suchen nach einem neuen stil gerichtet ist, willich meine lehre setzen: die tradition.Im anfange des neunzehnten jahrhunderts haben wirdie tradition verlassen. Dort will ich wieder anknüpfen.12
Fischer von Erlach, Schlüter - von dessen Bauwerkenleider kein einziges mehr erhalten ist - und vor allemSchinkel ("möge das licht dieser überragenden gestaltauf unsere kommende baukünstlergeneration fallen"13) gaben für ihn die Linie vor, an die seine Bau
schule wieder anschließen sollte. Loos' Angriffe galten ausschließlich der "Verwilderung" der Architektur, die er - wenngleich er für manche spätere Arbeitvor allem Hansens und Sempers ein günstiges Urteilbewahren konnte - bezogen auf die Wiener Verhältnisse zwischen der Erbauung des Landhauses und derStatthalterei (also etwa zwischen 1837 und 1845) ansetzte und als deren Ausdruck er einen ständig fortschreitenden Verfall des Handwerks und ein Zurücktreten der architektonisch-funktionalen Gestaltunghinter eine oberflächliche und unkünstlerische Lust
arn bloßen architektonischen Effekt beklagte. Hinterdiesen Punkt wollte Loos, der Fortschrittliche, derNeuerer, wenngleich auch in einer angepaßten Formensprache, zurück. Noch so ein "austrian paradox".
11. Schönberg (SuG), p.38.12. (MB). p.32313. (Arch.), p.318
KRITERIO\\J
4. "Vom Musikalisch-Schönen"
4.1. Einführung
Es gibt keine ästhetische Schrift des 19. Jahrhunderts,
ja vielleicht auch keiner anderen Epoche, die eine
ähnlich heftige und lang andauernde Kontroverse
ausgelöst hat wie Eduard Hanslieks Vom Musikalisch-Schönen (mit dem Untertitel "Ein Beitrag zur
Revision der Ästhetik der Tonkunst"). Die ungeheure
Wirkung dieses relativ dünnen Bändchens ist schnell
erklärt. Hanslieks Schrift wurde von den Wagnerianern (der "Partei", wie Hansliek sie nannte) - obwohl
Wagner darin kaum als Randfigur vorkommt (von einem "Buch gegen Wagner", wie Karl Popper!"
meint, kann zumindest in der ersten Auflage keine
Rede sein) - sofort als Kampfschrift gegen ihre mu
sikästhetischen Positionen aufgefaßt und ihrem Autor
mit Gegenattacken geantwortet. Hansliek wiederum,
der sich in der Folge gewiß auch zu manch persönlich gefärbter Kritik hat hinreißen lassen, konnte imdamaligen Wien für eine tendenziell gegen den
"Revolutionskomponisten" Wagner gerichteten oder
zumindest als gegen Wagner gerichtet interpretierba
ren Schrift in der Zeit der nachrevolutionären Restau
ration mit breiter Zustimmung rechnen und damit
auch durch größere Resonanz beim stärker wissen
schaftlich gesinnten Musikpublikum (etwa bei Helm
holtz und Lotze) - in kürzester Zeit eine mindestens
ebenso starke "Gegenpartei" auf die Beine stellen.
Die Fronten waren schnell verhärtet und der Konfliktnahm bald solche Ausmaße an. daß kein Brahms-An
hänger sich mehr zu Wagner bekennen mochte und
umgekehrt. Diese Konstellation blieb im wesentli
chen während der gesamten 2. Hälfte des 19. Jahr
hunderts unverändert gültig und wirkt heute noch
fort.
Wodurch konnte Hansliek nun die Gemüter derarterhitzen? Es sind - neben den Kritiken - vor allem
einige wenige Stellen aus VMS, die sich im Lauf der
Diskussion als Garanten für eine dauerhafte Ausei
nandersetzung erwiesen. Vor allem Hanslieks be
rühmt gewordener Ausspruch von den "tönend be
wegten Formen", die "einzig und allein Inhalt und
Gegenstand der Musik" seien und sein daran an
schließender Vergleich des Musikwerks mit einer..Arabeske" 15 hat sich als wahrer Dauerbrenner der
Ästhetik-Debatte erwiesen. Hanslieks Polemiken ge
gen die "verrottete Gefühlsasthetik" und die seiner
14. (Ausg.), p.300.15. (YMSL p.32.
20
Ansicht nach "bloß pathologische" Musikrezeption,
der diese Ästhetik Vorschub leiste, sein Spott gegen
die "halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt[en] En
thusiasten"!", die sich bevorzugt in
"Gefühlsschwelgerei" ergehen und auf diese Weise
eher dazu befähigt werden. Musik zu "erleiden", als
sich an ihr "mit wachem Geiste [zu] erfreuen", muß
ten eine große Zahl von Musikfreunden. die einer
eher schwärmerisch denn wissenschaftlichen, roman
tisch-verinnerlichten Musikauffassung anhingen,
empfindlich vor den Kopf stoßen.
Der Grundgedanke einer im Hanslieksehen Sinn
"revisionierten" Musikästhetik ist nicht ganz einfach
zu erklären. Mit dem Hinweis, "daß Hansliek - mit
sämtlichen Mitteln einer glänzenden Rhetorik und
Stilistik - im Grunde eine einzige These verfocht: die
These, daß Musik als »tönend bewegte Form« nicht
bloße »Erscheinung« eines »außerrnusikalischen We
sens« sei, sondern selbst das Wesen darstelle, das die
Inhaltsästhetik vergeblich außerhalb des wahrnehmbaren Phänomens suchte" 17, ist es meiner Ansicht
nach nicht getan. Auch daß er "weniger Philosoph alsPublizist'i'f war, würde ich nicht ohne weiteres ver
treten. Gewiß war Hansliek kein Philosoph in unse
rem heutigen Sinn - gemessen am niedrigen Stand
der österreichischen Philosophie im Jahr 1854 hätte
er wohl allerdings gute Chancen, zumindest für dieseZeit als Philosoph gelten zu können -, er stellt aber
in seinen Polemiken gegen die "verrottete Gefühlsäs
thetik" eine Reihe von überaus interessanten Argu
menten vor, die im Wien der Jahrhundertwende inZusammenhang mit einer allgemeinen Abkehr von
der bislang verfochtenen Ausdrucksästhetik und einer
Hinwendung zu einer den jeweiligen Einzelkünsten
durch ihre spezifische Verfassung eigene "Logik"
bedeutsam werden und die auch in der philosophi
schen Diskussion als Kampfrnittel gegen das wieder
auftauchen, was der Wiener Karl Popper den"erkenntnistheoretischen Expressionismus" nennt und
die ein anderer Wiener, Ludwig Wittgenstein, gegen
die zu seiner Zeit noch verbreitete
"expressionistische" (im Sinne Poppers) Verstehenstheorie verwendete.'? Da Hansliek seine Ablehnung
der GefuWstheorie mit einer breitgefächerten Palette
von Argumenten untermauert (in VMS vor allem in
den ersten beiden Kapiteln), die sich schwer auf ei
nen gemeinsamen Nenner bringen lassen, möchte ich
16. ebd., p.7J.17. Dahlhaus/Zimmermann (MSg), p.300.18. ebd.19. Auf Details der Hansliek-Rezeption werde ich in derFortsetzung dieses Artikels noch genauer eingehen.
BOLZANO, HANSLICK UND DIE GESCHICHTE DES MUSIKÄSTHETISCHEN OBJEKTIVISMUS
ihn im folgenden selbst ausführlicher zu Wort kom
men lassen.
4.2. Darstellung
Hanslick, dessen erstes Anliegen es war, gegen die zu
seiner Zeit die musikästhetische Diskussion fast voll
ständig dominierende"Affektenlehre", die die Musikals "Sprache der Gefühle" ansah, anzugehen, stelltseine Ästhetik im Gegensatz zu einer solchen aufpsychischen Erscheinungen gründenden "Ästhetikvon unten" als "Ästhetik von oben" vor und betont
gleich zu Beginn seiner Studie, "daß in ästhetischenUntersuchungen vorerst das schöne Object, und nichtdas empfindende Subject zu erforschen" sei2o. Er beklagt, daß in der Ästhetik "das musikalisch Schönedurchweg von Seite seines subjectiven Eindrucks be
handelt" werde und man ausschließlich "die Gefühlefür die Basis erkennt, welche das Ideal dieser Kunsttrage"21.
Die Musik - so wird uns gelehrt -- kann nicht durchBegriffe den Verstand unterhalten, wie die Dichtkunst, ebensowenig durch sichtbare Formen das Auge, wie die bildenden Künste, also muß sie den Berufhaben, auf die Gefiihle des Menschen zu wirken. 'DieMusik hat es mit den Gefühlen zu thun.' dieses 'zuThun haben' ist einer der charakteristischen Ausdrücke der bisherigen Ästhetik. Worin der Zusammenhang der Musik mit den Gefühlen, bestimmterMusikstücke mit bestimmten Gefühlen bestehe, ...darüber ließen uns diejenigen vollkommen im unklaren, die eben damit 'zu thun hatten' .22
Die "Gefühle" spielen im Rahmen dieser Theorie zudem auch eine doppelte Rolle, sie werden einerseitsals "Zweck und Bestimmung der Musik", anderer
seits als deren "Inhalt" ausgegeben. Demgegenüberstellt Hansliek fest: "Das Organ, womit das Schöneaufgenommen wird, ist nicht das Gefühl, sondern diePhantasie", die er in Übereinstimmung mit dem Ästhetiker Vischer als "Thätigkeit des reinen Schauens"
bestimmt-'. "Schauen" in diesem Sinn - Hansliekspricht auch von "reiner Anschauung" - bedeutet fürihn schließlich "ein Schauen mit Verstand, d.i. Vorstellen und Urteilen"?". "In reiner Anschauung genießt der Hörer das erklingende Tonstück, jedesstoffliche Interesse muß ihm femliegen." Das alles,
meint Hanslick, wäre von der Ästhetik längst ent-
20. (VMS), p.3.21. (VMS), p.3.22. (VMS), p.3.23. (VMS), pA.24. (VMS), p.5.
21
wickelt, soll aber im Bereich der Musik keine Gel
tung haben, wo nach wie vor die Erregung von Af
fekten als das Entscheidende angesehen wird(Hanslick denkt hier - wie der Verweis auf "reineAnschauung" und "stoffliches Interesse" nahelegt,
möglicherweise an Kant, der ja auch für die Musik
ausschließlich die Affektenlehre gelten lassen wollte)
und setzt fort:
Die Musiker sind aber weniger im Irrthume befangen,alle Künste gleichmäßig den Gefühlen vindiciren zuwollen, als sie darin vielmehr etwas der Tonkunst Eigentümliches sehen. Die Kraft und Tendenz, auf dieGefiihle des Hörers zu wirken, sei es eben, was dieMusik vor den übrigen Künsten charakterisire ... Allein ebensowenig wie wir diese Wirkung als die Aufgabe der Künste überhaupt anerkannten, können wirin ihr eine specifische Bestimmtheit der Musik erblicken. Einmal festgehalten, daß die Phantasie daseigentliche Organ des Schönen ist, wird eine secundäre Wirkung dieser auf das Gefühl in jeder Kunstvorkommen. ... Meint man aber, die Musik wirke'unmittelbar' auf das Gefühl, die anderen Künste erstdurch die Vermittlung von Begriffen, so fehlt man nurmit anderen Worten, weil, wie wir gesehen, die Gefühle auch von dem Musikalisch-Schönen nur inzweiter Linie beschäftigt werden sollen, unmittelbarnur die Phantasie. Unzählige Mal wird in musikalischen Abhandlungen die Analogie herbeigerufen, diezweifellos zwischen der Musik und der Baukunst besteht. Ist aber je einem vernünftigen Architekten beigefallen, die Baukunst habe den Zweck, Gefühle zuerregen, oder es seien diese der Inhalt derselben?Jedes wahre Kunstwerk wird sich in irgend eine Beziehung zu unserem Fühlen setzen, keines in eine ausschließliche. Man sagt also gar nichts für das ästhetische Princip der Musik Entscheidendes, wenn man siedurch ihre Wirkung auf das Gefühl charakterisirt.Dennoch will man dem Wesen der Musik immer vondiesem Punkte aus beikommen.25
Die Ablehnung der Gefühlstheorie führt Hansliekschließlich auch zu einer deutlichen Absage an denPsychologismus:
Die Erkenntniß eines Gegenstandes und dessen unmittelbare Wirkung auf unsre Subjectivität sind himmelweit verschiedene Dinge .... Das Verhalten unsrer Gefühlszustände zu irgend einem Schönen ist vielmehrGegenstand der Psychologie als der Ästhetik. Sei dieWirkung der Musik so groß oder so klein als sie wolle- von ihr darf man nicht ausgehen, wenn man dasWesen dieser Kunst zu erforschen unternimmt. ...Unterdessen vermengt man unablässig Gefühlsaffection und musikalische Schönheit, anstatt sie inwissenschaftlicher Methode getrennt darzustellen.Man klebt an der unsichern Wirkung musikalischer
25. (VMS), p.5ff.
KRITERION
Erscheinungen anstatt in das Innere der Werke zudringen und aus den Gesetzen ihres eigenen Organismus zu erklären, was ihr Inhalt ist, worin ihr Schönesbesteht. Man beginnt vom subjektiven Eindruck undfolgert auf das Wesen der Kunst. Das sind Rückschlüsse vom Unselbständigen auf das Selbständige,vom Bedingten auf das Bedingende.e?
Die GefiiWstheorie geht schließlich auch schon fehl
in der Annahme, es könne eine notwendige Verbin
dung zwischen einem bestimmten Gefühl und einer
bestimmten Rezeption einer musikalischen Erschei
nung geben, wie es auf irgend eine Weise ja gefor
dert sein müßte, soll damit die ästhetische Wertung
eines Musikstückes begründet werden,
Überdies ist der Zusammenhang eines Tonstücks mitder dadurch hervorgerufenen Gefühlsbewegung keinnotwendig kausaler, Unter verschiedenen Nationalitäten, Temperamenten, Altersstufen und Verhältnissen,ja selbst unter Gleichheit aller dieser Bedingungen beiverschiedenen Individuen, wird dieselbe Musik sehrungleich wirken, _.. Der Zusammenhang musikalischer Werke mit gewissen Stimmungen besteht nichtimmer, überall, nothwendig, als ein absolut Zwingendes, .._So besitzt denn auch die Wirkung der Musikauf das Gefühl weder die Nothwendigkeit, noch dieStetigkeit, noch endlich die Ausschließlichkeit, welcheeine Erscheinung aufweisen müßte, um ein ästhetisches Princip begründen zu könnenP
Das heißt für Hansliek aber natürlich nicht, daß Ge
fühle in überhaupt keiner Beziehung zum rezipierten
Musikwerk stehen:
Die starken Gefühle selbst, welche Musik aus ihremSchlummer wachsingt. ". wir möchten sie nicht umAlles unterschätzen, ,,, Nur gegen die unwissenschaftliche Bewerthung dieser Thatsachen für ästhetische Principien legen wir Verwahrung ein,28
Die Auffassung der Gefiihlstheoretiker, es wäre
"Zweck und Bestimmung" der Musik, GefiiWe aus
zudrücken. ist damit zum Scheitern verurteilt. Aber
auch als Inhalt der Musik können GefiiWe nicht her
angezogen werden, denn:
Die Darstellung eines Gefiihles oder Affectes liegt garnicht in dem eigenen Vermögen der Musik " Wasmacht denn ein Gefühl zu diesem bestimmten Gefiihl?
Das Gefiihl der Hoffnung ist untrennbar von derVorstellung eines glücklichen Zustandes. welcherkommen soll und mit dem gegenwärtigen verglichenwird, Die Wehmuth vergleicht ein vergangenes Glück
26, lVMS), p_7f.rt. (VMS), p,8f.28, (VMS), p,9,
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mit der Gegenwart. Das sind ganz bestimmte Vorstellungen, Begriffe, Urtheile. Ohne sie, ohne diesen Gedankenapparat kann man das gegenwärtige Fühlennicht 'Hoffnung", nicht 'Wehmuth' nennen, er machtsie dazu. Abstrahirt man von ihm, so bleibt eine unbestimmte Bewegung, allenfalls die Empfindung allgemeinen Wohlbefindens, oder Mißbehagens. ". Einbestimmtes Gefiihl existiert als solches niemals ohneeinen wirklichen historischen Inhalt, der eben nur inBegriffen dargelegt werden kann. Begriffe kann dieMusik als 'unbestimmte Sprache' zugestandenerWeise nicht wiedergeben - ist nicht die Folgerungpsychologisch unablehnbar, daß sie auch bestimmteGefiihle nicht auszudrücken vermag? Die Bestimmtheit der Gefühle ruht ja geradezu in deren begrifflichem Kern.29
Was der Musik demnach bleibt, ist ein - wie Hans
liek schreibt - "Kreis von Ideen",
Einen Kreis von Ideen hingegen kann die Musik mitihren eigensten Mitteln reichliehst darstellen. Diessind unmittelbar alle diejenigen, welche auf hMbareVeränderungen der Zeit, der Kraft, der Proportionsich beziehen ... , die Ideen, welche der Komponistdarstellt, sind vor allem und zuerst rein musikalische.Seiner Phantasie erscheint eine bestimmte schöneMelodie. sie soll nicht Anderes sein, als sie selbst. 30
Das Verhältnis von Idee und Gefühl bestimmt Hansliek auf folgende Weise:
Es giebt Ideen, welche durch die Tonkunst volkommen repräsentirt werden und trotzdem nicht als Gefühl vorkommen, so wie umgekehrt Gefühle von solcher Mischung das Gemüth bewegen können, daß siein keiner durch Musik darstellbaren Idee ihreadäquate Bezeichnung finden.Was kann also die Musik von den Gefiihlen darstellen, wo nicht deren Inhalt?Nur das Dynamische derselben. Sie vermag die Bewegung eines psychischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigernd,fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine Eigenschaft, ein Moment des Gefühls, nicht diesesselbst3 1
Da zwischen der Bewegung im Raum und jener in derZeit, zwischen der Farbe, Feinheit, Größe eines Gegenstandes und der Höhe, Klangfarbe, Stärke einesTones eine wohlbegründete Analogie herrscht, sokann man in der That einen Gegenstand musikalischmalen, - das "Gefühl" aber in Tönen schildern zuwollen, das der fallende Schnee, der krähende Halm,der aufzuckende Blitz in uns hervorbringt, ist einfachlächerlich. 32
29, (VMS), p.13f.30. (VMS), p,1531. (VMS), p.15f.32. (VMS), p.24.
BOLZANO, HANSLICK UND DIE GESCHICHTE DES MUSlKÄSTHETISCHEN OBJEKTIVISMUS
Da nun Gefiihle sowohl als Inhalt als auch als Zweckder Musik nicht mehr in Betracht gezogen werdenkönnen, fragt sich natürlich, was an deren Stelle "dasPrincip des Schönen in der Tonkunst" sein könnte.Hanslieks Antwort darauf lautet:
Es ist ein specifisch Musikalisches. Darunter verstehen wir ein Schönes, das unabhängig und unbedürftigeines von Außen her kommenden Inhaltes, einzig inden Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt.... Frägt sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen. Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbständiges Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel oder Material zur Darstellung von Gefühlen oder Gedanken.... Tönend bewegte Formen sindeinzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.33
Der Bereich des Musikalisch-Schönen bildet für sichein eigenes Gebiet, dem man sich mit außerhalb dieses Bereichs liegenden Mitteln nur sehr schwer nähernkann:
Es ist von außerordentlicher Schwierigkeit, die selbständige Schöne in der Tonkunst, die specifisch Musikalische zu schildern. Da die Musik kein Vorbild inder Natur besitzt und keinen begrifflichen Inhalt ausspricht, so läßt sich von ihr nur mit trocknen technischen Bestimmungen, oder mit poetischen Fictionenerzählen .... Was bei jeder andern Kunst noch Beschreibung, ist bei der Tonkunst schon Metapher; dieMusik will nun einmal als Musik aufgefaßt sein, undkann nur aus sich selbst verstanden, in sich selbst genossen werden.34
Als völlig selbständiges Element läßt sich dieses Musikalisch-Schöne auch nicht mit formalistischen Bestimmungen erfassen.
Keineswegs ist das 'Specifisch-Musikalische' als blosakustische Schönheit, oder proportionale Dimensionzu verstehen, - Zweige, die es als untergeordnet insich begreift, - noch weniger kann von einem'ohrenkitzelnden Spiel in Tönen' die Rede sein undähnlichen Bezeichnungen, womit der Mangel an geistiger Beseelung hervorgehoben zu werden pflegt.Dadurch, daßwir auf musikalische Schönheit dringen,haben wir den geistigen Gehalt nicht ausgeschlossen,sondern vielmehr bedingt. Denn wir anerkennen keineSchönheit ohne Geist. Indem wir aber das Schöne inder Musik wesentlich in Formen verlegt haben, istschon angedeutet, daß der geistige Gehalt in engstemZusammenhang mit diesen Tonformen stehe. Der Begriff der 'Form', findet in der Musik eine ganz eigen-
33. (VMS), p.3lf.34. (VMS), p.34.
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tüInliche Verwirklichung. Die Formen, welche sichaus Tönen bilden, sind nicht leere, sondern erfiillte,nicht bloß Linienbegrenzung, sondern sich von innenheraus gestaltender Geist.35
Das Componieren ist ein Arbeiten des Geistes ingeistfähigem Material. 36
Dieses für einen Formalisten - als der Hansliek in dermusikästhetischen Historiographie immer wieder gesehen wird - doch recht ungewöhnliche Bekenntniswird ergänzt durch eine klare Abgrenzung des Musikalisch-Schönen vom Regelmäßigen, Symmetrischenund Mathematischen'l .
Die Betonung des geistigen Elements im Musikalisch-Schönen führt Hansliek neben der Abwertungdes Gefiihls zu einer Aufwertung des musikalischenGedankens:
In der Musik ist Sinn und Folge, aber musikalische;sie ist eine Sprache., die wir sprechen und verstehen,aber zu übersetzen nicht im Stande sind. Es liegt einetiefsinnige Erkenntniß darin, daß man auch in Tonwerken von 'Gedanken' spricht, und wie in der Redeunterscheidet da das geübte Urtheil leicht echte Gedanken von bloßen Redensarten. Ebenso erkennen wirdas vernünftig Abgeschlossene einer Tongruppe, indem wir sie einen 'Satz' nennen. Fühlen wir doch sogenau, wie bei jeder logischen Periode, wo ihr Sinn zuEnde ist, obwohl die Wahrheit beider ganz incommensurabel dasteht. 38
Dieses vernünftig Abgeschlossene einer Tongruppehat als "Thema" einer Komposition eine für Hansliekzentrale ästhetische Bedeutung: "Das Thema einesTonstückes ist also sein wesentlicher Inhalt,,39 (dieFormulierung ist etwas mißverständlich - genaugenommen müßte es "die Themen" heißen). Ein solches Thema wird von Hansliek wesentlich über Gedanken bestimmt:
Die selbständige, ästhetisch nicht weiter teilbare,musikalische Gedankeneinheit ist in jeder Composition das Thema.
Eine fi.ir Clavier entworfene Melodie, die ein Zweiterspäter instrumentiert, bekommt durch ihn allenfallseine neue Form, aber nicht erst Form; sie ist schongeformter Gedanke.40
35. (VMS), p.34.36. (VMS), p.35.37. (VMS), p.47f.38. (VMS), p.35.39. (VMS), p.IO!.40. (VMS), p.lOO.
KRITERION
4.3. Geistesgeschichtliche Einordnung
Die geistesgeschichtliche Einordnung der Hanslieksehen Ästhetik hat immer schon erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Es kann kaum bestritten werden,daß Hansliek mit Vom Musikalisch-Schönen einen inder Geschichte der Musikästhetik überaus wichtigen- vielleicht überhaupt den wichtigsten - Paradigmenwechsel eingeleitet hat, der von der seit der Barockzeit bis ins frühe 19. Jahrhundert in seltenemkonzeptionellen Einklang eigentlich alle bedeutendenmusikästhetischen Richtungen beherrschenden subjektivistisch ausgerichteten Affekten/ehre zu einer objektivistischen, werkimmanenten Musikbetrachtung und damit in der Folge auch zur Entwicklung musikanalytischer wie phänomenologischer Ansätze geführt hat. Vom Musikalisch-Schönen läßt sich aberdennoch schwer und nur mit beträchtlichen Abstrichen in irgendeiner der historisch gängigen Ästhetikschulen unterbringen. Diese interpretatorische Unsicherheit wurde mit einem beachtlichen Wildwuchsan Einordnungsvorschlägen dann auch recht teuerbezahlt und Hansliek - mit unterschiedlich guter Begründung - im Sinn des Positivismus, einer gegenden Positivismus ausgerichteten phänomenologischenKunstbetrachtung, des Kantianismus, als NachfolgerHegels, der romantischen wie auch der klassischenKunstauffassung, als Formalist, als bloßes Sprachrohrder Wagnergegner, und noch manches andere mehrgedeutet. Die marxistische Ästhetik hat sich verständlicherweise auf eine Interpretation von VMS alsAusdruck bürgerlich-reaktionärer Gesinnung eingeschossen. Im wesentlichen haben sich jedoch zweigrößere Schulen herausgebildet; eine bedeutendere,die Hansliek im Gefolge Herbarts und damit desFormalismus sieht, und eine verglichen damit unbedeutendere, aber vor allem von bundesdeutscherSeite vehement verfochtene, die Hanslieks Schrift alsDokwnent einer an die Hegelschule anschließendenÄsthetik gedeutet haben möchte. Da HerbartsFormalismus in strenger Opposition zu Hegels Äs
thetik begründet wurde, sind beide Interpretationslinien miteinander unverträglich. Die formalistischeRichtung, die in einem Maß verbreitet ist, daß Hanslick in den meisten größeren Ästhetik-Darstellungengrundsätzlich nur als Formalist angeführt wird, stütztsich vor allem auf Hanslieks Ablehung der Inhaltsästhetik und die in diesem Zusammenhang in YMSüberaus häufigen Verweise auf die Bedeutung derForm (bzw, der Formen) für die ästhetische Betrachtung. Es gibt ohne Zweifel auch - vor allem in derAblehnung der Gefiihlstheorie (der Affektenlehre)_.
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ganz wesentliche Übereinstimmungen zwischenHerbarts und Hanslieks Analysen. Die formalistischeInterpretationsrichtung kämpft aber mit dem Problem, daß Hanslieks Schrift sich in wesentlichenPunkten durchaus kritisch zum Herbartsehen Formalismus äußert - Hanslieks Bemerkung, die Auffassung, "das Schöne einer Tondichtung gründe sich aufZahlen" führe zu einer Haltung, die im "Studium derHarmonielehre und des Contrapunktes ... eine Art
Cabbala [sieht], welche die 'Berechnung' der Composition lehrt?"! trifft genau denselben Punkt, denVischer bei Herbart als "barocke Verbindung vonMystik und Mathematik"42 gebrandmarkt hat - undsich zudem überhaupt kein Beleg dafür hat findenlassen, daß Hansliek bei Abfassung von YMS dieSchriften Herbarts tatsächlich kannte. GewichtigeArgumente, die schon in den frühen Arbeiten vonPrintz43 und Schäfkef" genannt wurden, sprechen sogar dagegen - so taucht der Name Herbart in Hanslicks Schrift (die ich - außer bei gesonderter Vermerkung - nach der am leichtesten zugänglichen erstenAuflage zitiere), in der von ihm. berücksichtigteQuellen einer in VMS vertretenen Auffassung in derRegel genau angeführt werden, erst in der sechstenAuflage in einer Fußnote auf. Der Vorschlag vonPrintz, VMS im Sinn des Formalisten Nägeli zu interpretieren, der auch schon in der ersten Auflage erwähnt wird, wird heute im allgemeinen nicht mehrangenommen, da dieser eine noch orthodoxere formalistische Auffassung vertritt. Hier haken die Vertreter der Hegeischen Interpretationsrichtung ein undverweisen auf Zitate aus der Ästhetik des Hegel-Anhängers Vischer, der Hansliek tatsächlich beeinflußthaben dürfte. Die grundsätzlich objektivistische Ausrichtung von VMS wird im Sinne des Hegeischen"Objektivation" gedeutet, Hanslieks Verweis auf dieBedeutung musikalischer Ideen im Sinne des"sinnlichen Scheinens der Idee" interpretiert.P Derfrühe Hansliek hat sich in manchem auch sicherlichHegel angenähert, wieweit dieser Einfluß aber nochin YMS, das vor allem auch Hegel-kritische Bemerkungen enthält, wirksam ist, ist schwer nachzuprüfen.Die vielen (wenn auch im gemäßigten Sinn)"formalistischen" Stellen machen es jedoch unmöglich, YMS primär hegelianisch zu interpretieren. Seitman nun entdeckt hat, daß Hansliek sowohl bei der
41. (VMS), p.47.42. zit. nach Allesch ((GpÄ), p.257).43. (WmF), p.8f.44. (EHM), p.5f.45. Carl Dahlhaus scheint mir der bedeutendste Vertreterdieser Auffassung zu sein; vgl. dazu etwa (laM), p.l 05ff.
BOLZANO, HANSLICK UND DIE GESCmCHTE DES MUSIKÄSTHETISCHEN OBJEKTIVISMUS
Abfassung von VMS als auch bei der Bearbeitung einiger späterer Auflagen maßgeblich von RobertZimmermann bebeinflußt war, den man in der Regelnur als Anhänger Herbarts kennt, hat sich eine Art"Verschmelzungstheorie" durchgesetzt, die einenfrühen Einfluß Vischers und Hegels annimmt, derdann über den Einfluß Zimmermanns formalistisch"überformt" wurde. Als Ergebnis dieser völlig unterschiedlichen Einflußgrößen soll Hansliek dann eineAuffassung entwickelt haben, die man seit Schäfkeals "dritten Weg" neben Ausdrucksästhetik und Formalismus ansieht und als "Ästhetik des spezifischMusikalischen" bezeichnet hat.
5. DerEinfluß Zimmermanns
Eines der erstaunlichsten Ergebnisse der ArbeitSchäfkes war die Entdeckung, daß Hansliek selbstnur wenige Jahre seines Lebens an der in VMS vorgestellten streng objektivistischen Ästhetik festhielt.Während der überwiegenden Zeit seiner zehnjährigenKritikertätigkeit bis zum Erscheinen von VMS warHansliek überzeugter Anhänger jener Inhalts- undAusdrucksästhetik, die er später als Ästhetiker sohartnäckig bekämpfte und überdies auch begeisterterAnhänger der damals "Neuen Musik" in Gestalt derneudeutschen Schule (Berlioz, Liszt, Wagner), die inden späteren Kritiken eine großteils vernichtendeAufuahme erfährt. Selbst in der ersten Auflage vonVMS finden sich (vor allem in den 1853/54 in denFeuilleton-Beiblättern zur Wiener Zeitung vorabgedruckten hinteren Kapiteln) noch Reste dieser früheren ausdrucksästhetischen Einstellung, die von Hanslick in späteren Auflagen - vor allem unter Einflußund wohl auch Anleitung Zimmermanns - nach undnach entfernt oder entscheidend umgeschrieben wurden. 1860/61 nimmt Hanslick, "müde des Arbeitensmit abstrakten Begriffen'r'? _. eine Wendung zum hi
storischen Denken (die sich in den weiteren Bearbeitungen von VMS allerdings nicht niederschlägt) undkehrt schließlich in seinen späteren Kritiken teilweisewieder zu ausdrucksästhetischen Positionen zurück.Über die Motive jener grundlegenden Umorientierung seines Denkens und die dadurch bewirkte Hinwendung zum Objektivismus ist viel spekuliert worden. Das Scheitern der Revolution von 1848 und diedarauf erfolgte Hinrichtung seines von ihm verehrtenKritikerkollegen Alfred Julius Becher könnte - sowird gemutmaßt - Hanslieks Gesinnungswandel unddie Ausarbeitung einer politisch unverdächtigen
46. (AML), p.154.
25
werkimmanenten Musikbetrachtung ("die ästhetischeUntersuchung weiß nichts und darf nichts wissen vonden persönlichen Verhältnissen und der geschichtlichen Umgebung des Componisten, nur wasdas Kunstwerk selbst ausspricht, wird sie hören undglauben" heißt es in VMS47) zumindest entscheidend
begünstigt haben. Auch Richard Wagners unsäglichesPamphlet über das "Judentum in der Musik" (1850
erschienen) - in dessen zweite Auflage 1869 dieserauch einen Hinweis auf Hanslieks "mit außerordentlichem Geschick für die Zwecke des Musikjudentumsverfaßtes Libell" einschmuggelte - könnte den Sohneiner jüdischen Mutter von seinen früheren musikalischen Vorlieben abgebracht haben.
Am häufigsten begegnen wir aber dem Hinweis aufden Einfluß Zimmermanns, so auch im Kommentarteil zum ersten Band der neuerschienenen HansliekGesamtausgabe:
Am einflußreichsten dürfte aber sein JugendfreundRobert Zimmermann gewesen sein. Seine an JohannFriedrich Herbart (1776-1841) orientierte PhilosophieveranIaßte die antihegelsche Wendung. 48
An anderer Stelle im Kommentarteil erfahren wir:
1853/54 erschienen in den Feuilleton-Beiblättern zurWZ die Vorabdrucke zu 'Vom Musikalisch Schönen'.Dort wurden in diesem Zeitraum auch die Aufsätze R.Zimmermanns ('die spekulative Ästhetik und die Kritik', 'die naturwissenschaftliche Methode in der Philosophie') veröffentlicht. Seine gegen den IdealismusHegels und die Orientierung der Ästhetik an der Naturwissenschaft eintretenden Thesen beeinflußtenVMS maßgeblich.t?
Der Hinweis auf die "Orientierung der Ästhetik ander Naturwissenschaft" verwundert etwas. Inwieferneine werkimmanente Musikbetrachtung, wie sieHansliek in VMS ja propagierte, einer"naturwissenschaftlichen" Stützung bedürfen odersich eine solche Einmischung gar erbitten soll, ist jadurchaus nicht klar. Tatsächlich stellt Hansliek inVMS einen Zusammenhang zwischen seiner Art derWerkbetrachtung und der naturwissenschaftlichenMethode her. In der ersten Auflage von VMS findenwir unter den einleitenden Sätzen auch die Bemerkung:
Sollte sich nun immerhin auch in Behandlung ästhetischer Fragen ein Umschwung in der Wissenschaft
47. (VMS), pA5.48. (SS 1,1), p.266.49. (SS 1,1), p.291.
KRITERION
vorbereiten, welcher an der Stelle des metaphysischenPrincips eine der inductiven naturwissenschaftlichenMethode verwandte Anschauung zu mächtigem Einfluß und wenigstens zeitlicher Oberhand verhälfe, vor der Hand stehen die jüngsten Spitzen unsrer Wis-·senschaft noch unverdunkelt da und behaupten füralle Zelt das unvergängliche Verdienst. die Herrschaftder unwissenschaftlichen Empfindungs-Ästhetik vernichtet, und das Schöne in seinen ureigenen, reinenElementen durchforscht zu haben. 50
In einer der späteren - Robert Zimmermann gewid
meten - Auflagen finden wir diesen Satz auf folgen
de Weise verändert:
Der Drang nach einer möglichst objectiven Erkenntnisder Dinge, wie er in unserer Zeit alle Gebiete desWissens bewegt, muß nothwendig auch an die Erforschung des Schönen rühren. Diese wird ihm nur dadurch genügen können, daß sie mit einer Methodebricht, welche vom subjectiven Gefühl ausgeht, umnach einem poetischen Spaziergang über die ganzePeripherie des Gegenstandes zum Gefühl zurückzukehren. Sie wird, will sie nicht ganz illusorisch werden, sich der naturwissenschaftlichen Methode zumindest so weit nähern müssen, daß sie versucht, denDingen selbst an den Leib zu TÜcken, und zu forschen,was in diesen, losgelöst von den tausendfältig wechselnden Eindrücken, dasBleibende, Objektive sei. 51
Stellen wie diese (in der ersten Auflage) haben denAnlaß gegeben, in Hansliek einen "Positivisten" zusehen. ln der ersten Auflage noch Ausdruck einer dif
fus-narurwissenschaftlichen Gesinnung, gewinnt inden späteren Auflagen ein quasi"phänomenologisches" Moment ("Zuriick zu denDingen!") die Oberhand: von der "der inductiven natulWissenschaftlichen Methode verwandten Anschau
ung" bleibt nur mehr die Forderung nach einer"Annäherung" mit dem Zweck, "den Dingen selbstan den Leib zu rücken" Insgesamt ist der in späterenAuflagen abgedruckte Satz sicherlich besser mit derIdee einer objektivistischen, von jedem psychologischen, historischen, sozialen und sonstigem -. also
auch naturwissenschaftlichem Beiwerk
"gereinigten" Ästhetik, die Hansliek in YMS propagieren möchte, verträglich. Die Bedeutung der NatulWissenschaft für die Ästhetik wird ja auch an an,"deren Stellen von VMS erheblich eingeschränkt, wie
etwa auf p.67. wo es heißt:
Was die Physiologie der Musikwissenschaft bietet, istein Kreis von objectiven Anhaltspunkten. welche voreinschlägigen Fehlschlüssen bewahren. Mancher Fort-
50. (VMS), p.2.51. (VMS-9).
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schritt mErkenntniß der durch Gehörseindrücke hervorgebrachten Erscheinungen kann durch die Physiologie noch .geschehen, allein in der musikalischenHauptfrage wird dies nicht so leicht geschehen.
Offenbar verwendet Hansliek das Wort "objektiv"
zumindest zweideutig, einmal in der Bedeutung"russchließlich auf das Werk bezogen, losgelöst von
allen subjektiven Beigaben" und zum zweiten Malschlichtweg als Synonym für "exakt (gesichert) wissensehaftlieh". Es mag auch sein, daß Hansliek, der
ja der Meinung seiner Zeit gewesen sein muß, dieNatulWissenschaft liefere "sicheres Wissen", die eine
Anschauung nicht streng genug von der anderen getrennt hat und sich dadurch Mißverständnisse eingeschlichen haben. Eine an der NatulWissenschaft (odergar: an den wechselnden Ergebnissen der Naturwissenschaft) orientierte Ästhetik wäre jedenfalls einvöllig theorieunverträgliches Element in Hanslieksobjektivistischer Werkbetrachtung.
Wie sieht es nun aber mit Zimmermanns angeblichem Plädoyer "für die Orientierung der Ästhetik an
der Naturwissenschaft" aus? Liest man sich den inFrage kommenden Artikel Zimmermanns ("Die na
turwissenschaftliche Methode in der Philosophie")
durch, so findet man davon nicht die allerkleinsteSpur! Zimmermanns Artikel ist ein geradezu lupenreines Plädoyer gegen die Einmischung der aposteriorischen NatulWissenschaft in die Angelegenheitender apriorischen Philosophie, garniert mit beiläufigerPolemik gegen die "dialektische Methode" der He
gelschule. Unter anderem findet sich darin auch dieBemerkung
Abgesehen von dem Grundirrthum jener Schule, denBegriff als identisch mit seinem Gegenstande zu denken, ihm, der in der That nur ein Unwirkliches, Ungedachtes, ein rein logisches An-Sich sein kann, Bewegung, Leben, innerlich Bedingtes, "Umschlagen insein Gegentheil" beizulegen, da ein solches dochhöchstens nur in dem von Begriff vermittelnden subjectiven Denken vor sich gehen kann ...,
die sieb unschwer als "150-prozentiger Bolzano" er
kennen läßt.Auch der zweite von dem Herausgeber der Hans
liek-Ausgabe Dietrnar Strauß erwähnte Artikel Zimmennanns ("Die spekulative Ästhetik und die Kritik") enthält beileibe kein Plädoyer für die"Orientierung der Ästhetik an der Naturwissenschaft", sondern ist lediglich wieder eine Polemikgegen die Hegeische Dialektik, diesmal allerdings
ohne Bolzano-Beigaben. Zumindest dieser Artikelhat in seiner Abgrenzung der Ästhetik von der
BOLZANO, HANSLICK UND DIE GESCHICHTE DES MUSIKÄSTHETISCHEN OBJEKTIVISMUS
Kunstgeschichte auch einen nachweisbaren Niederschlag in VMS gefunden. 52 Mag Zimmermann eine
"Orientierung der Ästhetik an der Naturwissenschaft"auch später vertreten haben, während der Entste
hungszeit von VMS ist davon jedenfalls nichts zu bemerken.
Sehen wir uns nun die Stellen an, die Hansliek auf
Anraten Zimmermanns hin ändert: Aus der wohl zuhegelianisch klingenden "Ahnung des Absoluten"wird die "Ahnung von einem jenseitigen Friedensreich", mehrere Stellen mit idealistischem Einschlag,unter anderem auch jene pythagoreische Passage, mit
der die erste Auflage endet, werden gestrichen, Hegel
verschwindet in die Fußnoten. Eine Passage übernimmt Hansliek wortwörtlich aus Zimmermanns Re
zension von VMS aus dem Jahr 1854. Dort heißt es:
Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keineGefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird. 53
Einen Einfluß des Herbartianers Zimmermann aufHansliek wird man hierin schwerlich erkennen können, da Herbart immer wieder betont, daß das Schöneaußerhalb der Vorstellung gar nicht existiert. DieBemerkung Zimmermanns hat in ihrem für die Ästhetik ungewöhnlich radikalen Platonismus aber auffällige Anklänge an Bolzanos Behandlung von"Sätzen an sich" bzw. "Wahrheiten an sich". Bolzanobestimmt einen Satz an sich als "irgendeine Aussage,
daß etwas ist oder nicht; gleichviel, ob diese Aussagewahr oder falsch ist; ob sie von irgend jemand inWorte gefaßt oder nicht gefaßt, ja auch im Geiste nurgedacht oder nicht gedacht worden ist."54
Als "Wahrheit an sich", die Bolzano als eine Un
terklasse der Sätze an sich auffaßt, gilt analog jederbeliebige Satz, "der etwas so, wie es ist, aussagt, wo
bei ich unbestimmt lasse, ob dieser Satz von irgendjemand wirklich gedacht und ausgesprochen wordensei oder nicht."55
Die Angelegenheit klärt sich vielleicht, wenn mansich vor Augen führt - was in der Hansliek-Literaturvöllig unbekannt zu sein scheint -', daß Zimmermannsich wohl später (wahrscheinlich zwischen 1853 und1855) Herbart zugewandt hat, während der gesamte/:}Zeit der Entstehung von VMS aber AnhängerBolzanos war, zu dessen hauptsächlichem wis
senschaftliehen Nachlaßverwalter er nach BolzanosTod 1848 von diesem bestimmt worden war. 1853 er-
52. p.45f.53. (VMS-9), p.6f.54. Bolzano, zit, nach Morscher (LAs), p.5255. (WL), p.30; §25.
27
schien Zimmermanns Philosophische Propädeutik,ein Plagiat der Bolzanoschen Wissenschaftslehre, dasvon diesem - seit seiner Entlassung aus dem Lehramt1819 ohne die Möglichkeit, seine Ideen fortzutragen-- selbst gewiinscht worden war. (Zu Zimmermanns
Beziehung zu Bolzano siehe die informative
Einleitung Eduard Winters in Zimmermanns
Philosophische Propädeutik) Es ist bekannt, daßZimmermann auch während der Entstehung vonVMS auf diese Schrift Einfluß genommen hat. Selt
samerweise hat Hansliek aber gerade die jener Zeitangehörigen Tagebücher, wie er selbst berichtet, ver
nichtet. In seinem Nachlaß fanden sich, wie Printz-?bei Hanslieks Witwe in Erfahrung bringen konnte,
auch keine Briefe Zimmermanns oder sonstige Aufzeichnungen, die uns genaueren Aufschluß überAusmaß und Richtung dieser Beeinflussung gebenkönnten. Wenn aber Hansliek während der Zeit derEntstehung von VMS maßgeblich von Zimmermannbeeinflußt worden ist. wie in der Hansliek-Literaturimmer behauptet wird. so kann dieser Einfluß kaumvom Herbartianer, sondern muß vom BolzanistenZimmermann ausgegangen sein. Bolzano selbst hatwenig über ästhetische Probleme gearbeitet. Auf Anregung Zimmermanns entstand aber 1843 eine kleineAbhandlung "Über den Begriff des Schönen", die einige interessante Übereinstimmungen mit HanslieksVMS enthält.
6. Hanslieks RückgriffaufBolzano:"Musik in objektiver Bedeutung"
Bolzano geht ähnlich wie Hansliek zunächst davonaus, daß "jenes Vergnügen, das uns der schöne Gegenstand gewähren kann ... auf keine andere Weise
als aus der bloßen Betrachtung des Gegenstandeshervorgehen" dürfe 57. Bolzano scheint hier stärker an
Kant anzuschließen, der in der Kritik der Urteilskraftebenfalls feststellt, in ästhetischen Untersuchungenkäme es ausschließlich darauf an, "wie wir sie [eineSache] in der bloßen Betrachtung (Anschauung oderReflexion) beurteilen'P". Hansliek bevorzugt dagegen den Ausdruck reine Anschauung. ("In reiner Anschauung genießt der Hörer das erklingende Tonstück, jedes stoffliche Interesse muß ihm fern bleiben."59 Bolzano setzt fort:
Was für Empfmdungen der Gegenstand in uns anre-
56. (WmF), p.957. (OOS), p.13; §3.58. (Kaut V1II, p.280.59. (VMS), p.S,
KRITERION
gen könnte. wenn wir ihm irgendeine andere Art vonEinwirkung auf uns erlaubten, als nur eben eine solche, die nötig ist, damit wir eine Vorstellung von ihmerhalten. und mit dieser Vorstellung uns beschäftigenkönnen; was für Empftndungen in uns zum Vorscheinkämen. wenn wir noch irgendeine anderweitigeWechselwirkung zwischen ihm und uns, als eine solche, wie sie zu seiner Betrachtung erforderlich sind,eintreten ließen; wenn uns erlaubt würde, ihn auf beliebige Weise erst noch zu verändern, in Verbindungmit uns zu setzen, usw.: das alles müssen wir, wennwir die reine Schönheit desselben beurteilen wollen,völlig beiseite setzen, und nur die Frage allein untersuchen, ob er imstande sei, durch seine bloße Betrachtung, d.h. (daß ich dies noch einmal sage) durch diebloße Aufnahme einer vermittelst seiner Einwirkungauf uns entstandenen Vorstellung, und durch Beschdftigung mit dieser Vorstellung selbst, uns zu vergnügen? Vermag er dies nicht, so können wir ihn für allesandere, nur nicht für schön erklären.P''
Hanslieks Argumentation, wenngleich auch ausschließlich auf die Musik bezogen, ist hier zweifellossehr ähnlich. Da es für die Erkenntnis des Schöneneben nur auf die "reine Anschauung" ankommt, dürfen Gefühle .. Bolzano spricht von Empfindungen ..nicht in die Untersuchung einfließen. "Die Erkenntnis eines Gegenstandes und dessen unmittelbare Wirkung auf unsere Subjectivität sind himmelweit verschiedene Dinge"61 Hanslieks Vorwurf, man"vermeng[e] unablässig GefiiWsaffection und musikalische Schönheit, anstatt sie in wissenschaftlicherMethode getrennt darzustellen'<? zielt genau in dieselbe Richtung. Vorstellen und Urteilen sind fürBolzano wie Hansliek die wesentlichen Tätigkeiten,die von der ästhetischen Betrachtung erfaßt werden.Beide weisen schließlich (auf eine Weise, die anLeibniz' petites perceptiones denken läßt) darauf hin,daß die dabei ablaufenden geistigen Prozesse in einem hohen Grad unbewußt sind:
Freilich ist die Phantasie gegenüber dem Schönennicht blos ein Schauen, sondern ein Schauen mit Verstand, also ein Vorstellen und Urtheilen, letzteres natürlich mit solcher Schnelligkeit, daß die einzelnenVorgänge uns gar nicht zum Bewußtsein kommen,und die Täuschung entsteht, es geschehe unmittelbar,was doch in Wahrheit von vielfach vermittelndenGeistesprocessen abhängt. 63
Worauf denn eigentlich sind unsere Gedanken bei einem Jeden Gegenstande gerichtet, wenn seine Schönheit von uns empfunden werden soll? Daß wir noch
60. IÜBS). p.14; §361. (VMS), p.762. (VMS), p.7.
63 IVMSI p.S.
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fragen können nach diesem Umstande, daß es uns allen nicht schon von selbst bekannt ist, dies eben lehrtuns gleich eine Eigenheit jener Betrachtungen kennen.Es beweist uns nämlich, daß die Gedankenreihe, welche bei der Betrachtung des Schönen vor unsererSeele vorüberzieht, mit einer solchen Leichtigkeit vonuns gebildet werde und so schnell vorübereilenmüsse, daß sie uns in den gewöhnlichen Fällen garnicht zu einem deutlichen Bewußtsein gelangt. Dennwenn das Gegenteil wäre, wenn wir uns jene Vorstellungen, Urteile und Schlüsse, die wir bei der Betrachtung eines schönen Gegenstandes in uns erzeugen, ...selbst wieder zur Anschauung brächten und es unssagten, daß wir sie haben, ... würden wir da nicht alle,ohne uns erst viel zu besinnen, imstande sein anzugeben, worauf wir eigentlich, so oft wir eirten Gegenstand schön finden, denken?64
Man beachte auch, daß Bolzano von einer Gedankenreihe spricht,65
Die ästhetische Betrachtung zielt auf die Ermittlung verschiedener "Beschaffenheiten an sich"66 ab,die dem ästhetischen Objekt völlig unabhängig voneinem rezipierenden Subjekt zukommen. Hansliekhält fest, daß es in ästhetischen Untersuchungen ausschließlich um das "schöne Objekt, und nicht dasempfindende Subjekt,,67 gehe. Wie auch Hansliek betont Bolzano, "daß unser Vergnügen an der Schönheit ein lediglich geistiges sein müsse,,68 (Vgl. dazudas Ende von Kap. 4.2. dieses Artikels).
Die geistige Befriedigung, die uns das Betrachtendes Schönen gewährt, beruht für Hansliek zu einemguten Teil darauf, daß wir Vermutungen über denVerlauf einer Komposition bestätigt und getäuschtsehen:
Der wichtigste Factor in dem Seelenvorgang, welcherdas Auffassen eines Tonwerks begleitet und zum Genusse macht, wird am häuftgsten übersehen. Es ist diegeistige Befriedigung, die der Hörer darin findet. denAbsichten des Componisten fortwährend zu folgenund voran zu eilen, sich in seirten Vermuthungen hierbestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden, Es versteht sich, daß dieses intellectuelle Hinüber- und Herüberströmen, dieses fortwährende Geben und Empfangen, unbewußt und blitzvoll vor sich geht. Nursolche Musik wird vollen künstlerischen Genuß bieten, welche dies geistige Nachfolgen, welches ganzeigentlich ein Nachdenken der Phantasie genannt
64. (OOS), p.25; §5.65. Von seinen Schülern ist uns übrigens auch BolzanosAblehnung der romantischen Musik, die nach seinemUrteil "nichts klar Gedachtes" enthalte, überliefert.66. (ÜBS), p. 20; §7.67. (VMS), p.3.68. (ÜBS), p.38: §15.
BOLZANO, HANSLICK UND DIE GESCHICHTE DES MUSIKÄSTHETISCHEN OBJEKTIVISMUS
werden könnte, hervorruft und lohnt. Ohne geistigeThätigkeit gibt es überhaupt keinen ästhetischen Genuß.69
Recht ähnlich spricht auch Bolzano davon, derGrund für unser "Wohlgefallen am Schönen" sei "dasBewußtwerden unserer eigenen Fertigkeit im Denkenund Erraten"?".
Bei dem, was eigentlich schön an diesen Dingen ist,fragt es sich nur danach, wieviel Vergnügen sie unsdurch ihre nicht allzu leicht und doch .auch ohne dieMühe des deutlichen Denkens zu bewerkstelligendeAuffassung unter einen Begriff; aus welchem sich dieganze Mannigfaltigkeit ihrer Teile und Einrichtungenableiten läßt, gewähren können. Was sie noch überdies für Freuden uns auf eine andere Weise, aus anderen Gründen bereiten, gehört nicht hierher. Wenn also.. der Grad der Schönheit einer Musik beurteilt wer-
den soll, so ist dasjenige Vergnügen, das uns der Tongewisser Instrumente, am meisten die Töne dermenschlichen Stimme bloß dadurch verursachen, daßsie gewisse Empfindungen oder Gemütstimmungenganz unwillkürlich in uns erwecken, (wodurch siezuweilen mit einer Art Zauberkraft auf uns einzuwirken vermögen), eigentlich abzurechnen; und nur dieZweckmäßigkeit in der Wahl und Zusammenstellungdieser Instrumente, da bald das eine, bald das anderederselben einfällt, gehört insofern mit zu der Schönheit der Musik, als ein verständiger und geübter Zuhörer imstande ist, diese Zweckmäßigkeit mindestensdunkel zu erkennen, und an dieser Erkenntnis sich zufreuen?!
Daß wir. wenn wir den "Grad der Schönheit einerMusik" beurteilen wollen, dabei keinesfalls die Empfindungen und Gemütsstimmungen in Rechnung stellen dürfen, ist ganz offenkundig auch Hanslieks Ansicht - und zugleich auch die Kernthese von VMS.Die "Zauberkraft", mit der Musik auf uns mituntereinwirken kann, sieht Hansliek in unserer "Lust amElementarischen der Musik" begründet, die uns eine"rein pathologische" Rezeption ermöglicht und demrein geistigen Genuß des Tonstückes entgegensteht.
In seinem Briefwechsel mit dem Prager Philosophen Franz Exner spricht Bolzano einmal von "Kunstin objektiver Bedeutung'{", ohne aber näher auszufuhren, was damit gemeint sein könnte. Aus einer anderen Stelle des Briefwechsels geht jedoch hervor,daß nur Urteile und Vorstellungen als Träger einersolchen Kunst in Frage kommen können, denn:
69. (VMS). p.78.70. (ÜBS), p.31; §12.71. (ÜBS), pAO; §17.72. (BBE), p.64
29
Ein Wunsch, ein Gefühl, ein Wille stellt nicht vor, istkeine Auffassung von etwas anderem. 73
Gefühle haben daher nach Bolzanos Ansicht keinen"objektiven Stoff', wie ihn nur Vorstellungen undUrteile sichern könnten; d.h.: es kann keine Gefühle
an sich geben. Wählt man nun Vorstellungen alsTräger einer "Kunst in objektiver Bedeutung", sokommen dafür freilich nur "Vorstellungen an sich" inFrage (die Bolzano als Bestandteile von Sätzen ansich bestimmt), da nur eine "Vorstellung an sich" (imUnterschied zu einer subjektiven Vorstellung) uns zurErkenntnis einer objektiven Beschaffenheit fuhrenkann. Was man sich unter solchen "Vorstellungen ansich" im Bereich der Kunst vorzustellen hätte, istdurchaus unklar; es liegt aber auf der Hand, daß fürsie etwas ähnliches wie für Hanslieks spezifisch Musikalisch-Schöne gelten muß: "Vorstellungen ansich" als Träger der "Kunst in objektiver Bedeutung"müßten "weder geschaut noch betrachtet werden",wn ihre Funktion zu erfiillen.
Überlegen wir uns kurz, welche grundlegende Forderung eine solche auf die Erfassung von "Musik inobjektiver Bedeutung" ausgerichtete Ästhetik erfüllen müßte: Eine solche Betrachtung müßte vor allemalle jene Elemente der Musik, die zu etwas anderemals Vorstellungen und Urteilen fuhren, alle subjektivistischen Beigaben der Musik, in der ästhetischenUntersuchung ausblenden und dürfte sich ausschließlich auf das "objektiv Gegebene" der Musikstützen, Dieses "objektiv Gegebene" kann dann aberin nichts anderem als den ohne alles Subjektive bestehenden musikalischen Formen gefunden werden.Es läßt sich leicht sehen, daß auch die HansliekseheAuffassung auf genau diesen Nenner gebracht werden kann.
Nach alle dem scheint es mir durchaus plausibel.daß Hansliek über Vermittlung Zimmermanns beimVerfassen von VMS entscheidende Anregungen nichtdurch Herbart (was schon wegen Zimmermanns erstnach der Fertigstellung von VMS erfolgter Hinwendung zu Herbart wahrscheinlich scheint), sondernvon Bolzano bezogen hat Ich möchte freilich hiernicht die Auffassung vertreten, daß die ganze Schriftvorrangig unter diesem Einfluß steht, denke aber, daßsich manche geistesgeschichtlichen Zusammenhänge(z.B. die interessanten Anklänge an eine phänomenologische Betrachtungsweise, die wir in VMS immerwieder finden) und auch einige bislang alsmiteinander unverträglich angesehene Elemente derHanslieksehen Ästhetik leichter in ein konsistentes
73 ebd., p.89
KRITERION
Bild fügen, wenn man den Einfluß Bolzanos auf
Hansliek anerkennt.
Auf welche Weise Hansliek diese Anregungen be
zogen haben könnte, ob durch Gespräche und Korre
spondenz mit Zimmermann oder vielleicht durch di
rekte Lektüre von Schriften Bolzanos (daß sich Ver
weise auf Bolzano in VMS nicht finden, würde sich
in diesem Fall wohl auch dadurch erklären lassen,
daß jede Berufung auf seine Schriften, nach dem un
glücklichen Ausgang des Bolzanoprozesses, zumin
dest äußerst unopportun gewesen wäre; auch Zirn
merman mußte schließlich die Herkunft der Ideen
seiner Philosophischen Propädeutik verbergen), wird
sich schwer ermitteln lassen. Möglicherweise hat
auch Hanslieks Vater, Universitätsskriptor und zeit
weiliger Professor für Ästhetik in Prag, Hansliek mit
einigen Gedanken Bolzanos vertraut gemacht. Hans
lick teilt uns in seinen Lebenserinnerungen die Über
zeugung des Vaters mit, "Wesen und Grundlage der
Religion sei nur die Moral, bei gleichen moralischen
Grundsätzen seien alle Glaubensbekenntnissegleichwertig"?", die er den Kindern vermitteln woll
te, Da dies auch eine zur damaligen Zeit nicht gerade
selbstverständliche Position Bolzanos war, wäre eine
Beeinflussung Hanslieks unter Umständen auch von
dieser Seite zu erwägen.In der Fortsetzung dieses Artikels - die voraus
sichtlich in der nächsten Kriterion-Nummer erschei
nen wird >- möchte ich versuchen, dem Nachleben
vor allem von Hanslieks Kritik der GefiiWstheorie
(etwa bei Popper und Wittgenstein) nachzugehen.
Literatur
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Leipzig 1896.
AmL: Aus meinem Leben. (ed Wapnewski) Kassel
1987
SS: Sämtliche Schriften. Historisch-kritische Aus·gabe (ed Strauß) Wien et al 1993,
74, (AmU. p,9
30
b) Zitierte Schriften Bolzanos:
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phische Abhandlung. In: Bernard Bolzanos Schriften, Bd. 4. (ed. Winter) Prag 1935.
c) Sonstige zitierte Literatur:
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Blume, F. (EH): "Eduard Hanslick", in: Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG). Kassel 1953ff.
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