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Bertolt Brecht, Helene Weigel Briefwechsel | Bodo Kirchhoff Die Liebe in groben Zügen | Ernst Burren Dr Troum vo Paris | Geschenktipps Kinder- und Jugendbuch | Urs Altermatt Das historische Dilemma der CVP | Porträt Maurice Chappaz | Weitere Rezensionen zu Hildegard von Bingen, Mira Magén, Paul Kennedy, Karl Heinz Bohrer und vielen anderen Nr. 10 | 25. November 2012

BertoltBrecht,HeleneWeigel Briefwechsel| BodoKirchhoff … · 2017. 3. 8. · Die Villen und GärtenRoms VonGenevièveLüscher 26 Shulamit Volkov:Walter Rathenau VonPeterDurtschi

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Page 1: BertoltBrecht,HeleneWeigel Briefwechsel| BodoKirchhoff … · 2017. 3. 8. · Die Villen und GärtenRoms VonGenevièveLüscher 26 Shulamit Volkov:Walter Rathenau VonPeterDurtschi

Bertolt Brecht, HeleneWeigel Briefwechsel |Bodo KirchhoffDie Liebe ingrobenZügen |Ernst BurrenDrTroumvoParis | GeschenktippsKinder-und Jugendbuch |Urs AltermattDas historischeDilemmaderCVP | PorträtMaurice Chappaz |Weitere Rezensionen zuHildegard von Bingen, Mira

Magén, Paul Kennedy, Karl Heinz Bohrer undvielen anderen

Nr. 10 | 25. November 2012

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Inhalt

25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 3

Belletristik4 Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen

Von Sieglinde Geisel6 Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter

Von Sandra Leis7 Thomas Lehr: Grössenwahn passt in die

kleinste HütteVonMarkus Bundi

8 Mira Magén: Wodka und BrotVon Stefana Sabin

9 Ken Bruen: Jack Taylor geht zum TeufelVon Bruno Steiger

10 Ernst Burren: Dr Troum vo ParisVonManfred Papst

11 Michèle Desbordes: Die BitteVon Simone von BürenBernard Schultze – GegenweltenVonGerhardMack

12 E-Krimi des MonatsMika Bechtheim: BruderschattenVonChristine Brand

Kurzkritiken Belletristik12 Wisława Szymborska: Glückliche Liebe

VonManfred PapstMarie NDiaye: Ein Tag zu langVon Regula FreulerNancy Mitford: Englische LiebschaftenVon Regula FreulerDino Buzzati: Die TatarenwüsteVonManfred Papst

Kinder- und Jugendbuch14 Tobias Elsässer: Wie ich fast berühmt wurde

VonAndrea LüthiPaul Biegel: Eine Geschichte für den KönigVonVerenaHoenigRosemary Wells: Die Reise des Oscar OgilvieVonVerenaHoenigIngrid Olsson: Als würde man (...) schnipsenVonAndrea Lüthi

Meg Rosoff: Oh. Mein. Gott.VonChristine Knödler

15 Alice Gabathuler: Matchbox BoyBettina Wegenast, Jud. Zaugg: Ist da jemand?VonDaniel AmmannJürgen Brater: Was macht der U-Bahn-Fahrer,wenn er muss?VonAndrea LüthiSilke Vry: 13 optische Tricks, die du kennensolltestVonVerenaHoenigFelix Homann: Erneuerbare EnergienVonHans ten DoornkaatRuth Omphalius: Das geheimnisvolleUniversum der OzeaneVon Sabine Sütterlin

Porträt16 Abtrünniger Sohn aus demWallis

VonMartin Zingg

Kolumne19 Charles Lewinsky

Das Zitat von Juvenal

Kurzkritiken Sachbuch19 Peter Bieri: Eine Erzählung schreiben und

verstehenVonUrs RauberStef Stauffer: Steile WeltVonUrs RauberJoachimWahl: 15000 Jahre Mord undTotschlagVonGeneviève LüscherAlexander Schrepfer-Proskurjakov: SpeznasVon ReinhardMeier

Sachbuch20 Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis

VonKathrinMeier-Rust

22 Daniele Ganser: Europa im ErdölrauschVonTobias Kaestli

23 Bertolt Brecht, Helene Weigel: Briefe 1923–1956. «ich lerne: gläser + tassen spülen»Jan Knopf: BrechtVonMartinWalder

24 Paul Kennedy: Die Casablanca-StrategieVonUrs Bitterli

25 Haide Tenner: «Ich möchte so lange leben, alsich Ihnen dankbar sein kann»Von Fritz TrümpiAlberta Campitelli, Alessandro Cremona:Die Villen und Gärten RomsVonGeneviève Lüscher

26 Shulamit Volkov:Walter RathenauVon Peter DurtschiAndrea Fink-Kessler: Milch – VomMythos zurMassenwareVonAdrian Krebs

27 Brian Greene: Die verborgene WirklichkeitErnst Peter Fischer: Niels BohrWalter J. Moore: Erwin SchrödingerVonAndré Behr

28 Urs Altermatt: Das histor. Dilemma der CVPVon Felix E.Müller

29 Michaela Diers: Hildegard von BingenVonGeneviève LüscherMouhanad Khorchide: Islam istBarmherzigkeitVonKlara Obermüller

30 Gisela Tobler: Hüter der EhreVonUrs RauberDas amerikanische BuchBill O’Reilly, Martin Dugard: Killing KennedyVonAndreasMink

Agenda31 André Tschan, Lurker Grand: Heute u. danach

VonManfred PapstBestseller November 2012Belletristik und SachbuchAgenda Dezember 2012Veranstaltungshinweise

Sollten Sie nach der Lektüre von «Bücher am Sonntag»manchmal einunbehagliches Gefühl verspüren – in der Art: «Was! So viele Bücher,die ich lesenmöchte! Doch wann?» –, sind Sie nicht allein. Mir zumBeispiel geht es dauernd so – wenn ich eine Buchhandlung betrete, ineiner Lesung sitze oder auf eine begeisternde Besprechung stosse.Schlimmer noch: Leute wie Sie und ich sind gierig, getrieben und labil;haben eine schwache Immunabwehr.Wir sind süchtig nach neuenBiografien, Romanen oder Gedichten. Versessen auf Briefwechselfremder Personen – ja, Schlüsselloch-Fetischisten. Lassen uns von denunglaublichsten Stories verführen. Hängen amTropf grosser Autoren.Sie kennen das? Eben: Sie sind infiziert vom Lesefieber. Eine unheilbareKrankheit, höchstens Schmerzstillung ist möglich.Als Palliativum können wir Ihnen auf den folgenden Seiten ein paarBücher empfehlen: Von Burren bis Brecht, MiraMagén bis MichèleDesbordes, Maurice Chappaz und S. Corinna Bille, Paul Kennedy oderUrs Altermatt. Für vomVirus befallene Jugendliche haben wir auf derDoppelseite 14/15 Suchtstillendes zusammengetragen.Nunwünschen wir Ihnen frohe Festtage. Nutzen Sie die freie Zeit, umIhrer Seele und ihren Sinnen etwas Linderung zu verschaffen, bevor Sie2013 der unerbittliche Alltag wieder in den Griff nimmt. Unsere nächsteAusgabe erscheint am 27. Januar.Urs Rauber

WasBüchermitTablettengemeinhaben

Bertolt Brecht(Seite 23).Illustration vonAndré Carrilho

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), KathrinMeier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)Ständige MitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, BeatrixMesmer, AndreasMink, Klara Obermüller, Angelika Overath,Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AGVerlagNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 04425811 11, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]

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Belletristik

4 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Bodo Kirchhoff: Die Liebe in grobenZügen. Frankfurter Verlags-Anstalt,Frankfurt 2012. 669 Seiten, Fr. 38.50,

E-Book Fr. 24.20.

Von Sieglinde Geisel

«Die letzten Spuren von etwas Jungem

perlten von ihm ab und von ihr die ers-

ten Stückchen.» Für Vila (53) und Renz

(65) geht es allmählich ans Eingemachte,

man sieht den drohenden Herzinfarkt

kommen und damit die bange Frage:

War’s das schon – oder kann alles noch

einmal anders werden?

Bodo Kirchhoff versetzt diese Frage

nach dem Glück und die «Liebessehn-

sucht», die daraus folgt, in ein Milieu,

das für Sinnkrisen wie geschaffen ist: in

jenes von Medienleuten, die das Fernse-

hen hassen, von dem sie ganz gut leben,

wenn auch weniger glamourös, als sie es

gerne hätten. Die beiden verdanken dem

Fernsehen das Ferienhaus am Gardasee

(«jeder Stein ihres Hauses ein leeres

Wort»); Renz ist der «Vorabend-Niveau-

Anheber-Pionier», Vila die «Mitter-

nachtskultur-Vorkämpferin mit ab-

wärtsgehender Quote». Die krebskran-

ke Producerin Marlies und Geliebte von

Renz wäre eine tragische Figur, wenn

das bei Fernsehleuten denkbar wäre.

Keine grossen Stoffe hat sie je realisiert,

so ihre Bilanz, als sie im Sterben liegt:

«Immer nur den Liebesmüll am Sonn-

tagabend. Und Problemmüll am Mitt-

woch. Und Polizeimüll am Freitag.» Die

Accessoires des gehobenen Lebens sind

wichtig, etwa der «nicht mehr ganz tau-

frische Jaguar» und Weinsorten («ein

Cà dei Frati, genau das Richtige wäh-

rend eines Gewitterregens»). Wir befin-

den uns in der gemässigten Zone der

Gefühle, wo nichts weiter droht als «die

sanfte Vergiftung durch das Banale wie

durch ein geruchloses Gas». Einer der

brillanten Sätze, mit denen Kirchhoffs

biedere Mittelstandsprosa immer wie-

der überrascht.

Die Liebe als Rettung aus der Banali-

tät – eine erzählerische Behauptung, die

nicht unbedingt ins Abgeschmackte kip-

pen muss. Denn genau dazu ist die Liebe

ja da, zwischen Menschen das Grösste

und das Niedrigste, das Einfachste und

das Komplizierteste – «ein Schrecken

fast ohne Vorzeichen, wohl der heil-

samste, den das Leben bereithält». Vila

und Renz verlieben sich beide in jemand

anderen, und es ist schwer zu sagen, ob

Vila mit Bühl, dem Wintermieter des

Hauses am Gardasee, mehr Glück hat

(und erlebt) als Renz in der begrenzten

Zeit mit Marlies.

Er habe für Liebe und Sexualität eine

neue Sprache finden wollen, sagt Kirch-

hoff derzeit gern in Interviews, und er

geht damit eines der grössten Wagnisse

ein, die das Schreiben zu bieten hat.

Nicht immer gelingt es Kirchhoff, die

Klippen von Kitsch und Peinlichkeit zu

umschiffen. Liebessehnsucht sei «die

Krankheit, die man selbst engen Freun-

den verschweigt», heisst es, doch es ist

nicht irgendeine Krankheit, sondern

eine Art Krebs: «…der einzige Tumor,

mit dem man mitwächst», so Vila,

«darin ihr geheimes Leben, gesammelt

zu einer, wenn sie nicht aufpasst, nach

aussen strahlenden Wahrheit: dass sie

endlich wieder liebt.» So wuchert eine

fragwürdige Metaphorik. «Für Liebe ist

die Musik zuständig; schon bei Worten

wird es grob», sinniert Vila, in einer

Wendung, aus der sich immerhin der

Titel des Romans speist. Eine Warnung

an Leser, die auf «Stellen» aus sind?

Grobe Worte benutzt Kirchhoff kaum

(abgesehen von dem etwas lächerlichen

halbherzigen Versuch, das Verb «fi-

cken» wieder zu rehabilitieren).

Man ist berührt von der Unschuld in

Liebesdingen und der fast jugendlichen

Zartheit, die sich die Figuren bewahrt

haben, trotz früherer Affären. Und doch

gehen dem Autor unerwartet schnell die

Worte aus für das, was geschieht, wenn

zwei miteinander ins Bett gehen, «kein

harmloses Tun, ein riskantes hinter den

Linien, es gibt kein Wort dafür, bloss

leere Wörter», wie er selbst weiss. Stän-

dig ist die Rede von diesem «Tun» und

vom «Kommen» – «und schliesslich

kam er in ihr, ein Glück wie mit Händen

zu greifen», «und dann gleich noch den

Slip herunterzuziehen und sie dort zu

liebkosen, wo nur Gutes zusammenläuft

und am Ende in Wogen verströmt»,

«bevor er sich verströmte in ihr» usw.

Duschen mit San PellegrinoDoch betulich sind nicht nur die Worte,

sondern auch der Liebesrausch. Dem

heimlichen Treffen mit Bühl in der Ka-

pelle von Campo fiebert Vila seit Tagen

entgegen, sie ist pünktlich, und Bühl er-

wartet sie in dem alten Gemäuer mit

drei Flaschen San Pellegrino – weiss er

doch, dass sie erst einmal wird duschen

wollen, verschwitzt, wie sie ist, nach

dem zwanzigminütigen steilen Anstieg!

Das Duschen ist in diesem Roman so

wichtig wie die Weinsorten und die

RomanBodoKirchhoffs neues Buch erzählt von einer alten Ehe. Eswird von derKritik als

literarisches Schwergewicht der Saison gehandelt

Wohlfühl-LektürefürWinterabende

Bodo Kirchhoff wurde 1948 geboren, erlebt als Schriftsteller in Frankfurt amMain sowie in seinem Haus in Torri delBenaco am Gardasee. 1979 erschien seinerstes Werk, «Ohne Eifer, ohne Zorn»,1981 der Erzählband «Die Einsamkeit derHaut». Zu seinen wichtigsten Romanengehören der Bestseller «Infanta» (1990),«Der Sandmann» (1992), «Parlando»(2001) und «Eros und Asche» (2007).Sein neuster Roman, «Die Liebe ingroben Zügen», war diesen Herbst unterden zwanzig Titeln der Auswahlliste desDeutschen Buchpreises.

BodoKirchhoff

LAURAJA

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 5

AmGardasee suchenBodo KirchhoffsRomanfiguren ihrGlück, ihre grosseLiebe und verstrickensich in Banalitäten.

BER

THOLD

STEINHILBER

/LA

IF

Kleinigkeiten der ständigen Reisen zwi­

schen Frankfurt, München, dem Garda­

see und Assisi, alles Ablenkungen von

allem, was in dieser Geschichte existen­

ziell sein könnte.

Dabei ist Bodo Kirchhoff ein versier­

ter Autor, der sich mit Konstruktion und

Dramaturgie auskennt und auf raffinier­

te Weise die Fäden zwischen den par­

allel geschalteten Liebesgeschichten

knüpft. Bühl, der ehemalige Latein­ und

Ethiklehrer, ist der Widerpart zur Me­

dienschickeria, einer, der Wörter wie

«professionell» verabscheut («zu leb­

los») und der schöne Dinge sagt («Le­

bendig heisst liebend»), ein vom Miss­

brauch Gezeichneter auch, der trotz

seiner rätselhaften Anziehungskraft

vielleicht gar nicht fähig ist zur Liebe.

Bühl hat als einzige Figur das, was man

«eine Vergangenheit» nennen könnte,

und er schreibt ausserdem ein Buch

über das Liebessehnen des Franz von

Assisi und der heiligen Klara, dessen

frisch in den Laptop getippte Seiten in

die Erzählhandlung eingestreut werden

– ein allerdings bemühter Kommentar

aus der Ferne der Geschichte. Katrin

wiederum, die Tochter von Vila und

Renz, schreibt eine ethnologische For­

schungsarbeit über das Liebesleben

eines Amazonasstamms; die Textpassa­

ge, die sie ihren Eltern von Brasilien aus

per Mail zuschickt, lässt sich ebenfalls

als Kommentar zum Romangeschehen

lesen: «…aber unter allen bekannten

Kulturen [...] gibt es keine, die das Sexu­

elle nicht regelt, es ist zu gefährlich.»

Worte fliessen atemlosGrosse Literatur sei, so Gilles Deleuze,

«die Befreiung einer Lebensmacht» und

damit ein Akt des Widerstands. Dieses

Buch befreit nichts, und es leistet keinen

Widerstand, deshalb liest es sich so

leicht: Wohlfühllektüre für den Herbst

und für die Couch, ohne Konsequenzen

für das Leben. «Und am Morgen kalter

Rauch im Wohnraum, auf dem Esstisch

ein fremdes Notebook, Apple, daneben

Zettel mit Notizen, ein voller Aschenbe­

cher, Wasserglas und Schmerztabletten,

das Päckchen aufgerissen; die Tür zum

Gästezimmer war geschlossen, im Bad

brannte Licht. Marlies?» Die Worte

fliessen nur so über die Zeilen, etwas

atemlos und ohne viel Gewicht. Bei den

Dialogen fehlen Anführungszeichen –

ein Verfahren, welches das Lesen zu­

sätzlich beschleunigt, indem es alle

Worte in dieselbe Distanz rückt.

Bodo Kirchhoff trifft den berühmten

Nerv, jedenfalls dort, wo er blank liegt,

also bei der Generation jenseits der

fünfzig: Männer und Frauen, die sich in

einer soliden Ehe massvoll langweilen

und das Herzrasen in der Liebe noch

einmal spüren wollen ebenso wie den

belebenden Sex. Stört es dabei, dass

kaum einer der glatten Sätze für sich al­

lein bestehen könnte, dass keine der Fi­

guren grösser ist als wir selbst, «Elfi und

Lutz, Anne und Edgar, die Gebhards, die

Hollmanns, die Schaubs», die Namen

muten so durchschnittlich an wie die

Leute. Sind es also keine literarischen

Figuren, sondern eben Fernsehpersonal,

«Vorabendzeug», wie Renz es nennen

würde? Am Ende bleibt in der alten Ehe

alles beim Alten. Marlies ist tot, Bühl

verschollen, zurück bleiben Vila und

Renz, «zwei Menschen mit Umgangslie­

be» – und ein klassischer Zeitroman. So

unwiderstehlich die Verführungskraft

des Heutigen auf uns Heutige wirken

mag, so gestrig wirken solche Bücher

wenige Jahre später. l

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Belletristik

6 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter.

Erzählung einer Jugend. Hanser,München 2012. 317 Seiten, Fr. 27.90.

Von Sandra Leis

Kürzlich feierte Karl Heinz Bohrer sei-nen 80. Geburtstag – von der konserva-tiven «Welt» bis zur linken Tageszei-tung «taz» versäumte es in Deutschlandkein namhaftes Blatt, diesem europäi-schen Denker die Ehre zu erweisen.Denn der Linkskonformismus war ihmgenauso ein Greuel wie die grassierendeVerspiesserung unter Helmut Kohl.Vielleicht lebt Bohrer deshalb seit vie-len Jahren in London und Paris.

Im deutschsprachigen Raum bekanntwurde Bohrer 1968, als er zum Literatur-chef der «Frankfurter Allgemeinen Zei-tung» (FAZ) ernannt wurde. Sechs Jahrespäter löste ihn Marcel Reich-Ranickiab. Im Jahr 1975 ging Bohrer als Korres-pondent für die FAZ nach London. Erwar Professor für Literaturwissenschaftan der Universität in Bielefeld und vieleJahre Mitherausgeber des «Merkurs»,einer «Zeitschrift für europäisches Den-ken». Die Zeitschrift positionierte Boh-rer als Kontrapunkt zum «Kursbuch»von Hans Magnus Enzensberger.

Überraschende PerspektiveParallel dazu schrieb er zwanzig Bücherund versucht sich nun mit «Granatsplit-ter» in einem weiteren Genre: der Er-zählung. Im Postskriptum schreibt Boh-rer, dass seine «Erzählung einer Jugend»nicht Teil einer Autobiographie sei, son-dern «Phantasie einer Jugend». Dasklingt nach «Ich schreibe Literatur!»,doch die Stationen dieser Kindheit undJugend stimmen mit der Realität über-ein: Bohrer kommt 1932 in Köln zurWelt. Der prinzipientreue Vater ist Na-tionalökonom und ein erklärter Gegnerdes aufkommenden Nationalsozialis-mus; die elegante, etwas liederlicheMutter stammt aus einfachen Verhält-nissen, schaut aus wie Greta Garbo undträumt von einer Filmkarriere. Weil dieEltern sich früh scheiden lassen, lebt derKnabe zunächst bei der Mutter, dann imhumanistischen Gymnasium und Land-schulheim Birklehof im Hochschwarz-wald, während des Krieges bei denGrosseltern auf dem Land und nach demKrieg wieder im Internat. Nach der Ma-tura reist er als Student erstmals nachEngland, wo er sich als Apfelpflückerverdingt und seine Liebe zu Grossbri-tannien entbrennt.

Die Erzählung «Granatsplitter» um-spannt die Jahre 1939 bis 1953 und ist ge-gliedert in drei Kapitel: Kriegsjahre, In-ternat und England. Überraschend andiesem Erinnerungsbuch ist die Per-spektive: Bohrer schreibt weder in derIch-Form noch in der Rolle des allwis-senden Erzählers. Held dieses Buches

ist «der Junge», der seinem Alter ent-sprechend seine Erlebnisse schildert.Das ist ein hoher literarischer Anspruch,und Bohrer setzt ihn immer wieder vor-züglich um. Beispielsweise wenn der7-Jährige sein erstes Bild des Krieges inWorte fasst: Es sind die Granatsplitter,die es als kleine funkelnde Überbleibselder Munition vom Himmel regnet. «DerJunge war regelrecht entzückt von die-ser Schönheit. Er hatte das gleiche Ge-fühl wie damals, als man ihm aus Tau-sendundeiner Nacht [...] vorgelesenhatte.» Etwas später ist es die katholi-sche Liturgie, die ihn als Messdiener inBann schlägt. Bis zu dem Tag, an demein Priester dem Buben im Beichtstuhlunziemliche Fragen stellt. Und plötzlichist der Zauber unwiederbringlich verflo-gen und der Glaube dahin.

Die von Bohrer gewählte Perspektivefunktioniert dann, wenn er ganz bei sei-nem Helden bleibt. Unglaubwürdig istes, wenn er einem 8-Jährigen Sätze inden Mund legt, wonach die Mutter «zujung und zu desinteressiert an seinenFragen» gewesen sei. Oder wenn derJunge Sätze von sich gibt wie «Frauen[...] waren manchmal so gedankenfreiwie Hühner». Solcherlei Plattitüden las-sen eher Rückschlüsse auf den Autor zuals auf den Knaben.

Ergötzt sich der Junge während desKrieges an Granatsplittern, so leidet ernach dem Krieg unter der bleiernenSprachlosigkeit. Nicht einmal ein Plakatvon toten Gefangenen des Konzentrati-onslagers Bergen-Belsen, das die Eng-länder auf jede Kölner Litfasssäule ge-

klebt haben, löst die Zungen. Das er-scheint dem Teenager genauso unheim-lich wie die Tatsache, dass er unterMen-schen lebt, die Nationalsozialisten ge-wesen waren.

Beklemmend wären diese Nach-kriegsjahre im zerbombten Köln, könnteder Junge seine Schulzeit nicht im Inter-nat im Hochschwarzwald fortsetzen. Erflieht die Wirklichkeit und stellt sichvor, er befände sich an «einem altgrie-chischen Ort». Er lernt begeistert Grie-chisch und Latein, spielt leidenschaft-lich Theater und ist fasziniert vom Film.Er liest sich durch die Weltliteratur undkommt so zu einer umfassenden Bil-dung, die den Grundstock bildet für sei-nen beruflichen Werdegang.

Passt in keine SchubladeDoch auch das Internat ist keine Inselder Glückseligen: Der SchuldirektorGeorg Picht war ein erklärter Gegnerdes Regimes und stellt etwa die Witweeines Widerstandskämpfers vom 20. Juli1944 ein. Auf der anderen Seite unter-richten auch Lehrer an der Schule, diedas NS-Regime gestützt haben und des-halb nicht mehr an der Universität leh-ren dürfen. Eines Tages fragt der Jungedie Witwe, wie sie damit umgehe. «DasLeben müsse weitergehen, meinte sie.[...] Er sah das ein, aber es ging ihm nichtaus dem Kopf.»

Widersprüche sind Teil jedes Lebens.Das Buch «Granatsplitter» zeigt dies ex-emplarisch und macht nachvollziehbar,warum Karl Heinz Bohrer in keineSchublade passt. l

ErinnerungenKarlHeinz Bohrer ist ein intellektuelles Schwergewicht: Er attackierte die Linke undirritierte die Rechte. Im jüngsten Buch denkt der 80-Jährige über seine Jugend nach

Wieeinerwurde,waser ist

Die Kriegsjahre in

Deutschland bilden

Teil von K. H. Bohrers

Jugenderzählung.

Kinder in Köln

wärmen sich an einem

Feuer inmitten der

Trümmer, 1945/46.

WALT

ERDICK/BPK

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 7

Thomas Lehr, Autor undMitglied der Akademie der Künste, in Berlin.

ISOLD

EOHLB

AUM

/LA

IF

Thomas Lehr: Grössenwahn passt in die

kleinste Hütte.Kurze Prozesse. Hanser,München 2012. 106 Seiten, Fr. 18.90.

VonMarkus Bundi

Wenn schon die Lyrik ein Schattenda-sein führt, dann gilt das für die Aphoris-tik noch in verschärftem Mass. DieseGattung scheint so prekär zu sein, dassselbst dann, wenn ein Buchmit Aphoris-men erscheint, dieser Umstand lieberverschwiegen und besser stellvertre-tend etwas anderes angekündigt wird,«Kurze Prozesse» zum Beispiel. So lau-tet der Zusatz zu Thomas Lehrs jüngs-tem Band mit dem Titel «Grössenwahnpasst in die kleinste Hütte». Es handeltsich dabei um eine Sammlung vonAphorismen, die keineswegs kaschiertzu werden brauchte.

Das Konzise, Merkmal jedes geglück-ten Aphorismus, zeichnet so mancheSentenz Lehrs aus. Vielleicht liegt gera-

de darin das Unbehagen, die Sorge umein bald nicht mehr vorhandenes Ziel-publikum: «Das letzte intellektuelleProblem scheinen heutzutage die letz-ten Intellektuellen zu sein. Sie müssensich schon selber wegdenken.»

Dennwas ebenso notwendig für dieseGattung gilt, hielt Harald Fricke noch imvergangenen Jahrhundert in seinemStandardwerk «Aphorismus» fest: Er istein Text «für zwei Mitspieler». Nun be-darf jeder literarische Text zweier Mit-spieler, doch fällt bei Aphorismen ebenganz viel Denkarbeit dem Leser zu. Somuss dieser auch damit rechnen, vonder Lektüre so einiges abzubekommen:«Die Hoffnungslosigkeit einer gesicher-ten Existenz muss man erst einmal er-tragen lernen.»

Erstaunlich vielleicht auch, dass aus-gerechnet Thomas Lehr, Jahrgang 1957,der sich bislang mit opulenten Romanenwie «Nabokovs Katze» (1999) oder zu-letzt «September. Fata Morgana» (2010)einen Namen gemacht hat, nun vorstel-

lig wird mit dieser knappsten Form.Oder vielleicht doch nicht? Die epischePräzision, welche in den Romanen Un-fassbarkeiten birgt, findet sich nun ge-zielt fragmentiert in den Aphorismenaufgeho ben. In diesem Sinne lässt sichauch der Titel der Aphorismen-Samm-lung verstehen: «Grössenwahn passt indie kleinste Hütte». Denn er geht injeden Kopf, wenn dieser denn überhauptzu lesen und zu verstehen imstande ist.Sodann mag einer womöglich PlatonsHöhlengleichnis neu lesen, wenn er zuergründen versucht, was in einem derkürzesten Lehrismen steckt: «Text ohneSchatten.» l

AphorismenThomas LehrsTexte sind knappsteSinneinheiten, die den Leser herausfordern

DenkarbeitundPräzision

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©C.

Bert

elsm

ann

Verla

g

Lesen Sie auf: www.cbertelsmann.de Besuchen Sie uns auf Facebook!

320 Seiten

Gebunden

CHF 28,50

Ein aufrüttelnder, provokanter Appell, die Massen-

vernichtung durch den Hunger endlich zu stoppen –

vom bekannten, gefeierten wie bekämpften

Globalisierungskritiker Jean Ziegler.

»Ein großes Buch, hervorragend recherchiert.«Süddeutsche Zeitung

Doch: Wir lassen sie verhungern.

Eigentlich könnte die Welt12 Milliarden Menschen ernähren.

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Belletristik

8 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Mira Magén: Wodka und Brot.Aus demHebräischen vonMirjam Pressler. dtvpremium,München 2012. 393 Seiten,Fr. 23.90, E-Book 17.90.

Von Stefana Sabin

Sie sind das Musterbeispiel des moder-nen erfolgreichen Paares: Amia ist hoheBankangestellte, Gideon ist ein Starunter den Staatsanwälten, sie habeneinen netten, klugen Sohn und eineschöne Wohnung in der besten Gegendvon Jerusalem. Aber eines Tages hat Gi-deon mitten in einem Plädoyer einenAussetzer, und von da an ist nichts mehr,wie es war. Der Himmel, erinnert sichAmia, «verlor seine blaue Farbe, meinHerz sagte mir, es sei die richtige Zeit,sich dem erstickenden Druck der Kar-riere zu entziehen.» Und so beschliesstAmia auszusteigen.

Die beiden geben ihre Berufe auf undtauschen die schicke Stadtwohnunggegen eine einfache Hütte auf dem Landein. Amia übernimmt den elterlichenLebensmittelladen, während Gideonsich als Fischer versucht. «An Neujahr,wenn alle ihre Vergangenheit bedenken,bedachte ich gegenmeinenWillen unse-re Zukunft.»

Dieses Neujahrsfest ist der Höhe-punkt imneuenRoman vonMiraMagén.Wie schon in ihren früheren Romanenerzählt Magén die Geschichte einerFrau, die in einer Lebenskrise steckt.Denn der neue Lebensentwurf wird so-gleich von schrecklichen Sorgen konter-kariert, als sich herausstellt, dass Gi-deons Aussetzer das Symptom einerschweren Krankheit war. «Wir habenbeide gedacht», sagt Gideon zu Amia,«ich hätte zu viel im Kopf, dabei ist ereigentlich immer leerer geworden.»

Zwar wird diese Krankheit im Romannie genannt, aber in der emphatischenBeschreibung von Gideons Verhaltenwerden bekannteMuster von Alzheimererkennbar. Der Roman ist jenem israeli-schen Richter gewidmet, der, wie Gi-deon im Roman, im frühen Alter an Alz-

heimer erkrankte und seinen Beruf,seine Familie und seine Freunde ver-liess, um in Würde allein mit dem lang-samen Sterben fertig zu werden.

«Der Mensch weiss nicht mehr, waser tun soll und was nicht», sagt Amia,für die auch Gott keine helfende Instanzmehr ist, immer wieder verzweifelt.Wiealle Frauenfiguren in Magéns Romanenhadert auch Amia mit der hergebrach-ten Tradition: Ihr modern-säkularer Le-bensstil steht im Gegensatz zu den reli-giösen Gebräuchen ihrer Familie.

Aber den Konflikt zwischen säkularerund religiöser Lebensführung trägt indiesem Roman eine Nebenfigur aus:eine junge Obdachlose, die sich Madon-na nennt und sich bei Amia einnistet.Mit ihrem christlichen – selbstgewähl-ten – Namen, ihrer vulgär aufreizendenKleidung und ihrem frivolen Benehmenist sie eine ständige Provokation des re-ligiösen und bürgerlichen Anstands.

Madonnas unerwartetes Auf- und Ab-tauchen und ihre gut gemeinte Übergrif-figkeit aktivieren in Amia eine elemen-

RomanDie israelischeAutorinMiraMagén erzählt die berührendeGeschichte einerAlltagsheldin

WenndasLebenneubeginnt

Die Psychologinund Autorin MiraMagén thematisiertin ihrem Roman denUmgangmit einerKrisensituation.

TORSTENSILZ/DAPD

tare Vitalität und somit auch ihreSelbstrettungskraft. Am Ende findet sieeinen angemessen Weg, um mit derKrankheit ihres Mannes, den Fragenihres Sohnes und ihren eigenen Gefüh-len fertig zu werden. «Ich kann die Zu-kunft nicht steuern», denkt Amia undüberlässt sich einer Vorsehung, an diesie nicht mehr glaubt. «Nimm es, wie esist, sagte ich mir, eine Mutter und einSohn und Glück, von dem man nichtwissen kann, wie lange es anhält.»

Mira Magén konzentriert sich auf dieemotionale Realität der Hauptfigur. Wieschon in früheren Romanen erzählt sieeine beispielhafte Geschichte vom ange-messenen Umgang mit einer Krisensi-tuation. Die Autorin ist ausgebildetePsychologin und versteht ihre Romanedurchaus auch als eine Art Lebenshilfe.Dass Amia keine Powerfrau, sonderneine Heldin des Alltags ist, die sich ganzohne Bitterkeit einer neuen Realität an-zupassen lernt und ein neues Leben be-ginnt, macht ihre Geschichte umsonachvollziehbarer. l

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»Peter war wie eine Sternschnuppein meinem Leben . . .« Angelika Schrobsdorff

Erstmals in Deutschland veröffentlicht: Die Briefe vonAngelika Schrobsdorffs Bruder Peter Schwiefert an die Mutter.

Ein einzigartiges, intimes und zeitgeschichtliches Dokumentmit zahlreichen Photographien und Faksimiles.

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Angelika Schrobsdorffs Bruder Peter Schwiefert an die Mutter. Ein einzigartiges, intimes und zeitgeschichtliches Dokument

Angelika Schrobsdorffs Bruder Peter Schwiefert an die Mutter.

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Leseprobe

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 9

Racheengel undErlöserfigur: derErmittler Jack Taylor(dargestellt von IainGlen) in der neuenSerie, die 2013 imZDF ausgestrahltwird.

MOLTENROCKMEDIA

Ken Bruen: Jack Taylor geht zum Teufel.Aus dem Englischen vonHarry Rowohlt.Atrium, Zürich 2012. 244 Seiten, Fr. 23.50.

Von Bruno Steiger

Die an der irischen Westküste gelegeneStadt Galway, die dem Besucher sofreundlich, licht und südländisch er-scheint, hat offenbar auch ihre dunklenSeiten: In Ken Bruens bislang siebenbrandschwarzen, von Harry Rowohltsouverän ins Deutsche gebrachten Ro-manen um den Privatermittler Jack Tay-lor werden Schwäne massakriert, Nicht-sesshafte reihenweise umgebracht,junge Männer gekreuzigt, Schulmäd-chen von katholischen Nonnen zu Todegequält. Zum Beispiel im vierten Bandgeht ein Killer um, der bei seinen Op-fern jeweils ein Buch des irischen Dra-matikers John Millington Synge zurück-lässt. Oder in Band 5 findet Taylor nachseiner Entlassung aus der Nervenklinikden abgetrennten Kopf eines Priesters.

Typischer TelegrammstilDas Böse in seinen grauslichsten For-men hält die Stadt in den Klauen. Dage-gen stemmt sich Taylor mit allen ihmzur Verfügung stehenden Mitteln, sei-nerseits gebeutelt von übermässigemAlkohol- und Drogenkonsum. Gegen dieunvermeidlichen Folgeerscheinungenhelfen ihm die Bücher, die er sich regel-mässig im Trödelladen einer Wohl-fahrtsinstitution besorgt. Augustinusund Pascal sind seine Favoriten, in denschlimmsten Stunden des Entzugs hälter sich an das Neue Testament und dieNoir-Klassiker David Goodis und JimThompson. Seinem Unmut über dieGreueltaten gibt er mit einem Hurling-Schläger tödlichen Ausdruck, zuweilenkommen auch Messer und Pistole zumEinsatz. Viel Worte mag Taylor über

seine einsamen Racheaktionen nichtverlieren, das zu Erledigende wurde er-ledigt, und damit hat es sich.

Zu Beginn des soeben erschienenenachten Bands der Serie scheint Taylor esmit dem Teufel persönlich zu tun zu be-kommen. In der Flughafenbar von Gal-way hat er, nach einer sechsmonatigen,mit Xanax knapp in Schach gehaltenenTrockenphase und dem erfolglosen Ver-such, sich nach Amerika abzusetzen,den üblichen «doppelten Jameson, dazueine Pint vom Schwarzen» geordert, alser des Typen auf dem Nebenstuhl ge-wahr wird. So wird der unheimlicheFremde in dem für Bruen typischen Te-legrammstil, in welchem Sätze fastdurchweg mit Absätzen identisch sind,kolportiert: «Grosser schlanker Mann,wunderhübscher Anzug. / Armani odersonst was für mich Unerschwingliches./ Langes Haar, blond mit Strähnchen,hübsches Gesicht, aber irgendwie…da-neben. / Vielleicht der gemeine, nachunten gezogene Mund. / Ein umwerfen-des Lächeln, nur leicht beeinträchtigtvon zwei schiefen Zähnen. / Und seinEau de Cologne – ganz oben angesiedelt,keine Frage, aber darunter etwas ande-res, wie Knoblauch, der zu lange in derSonne gelegen hat.»

Am unheimlichsten erscheint JackTaylor der Name des Fremden: Kurt.Dieser «Kurt» nun ist es, der auf den fol-genden 200 Seiten des Buches unterdem nicht minder verstörenden NamenCarl eine sinnloser nicht denkbare Blut-spur durch Galway zieht und gleichzei-tig Jack Taylor als den einzigen ihmebenbürtigen Widersacher für seineZwecke einzuspannen versucht, mit sa-tanistischen Drohungen und Beste-chungsversuchen. Dazu gehören einpostalisch übermitteltes Gewinnlosüber 250000 Euro ebenso wie die 50schwarzen Kerzen und der ausgeweide-te Hund in TaylorsWohnung, womit der

Teufel seiner nie fassbaren Allgegen-wart Nachdruck verleiht. In einer Holly-wood-reifen Endabrechnung scheintTaylor schliesslich die Oberhand zu ge-winnen; mit drei gezielten Schüssen,erst ins Gemächt, dann ins Herz undschliesslich «zwischen die Zähne»bringt er den Unheilsbringer zur Stre-cke. Doch die Morde gehen weiter.

Kaputter HeldKen Bruen, 1951 in Galway zur Welt ge-kommen und heute nach einem beweg-ten Leben wieder in seiner Geburtsstadtansässig, hat am berühmten Trinity Col-lege in Dublin einen Doktortitel in Phi-losophie erworben, bevor er sich demSchreiben von Krimis zuwandte. Mitseiner Figur Jack Taylor hat der vielfachpreisgekrönte Autor einen der unge-wöhnlichsten und in verschiedener Hin-sicht kaputtesten Helden der neuerenKriminalliteratur geschaffen. Taylor er-scheint als Inkarnation eines Schmer-zensmannes von geradezu biblischemFormat. Im Verlauf der acht Romane –sie sind dank geschickt eingefügterRückblenden auch einzeln problemloszu lesen – entwickelt er sich vom ge-schassten Verkehrspolizisten zu einemwild um sich schlagenden Racheengel.Gleichzeitig nimmt er zusehends dieZüge einer eigentlichen Erlöserfigur an.

Ein Heiliger ist Taylor dennoch nicht,ganz im Gegenteil. Allen einschlägigenFreuden des Lebens zugetan, hat ergleichwohl etwas merkwürdig Asketi-sches an sich. Seine stellenweise fast an-steckend wirkende Sauflust wie auchsein Drogen- und Medikamentenkon-sum nehmen sich mehr und mehr alseine Art Selbstkasteiung aus.

Beinah scheint es, als sehne er sichnach einem für alle Zeiten gültigen Ka-tergefühl, mit dem sich die Schuld, einMensch – und dazu erst noch Ire! – zusein, abgelten liesse. l

Kriminalroman In seinem achtenAbenteuermacht JackTaylor Bekanntschaftmit demTeufel

BlutspurdurchGalway

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Belletristik

10 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Ernst Burren: Dr Troum vo Paris.Cosmos,Muri bei Bern 2012. 144 Seiten, Fr. 29.–.

VonManfred Papst

Der Solothurner Autor Ernst Burren ar-beitet mit der Präzision eines Uhrwerks.Alle zwei Jahre, jeweils im Herbst, legter einen neuen schmalen Band mit Ge-schichten vor. Sie spielen in seiner enge-ren oder weiteren Heimat Oberdorf amFuss des Weissensteins, und sie sind inder von funkelnden und schimmerndenDoppellauten geprägten Mundart derRegion geschrieben: in einer bildstar-ken, direkten Sprache, die indes nichtsAltertümelndes hat, sondern unsere ge-genwärtige Lebenswelt reflektiert.

Lange galt Mundartliteratur per se alsweltabgewandt und provinziell, als Ver-weigerung der Teilnahme an einer über-greifenden Sprachgemeinschaft. SchonGottfried Keller spricht einmal spöt-tisch von «Quabblern und Nasenkünst-lern». Wir sehen das heute anders. Esgibt in der Schweiz ein neues Selbstbe-wusstsein, das sich im Sprachgebrauchspiegelt. Barden von Mani Matter überBüne Huber bis zu Manuel Stahlbergerhaben dem Dialekt zu neuer künstleri-scher Akzeptanz verholfen, ohne inNostalgie zu verfallen, Schriftsteller wiePedro Lenz melden sich mit zeitgemäs-sen Büchern in Mundart zu Wort.

Mundart als adäquate FormAuch Ernst Burren schreibt seit je inMundart. Er kann nicht anders. Nachfrühen Versuchen im Hochdeutschen,die er später vernichtete, hat er seit 1970Texte in Mundart vorgelegt: Gedichtezunächst, dann kürzere und längere Ge-schichten, auch Dramen. Anfangs stander noch unter dem Einfluss Kurt Martisund Ernst Eggimanns, doch bald schonschrieb er sich frei. Er wusste: DasSchriftdeutsche wäre die falsche Spra-che für seine Alltagsgeschichten.

Seit er als Bub in einer Ecke der elter-lichen Beiz sass und denGästen zuhörte,während er seine Hausaufgabenmachte,seit er jedes ihn seltsam anmutendeWort auf langen Listen notierte, ist erder Sprache seiner Region zugeschwo-ren. «Nicht dass dieser Mann in Dialektgedichtet hat, sondern dass der Dialektin ihm dichterisch geworden ist, das istdas Entscheidende.» Der Satz, den CarlJ. Burckhardt in einem Gespräch überHebels «Alemannische Gedichte» Rai-ner Maria Rilke in den Mund legt («EinVormittag beim Buchhändler»), trifftauch auf Ernst Burren exakt zu.

Auf den Erfolg hat der 1944 geboreneAutor, der bis zu seiner Pensionierungals Primarschullehrer tätig war, dabeinicht geschielt. Er hat sich stets miteiner kleinen Schweizer Leserschaft zu-frieden gegeben. Das war 1970 so, alssein Erstling «Derfür und derwider» er-schien, und es ist heute nicht anders.

Denn darüber dürfen wir uns keine Illu-sionen machen: Geschriebene Mundart-literatur hat sich, Berner Rock hin, SlamPoetry her, beim breiteren Publikumselten durchgesetzt. Der Roman «DrGoalie bin ig» von Pedro Lenz ist einejener Ausnahmen, die die Regel bestäti-gen. In den meisten Fällen bringt esMundartliteratur nur auf kleine Aufla-gen. Auch Menschen, die gern Dialektsprechen und hören, tun sich eherschwer damit, ihn zu lesen. Das kann dieSMS-Kultur vielleicht ändern.

Wer zum ersten Mal Texte von Bur-ren vor sich hat, muss Wörter wie«schueu», «ruei», «äuä», «ömu», «au-be» (Burren schreibt konsequent klein)entziffern. Doch man liest sich ziemlichschnell ein, und der Gewinn rechtfertigtden Aufwand allemal. Plötzlich bewegtman sich in einer neuenWelt. Das Glückist mit jenem zu vergleichen, das manempfindet, wenn man zum ersten Malschwimmt oder Velo fährt.

Ernst Burren gehört zu den grossenAutoren der Schweizer Literatur. Es istkurios, dass sich das noch immer nichtwirklich herumgesprochen hat. Er hatseine Gemeinde, gewiss. Aber er hatmehr verdient. Denn er hat eine kleineSchweizer Region auf der Landkarte derWeltliteratur eingetragen – sowie Faulk-ner das im Grossen mit seiner Yoknapa-

tawpha County getan hat. Man mag Bur-ren vorwerfen, dass er dabei seine poeti-schen Mittel kaum variiert hat. Aberwürde man einem exzellenten Bäckervorhalten, dass er sich nicht auch anSushi versucht?

Düsterer gewordenErnst Burren schreibt immer am glei-chen grossen Lebensbuch. Er schildertseine polyphone Welt, in der vor allemsogenannt kleine Leute zu Wort kom-men, mit beeindruckender Konsequenz.Eine «Entwicklung» lässt sich in seinemWerk nur schwer festmachen. In seinemneuen Band fällt auf: Die Geschichtensind düsterer geworden, Krankheit undTod sind allgegenwärtig, Vergänglich-keit ist nicht mehr etwas Fernes. Sie nis-tet sich in denMöbeln ein, den Kleidern,den verfallenden Körpern. Da, wo ande-re Autorenmilder werden, bleibt Burrenungerührt: Er beobachtet den Zerfall ge-sellschaftlicher Strukturen, die Überfor-derung des Individuums durch eine sichunentwegt beschleunigende Technolo-gie. Für wohlfeile Tröstungen ist ernicht zuständig. Aber er setzt sich wei-terhin der Welt aus und fasst in präzise,dichterische Worte, was die Menschenumtreibt. Sich selbst nimmt er dabeinicht so wichtig. Auch das bestimmt sei-nen Rang als Autor mit. l

ErzählungenDer SolothurnerMundartautor Ernst Burren beschreibt eine ländlicheWelt imUmbruch – kritisch, desillusioniert, dochmit dichterischer Kraft

NumenosäuteBsuechDer 68-jährige ErnstBurren gehört zu dengrossen Autoren derSchweizer Literatur.Hier in seinemHausin Oberdorf (SO),November 2012.

TOMASWÜTH

RICH

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 11

PROLITTERIS

InformelleKunstZwischenAbstraktion undEmpfindung

Wenn man gerne von Malerei verschlungen werden

möchte, muss man die Bilder von Bernard Schultze

anschauen. Da öffnen sich Schlunde, rotieren Wirbel

und jagen sich Formen. Dunkle Zonen brechen ab,

damit man in hellere stürzen kann. Die Farbe ist das

Magma eines Vulkans, der keine Pausen kennt. Das

Bild eine ununterbrochene Explosion von Energien.

Dass eine Psyche das aushält, dass der Verstand es

schafft, darin nicht unterzugehen, grenzt an ein

Wunder. Dass das Bild von 1987 «Fratzentanz um

Atomängste» heisst, bestätigt nur den Anspruch

dieser Malerei, einer untergründigen Dynamik Form

zu geben. Mit solchen Bildern zwischen Abstraktion

und gestischem Empfindungsprotokoll hat Bernard

Schultze sich schnell in die europäische Kunst der

Nachkriegsjahrzehnte eingeschrieben. Der 2005 in

Köln fast 90-jährig verstorbene Maler gilt zu Recht

als einer der Väter der deutschen «art informel» und

hat sich doch auf eigenwillige Weise davon gelöst. Der

surrealistische Impuls, der das im Zweiten Weltkrieg

fast gänzlich zerstörte Frühwerk bestimmt, bleibt

weiterhin als Interesse an der Welt spürbar. Die

Materialschlacht der Farbe will für Assoziationen

offen bleiben und sogar erzählen. Der Band, der eine

Ausstellung begleitet (bis 20. Januar imMuseum

Küppersmühle, Duisburg), macht das etwas in

Vergessenheit geratene Werk wieder präsent. In

seiner Mischung aus Geistigkeit und Aktivität ist es

auch für jüngere Künstler attraktiv. Gerhard Mack

Bernard Schultze – Gegenwelten. Hrsg. von

W. Smerling und E. Müller-Remmert. Wienand, Köln

2012. 150 Seiten, 89 Abbildungen, Fr. 41.50.

Michèle Desbordes: Die Bitte. EineGeschichte. Aus dem Französischen vonBarbara Heber-Schärer. KlausWagenbach, Berlin 2012. 120 Seiten,Fr. 21.90.

Von Simone von Büren

«Er sah sie an, ohne sie zu sehen, dachtesie schliesslich, und dann sah sie seinGesicht sich beleben, ein vages Lächelnauf seinen Lippen erscheinen. Eine Be-wegung zu ihr hin. Ob Interesse oderschlichte Höflichkeit, hätte sie nichtsagen können. Da lächelte auch sie.»Diese Beschreibung der ersten Begeg-nung zwischen einem berühmten italie-nischen «Maler-Bildhauer-Architekten-Ingenieur» – es könnte Leonardo daVinci sein – und seiner Dienerin enthältschon die ganze Handlung von «DieBitte». Michèle Desbordes (1940–2006)schildert in diesem dichten Text dieungewöhnliche Beziehung zwischeneinemKünstler des 16. Jahrhunderts undeiner einfachen Frau.

Er ist vom französischen König be-auftragtworden, an der Loire ein Schlossmit 215 Zimmern zu bauen. Wenn nötig,würde man dafür den Lauf des Flussesumlenken. So berühmt ist der Meister.Sie hingegen erinnert an eine dieser Ne-benfiguren, die in den Gemälden flämi-scher Renaissance-Maler im Halbdun-kel neben dem Herd kauern.

Zwischen diesen beiden Ungleichenwebt die französische Autorin ein sach-tes Hin und Her von Blicken und Hand-reichungen. Indem sie mitten in ihrenlangen, verschlungenen Sätzen voneiner Perspektive zur anderen wechselt,vermittelt sie, wie aufmerksam die bei-den Figuren die Gesten, Körperhaltun-gen und Tagesabläufe des anderen regis-trieren und wie gross der Raum ist, dendieser in ihrem Bewusstsein einnimmt.Fast unmerklich verschiebt sich dabeider Fokus – des Künstlers, des Texts, desLesers – von Marienbildern, Marmor-säulen und Dante auf diese schmaleGraugekleidete, die so vorsichtig geht,«dass man glauben konnte, sie befürch-te, den Raum um sich zu zerknittern».

Wie die regelmässig wiederkehren-den Jahreszeiten und Hausarbeiten wie-derholen sich auch die Worte und Mo-tive in Desbordes’ sorgsam komponier-tem Text immer wieder: der Fluss undder Himmel; bellende Hunde; zitterndeHände; Licht in allen Abstufungen undEinfallswinkeln; seine anatomischenSkizzen und «das tausendmal gezeich-nete Gesicht» seiner Engel; das Ra-scheln ihrer Röcke und ihre gefaltetenHände im Schoss.

Diese inhaltlichen und sprachlichenWiederholungen geben dem 2000 erst-mals auf Deutsch erschienenen Text sei-nen stillen Rhythmus. Und sie stellenDienerin und Meister mit ihren Sehn-süchten und Enttäuschungen in diegrossen Zusammenhänge, angesichtsderen ihr Wirken unbedeutend er-

scheint. Denn «die grossen Fresken, dieihn nicht überlebenwürden», sind eben-so vergänglich wie ihr lebenslangesspätabendliches und frühmorgendlichesTragen, Schrubben und Rüsten.

Im Bewusstsein um die Vergänglich-keit der Dinge, «im Einverständnis mitder kommenden Nacht», in ihren ge-brechlich werdenden Körpern sind sichHerr und Dienerin, Mann und Frau,Berühmter und Unbedeutende nahe:«unter ein und demselben Dach vereint,wie sie auf einem Schiff gewesen wären,das gegen das feindliche Meer an-kämpft.» Aus dieser meist wortlosenNähe heraus trägt sie in einem aufge-wühlten Redeschwall die ungewöhnli-che, titelgebende Bitte an ihn heran – dieBitte einer Frau, die ihren einzigenZweck im Dienen sieht und hofft, dass

sie tot «vielleicht noch nützlicher seinwürde als zu ihren Lebzeiten».

Desbordes malt mit Wörtern einenlautlosen Dialog, den man immer undimmer wieder lesen möchte. Sie malt inihrer präzis komponierten poetischenSprache das viele, das die Figuren sichnicht sagen und niemals sagen könnten.Sie malt das Bewusstsein des schwächerwerdendenMalers: die von ihm gezeich-neten Engel, «schön und sinnenverwir-rend, schlugen über den Eiben mit denFlügeln und fielen sanft ins Gras derBlumenbeete zurück». Sie malt denFluss und die Wälder, die Abgeschie-denheit, den Winter. Sie schreibt, kraft-voll und roh, die Bilder der flämischenMeister: den Lichtstrahl auf der weissenHaube, die gefalteten Hände im Schoss,den gebückten Rücken. l

ErzählungDie ungewöhnliche Beziehung zwischen einemRenaissance-Künstler und einerDienerin

ZwiegesprächohneWorte

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12 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Belletristik

KurzkritikenBelletristikE-Krimi desMonatsLügen derVergangenheit

Mika Bechtheim: Bruderschatten.Goldmann,München 2012. 379 Seiten,Fr. 13.40, E-Book 9.90.

«Einen guten Kriminalroman erkenntman daran, dass es nur einen Totengibt, einen ermittelnden Kommissarund am Schluss einen überführtenTäter», sagte einst ein Schweizer Verle-ger. In Mika Bechtheims Krimi gibt eseine Menge Tote, der Kommissar ist ineine Nebenrolle verbannt, und amSchluss wird kein Täter verhaftet. Statt-dessen bleibt nach einem eigentlichenFamiliendrama nichts als ein Scherben-haufen. Trotzdem ist «Bruderschatten»ein guter Kriminalroman − gerade weiler das Schema «Toter – Ermittler –überführter Täter» sprengt.

Der Plot des Krimis ist die Geschich-te einer Hamburger Journalistin. JulieLambert, Gerichtsreporterin, führt alsIch-Erzählerin durch ihr zuweilenetwas chaotisch anmutendes Leben: Sieist voll berufstätig, Mutter eines Soh-nes, von dessen Existenz der Vaternichts weiss, und schwanger mit einemKind, dessen Vater sie gerade verlässt.Und das sie um ein Haar verliert. Undfür das sie dann doch noch einen Vaterfindet. Weit verwirrender ist − auch fürsie selbst − ihre Vergangenheit: JulieLambert, aufgewachsen im überblick-baren Solthaven in der damaligen DDR,ist die Schwester eines Mörders. Mut-masslich. Ihr Bruder Leo soll vor überzwanzig Jahren ihren Freund erschos-sen haben. Wenige Tage danach starbauch Leos Freundin gewaltsam. Erselbst ist seither verschwunden.

Zwanzig Jahre lang zweifelt JulieLambert an der Schuld ihres Bruders.Bis sie einen Anruf erhält, der sie zu-rückkatapultiert in eine Zeit, in der dieWelt noch eine andere war. Ein verur-teilter Serienmörder, der auch denMord an Leos Freundin gestandenhatte, kommt nach Jahren im Gefäng-nis frei. Er eröffnet Julie Lambert, dasser den Mord an Leos Freundin dazu-mal gestanden habe, obwohl er die Tatnicht begangen habe. Er deutet an,dass ihr Bruder sein Nachahmungstä-ter war. Kurz danach bringt er sich um.

Julie Lambert beginnt zu ermit-teln. Stösst auf Wahrheiten, diezu DDR-Zeiten keine sein durf-ten. Erkennt, wie das Systemder Lügen und der Vertu-schungen funktionierte. Undbegreift, dass vieles anderswar, als sie ihr halbes Leben

lang gedacht hatte.Die deutsche Autorin

Mika Bechtheim – sieist selbst ein Kind derDDR – hält die Span-nung aufrecht bis imletzten Augenblick.Und sie macht deut-lich, wie damals vordem Fall der Mauerim Osten Deutsch-lands ermitteltwurde.Von Christine Brand l

Wisława Szymborska: Glückliche Liebeund andere Gedichte. Suhrkamp, Berlin2012. 103 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 19.40.

Die polnische Lyrikerin Wisława Szym-borska (1923−2012), Nobelpreisträgerinvon 1996, lebte zurückgezogen in Kra-kau und schuf ein Werk von einzigarti-ger Schönheit, Anmut und Gedankentie-fe. Karl Dedecius und dem Suhrkamp-Verlag gebührt das Verdienst, die Auto-rin seit 1973 im deutschen Sprachraumbekannt gemacht zu haben, mit vielenschönen Büchern und lange bevor manin Stockholm auf sie aufmerksamwurde.Auch in den hier vorgelegten Gedichten,einer Auswahl aus ihrem Schaffen derJahre 2005 bis 2011, zeigt sich nochmalsihr unverwandter Blick auf die Welt, dievon feinem Humor durchzogene Melan-cholie, die Aufmerksamkeit für alles Le-bendige, die genuineMusikalität im Par-lando nach dem Ende der strengen For-men, die kritische Neugier für unseremodernen Zeiten. «Eigentlich könntejedes Gedicht den Titel ‹Augenblick›tragen», lesen wir. Wie wahr!Manfred Papst

Dino Buzzati: Die Tatarenwüste.Roman.Deutsch von Percy Eckstein u.a. Die AndereBibliothek, Berlin 2012. 255 Seiten, Fr. 45.90.

Albert Camus hat dieses Buch geliebtund ein anderes Werk des italienischenAutors ins Französische übersetzt. «DieTatarenwüste» von Dino Buzzati(1906−1972) erschien im Juni 1940, un-mittelbar vor Mussolinis Kriegserklä-rung. Leutnant Drogo erwartet jedeNacht einen Angriff der Tataren. DieMachtstrukturen in der Festung Bastinaizeigen, wie totalitäre Systeme funktio-nieren. Als die Tataren nach Jahrzehn-ten tatsächlich kommen, ist Drogo altund hilflos. Buzzati wurde zu dieserexistenzialistischen Parabel inspiriertdurch die zahllosen Nachtdienste, die erwährend seiner 43 Jahre als Journalistund Blattmacher beim Mailänder «Cor-riere della Sera» leistete. Der eleganteExzentriker, der fast sein ganzes Lebenbei seiner Mutter lebte, hat mit diesemBuch sein Meisterwerk geschaffen. Mitklugem Nachwort von Maike Albath.Manfred Papst

Marie NDiaye: Ein Tag zu lang.Roman.Deutsch vonClaudiaKalscheuer. Suhrkamp,Berlin 2012. 112 Seiten, Fr. 25.90.

Als Marie NDiaye 2009 den Prix Gon-court erhielt, sorgte das für Aufregung.Nicht nur war die 1967 geborene Toch-ter einer Französin und eines Senegale-sen die erste schwarze Frau, die den re-nommierten Preis gewann; NDiaye hatsich auch dezidiert gegen die PolitikSarkozys geäussert, nach dessen Wahlsie nach Berlin umzogen ist. Obwohl seit1993 bereits sieben ihrer Romane aufDeutsch erschienen sind, ist NDiayehierzulande erst seit dem Goncourt-ge-krönten Buch «Drei starke Frauen»einer breiten Leserschaft bekannt. «EinTag zu lang» von 1994 erzählt vom Leh-rer Herman, der jeden Sommer in derProvinz verbringt. Als die Familie heuerdie Abreise um einen Tag verschiebt,verschwinden Frau und Sohn. Hermanmacht sich auf die Suche − und kommtsich selbst abhanden. Ein atmosphärischungemein starkes Buch in der Traditiondes magischen Realismus.Regula Freuler

Nancy Mitford: Englische Liebschaften.Roman. Aus demEnglischen vonReinhardKaiser. Graf, Berlin 2012. 335 Seiten, Fr. 24.50.

Während so manches Leben geruh-samer nicht sein könnte, gab jenes derbritischen Adelstochter Nancy Mitford(1904−1973) und ihrer exzentrischen Fa-milie gleich Stoff für mehrere Romane,ab, die in den Fünfzigern Bestsellersta-tus genossen. Nancy war die älteste dersechs legendären Mitford-Schwestern(der einzige Bruder fiel 1945 im Krieg),zwei von ihnen glühende Faschistinnen,eine glühende Kommunistin. Nancy, dieeine ebenso spitze wie humorvolleFeder schwang, führte seit dem ZweitenWeltkrieg eine heimliche Liaison miteinem engen Mitarbeiter de Gaulles.Wie alle ihre fiktionalen Werke ist auch«Englische Liebschaften» («The Pursuitof Happiness», 1945) stark autobiogra-fisch geprägt und erzählt die reichlichkomische Story einer Upperclass-Fami-lie zwischen den Kriegen. Sie ist endlichwieder auf Deutsch lieferbar.Regula Freuler

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Ein Stück lebendigeSchweizer Wirtschaftsgeschichte

Das Buch erzählt die Geschichten von 16 erfolgreichen SchweizerUnternehmerfamilien, die hinter Firmen wie Swatch Group, Roche,Con�serie Sprüngli, Fonjallaz Weine, Caran d’Ache, Audemars Piguet,Straumann, Julius Bär oder Holcim stehen. Sie berichten von Pionie-ren und ihren Nachkommen, von Errungenschaften und Rückschlä-gen, von Vergangenheit und Zukunft. Angesichts der Dominanz derBörsennachrichten geht oft unter, dass Familienunternehmen dasälteste und am weitesten verbreitete Geschäftsmodell weltweit sind.Das Buch «Schweizer Wirtschaftsdynastien» entstand aus der gleich-namigen erfolgreichen Serie in der «NZZ am Sonntag» – und ist einStück lebendige Schweizer Wirtschaftsgeschichte geworden.

«Mich rühren diese Unternehmensgeschichten oft schierzu Tränen: weil sie dem Lumpenpack, das die letzten zwanzig

Jahre auf Beute aus war und unermesslichen Schadenangerichtet hat, so leuchtend entgegenstehen.»

Hans Widmer, Unternehmer, ehemaliger Konzernchef von Oerlikon

Schweizer Wirtschaftsdynastien. Mit einer Analysevon Dr. Joachim Schwass, Professor für Family Businessan der IMD Business School in Lausanne, 2012.

248 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen.Klappenbroschur.

Sonderangebot für Leserinnen und Leserder «NZZ am Sonntag»: Fr. 38.– statt Fr. 48.–(zzgl. Versandspesen)

Ab 28. November 2012 im Handel.

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Das Buch «Schweizer Wirtschaftsdynastien» für Leserinnen und Leserder «NZZ am Sonntag» zum Vorzugspreis von 38 statt 48 Franken

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Kinder-undJugendbuch

14 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Kurzkritiken

Tobias Elsässer: Wie ich einmal fast

berühmt wurde. Sauerländer,Mannheim

2012. 233 Seiten, Fr. 24.90 (ab 14 Jahren).

In Zeiten von TV-Shows, die Superstarsund Topmodels suchen, ist der Romanaktueller denn je, auch wenn er in den90er Jahren spielt. Der 21-jährige Erikglaubt, das grosse Los gezogen zu haben,als ihn ein raubeiniger Produzent undein zwielichtiger Manager als Sängereiner Boygroup engagieren. Erik ist be-reit, auf seichte Popmusik umzustellen,sich eine neue Biografie zuzulegen undseine Ausbildungsstelle zu riskieren.Sein grosser Bruder spricht von Aus-beutung und Selbstverleugnung, dochErik will nur eins: im Mittelpunkt ste-hen. Der Autor Tobias Elsässer, früherselbst Mitglied einer Boygroup, arbeitetheute unter anderem als Gesangslehrer.Er erweist sich nicht nur als Kenner derMusikindustrie, sondern berichtet auchlebensnah und ungeschminkt von Illu-sionen, Träumen und Ernüchterung.Andrea Lüthi

Paul Biegel: Eine Geschichte für den

König.Urachhaus, Stuttgart 2012.

160 Seiten, Fr. 21.90 (ab 8 Jahren).

Der alte König Mansolin ist krank undwird mit Geschichten am Leben gehal-ten. Doch nicht nur diese Rahmen-geschichte ist ernst und heiter zugleich:Jedes der Tiere, das herbeieilt, eine Ge-schichte zu erzählen, ist auf seine Weisebesorgt, und doch blitzt überall Situa-tionskomik auf. Im Verlauf des Buchesstossen Kinder so auf Einsichten wie:Jedem kann Trauriges widerfahren, undErzähltes kann buchstäblich herzerqui-ckend sein. In Holland erschien dasBuch erstmals 1964 und später auch inDeutsch unter dem Titel «Das Schlüs-selkraut». Zum Glück liegt der Bandjetzt wieder vor, mit neuen Illustratio-nen von Linde Faas, deren Zartheit undSchalk die Stimmungen von Paul BiegelsProsa genial ausbauen. Vor allem fun-kelt in den 15 Geschichten ein Vorlese-schatz mit poetischem Zauber.Verena Hoenig

Rosemary Wells: Die rätselhafte Reise

des Oscar Ogilvie. dtv-junior,München

2012. 368 S., Fr. 21.90, E-Book 15.90 (ab 11 J.).

«Früher war alles gut. Dad und ich hat-ten Lammkoteletts und Eiscreme. Jetztkommt nur noch Rübeneintopf auf denTisch.» Oscars Vater hat, wie viele an-dere, seine Arbeit verloren. Auf derSuche nach einer neuen Stelle muss erschweren Herzens seinen Sohn zurück-lassen. Die Weltwirtschaftskrise nach1929 und die Faszination für Eisenbah-nen bilden die Angelpunkte für die Ge-schichte aus einer Zeit, als Telefonierennoch etwas Besonderes und Joan Craw-ford ein Hollywoodstar war. Eine zufäl-lige Entdeckung ermöglicht es Oscar,durch die Zeit zu reisen, angetriebenvon der Sehnsucht. Durch diesen Um-stand ist er nicht nur elf Jahre alt, son-dern mal einundzwanzig und dann wie-der sechs, woraus sich spannende Kons-tellationen ergeben. Eine mitreissendeLektüre für Jungen – und ihre Väter.Verena Hoenig

Ingrid Olsson: Als würde man mit den

Fingern schnipsen. Bloomsbury, Berlin

2012. 22 Seiten, Fr. 21.90 (ab 12 Jahren).

Plötzlich ist die Erinnerung wieder da –an den Sonnenfleck auf dem Küchenbo-den, auf dem der tote Vater lag. Jetztliegt Calles Grossmutter auf der Inten-sivstation, und er hat Angst, auch sie zuverlieren. Seine Erinnerungen und Ge-fühle möchte er weder mit der Mutterteilen noch mit dem kleinen Bruder, dernur von Meerschweinchen spricht undKomik in die traurige Stimmung bringt.Calle interessiert sich mehr für das neueNachbarsmädchen mit der Gitarre. Bil-der der Vergänglichkeit begegnen Calle,dem Hobbyfotografen, überall; vom zer-fallenden Kuchen in Grossmutters Woh-nung bis zum gelbblättrigen Baum. Pas-send zu Calles fotografischem Blick istder feinfühlige Roman gestaltet. Aufjeder Seite gibt es einen kurzen Textab-schnitt – ein Schnappschuss, eine Mo-mentaufnahme, die viel Raum lässt.Andrea Lüthi

Meg Rosoff: Oh. Mein. Gott. Fischer,Frankfurt a. M. 2012. 224 Seiten, Fr. 21.90,E-Book 19.40 (ab 14 Jahren).

VonChristine Knödler

Ins kuschlige Lamettanest oder in diefeierliche Adventszeit passt das Buch«Oh. Mein. Gott» von Meg Rosoff, wie– nun ja – sagen wir einmal: die Faustaufs Auge. Denn gegen Weihnachtsdu-seleien aller Art schlägt die Autorineinen ganz und gar unheiligen Ton an.Ihre Themen: Entstehung und Zustandder Welt, das Verhältnis Gottes zu sei-ner Schöpfung, Zufall, Schicksal und dieFreiheit des Einzelnen.

Schon der Beginn (denn am Anfangwar das Wort) ist eine Erleuchtung: Inromantischer Schwärmerei – oder Iro-nie – wird ein Frühlingstag imaginiert,der für die Liebe wie gemacht ist, findetLucy. Prompt wird ihr Gebet erhört, undGott persönlich nimmt sich ihrer an.Doch der ist kein ehrwürdiger Herr mitRauschebart, sondern ein jugendlicherFlegel, launisch bis zum Abwinken: Bob,19, steht unter Testosteron-Dauerbe-schuss, seine Lieblingsbeschäftigungneben Knutschen und Onanieren istChillen. Das ist schlecht für Lucy undden Rest der Welt. Und wäre da nichtMr. B., der eigentliche Kopf der MissionErde, ginge diese den Bach runter.

Wer je angesichts der «Krönung derSchöpfung» ins Grübeln geraten ist undob unübersehbarer Produktionsfehler inernsthafte Zweifel, wer als Erwachsenerangesichts hormonell gesteuertenNach-wuchses verzweifelt ist oder als Jugend-licher nichts als seine Ruhe haben willvor ewig nörgelnden Erziehungsberech-tigten, bekommt in diesem Jugendro-man aberwitzige Antworten: Die Schöp-fung? Die zufällige Entgleisung einespubertierenden Grössenwahnsinnigen,der alles will, nur nicht erwachsen wer-den. Die Mutter Gottes? Eine Spielerin!Die Heilige Familie? Zerrüttet! DieWelt?Eine Hölle, mit Naturkatastrophen undHerzschmerz. Der Himmel? Die Chef-etage eines Unternehmens mit mieserBilanz. Das Verhältnis Gottes zu denMenschen? Bettgeschichten!

Ungeniert projiziert die BuchautorinMeg Rosoff die Auswüchse unserer Zeitauf die himmlischen Protagonisten, undsie schickt Gott und Menschen auf dieCouch und hält der im Jugendbuch gras-sierenden allgemeinen Weltuntergangs-stimmung ein herzhaftes «Wer zuletztlacht» entgegen. Dass das im Halse ste-cken bleibt, versteht sich von selbst:eine abgefahrene göttliche Komödie. l

EvolutionWer verantwortet dieSchöpfung?MegRosoff erklärt es uns

EineunkeuschegöttlicheKomödie

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 15

JUDITHZAUGG

Kurzkritiken

Alice Gabathuler: Matchbox Boy.Thienemann, Stuttgart 2012. 288 Seiten,Fr. 17.90, E-Book 14.40 (ab 14 Jahren).Bettina Wegenast, Judith Zaugg: Ist dajemand?Umgangmit digitalenMedien.SJW, Zürich 2012. 56 S., Fr. 5.90 (ab 11 J.).

VonDaniel Ammann

Die 17-jährige Jori erwacht benommenan einem leeren Pool, angekettet ansSprungbrett. Eine Webcam hält sie inSchach, und ein unbekannter Racheen-gel lässt die Meute im Netz entscheiden,ob sie eine Chance verdient. ZwischenVorausblenden und Chatprotokollenkehrt die Geschichte an den Anfang zu-rück: Im Sommer sind die Eltern in dieFerien gefahren, und Ich-Erzählerin Joriräkelt sich mit ihren beiden Freundin-nen am heimischen Pool. Vielleichtbringt der attraktive Aushilfsgärtneretwas Abwechslung und Action. DieGirls schikanieren ihn und bringen ihnmit aufreizenden Posen in Verlegenheit.Aus Spass wird Ernst, als eine von ihnenbehauptet, er hätte versucht, sie zu ver-gewaltigen. Der Unbekannte verschwin-det, aber nach den Ferien droht er imNetz, ihre schmutzigen Geheimnisse zuoffenbaren.

Durch Aufklärung und Verbote willdie Schule das Cybermobbing unterbin-den. Aber als erste Details aus dem Pri-vatleben der Mädchen im Web auftau-chen, nimmt die Netz- und Hetzkampa-gne ihren Lauf, und auch die Schullei-tung macht Druck auf die Opfer. AliceGabathulers unzimperlicher und bri-santer Roman demonstriert die Spreng-kraft digitaler Übergriffe und zeigt,dass fehlender Respekt und Gewaltbe-reitschaft nicht von Medien, sondernMenschen ausgehen.

Cybermobbing und soziale Netzwer-ke sind auch Themen eines neuen SJW-Heftes. In neun kurzen Kapiteln erfährtman hier Nützliches im Umgang mitNetzdaten, Games, Passwörtern oder ju-gendgefährdenden Angeboten. Nebenpraktischen Tipps vermittelt das prä-ventive Sachheft für die Mittelstufe vielHintergrund- und Lexikonwissen undwirkt so über weite Strecken informa-tionslastig. Ratschläge wie «Benutzebeim Bedienen des Computers deinengesunden Menschenverstand» wirkendabei pauschal und knüpfen kaum an ei-gene Erlebnisse an. Überdies ist nichtimmer klar, ob sich der Text an die Ziel-

gruppe Mittelstufe oder nichteher an Oberstufenschüler, Elternund Lehrkräfte richtet. Durch-wegs erfrischend und anregendwirken hingegen Judith ZauggsComic-Illustrationen.

Beide Neuerscheinungen sindgeeignet, mediale Erfahrungenneu zu diskutieren. l

InternetRatgeber für Jugendliche

CybermobbingJürgen Brater: Was macht der U-Bahn-Fahrer, wenn er muss?Beltz&Gelberg,

Weinheim 2012. 160 S., Fr. 21.90 (ab 10 J.).

Wer keinen Hunger hat, ist satt. Was istman aber, wenn man nicht durstig ist?Sehen Blinde im Traum Bilder? Weshalbsind Kanaldeckel rund und streckenWappentiere oft die Zunge raus? In sei-nem neuen Sachbuch geht Jürgen Braterverblüffenden Fragen nach. Aber auchgeläufigere Themen werden behandeltwie zum Beispiel: Weshalb essen Chine-sen mit Stäbchen? Da geht es um Rede-wendungen, um Körper, Tiere und Um-welt – Comics und Ritter bekommen garein eigenes Kapitel. Brater, von BerufMediziner, findet ein Gleichgewichtzwischen präziser Erklärung und locker-leichtem Ton, selbst bei komplexen na-turwissenschaftlichen Themen. Ab undan regt er zu einfachen Experimentenan, etwa um herauszufinden, ob derWasserspiegel steigt, wenn man einenStein in den See wirft.Andrea Lüthi

Silke Vry: 13 optische Tricks, die dukennen solltest. Prestel,München 2012.

48 Seiten, Fr. 18.90 (ab 9 Jahren).

Es braucht nicht viel, um unseren Seh-sinn zu überlisten. Victor Vasarelyreichte dazu im Jahr 1944 eine diagonalschwarzweiss gestreifte Fläche. Indemer die schwarzen Linien an bestimmtenStellen aus der Geraden schob, an- undwieder abschwellen liess, erweckte erauf seinem Bild «Zebra» ein solchesTier so zum Leben, dass man es gleichstreicheln möchte. Insgesamt 13 opti-sche Tricks erläutert die Kunsthistorike-rin Silke Vry anhand der Werke grosserKünstler von der griechischen Antikeüber René Magritte bis Bridget Riley. Esgeht um Scheinarchitektur, versteckteBotschaften, Luftperspektive oder sur-realistische Verwirrbilder. Am Ende er-kennt man: Kunst ist immer auch Täu-schung, aber eine, die Spass macht.Selbst wenn man sich bei so vielen Illu-sionen oft verwundert die Augen reibt.Verena Hoenig

Felix Homann: Erneuerbare Energien.Sonne,Wind undWasser. KosmosGeolino,

Stuttgart 2012. 64 S., Fr. 18.90 (ab 10 Jahren).

Ein Handkarren, auf dem ein Dieselge-nerator von Dorf zu Dorf gefahren wird.Besser lässt sich die instabile Stromver-sorgung in ländlichen Gebieten Afrikasoder Asiens nicht illustrieren. Was die-ser Band zum Thema Energie erklärt,findet sich verstreut zwar in einigenKindersachbüchern. Überzeugend sindhier aber die Konzentration und dieAufbereitung. Didaktisch positiv wirkensich die Redaktionskompetenz der Zeit-schrift «Geolino» aus und die Vermitt-lungserfahrung des Physikers Felix Ho-mann. Er gehört zur jungen Spezies der«Wissenschaftskünstler», die mit büh-nenwirksamen Shows durch die Landetingeln. In seinem Buch bringt er trotzkurzer Texte viele Aspekte der erneuer-baren Energie ein. Eine «kinderleichte»Einführung, die ideal den Weg ebnet indiese komplexe Thematik.Hans ten Doornkaat

Ruth Omphalius: Das geheimnisvolleUniversum der Ozeane.Arena,Würzburg

2012. 220 Seiten, Fr. 19.50 (ab 12 Jahren).

Am Anfang blicken wir aus dem All aufden Blauen Planeten. Die Aussensichtverursacht Staunen und bereitet uns aufdie Botschaft vor, mit der das Buchendet: Trotz ihrer Weite sind die Welt-meere durch das Wirken des Menschengefährdet. Die ZDF-Redaktorin RuthOmphalius hat bereits ein Jugendsach-buch über Klimawandel geschriebenund 2011 die Dokumentation «Univer-sum der Ozeane» betreut. Den Standmeereskundlichen Wissens hat sie nunfür junge Leser aufbereitet: Kontinental-drift, Entstehung des Lebens im Wasser,Rolle der Ozeane als Klimamotoren,Tankerunfälle, Tiefseebohrungen undÜberfischung. Ein gründlicheres Lekto-rat hätte nicht geschadet. Insgesamt istdiese Reise durch die Erdgeschichte mitAusblicken in die Zukunft aber ab-wechslungsreich und gut aufgebaut.Sabine Sütterlin

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Porträt

16 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Maurice Chappaz (1916–2009)war einwortmächtiger Erzähler. Ein vonCharles Linsmayer herausgegebenes vorzügliches Lesebuch erinnert andenwiderspenstigen Schriftsteller, der über drei Jahrzehntemit derAutorin S. Corinna Bille (1912–1979) verheiratet war.VonMartin Zingg

AbtrünnigerSohnausdemWallisEr hätte Notar werden sollen, Advokat, wieseine männlichen Vorfahren auch. Sein Gross­vater und sein Vater waren beide erfolgreicheJuristen, und Maurice Troillet, sein Onkel müt­terlicherseits, war gar Jurist, Bankier undWalli­ser Staatsrat, Nationalrat und Ständerat. EineFamilie von staatstragenden Persönlichkeitenim Wallis. Maurice Chappaz mag diese Tradi­tion nicht fortsetzen. Maurice, das älteste vonzehn Kindern, 1916 geboren, wird sich zwareine Weile lang in der juristischen Fakultät derUniversität Lausanne umsehen, er scheint einerKarriere als Rechtsanwalt zunächst nicht abge­neigt, aber er wird das Studium vorzeitig abbre­chen. Er wird Dichter werden, er wird schrei­ben, ein wortmächtiger Erzähler.

Das ist mehr als nur eine Absage an die Juris­prudenz: Das ist vor allem eine Entscheidungfür eine Lebensweise, die mit Entbehrungenrechnen muss und die nichts Repräsentatives

haben kann. Der Bruch mit der bürgerlichenWelt, den er früh vollzieht, wird seine Familiedenn auch lange Zeit in beträchtlichen Schre­cken versetzen.

Eine erste, auch einer breiteren Öffentlich­keit sichtbare literarische Publikation kannMaurice Chappaz bereits Ende 1939 vorweisen.In einer Zeitschrift erscheint ein Text, mit demer sich an einem Wettbewerb beteiligt hat:«Von einem, der auf einer Bank liegend lebte».Den ersten Preis haben ihm die Juroren – unterihnen Charles­Ferdinand Ramuz und GustaveRoud – nicht zuerkannt. Aber Chappaz hat ihrInteresse geweckt, und sie werden seine schrift­stellerische Entwicklung fortan mit grossemRespekt begleiten undmit ihm freundschaftlichverbunden bleiben, vor allem Gustave Roud.

Restlos verliebtDer Prosaerstling ist die hymnische Feier einesAusbruchs: Ein junger Mann streift in einemPark Anzug, Hemd und Krawatte ab, schnürtalles zu einem Bündel und wirft die Kleiderweg. In blauer Hose, Pullover und alter Mützemacht sich der junge Mann dann auf den Wegund geniesst seine neue Freiheit: «Er war ausder Gemeinde geflohen, in der sein Vater dieVerwaltung innehatte, als eine Art Notar oderSheriff. Er hatte beschlossen, sich der albernenAufgaben wegen, die ihm jedermann in Familieund Gesellschaft aufdrängen wollte, nicht mehrden Kopf zu zerbrechen.» Das ist unübersehbarder Text eines jungen Autors. Und es ist auchein Programm, der Abschied Chappaz’ voneinem Milieu.

Mit diesem Text des 23­jährigen Jungautorssetzt das grossartige Lesebuch ein, das CharlesLinsmayer zu Werk und Leben von MauriceChappaz eingerichtet hat: «InWahrheit erlebenwir das Ende der Welt». Auf über 200 Seitenpräsentiert Linsmayer Prosatexte, Gedichteund Briefe und spannt damit einen weitenBogen über das Werk des ungewöhnlichenSchriftstellers, der vor drei Jahren im hohenAlter gestorben ist. Die Texte sind alle vonHilde und Rolf Fieguth neu übersetzt worden,zum grossen Teil erstmals, auch das kann nichtgenug gerühmt werden. Mit seiner Auswahlund vor allem mit der Anordnung der Texte ge­

lingt es dem Herausgeber, Leben und Werk aufanschauliche Weise miteinander in Beziehungzu setzen. Dabei wird vor allem deutlich, wiesehr das Werk von Chappaz autobiografischgeprägt ist und wie stark sich die Prägung derfrühen Jahre noch bis ins Alter auswirkt. Ein­drücklich sind etwa die Briefe, in denen sichChappaz an seinen Onkel Maurice Troillet

wendet oder an seine Schriftstellerkollegen.Und wenn er seiner späteren Frau S. CorinnaBille schreibt, spürt man den restlos Verliebten,der gerne bei seiner schreibenden Freundinwäre, aber zugleich seine eigene Arbeit nichtaus den Augen verlieren mag.

Die entscheidendeKlammer zwischen Lebenund Werk stiftet in diesem Lesebuch das Nach­wort von Charles Linsmayer: Auf 120 dichtenSeiten entfaltet er darin die Biografie des Wal­lisers, die ziemlich ungewöhnlich ist. Und wienebenher beleuchtet deren Darstellung auchdas Bild einer literarischen Region, die in derdeutschsprachigen Schweiz immer noch weit­gehend unbekannt ist. Für das Verständnis vonMaurice Chappaz und dessenWerk sind die In­formationen des Herausgebers von grossemNutzen, auch weil sie das Angebot machen, diePrimärtexte in deren biografischen Kontext zustellen.

Über sieben Jahrzehnte lang hat MauriceChappaz geschrieben, und selbst wenn seinThemen­ und Stoffrepertoire überschaubar er­scheint: auf eine einfache, bündige Formel lässtsich sein umfangreiches Werk nicht herunter­brechen. Und in allem hat er seinen eigenen,durchaus unverwechselbaren Ton gefunden.Eine prägende Erfahrung ist die Ablehnung,

Auf eine einfache, bündigeFormel lässt sich seinumfangreichesWerk nichtherunterbrechen. Und inallem hat Chappaz seineneigenen Ton gefunden.

Chappaz undBille – dasWerk

•Maurice Chappaz: In Wahrheit erleben wir

das Ende der Welt. Ein Lesebuch, zusammen-

gestellt und Nachwort von Charles Linsmayer.

Huber, Frauenfeld 2012. 352 Seiten, Fr. 42.–.

• Maurice Chappaz: Evangelium nach Judas.

Erzählung. Waldgut, Frauenfeld 2006.

171 Seiten, Fr. 36.–.

• S. Corinna Bille: Schwarze Erdbeeren.

Erzählungen. Nachwort von Monique Schwitter.

Nagel & Kimche, Zürich 2012. 172 Seiten, Fr. 27.90.

• S. Corinna Bille: Alpenblumenlese. Kleine

Prosa. Rotpunktverlag, Zürich 2012.

67 Seiten, Fr. 24.–.

• S. Corinna Bille: Dunkle Wälder. Roman,

Vorwort von Maurice Chappaz. Rotpunktverlag,

Zürich 2012. 157 Seiten, Fr. 24.–.

• S. Corinna Bille: Das Vergnügen, eine eigene

Welt in der Hand zu halten. Ein Lesebuch.

Nachwort von Charles Linsmayer. Huber,

Frauenfeld 2008. 352 Seiten, Fr. 48.–.

• Themenabend zu Maurice Chappaz mit

Charles Linsmayer und Regula Imboden.

Literaturhaus Zürich, 12. Dezember, 19.30 Uhr.

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 17

ProduktivesWestschweizer Schriftsteller-Paar: S. Corinna Bille undMaurice Chappaz in Geesch, Niedergesteln (Wallis), ca. 1942/43.

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Porträt

18 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

die Chappaz’ Familie der schriftstellerischenTätigkeit ihres Sprösslings gegenüber hegt. Dieverweigerte Anerkennung hat den Autor langebeschäftigt, indirekt in Texten, direkter in Brie-fen. Noch 1955 schreibt der abtrünnige Sohn anMaurice Troillet, seine Familie werfe ihm eine«lächerliche und schändliche Lebensweise»vor. Zu diesem Zeitpunkt hat Chappaz längstein zwar kleines, aber sehr respektables Werkvorzuweisen. Daran hat Troillet, das Clan-Oberhaupt, übrigens keinen geringen Anteil.Denn während der Vater stets ein gespanntesVerhältnis zum jungen Schriftsteller hat unddie Geschwister kühle Distanz zu ihrem Bruderwahren, verwendet sich der erfolgreiche OnkelMaurice ein Leben lang für seinen Neffen, unddas, obschon die Meinungen der beiden in vie-lem auseinander gehen. Bis zuletzt wird Troil-let demNeffen finanziell aushelfen und ihnmo-ralisch unterstützen.

Hymne an Walliser LandschaftWichtiger als die Verwandten werden für Mau-rice Chappaz die «Wahlverwandten», eineHandvoll Lehrer und Mitschüler aus der Schul-zeit im Gymnasium der Abtei Saint-Maurice.Einige seiner Klassenkameraden werden sichwie er als Schriftsteller betätigen, etwa JeanCuttat oder Georges Borgeaud. Mit ihnen bleibter ein Leben lang verbunden. Auch mit den be-wunderten Lehrern wird der Kontakt bis zu-

letzt nicht abreissen, und in berührenden Tex-ten wird er Jahrzehnte später an sie erinnern.«Die erste Schulstunde» etwa beschreibt denunvergesslichen Moment, da der verehrte Leh-rer Edmond Humeau der Klasse korrigierteAufsätze zurückgibt und kommentiert: FürChappaz wird das eine Lektion fürs Leben.

Als 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt unddie Schweiz ihre Truppen mobilisiert, ist Mau-rice Chappaz noch Student der Jurisprudenz. Ersieht in der Mobilmachung eine gute Gelegen-heit, das Studium endgültig an den Nagel zuhängen. Fortan wird er – im Rang eines Leut-nants – abwechselnd Militärdienst leisten odersich zurückziehen, um zu schreiben. Auf langenWanderungen, wie er sie ein Leben lang unter-nehmen wird, erkundet er die Walliser Land-schaft, die er in frühen Prosatexten und Ge-dichten mit grosser Emphase besingt, etwa in«Der Pfynwald» oder in «Und ich wandere wei-ter», Texte, die im Lesebuch allesamt präsen-tiert werden.

Ins Jahr 1942 fällt die entscheidende und le-bensprägende Begegnung mit S. Corinna Bille.Bille – vier Jahre älter als er und zu dem Zeit-punkt noch verheiratet – ist angehende Schrift-stellerin und hat schon erste kleine Erfolge vor-zuweisen. Die beiden werden nach der vomVatikan gebilligten Annullation von Billes Eheheiraten und haben drei Kinder. Ein Schriftstel-lerpaar mit vielen Sorgen, vor allem finanziel-len Nöten.

Die fünfköpfige, junge Familie wird immerwieder, ähnlich wie Nomaden, den Wohnortwechseln und hat viele Krisen zu bestehen, mit-unter auch, was den schriftstellerischen Erfolgder beiden angeht. Chappaz arbeitet zum Bei-spiel eine Zeitlang als Verwalter in den Rebber-

gen seines Onkels, in den Jahren 1956 bis 1958wird er gar Hilfsgeometer beim Bau des Stau-damms der Grande-Dixence.

Empörung und ZärtlichkeitNach dem plötzlichen Tod seiner Gattin 1979wird er ihre unveröffentlicht gebliebenenWerke herausgeben und Vergriffenes neu er-scheinen lassen. 79 Titel sind es insgesamt, wieLinsmayer errechnet hat. Zum hundertsten Ge-burtstag der Autorin sind in diesem Jahr beimRotpunktverlag und bei Nagel & Kimche ver-schiedene Publikationen erschienen, die sehrnachdrücklich an die Bedeutung von S. CorinnaBille erinnern. Dazu gehört auch der Prosaband«Schwarze Erdbeeren», zu dessen NeuausgabeMonique Schwitter ein schönes Nachwort bei-gesteuert hat. Charles Linsmayers vor vier Jah-ren erschienenes Bille-Lesebuch, ein frühesGegenstück zur vorliegenden Chappaz-Aus-wahl, gehört auch in diese Reihe: «Das Vergnü-gen, eine eigene Welt in der Hand zu halten».Im deutschsprachigen Raum hat MauriceChappaz bis heute nicht die Beachtung bekom-

men, die er verdient hat, obschon sich Verlagewie Limmat, Suhrkamp oder Waldgut immerwieder für ihn eingesetzt haben.

Vorübergehende Aufmerksamkeit bekam derwiderspenstigeWalliser 1976mit der Veröffent-lichung einer schmalen Schrift, in welcher erdie – nicht nur durch den expansiven Touris-mus verursachte – Umweltzerstörung imWallisanprangerte, «Les maquereaux des cimes blan-ches» («Die Zuhälter des ewigen Schnees»).Hier kam ein enttäuschter, polemischer Chap-paz zum Vorschein, der sich leidenschaftlichfür die Landschaft zur Wehr setzte, die er un-zählige Male durchstreift und besungen hatte.Im Wallis wurde er für diese Publikation undweitere Interventionen, etwa gegen Waffen-plätze und Bodenspekulation, eine Weile langheftig angegriffen. Maurice Chappaz bleibt zuentdecken, mit seinen Reisebüchern, seinenBriefen, seinen feinfühligen Notaten, mit einemreichen Alterswerk, in all seiner Empörung undZärtlichkeit – das vorliegende Lesebuch lädtdazu ein, und es ist zugleich auch ein ausge-zeichneter Steigbügel. l

Ins Jahr 1942 fällt dieentscheidende Begegnungmit S. Corinna Bille. Sie istvier Jahre älter, zu dieserZeit noch verheiratet undangehende Schriftstellerin.

Maurice Chappaz ging leidenschaftlich seinen eigenenWeg, hier 2005 in seinerWohnung in Le Châble (VS).

CHARLY

RAPPO

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Kolumne

25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 19

KurzkritikenSachbuchCharlesLewinskysZitatenlese

GAËTANBALLY/KEYSTONE

Es ist schwierig,

keine Satire zu

schreiben.

Juvenal

Und dabei hätte es doch einfach einBuch werden sollen und gar keineSatire. «Klick mich» heisst das Werk,trägt den werbewirksamen Untertitel«Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin», und für sechzehnEuro neunundneunzig kann man es beiAmazon bestellen.

Julia Schramm, die Autorin, ist Mit-glied im Bundesvorstand der deutschenPiratenpartei. (Oder müsste das Mit-gliedin heissen? Ich bin mit solchenFeinheiten der politischen Korrektheitoft überfordert.)

Als führende Piratin vertritt sieselbstverständlich die Forderung ausdem Programm ihrer Partei, «das nicht-kommerzielle Kopieren, Zugänglichma-chen, Speichern und Nutzen von Wer-ken nicht nur zu legalisieren, sondernexplizit zu fördern». Das gilt für Filme,für Musik und natürlich auch für Bü-cher. Auch für solche, die man selbergeschrieben hat.

Oops.Denn damit setzt die Satire ein. Jetzt,

wo die Politikerin Julia Schrammgemerkt hatte, wie viel Arbeit so einBuch macht, und wo sie die Tantièmenschon verplant hatte, jetzt fand sie dieForderung, die sie gerade noch so heftigvertreten hatte, zwar immer noch gut.Nur nicht im eigenen Fall.

Als jemand ihre Bekenntnisse zumkostenlosen Herunterladen ins Netzstellte, liess sie ihren Verlag gegendiese Urheberrechtsverletzung juris-tisch einschreiten. Auch wer andereAutoren enteignen will, verteidigt deneigenen Geldbeutel mit Zähnen undKlauen.

Die Geschichte erinnert ein bisschenan die – vielleicht apokryphe –Anekdote über A. S. Neill, einen derBegründer der antiautoritären Erzie-hung. Er habe, so wird gemunkelt,einem Schüler, der mit beschuhtenFüssen auf den Tasten seines Pianosherumgetrampelt sei, eine Ohrfeigeverpasst. Mit der Begründung:«Natürlich bin ich gegen jede Autorität.Aber das ist mein Klavier.»

Bei A. S. Neill weiss man nicht sogenau, ob die Geschichte stimmt. JuliaSchramm hingegen war ganz eindeutigder Meinung: «Aber das ist meinBuch!» Worauf im Netz ein Shitstormüber sie hereinbrach. In der Flut vonVerwünschungen, mit denen sieeingedeckt wurde, war «geldgierigeHure» noch eine der freundlicherenFormulierungen.

Frau Schramm hat ihren Rücktrittaus dem Parteivorstand der Piratenerklärt. Ihre politische Karriere istvielleicht zu Ende. Aberin die Annalen derungewollten Satire istsie ganz bestimmteingegangen.

Der Autor Charles

Lewinsky arbeitet in

den verschiedensten

Sparten. Sein letztes

Buch «Bühne frei!»

hat er mit Bruno Hitz

im Unionsverlag

herausgegeben.

JoachimWahl: 15000 Jahre Mord und

Totschlag. Theiss, Stuttgart 2012.

208 Seiten, Fr. 24.40.

Obwohl die Menschen, von denen indiesem Buch die Rede ist, schon seitHunderten oder gar Tausenden von Jah-ren tot sind, ermöglicht die Untersu-chung ihrer sterblichen Reste ungeahn-te Einblicke in ihr einstiges Leben. DerAnthropologe JoachimWahl stellt in sei-nem Buch wahre Fälle aus Deutschlandvor, die erschauern lassen: ein Massakervor 7000 Jahren, in einem Brunnen er-säufte Römer, Erhängte und Geköpfteaus dem Mittelalter. Bilder von gespal-tenen Schädeln und Beckenschaufelnmachen die grausigen Fälle erst rechtanschaulich. Wahl erläutert die histori-schen Zusammenhänge und die anthro-pologischen Methoden der Skelettun-tersuchung; ein Glossar erklärt Fachbe-griffe wie zum Beispiel den Endokanni-balismus; damit bezeichnen Wissen-schafter das Verspeisen von Toten ausder eigenen Lebensgemeinschaft.Geneviève Lüscher

Alexander Schrepfer-Proskurjakov:

Speznas.Russlands Einheiten.Motorbuch

Verlag, Stuttgart 2012. 175 Seiten, Fr. 40.90.

Militärisch-polizeilichen Begriffen wieSpezialeinheit oder Antiterrortruppehaftet in der Öffentlichkeit oft eine he-roisch-abenteuerliche Aura an. Mandenkt an die legendäre deutsche GSG 9oder die amerikanischen Navy Seals, die2011 den Kaida-Chef Bin Ladin in Pakis-tan unschädlich gemacht haben. Natür-lich hat auch Russland solche Einheiten.Sie heissen dort Speznas, was nichts an-deres ist als ein Zusammenzug aus denWörtern «zur speziellen Verfügung».Der in Russland aufgewachsene und inder Schweiz lebende Autor AlexanderSchrepfer-Proskurjakov will in seinemBuch einen Überblick über die ver-wirrende Vielfalt russischer Speznasvermitteln. Eine kritisch-vergleichendeEinordnung entsteht dabei nicht. Dochverweist der Band für Interessenten aufviele weiterführende russische Informa-tionsquellen.Reinhard Meier

Peter Bieri: Eine Erzählung schreiben

und verstehen. J. Burckhardt-Gespräche.

Bd. 26. Schwabe, Basel 2012. 38 S., Fr. 14.–.

Dreimal jährlich finden auf dem Land-gut Castelen bei Augst (BL) die JacobBurckhardt-Gespräche statt. Der neues-te Band (26) der Vortragsreihe enthältden Essay des Philosophen und Schrift-stellers Peter Bieri. Dieser lädt in luzi-der und eleganter Weise dazu ein, Er-zählungen zu verstehen: ihre Handlungund Figuren, das Thema, die Erzählper-spektive, die Art der Spannung, Wort-wahl, Rhythmus und Melodie eines Tex-tes. Mehr noch: Peter Bieri alias PascalMercier verfertigt beim Entwickeln derGedanken vor Publikum eine Anleitungzum Selberschreiben einer Geschichte.Zuerst anhand von Dürrenmatts Novelle«Das Versprechen», danach an einernoch ungeschriebenen Episode übereinen Anstaltssekretär, die Bieri in sei-nen Jugenderinnerungen ausgegrabenhat. Der leidenschaftliche Geschichten-erzähler lässt einen teilhaben an einembeglückenden Erkenntnisprozess.Urs Rauber

Stef Stauffer: Steile Welt. Leben im

Onsernone. Lokwort, Bern 2012. 204 Seiten,

Fr. 31.90, E-Book 21.20.

Die Berner Lehrerin und Galeristin StefStauffer (47) gehört zur wachsendenZahl Besucher, die das Tessiner Onser-none-Tal entdecken, sich in die steil-schroffe Landschaft oder ins mediter-ran-alpine Klima verlieben, ein Rusticoerwerben und seither dort ihre Ferienverbringen. Stauffers Begeisterung gehtaber weiter, sie hat 15 bewegende Ge-schichten von Einheimischen aufge-zeichnet: Erzählungen vom kargen Le-ben der Anziani, von alten Berufen wieder Strohflechterei, von Geburt, Aus-wanderung und Tod, Freude und Not.Die Beobachterin hat die Oral-History-Zeugnisse in eine literarische Formgebracht und poetisch-zurückhaltendkommentiert. Eine gelungene Hommagean das Tal mit den 300 Kurven, zweiLäden und einem Postauto. Und eineLiebeserklärung an die Onsernone-Frauen, die hier seit je für Leben undÜberleben ihrer Angehörigen sorgen.Urs Rauber

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Sachbuch

20 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Rote Fliege als Markenzeichen: Nobelpreisträger Eric Kandel, 2005.

JOSEFPOLLEROSS/ASABLANCA.COM

Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis.Die Erforschung des Unbewussten in

Kunst, Geist und Gehirn von der

WienerModerne bis heute. Siedler,

München 2012. 704 Seiten, Fr. 59.90,

E-Book 39.90.

VonKathrinMeier-Rust

Seine Autobiografie «Auf der Suche

nach dem Gedächtnis» (2006), die auch

dem wunderbaren gleichnamigen Film

zugrunde liegt, hat den Neurowissen-

schafter Eric Kandel zu einem Bilder-

buch-Nobelpreisträger werden lassen:

Weisshaarig, mit grosser Brille und roter

Fliege bewehrt, verstand es der damals

schon fast 80-jährige Forscher, einem

allgemeinen Publikum nicht nur seine

lebenslange Gedächtnisforschung dar-

zustellen, sondern diese überdies mit

der Geschichte der Neurowissenschaf-

ten und mit seinen eigenen Lebenserin-

nerungen zu verbinden.

1929 in Wien geboren, wurde Kandel

nach dem Anschluss Österreichs 1938

mit seiner jüdischen Familie in die Emi-

gration gezwungen. Er kam als 9-Jähri-

ger in die USA, studierte später Ge-

schichte in Harvard, danach Medizin in

New York mit dem Ziel, Psychoanalyti-

ker zu werden. Er entschied sich dann

aber für die neurobiologische For-

schung, um die biologischen Grundla-

gen psychischer und geistiger Vorgänge

zu erhellen, von deren Existenz schon

Freud überzeugt gewesen war. Für seine

Erforschung der molekularbiologischen

Grundlagen des Erinnerns bei der Mee-

resschnecke Aplysia erhielt Kandel

2000 den Nobelpreis für Medizin.

Nun legt Eric Kandel ein zweites ge-

wichtiges Alterswerk vor, das sich wie-

derum an ein allgemeines Publikum

richtet. Mit dem reich illustrierten

«Zeitalter der Erkenntnis» möchte Kan-

del nichts weniger als eine grosse Syn-

these von Kunst, Geist und Biologie ent-

werfen, einen ersten Versuch einer Ko-

gnitionspsychologie der Kunst wagen,

einer «Neuroästhetik», die dereinst dem

Geheimnis der Kreativität und der emo-

tionalen Wirkung von Kunst auf die

Spur kommen und gleichzeitig die tiefe

Kluft schliessen könnte, die heute zwi-

schen der Geisteswissenschaft und der

(Natur-)Wissenschaft vom Geist klafft.

Die Elite traf sich im SalonAusgangs- und Bezugspunkt für dieses

Unternehmen ist eine Darstellung von

«Wien um 1900», einer Zeit, die Kandel

zwar nicht erlebt hat, die er aber mit ge-

radezu persönlicher Begeisterung schil-

dert, weil sie für ihn eine Art Idealzu-

stand darstellt: «Ich musste Wien schon

als Kind verlassen», schreibt er, «doch

das Geistesleben vom Wien der Jahr-

hundertwende liegt mir im Blut – mein

Herz schlägt im Dreivierteltakt.» Dies

nicht nur, weil damalsWissenschaft und

Kunst eine grosse Blüte erlebten, son-

dern auch, weil ihre Protagonisten über

alle Disziplin- und Fächergrenzen hin-

weg in regem Austausch miteinander

standen. Anders als in London oder

Paris kannte und mischte sich im klei-

nen Wien die naturwissenschaftliche

und die künstlerische Elite, man traf

sich im Kaffeehaus, bei Vorträgen und

vor allem im Salon der ebenso klugen

wie reichen Jüdin Bertha Zuckerkandl.

Darwin und Freud wurden hier ebenso

lebhaft diskutiert wie die damals skan-

dalösen Bilder eines Gustav Klimt, der,

seinerseits von den neuen Erkenntnis-

sen der Biologie tief beeindruckt, oft sti-

lisierte Ei- und Spermienzellen in seine

prachtvoll-üppige Hintergrundorna-

mentik einbaute.

Hier also nahm jener Dialog von

Kunst, Geist und Wissenschaft seinen

Anfang, den Kandel als grosse Aufgabe

unserer Zeit sieht. Zugleich sieht er

Wien zwischen 1890 und 1914 als Schau-

platz einer grossen «Wende nach

innen», die sich gleichzeitig in der For-

schung wie auch in Kunst und Literatur

vollzog. Über alle Fachgrenzen hinweg

ging es um ein neues, modernes Bild

vom Menschen, das auch unbewusste

Triebe der Sexualität und der Aggressi-

on mit einbezog. Da war in erster Linie

natürlich Sigmund Freud, der damals

«den Begriff der Psyche aus der Sphäre

der Philosophie» holte, um ihn «zum

KunstgeschichteDerNeurowissenschafter Eric Kandel versöhnt Kunst undHirnforschung – am

Beispiel derWiener Salon-Kultur umSigmund Freud, Arthur Schnitzler undGustavKlimt

«MeinHerz schlägtDreivierteltakt»

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L�nard Bard�LLder kLe�ne BuddhaGesch�ch�en, L�eder und Ged�ch�e

96 se��en, GeBunden, ��� cd,Fr. 34.–L���a� VerLaG

«e�ne en�schLeun�G�eWeL�s�ch�.»

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 21

im

«Die Hoffnung» von Gustav Klimt. Der damals skandalumwitterteWiener

Künstler war von den Erkenntnissen der Biologie tief beeindruckt.

ULL

STEINBILD

Objekt der jungen Psychologie» unddamit der Wissenschaft zu machen.Doch da ist etwa auch der MedizinerCarl von Rokitansky, der die medizini-sche Diagnostik durch die systemati-sche Obduktion von Leichen revolutio-nierte, womit Wien weltweit führendwurde in der Medizin. Auf Seiten derKunst sind es die Maler Gustav Klimt,Oskar Kokoschka und Egon Schiele,denen Kandel (selbst ein Sammlerösterreichischer expressionistischerKunst) besonders reich illustrierte Kapi-tel widmet, ebensowie der SchriftstellerArthur Schnitzler, der im inneren Mo-nolog Freuds Erkenntnisse menschlichdramatisierte.

Das Bild, das Kandel auf 200 Seitenvon Wien zeichnet, besticht in seinerGeschlossenheit, die «reduktionisti-sche» Methode der Begrenzung aufeinige wenige Künstler und Medizinererweist sich als ausgesprochen leser-freundlich. Ganz anders die daran an-schliessenden neurowissenschaftlichenTeile des Buches. Zwar gelingt es Kandeldurchaus, wissenschaftliche Erkennt-nisse verständlich und interessant dar-zustellen: zur Komplexität des Sehpro-zesses etwa, zur Wahrnehmung vonGesichtern oder zur Fähigkeit unseresHirns, eine bemalte zweidimensionaleFläche automatisch in dreidimensionaleFiguren oder Landschaften zu verwan-deln. Einen Höhepunkt stellt die neuro-biologische Erklärung für das rätselhaf-te Lächeln der Mona Lisa dar: je nach-dem ob die Schöne über das periphereSehen oder über eine zentrale Fixierungbetrachtet wird, zeigt ihr Mund eineetwas andere Krümmung.

Doch jene Annäherung zwischenKunst und Hirnforschung, die Kandel soamHerzen liegt, findet bei dieser Lektü-re merkwürdigerweise kaum statt. ImGegenteil – wer die lebendig-pralleSchilderung der Szene von Wien um1900 geschätzt hat, wird sich mit den Sy-

napsen, Zapfen und der Hirnregion eherschwer tun. Das schöpferische begabteIndividuum in seiner historischen undgesellschaftlichen Bedingtheit kommt inder allgemeinen Biologie des menschli-chen Gehirns eben nicht vor, so stau-nenswert dessen Leistungen auch sind.Und gerade zu den brennenden Fragenum Kreativität und Kunst – etwa zurFrage, warum mich persönlich geradedieses Bild, gerade dieser Künstler emo-tional berührt – kann neurowissen-schaftliches Wissen wenig beitragen.

Was uns an Kunst berührt«Noch nicht» – sagt Eric Kandel. ImSchlussteil des Buches resümiert derAutor nebst anderen interessantenThemen, wie evolutionsbiologische Er-klärungen für das künstlerische Schaf-fen oder die künstlerische Spitzenleis-tung bei autistischen Menschen, auchdie wachsende Aufspaltung der Wis-senschaft in Teildisziplinen seit dem18. Jahrhundert und die Brücken, dieetwa zwischen Physik und Chemie oderzwischen Chemie und Biologie im20. Jahrhundert geschlagen wurden.

Die Annäherungen zwischen Kunst,Kunstgeschichte, Kognitionspsycholo-gie und Hirnforschung sieht auch Kan-del hierbei noch in ihren ersten Anfän-gen. Trotzdem ist er überzeugt, dass dasWissen um neurobiologische Vorgängeim menschlichen Hirn für zukünftigeKünstler dereinst ebenso nützlich undbefruchtend sein werde, wie es dieKenntnis der Anatomie für die Künstlerder Renaissance war.

Wirklich? Auch Kandel gesteht janicht nur seinen Lieblingskünstlern desösterreichischen Expressionismus, son-dern den Künstlern aller Zeiten zu,genau diese Vorgänge intuitiv schonimmer besonders gut erfasst und ge-nutzt zu haben. Wie anders könnten sieuns, die Betrachter ihrer Werke, so be-geistern und im Innersten treffen. l

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Sachbuch

22 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Daniele Ganser: Europa im Erdölrausch.

Die Folgen einer gefährlichenAbhängigkeit. Orell Füssli, Zürich 2012.414 Seiten, Fr. 37.90.

VonTobias Kaestli

Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts be-gannen Unternehmer in den USA imgrösseren Stil nach Erdöl zu bohren.Schon bald wurden einzelne Personenund Familien durch diesen Geschäfts-zweig sehr reich, etwa die Rockefellers.Es entstanden Monopolgesellschaften,die ihre Interessen skrupellos durchzu-setzen und Politiker für ihre Zweckeeinzuspannen wussten. Scharf fasst derWirtschaftshistoriker Daniele Ganserdie sich rasch entwickelnde Gier nachErdöl und die dadurchmotivierte Politikins Auge.

Als wichtige Etappen schildert er diebeiden Weltkriege, die Suezkrise 1956,die erste Erdölkrise von 1973, die zweiteErdölkrise im Gefolge der iranischenRevolution von 1979, die Kriege im Irak,in Afghanistan und in Libyen. Es isthochinteressant, die Weltgeschichte des20. Jahrhunderts unter dem Aspekt desZugriffs aufs Erdöl Revue passieren zulassen. Ganser versteht es, spannend zuerzählen. Seine Tendenz, hinter der Erd-ölpolitik der USA immer wieder gehei-me Absprachen weniger mächtiger Per-sonen und Institutionen zu sehen,vermag allerdings nicht immer zu über-zeugen. Nüchterner und quellenmässigbesser abgestützt sind die Kapitel, indenen er sich mit der gegenwärtigenEnergiesituation in der Schweiz und in

Europa befasst. Schon im Jahr 2003 be-schloss Ganser, im Bereich der globali-sierten Wirtschaft, der Energiesicher-heit und der Friedenssicherung zu for-schen. Er gründete das «Swiss Institutefor Peace andEnergyResearch» (SIPER)und gilt heute als Energieexperte, derspeziell im Zusammenhang mit der bun-desrätlichen Energiestrategie 2050 inWirtschaft und Politik beratend tätig ist.In seinem Buch legt er einleuchtend dar,warum der Ersatz des Erdöls durchnachhaltige Energietechniken dringendnotwendig ist, und er zeigt am Beispieleinzelner Länder, wo wir heute stehen.

Peak Oil ist überschrittenIn Deutschland etwa sind die Anlagenfür Wind- und Solarenergie kräftig aus-gebaut worden, so dass dort an einemwolkenlosen Tag die Solaranlagen einehöhere Leistung erzeugen als 20 Atom-kraftwerke. Dies ist eine Voraussetzungdafür, dass vermehrt nachhaltig erzeug-te elektrische Energie auch für die indi-viduelle Mobilität eingesetzt werdenkann. Ganser erwähnt in dem Zusam-menhang, dass Ferdinand Porsche schonan der Weltausstellung 1900 in Paris einAuto vorführte, dass sowohl über einenVerbrennungsmotor als auch über einenElektromotor verfügte.

Der Elektroantrieb schien damalsdurchaus eine Chance zu haben, dochdas billige Erdöl lief ihm den Rang ab. Inden letzten Jahren ist der Preis pro FassErdöl auf etwa das Zehnfache gestiegen,doch er ist immer noch zu niedrig, umeine drastische Reduktion des Erdöl-konsums zu erzwingen. Die USA habengegenwärtig einen Tageskonsum von

20 Mio. Fass Erdöl, Europa kommt auf15 Mio. Fass. China verbraucht täglich«nur» 9 Mio. Fass, hat aber als bevölke-rungsreichstes Land der Erde ein gewal-tiges Steigerungspotenzial. Der aus derbisherigen Entwicklung extrapolierteBedarf wird schon bald nicht mehrgedeckt werden können, denn der soge-nannte Peak Oil, die maximale Förder-menge, ist bereits überschritten. Die Er-giebigkeit der Ölfelder nimmt laufendab. Die USA, bis zum Zweiten Weltkriegdie grösste Ölfördernation, erreichtenden Peak Oil schon 1970. Norwegen undGrossbritannien als wichtigste Ölför-derländer Europas überschritten ihn imJahr 2000.

Die Internationale Energieagentur(IEA), die während Jahren die Erdölfun-de und -fördermengen viel zu optimis-tisch prognostizierte, ging 2010 erstmalsdavon aus, dass 2006 der Peak Oil welt-weit erreicht worden sei. Trotz zuneh-mender Ausbeutung von Tiefseeöl, vonÖlschiefer und auch Ölsand nehmen dieFördermengen ab. Die noch vorhande-nen Reserven können nur mit wachsen-den Investitionskosten und auch mitwachsendem Energieeinsatz nutzbar ge-macht werden.

Alternative EnergiequellenKlüger wäre es nach Ganser, Kapital undEnergie vermehrt für die Entwicklungalternativer Energieformen einzusetzen.Denn die Energiewende darf nicht län-ger hinausgeschoben werden. Würdenwir nämlich den heutigen Lebensstilgrosso modo fortsetzen, dann würde beigleichbleibender Weltbevölkerung imJahr 2050 nur noch die Hälfte davon aus-reichend mit Erdöl versorgt werdenkönnen. Eine solche enorme Verknap-pung des Angebots würde notwendig zuVerteilungskämpfen, zu Gewaltanwen-dung und neuen Kriegen führen.

Die Energiewende ist spätestens seitFukushima eingeleitet worden, aber wirstehen auch in der Schweiz erst am An-fang. Zwar haben wir einen hohen An-teil an Wasserkraft, hinken aber bei derGewinnung von Windkraft und Solar-energie stark hinten nach. Wie ist dasgekommen?War die Schweiz nicht einstführend in Solartechnik? Ganser nenntdie Fakten, ordnet sie, schafft Überblick.Neben den offiziellen lässt er auch alter-native Meinungen zum Zug kommenund seine Sympathie gilt denjenigen, dieschon früh die Notwendigkeit anmahn-ten, vom Erdöl wegzukommen. SeineBotschaft: Der Krieg ums Öl mit allenOpfern, die er bis dahin schon forderte,ist nicht unausweichlich. Eine Entwick-lung hin zur friedlichen Aushandlungund zur Förderung alternativer Energie-formen ist möglich, setzt aber einenMentalitätswandel und einen neuen Le-bensstil voraus. l

RohstoffeDer Zürcher FriedensforscherDanieleGanser plädiert für die Energiewende

DieGiernachErdölbestimmtdieWeltpolitik

Während in Europa

und den USA

die Ölförderung

zurückgeht, wächst

in China der

Hunger nach Erdöl.

Tankwartin in Huaibei

(China), 2012.

REU

TERS

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 23

Bertolt Brecht und

HeleneWeigel (Mitte)

bei ihrer Ankunft in

Paris amNeujahrstag

1954.

ULL

STEIN

Bertolt Brecht, Helene Weigel: Briefe

1923–1956. «ich lerne: gläser + tassen

spülen». Suhrkamp, Berlin 2012.250 Seiten, Fr. 39.50.Jan Knopf: Brecht. Lebenskunst infinsteren Zeiten. Biografie. Hanser,München 2012. 558 Seiten, Fr. 37.90,E-Book 25.40.

VonMartinWalder

Beerdigt werden wollte sie zu seinenFüssen. Sie war ihm und seiner Arbeittreu, all seinen Nebenfrauen zum Trotz.Und schliesslich durchlebten HeleneWeigel und Bert Brecht Ehejahre eineszermürbenden Exils durch Skandinavi-en und die USA zurück nach Deutsch-land, wo sie in Ostberlin das berühmteBerliner Ensemble (BE) gründeten, erexperimentieren und sie endlich wiederspielen konnte und dann als Intendantindes BE lange über seinen Tod hinausherrschte. Im Sommer 1923 hatten siesich in Berlin kennengelernt.

SMS-Stoff sozusagenDie von Liebe und Krisen gebeutelte Le-bens- und Arbeitsbeziehung des Jahr-hundertpaars auch in den Briefen nach-zuerleben, ist verlockend. Was an ihrerKorrespondenz über 33 Jahre hinwegnoch erhalten oder erreichbar ist – 250Briefe –, präsentiert sich nun unter demaugenzwinkernden Zitat «ich lerne: glä-ser + tassen spülen» (Zitat Brecht). VonBrecht sind es 48 in der Gesamtausgabenoch nicht erfasste und erst 1999 in Zü-rich wieder aufgetauchte Schreiben, vorallem aus dem amerikanischen Exil. VonWeigel ist sehr viel weniger erhalten,das meiste aus der Zeit am BE. In Brief120 vonAnfangMai 1939 aus Paris taucht«Helli» erstmals in Erscheinung.

Zum erhofften Dialog oder gar«Roman» in Briefen kann sich das vonErdmutWizisla in den grösseren biogra-fischen Abläufen gut situierte und mi-nutiös kommentierte Material nichtfügen. Überdies ist, was Brecht undWei-gel einander schreiben, dominiert vonden sachlichen Details, die den Emigra-tionsalltag überwuchern – ist also weit-gehend SMS-Stoff sozusagen: zu Woh-nungssuche, Kontakten, Postautokosten,Kinder- und anderen Krankheiten, En-gagements, Reiseplanung, Familienlo-gistik, Verträgen und Namen im grossenUnterwegssein.

Da fehlen dann auch persönlicheKommentare und hübsche Sottisennicht. Nur: Die wirklichen «Szenen»dieser Ehe sind kaum Thema. Da unddort freilich müssen sie es einanderschriftlich geben, weil beiden das Redenoffenbar zu schwer fällt – derlei ist aberan den Fingern einer Hand abzuzählen.

So sind Nichtspezialisten nach wievor eher auf die Biografien verwiesen:in Weigels Fall an jene von Sabine Kebir,wogegen über Brecht nun bei Hanser

neu «die erste Biografie nach dem Fallder Mauer» angepriesen und ein un-ideologischer Blick auf den Mann ver-sprochen wird. Was hat es damit aufsich? Ersteres trifft höchstens in Sachengrossem Umfang zu, letzteres aberstimmt auf erfrischende Weise. DerAutor Jan Knopf legt kein Bedürfnisnach Hagiografie an den Tag, nachunersättlicher Auseinandersetzung mitBrechts Theorie, Praxis und «Lebens-kunst in finsteren Zeiten» indessenschon. Denn die vorliegende Biografiesei sein inzwischen fünfter Gesamt-«Durchlauf» durch Brechts Leben undWerk, registriert der Verfasser in derNachbemerkung trocken. Als Mither-ausgeber der grossen kommentiertenBerliner und Frankfurter Ausgabe undals Kopf der Karlsruher ArbeitsstelleBertolt Brecht ist Knopf ein erstrangigerKenner, der sein Wissen zum Beispielim grossen Brecht-Handbuch (bei Metz-ler 1980) und bereits in zwei gedrängtenbiografischen Darstellungen (bei Re-clam 2000 und Suhrkamp 2012) ausge-breitet hat.

Hier nun ist der ganze immense Hori-zont des sprachgewaltigen Dichters undhellwach widerborstigen Zeit-Seismo-grafen BB angepeilt. Und «da bestandmeine Hauptaufgabe darin: wegzulas-sen», heisst es einsichtig in KnopfsNachbemerkung. Sagen wir so: Es istimmer noch mehr als genug, und oft zuviel. Denn eindeutig hat der Archivarund Analytiker Knopf über den biografi-schen Erzähler Knopf die Oberhand.Syntax und Darstellungsfluss mäandern

in Kapiteln der komplizierteren Art, vollvon Klammereinschüben und Exkursen.Oft ist das genau und erhellend gegen-über der intellektuell sarkastischenSpieler- und Probierernatur Brecht,etwa in der Situierung von Brechts Mar-xismus-Verständnis. Oft jedoch geht esauf Kosten argumentativer Eingängig-keit und Stringenz – um nur ein Beispielzu nennen: bei der Interpretation desunentwegt unverdaulichen Lehrstück-Brockens «Die Massnahme», eines vonBBs Hauptwerken.

Nichts für AnfängerDie Fülle des ausgebreiteten Materialsist erdrückend, ein Delegieren mancherDetails in Anmerkungen wäre wohltu-end gewesen. Grundsätzlich nämlichlässt sich demGestaltungsprinzip dieserBiografie viel abgewinnen, nimmt esdoch Brechts gleich eingangs zitiertesDiktum ernst, dass «das kontinuierlicheIch eine Mythe» sei. Entsprechend «er-zählt» eben Knopf Brechts Leben hiernicht eng chronologisch, sondern kris-tallisiert kapitelweise Themen und Mo-tive und Stationen über die grossenZeiträume (Kaiserreich, Weimarer Re-publik, Deutscher Faschismus, Exil inSkandinavien und denUSA,Nachkriegs-zeit), so dass sich die inneren Verknüp-fungen ergeben sollen. Nie ist das unin-teressant, aber das Dilemma zwischenBrecht-Handbuch-Kondensat, kursori-scher Interpretation und erzählenderBiografie bleibt auch über 560 Seiten(ohne ein einziges Bild) bestehen. Nein,kein Brecht für Anfänger. l

LiteraturZwei Publikationen zu Bertolt Brecht undHeleneWeigel fördernNeues zumJahrhundertpaar zutage: Kurzfutter, aber auch schwereKost

Alltagsdetails undSottisen

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Sachbuch

24 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Paul Kennedy: Die Casablanca-Strategie.Wie die Alliierten den ZweitenWeltkrieg gewannen. C. H. Beck,München 2012. 448 Seiten, Fr. 35.40.

VonUrs Bitterli

Die Geschichte des Zweiten Weltkriegsist oft erzählt worden: von Siegern undBesiegten, von Heerführern und Solda-ten, von Schriftstellern und Historikern.Kaum je aber ist ein altbekanntes Themaauf so originelle und erhellende Weiseangegangen und erörtert worden wie inder Darstellung, die der renommiertebritische Historiker Paul Kennedy, sei-nes Zeichens Professor an der Yale Uni-versity, nun vorlegt.

Im Unterschied zu seinem Lands-mann John Keegan, der in seinem um-fassenden Werk das ganze Kriegsge-schehen von Hitlers Polenfeldzug biszum Abwurf der Atombomben über Hi-roshima und Nagasaki abhandelt, kon-zentriert sich Kennedy auf eine kürzereZeitspanne und auf wenige, eingehendabgehandelte Themenbereiche. SeinHauptinteresse gilt der Zeit zwischender Casablanca-Konferenz vom Januar1943 und der Eroberung der Seeherr-schaft im Pazifik durch die Amerikanerim Jahre 1944. In Casablanca trafen sichRoosevelt und Churchill, um den weite-ren Kriegsverlauf zu diskutieren und diefolgenschwere Entscheidung zu treffen,den Krieg bis zur «bedingungslosen Ka-pitulation» Deutschlands und seinerVerbündeten fortzusetzen. Zu diesemZeitpunkt stand die deutsche Niederla-ge von Stalingrad fest und die Schlachtvon El Alamein war verloren. Im Rück-blick ist 1943 das Jahr der Wende. Wasfolgte, die Flächenbombardements aufdeutsche Städte, die Offensiven derRoten Armee, die Invasion in der Nor-mandie, schien sich mit zwingenderLogik aus der zunehmenden kriegstech-nischen und numerischen Überlegen-heit der Alliierten zu ergeben.

Neue Fragen stellenKennedy vermag schön herauszuarbei-ten, dass der Endsieg in der Sicht derStaatsmänner und Militärs, die sich 1943in Casablanca trafen, noch keineswegsfeststand. Der Schutz der amerikani-schen Geleitzüge vor den Rudeln derdeutschen U-Boote war noch immer un-zureichend. Die «Battle of Britain» warzwar gewonnen, aber die Lufthoheitüber Westeuropa noch nicht gesichert.Die Landung grosser Truppenverbändeauf dem europäischen Festland konfron-tierte die Alliierten mit ebenso grossenorganisatorischen und technologischenHerausforderungen wie die Sicherungder Nachschublinien im unermessli-chen Raum des Pazifiks.

Solchen Problemen und ihrer Lösungwidmet Paul Kennedy sein Hauptaugen-merk. Er tut dies nicht, indem erbekannten Stoff nacherzählt, sondern

indem er Fragen an die Geschichte stelltund diese zu beantworten sucht. DenAutor interessiert weniger das Frontge-schehen als die Leistung der «Problem-löser» im Hinterland, der Taktiker,Techniker und Tüftler, die oft mit sehrbeschränkten Mitteln und unter gros-sem Zeitdruck daran arbeiteten, immerneuen gegnerischen Herausforderungenentgegenzutreten.

So erfahren wir in detaillierter, aberimmer spannender Analyse, wie Dechif-frierung und Funkaufklärung sowieneue Technologien zur Aufspürung undAbwehr des Feindes den U-Boot-Kriegim Atlantik gewinnen halfen. Und wirerfahren, welche Entwicklungen imFlugzeugbau die Flächenbombarde-ments auf deutsche Städte möglichmachten und welchen enormen mate-riellen und intellektuellen Aufwand dieDurchführung der alliierten Landung inder Normandie erforderte.

Kennedy berichtet aber nicht nur vonden Erfolgen kriegstechnischer und tak-tischer Problemlösung, sondern auchvon Fehlentscheidungen. So verfehltenHitlers verheerende BombardierungenLondons im Jahre 1940 das Ziel der De-moralisierung der Bevölkerung und er-reichten genau das Gegenteil, und esbleibt schwer verständlich, wie der Chefder englischen Bomberflotte, Harris, deres doch besser hätte wissen müssen,dasselbe Ziel mit der Zerstörung deut-scher Städte zu erreichen hoffte. Vonbesonderem Wert ist das letzte Kapitelvon Kennedys Buch, das unter demTitel«Wie überwindet man die ‹Tyrannei derDistanz›?» dem amerikanisch-japani-

schen Ringen im Pazifik gewidmet ist,einem Thema, das in der deutschspra-chigen Fachliteratur kaum je eingehen-der behandelt wird.

Klug und nüchtern beurteiltPaul Kennedy hat seinen im Vorwort ge-äusserten Vorsatz, eine «neue Sichtwei-se» auf den ZweitenWeltkrieg zu versu-chen, auf beeindruckende Weise einge-löst. Sein Buch stimmt aber auch nach-denklich. Es zeigt nicht nur, dass derKrieg den technischen Fortschritt vor-antreibt, sondern auch, wie sehr derFrontsoldat im modernen Konflikt vomTechniker abgelöst wird und in wel-chem Grade die Kriegsmaschinerie eineEigengesetzlichkeit entwickelt, die sichethischer und selbst politischer Kon-trolle entzieht. Kein Zweifel, dass dieseEntwicklung, die der FrontkämpferErnst Jünger bereits im ErstenWeltkriegkommen sah, bis zur aktuellen Diskus-sion über den Kriegseinsatz bewaffneterDrohnen und Roboter stetig vorange-schritten ist.

Wer das kluge und nüchtern urteilen-de Buch von Paul Kennedy gelesen hat,nimmt mit durchaus gemischten Gefüh-len zur Kenntnis, dass die SchweizerRüstungsindustrie in der Entwicklungsolcher Waffensysteme an der interna-tionalen «Forschungsfront» führend ist.Und mit einiger Skepsis erfährt man,dass sich die Experten vom Einsatz sol-chen Kriegsgeräts versprechen, die Op-ferzahlen künftiger Konflikte niedrigerzu halten. lUrs Bitterli ist emeritierter Professor fürNeuere Geschichte an der Uni Zürich.

ZweiterWeltkriegDer britischeHistoriker Paul Kennedy richtet seinAugenmerk auf das Jahr 1943

StundederTaktiker

US-PräsidentFranklin D. Roosevelt(links) und derbritische Premier SirWinston Churchillan der Konferenzvon Casablanca, imJanuar 1943.

BPK

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 25

StadtansichtenRoms grüne Lungen

Wer glaubt, Rom sei eine Steinwüste mit Ruinen-

feldern, Barockkirchen und Strassenschluchten, der

wird sich wundern. Und wer meint, Italiens

Hauptstadt lasse seine Kulturdenkmäler verkommen,

der wird hier eines besseren belehrt. Herrliche

Luftaufnahmen auf prachtvollen Doppelseiten

bringen verborgene Gärten zutage und offenbaren die

Grosszügigkeit der herrschaftlichen Palazzi.

Die grünen Bepflanzungen sind akkurat geschnitten

und gepflegt (im Bild die Villa Medici); die

Marmorfassaden erstrahlen im gleissenden Licht des

Südens. Gärten und Villen sind Zeugnisse eines

römischen Erbes und der Fortsetzung einer

selbstbewussten Grandezza der Stadt Rom und des

Vatikans vomMittelalter bis heute. Sie haben

jahrhundertelang Künstler, Maler und Literaten

inspiriert. Viele der prächtigen Anlagen sind privat;

allein der Papst darf beispielsweise in den

vatikanischen Gärten lustwandeln, und nur dem

italienischen Staatspräsidenten stehen die Parks

auf dem Quirinal offen. Anderes aber ist öffentlich

wie die Villa Borghese oder – ein Geheimtipp – die

erst in den letzten Jahren frisch renovierte Villa

Torlonia. Geneviève Lüscher

Alberta Campitelli, Alessandro Cremona (Hrsg.): Die

Villen und Gärten Roms. Deutscher Kunstverlag,

Berlin 2012. 340 Seiten, zahlreiche farbige

Abbildungen, Fr. 128.90.

Haide Tenner (Hrsg.): «Ich möchte so

lange leben, als ich Ihnen dankbar sein

kann».AlmaMahler – Arnold

Schönberg. Der Briefwechsel. Residenz,

St.Pölten 2012. 304 Seiten, Fr. 35.40.

Von Fritz Trümpi

«Gott, wenn ich Geld hätte, solche Men-

schen wie Sie, sollten sich um den leidi-

gen ‹Tag› nicht kümmern müssen!!»

Alma Mahlers Bewunderung für Arnold

Schönberg war so gross, dass sie keinen

Aufwand scheute, dem Komponisten

zeitlebens beträchtliche finanzielle Mit-

tel zu verschaffen. Dieser quittierte

ebenso euphorisch: «Sie sind gewiss

eine der prachtvollsten Frauen, die es je

gegeben hat.»

Trotz der offenkundigen Hochschät-

zung zwischen der kunstbegabten Kom-

ponistenwitwe und dem radikalen Mu-

sikerneuerer, die eine enge Vertrautheit

miteinschloss, wurde ihr Briefwechsel

bisher stiefmütterlich behandelt. Haide

Tenner hat diesem Missstand nun abge-

holfen. Mittels aufwendiger Recherchen

hat sie den Schriftverkehr rekonstruiert

und in akribischer Feinarbeit mit hilfrei-

chen biografischen Kurzkommentaren

versehen. Darin nutzte sie auch die Ge-

legenheit, festgefahrene Leitmotive der

Schönberg- und der Alma-Mahler-Bio-

grafik zu korrigieren.

Die Briefedition liefert aber nicht nur

ein willkommenes Hilfsmittel für die

Wissenschaft, sondern funktioniert dar-

über hinaus auch bestens als spannungs-

volle Geschichte um zwei schillernde

Figuren des Musiklebens: Der Brief-

wechsel gewährt pikante Einblicke ins

Private und legt ausserdem aufschluss-

reiche künstlerische und politische Po-

sitionierungen frei.

«Aber jetzt kommt die Abrechnung!

Jetzt werfen wir diese mediokrenen Kit-

schisten wieder in die Sklaverei und sie

sollen den deutschen Geist verehren

und den deutschen Gott anbeten ler-

nen», gibt sich der kriegsbegeisterte

Schönberg im August 1914 überzeugt.

Alma Mahler stimmt postwendend zu:

«Seien Sie froh, dass Sie in Deutschland

sind, dem Land, von wo allein das Heil

uns winkt!»

Als Arnold Schönberg nach dem

Krieg im April 1923 ans Bauhaus berufen

werden sollte, lehnt er jedoch ab: Er

folgt dem Hinweis von Alma Mahler,

wonach offenbar viele der dortigen Pro-

fessoren antisemitisch eingestellt seien.

Schönberg kommentiert seine Absage

mit Galgenhumor: «…denn mit mir ist

es ein Hakenkreuz: ich bin ein schufti-

ger, unverständlicher Jude.» Alma Mah-

ler schätzt Schönbergs widerständige

Haltung: «Aber andrerseits tut es diesen

Ariern schon gut – wenn sie einmal an

einen Menschen kommen, der sich

nichts gefallen lässt.»

Schönberg, der 1933 mit seiner Fami-

lie über Frankreich in die USA emig-

riert, korrespondiert auch vom Exil aus

keineswegs ironiefrei. Statt mit Christ-

bäumen würden sie Weihnachten in Ka-

lifornien mit einem Kaktus feiern,

schreibt er 1934: «Eigentlich sehr prak-

tisch, denn man braucht keine Kerzen-

halter, die sind schon drauf!» Als Prag-

matiker tut er sich mit dem Exil nicht

allzu schwer.

«Und man soll nicht zögern zu sagen:

wir sind sehr glücklich hier zu sein», be-

richtet er 1939 an Alma Mahler. Diese

schreibt ihm wiederum verzweifelte

Notizen aus Frankreich zurück: «Der

Fremdenhass beginnt fühlbar zu wer-

den.» Erst im September 1940 flüchtet

sie mit ihrem Gatten Franz Werfel auf

beschwerlichen Wegen nach New York.

Im nachfolgenden Streit zwischen

Thomas Mann und Arnold Schönberg,

der sich im Tonsetzer Leverkühn aus

Manns «Doktor Faustus» wiederzuer-

kennen glaubt, schlägt sich Alma Mah-

ler auf die Seite des Schriftstellers. Es ist

allerdings nicht der erste Bruch zwi-

schen ihr und Schönberg, doch wie die

vorherigen verheilt auch dieser. 1949

schickt Alma Mahler zu Schönbergs Ge-

burtstag Champagner, worauf der be-

reits kranke Komponist erwidert: «Bitt

für mich, dass ich noch einmal gesund

genug werde, um mir mit diesem Cham-

pagner einen wohlverdienten Rausch

anzutrinken.» l

BriefwechselDie Briefe vonAlmaMahler undArnold Schönberg gewähren Einblick ins Privatleben

der beiden schillernden Figuren aus derMusikwelt

DieMäzenin schicktChampagnerzurVersöhnung

BAMSPHOTO

RODEL

LA

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Sachbuch

26 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Andrea Fink-Kessler: Milch – VomMythoszur Massenware. Band 8 der ReiheStoffgeschichten. Oekom,München 2012.285 Seiten, Fr. 27.90.

VonAdrian Krebs

Soeben ist im Münchner Oekom-Verlagein Buch erschienen, welches das Zeugzum Standardwerk hat. Die deutscheAgrarökonomin Andrea Fink-Kesslernähert sich auf knapp 300 Seiten derMilch und deren Entwicklung – so derUntertitel – vomMythos zur Massenwa-re. Die Autorin geht chronologisch vor.Dies tut sie mit Augenmass; statt akri-bisch die Historie von Milchproduktionund -konsum zu sezieren, konzentriertsie sich in sechs Kapiteln auf die wich-tigstenMarken amWeg des Lebenssafts,

der 8000 v. Chr. im Orient beginnt undin einer schick designten Packung immodernen Discounter-Kühlregal endet.

Die Lektüre ist kurzweilig, weil Fink-Kessler ein Flair für (geschichtliche)Anekdoten hat, ohne dabei ins Ungefäh-re abzudriften. So erklärt sie zum Bei-spiel die Zusammenhänge zwischenMilchproduktion und der tödlichenAuseinandersetzung von Kain und Abeloder zwischen dem Ablasshandel undder Entstehung des Dresdner Butter-stollens gegen Ende des 15. Jahrhunderts.Dazwischen finden sich zur Auflocke-rung immer wieder Textkästen, dieeinen speziellen Aspekt des Themasvertiefen. Ist zum Beispiel von der Mut-termilch die Rede, folgt kurz darauf eineBox zu deren Zusammensetzung.Kommt die Autorin auf Cato zu spre-chen, findet sich alsbald ein Kasten zum

Thema römische Agrarschriftsteller.Journalistisch ist Fink-Kesslers Arbeits-weise auch dort, wo sie dem keniani-schen Volk der Rendille einen Besuchabstattet, um ihr Verhältnis zum Kamelund seiner Milch zu beleuchten. Abge-rundet wird das Buch von informativenBildern, einem Anhang mit einer kurzenAnleitung zum Käsen, zahlreichen An-merkungen und einem ausführlichenLiteraturverzeichnis.

Der Band ist eine interessante Mi-schung aus wissenschaftlicher Arbeit,Geschichtsbuch und Produktionsmanu-al, garniert mit spirituell angehauchtenEmpfehlungen zum Schluss. Auf diesehätte ebenso gut verzichtet werden kön-nen, letztlich unterstreichen sie aber,dass der Autorin an einem umfassendenAnsatz gelegen ist, der ihr insgesamtsehr gut gelingt. l

NahrungsmittelKurzweiligeKulturgeschichte derMilchwährend der letzten 10000 Jahre

Chronologie einesLebenselixiers

Shulamit Volkov: Walter Rathenau. Einjüdisches Leben in Deutschland.C. H. Beck, München 2012. 250 Seiten,Fr. 32.90, E-Book 22.90.

Von Peter Durtschi

Als Walther Rathenau 1867 zur Weltkommt, erlebt sein Geburtsort Berlin ge-rade einen Aufschwung. In der ehemalsprovinziellen preussischen Garnisons-stadt leben rund eineMillionMenschen.ImWachstum begriffen ist auch das Un-ternehmen seines Vaters Emil, einesdeutsch-jüdischen Industriellen. Undbesonders dynamisch verläuft die ge-sellschaftliche Entwicklung für die Jü-dinnen und Juden in Deutschland: In-nerhalb von zwei, drei Generationensind sie vom Rand der Gesellschaft inihr Zentrum gerückt.

Vor allem die freien Berufe bietenAufstiegsmöglichkeiten, Emil Rathenaubeispielsweise gründet die Allgemei-ne Elektrizitätsgesellschaft (AEG). ImStaatsdienst hingegen und in der preus-sischen Armee haben Juden nur sehrgeringe Aufstiegschancen.

Ab 1899 nimmt Walther Rathenau inder AEG leitende Positionen ein. Derstudierte Physiker ist erfolgreich, unddoch ist er zerrissen – er hat literari-sches Talent und erwägt zeitweilig, sichganz aus der Wirtschaft zurückzuzie-hen. Und er versucht, in der Politik Fusszu fassen, vorerst aber mit nur magerenResultaten. 1914 wird der Wirtschaftsex-perte zum Leiter der Kriegsrohstoffab-teilung berufen. Doch als Jude und Zivi-list fühlte sich Rathenau im Kriegsmi-nisterium als Aussenseiter. Er und seineVorfahren hätten ihrem Land nach bes-ten Kräften gedient, schreibt er in die-sen Jahren einer Bekannten, gleichwohl

bleibe er «als Jude Bürger zweiter Klas-se. Ich könnte nicht politischer Beamterwerden, nicht einmal in FriedenszeitenLeutnant.» Obwohl fast ständig im Aus-tauschmitwichtigen Politikern, schreibtdie israelische Historikerin ShulamitVolkov, hatte Rathenau das Gefühl, imBereich der Politik an eine gläserneDecke zu stossen. DieMöglichkeit, seineChancen durch einen Übertritt zumChristentum zu verbessern, lehnte Ra-thenau aber entschieden ab.

Dem Judentum stand er gleichwohlskeptisch gegenüber – ein deutscherJude sei zuerst deutscher Staatsbürger,dann Jude, hielt Rathenau fest. Sein

Essay «Höre, Israel!», 1897 veröffent-licht, stellt einen Frontalangriff auf diedeutschen Juden dar, seien diese dochunfähig, sich vollständig zu assimilie-ren. Erst zwanzig Jahre später, in seiner«Streitschrift vom Glauben», nimmt Ra-thenau gegenüber seinen Glaubensge-nossen eine versöhnlichere Haltung ein.Ähnlich komplex gestalten sich Rathe-naus Stellungnahmen zu wirtschaftli-chen Fragen: In seinem 1917 erschiene-nen Buch «Von kommenden Dingen»,skizziert der Grossindustrielle ein ge-sellschaftliches Leben, das sich am Ge-meinwohl orientiert, ohne in die Fall-stricke des Sozialismus oder des «Mate-rialismus» zu geraten.

In den Nachkriegswirren bringt ihndiese Haltung in Konflikt mit den ande-ren Industriellen; aus der Arbeiterbewe-gung wiederum schlägt dem Präsiden-ten der AEG, diesem Inbegriff desGrossbürgertums, Skepsis entgegen.

Trotz allem wird Rathenau 1920 Bera-ter der deutschen Delegation, die mitden Alliierten über die Entwaffnung undReparationszahlungen verhandelt. Manbraucht ihn, weil er Geschick in Ver-handlungen bewiesen hat und über dip-lomatisches Gespür verfügt. Ein Jahrspäter wird er Wiederaufbauminister –nochWochen zuvor schien dies undenk-bar. 1922 schliesslich bekleidet WaltherRathenau in der Weimarer Republik dasAmt des Aussenministers. Aber der Tonder antisemitischen Angriffe gegen ihnwird immer schriller. Als der Ministeram 24. Juni in seinem offenenWagen zurArbeit fährt, ermorden ihn Mitgliedereiner rechtsgerichteten Terrororganisa-tion. Walther Rathenau mag zweitwei-len mit seiner doppelten Identität alsDeutscher und Jude gekämpft haben,schreibt Volkov. Aber er hat bewiesen,dass beides vereinbar ist. l

WeimarerRepublikWalther Rathenauwar Industrieller, Essayist und schliesslichAussenminister

ErmordetvonRechtsextremen

Ein deutscher Jude sei zuerst deutscher Staatsbürger, dann Jude – sagteWalther Rathenau (1867–1922), hier im Auto als Aussenminister (undat.).

IBA

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 27

Helixnebel, gesehen

durchs Spitzer-

Teleskop der Nasa.

SPITZERSPACETELESCOPE/NASA

Brian Greene: Die verborgene

Wirklichkeit. Paralleluniversen und die

Gesetze des Kosmos. Siedler, München

2012. 448 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 24.20.

Ernst Peter Fischer: Niels Bohr. Physiker

und Philosoph des Atomzeitalters.

Siedler, München 2012. 272 Seiten,

Fr. 32.90, E-Book 22.90.

Walter J. Moore: Erwin Schrödinger. Eine

Biografie. Primus, Darmstadt 2012.

423 Seiten, Fr. 40.90.

VonAndré Behr

Die angloamerikanischen Physiker domi-

nieren nicht nur den Nobelpreis, sie sind

auch ungemein produktiv im Schreiben

von populärwissenschaftlichen Sachbü-

chern. Allen voran Brian Greene, der nun

innert zehn Jahren einen dritten volumi-

nösen Band vorlegt, in welchem er den

staunenden Laien an der aktuellen For-

schung teilnehmen lässt.

Der heute 49-jährige, an der Colum-

bia University lehrende Forscher, bestä-

tigt mit seinen Publikationen, was der

bekennende Science-Fiction-Fan und

Nobelpreisträger Martinus Veltman in

einem Interview mit dieser Zeitung ein-

mal sinngemäss gesagt hat: «Die Physik

selbst ist aufregender, als jeder futuristi-

sche Roman.»

Idee eines ParalleluniversumsDiese Behauptung erschliesst sich be-

reits aus dem Titel von Greenes neuem

Werk: «Die verborgene Wirklichkeit».

Angesprochen wird damit die Idee von

Paralleluniversen. Sie ist älter, als man

meinen könnte, wird aber in jüngerer

Zeit wieder vermehrt ernsthaft disku-

tiert. Schon bei der Formulierung der

Quantenmechanik gab es unterschiedli-

che Meinungen, wie die Gleichungen

der neuen Theorie zu interpretieren

seien – wie übrigens auch bei der Allge-

meinen Relativitätstheorie. Greene ana-

lysiert nun die Möglichkeit, dass unsere

Realität nicht die einzige ist, so selbst-

verständlich und begeistert, als rede er

von noch unentdeckten Singvögeln.

Greenes Werk ist nicht das erste all-

gemeinverständliche Buch zum Thema

Parallel- oder Multiuniversen, aber das

umfassendste, das zudem gekonnt ge-

schrieben ist. Gewisse Redundanzen

werden höchstens Fachleute bemän-

geln. Sie ergeben sich, weil Greene neun

Varianten von möglichen Multiuniver-

sen in ihrem historischen Kontext

durchdiskutiert, die von theoretischen

Physikern verschiedenster Forschungs-

richtungen bisher erwogen wurden. Je

nach Ausrichtung dieser Forscher,

schreibt Greene, «sind diese Paralleluni-

versen von unserem durch ungeheure

räumliche oder zeitliche Abstände ge-

trennt, treiben sich nur wenige Millime-

ter entfernt herum oder erweist sich

schon die Vorstellung von einem Auf-

enthaltsort als bedeutungslos».

Nicht nur die Formen von Paralleluni-

versen sind verschieden, sie würden

zudem von unterschiedlichsten Geset-

zen bestimmt. In manchen gälten noch

dieselben physikalischen Regeln wie bei

uns, in anderen wären die Gesetze nur

noch ähnlich, in wiederum anderen

gänzlich anders. Solche Vorstellungen

sind nicht nur für Laien happig. Auch in

der Fachwelt herrscht alles andere als

Einigkeit. Und Greene wäre kein gestan-

dener Wissenschafter, wenn er nicht

gleich im ersten Kapitel klarstellen

würde, dass Paralleluniversen ein höchst

spekulatives Thema sind. Kein Experi-

ment und keine Beobachtung konnte

ihre Existenz bisher belegen.

Dispute unter PhysikernAllerdings, gibt Greene zu bedenken,

haben sich diese Optionen unverhofft

aus der mathematischen Struktur von

Theorien ergeben, deren Ziel es war,

herkömmliche Beobachtungen zu erklä-

ren. Insofern darf man sich in der Tat

wundern. Einsteins Gravitationstheorie

und die Quantentheorie sind noch keine

100 Jahre alt und empirisch bestens be-

stätigt, sie führen im Zusammenspiel

jedoch zu einer Welt, «die in ihrer

Grösse und Unübersichtlichkeit beängs-

tigend wirkt. Einfach und harmonisch

sind nur noch die grundlegenden Be-

griffe und Prinzipien», wie es der philo-

sophisch gebildete Kölner Physiker

Claus Kiefer formuliert. Dass wir in

einer Art Superuniversum leben, von

dem unser beobachtbares Universum

nur ein Teil ist, könnte demnach ein Bild

sein, zu dem uns unsere Erfahrung mit

der Theorie selbst führt.

Ernsthafte Dispute werden auch in

der Physik vor allem in Zeiten des Um-

bruchs geführt. Exemplarisch dafür

waren das zweite Jahrzehnt des 20. Jahr-

hunderts, als die deterministische Sicht

auf die Natur innert erstaunlich kurzer

Zeit von der Quantenmechanik in Frage

gestellt wurde. Niels Bohr und Erwin

Schrödinger, zwei der wichtigsten Prot-

agonisten von sehr unterschiedlichem

Naturell, gerieten damals besonders

heftig aneinander. Von ihrem Konflikt

kann man auch bei der Frage nach Paral-

leluniversen lernen.

Über den 1885 geborenen Dänen

Bohr, dessen Todestag sich heuer zum

50. Mal jährt, hat Ernst Peter Fischer

eine Biografie geschrieben, die vor

allem auf Bohrs Weg zur Atomtheorie

fokussiert. Endlich ins Deutsche über-

setzt wurde nun auch Walter Moores

umfangreiche Biografie über Schrödin-

ger von 1994. Der zwei Jahre jüngere

Wiener, der unter anderem an der Uni-

versität Zürich forschte, hatte mit seiner

Wellenmechanik dafür plädiert, dass

Elementarteilchen Wellenphänomene

sind und seine berühmte Gleichung

nicht nur im mikroskopischen Bereich

Sinn macht. Bohr, dem Doyen der Quan-

tenphysik, widerstrebte dieser universa-

le Anspruch. Er hat unangenehme Fol-

gen für das klassische Bild der makros-

kopischen Welt, und musste deshalb

mittels des von John von Neumann ein-

geführten «Kollaps der Schrödinger-

Gleichung» weginterpretiert werden.

Der «gut durchschnittliche Physi-

ker», schrieb Schrödinger gegen Ende

seines Lebens, sei unfähig einzusehen,

«dass ein vernünftiger Mensch es ableh-

nen könnte, sich des Kopenhagener Ora-

kels anzunehmen». Die Bohr’sche Inter-

pretation der Quantenmechanik hat

heute noch viel Gewicht. l

NaturwissenschaftDer amerikanische Physiker BrianGreene schreibt ein umfassendes Buch über

dieVorstellung parallelerUniversen

Aufregender als Science-Fiction

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Sachbuch

28 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

Urs Altermatt: Das historische Dilemma

der CVP. Zwischen katholischemMilieuund bürgerlicherMittepartei. Hier +Jetzt, Baden 2012. 263 Seiten, Fr. 52.90.

Von Felix E.Müller

Der Historiker Urs Altermatt befasstsich seit jeher mit Themen, die in derZunft möglicherweise als «unmodisch»gelten, aber für das Verständnis derSchweiz wichtig sind. Niemand sonstverfügt heute über ein ähnlich fundier-tes Wissen über die Entwicklung desBundesstaats seit 1848, und zwar in sei-nen institutionellen Aspekten: Parteien,Bundesrat, Parlament. In speziellerWeise beschäftigt sich der emeritierteFreiburger Professor mit der politischenGeschichte des Katholizismus, einThema, für das sich die sonst in denliberalen oder protestantischen Kanto-nen angesiedelte universitäre Histori-kerzunft wenig interessierte. Seine weg-weisende Publikation «Der Weg derSchweizer Katholiken ins Ghetto» von1991 legte das Fundament für seine wei-teren Forschungen. Nun hat er zum 100.Geburtstag der CVP im Jahr 2012 eineüberblicksartige, sehr lesbare Geschich-te dieser Partei vorgelegt. Keine andereBundesratspartei bildet die Entwicklun-gen der modernen Schweiz besser ab alsdiese Gruppierung, die während Jahr-zehnten katholisch-konservative Volks-partei hiess.

Katholische EinwandererIhre Wurzeln liegen im Sonderbunds-krieg von 1847, der mit dem Sieg der li-beralen Kräfte über die katholischeSchweiz endete. Dies ebnete den Wegfür die Totalrevision der Bundesverfas-sung nach liberalen Vorstellungen. DieVerlierer zogen sich in die «Stammlan-de» zurück, da sie von den politischenund administrativen Schlüsselpositio-nen im neuen Bundesstaat weitgehendausgeschlossen wurden. Diese «Sonder-bundspartei» erhielt zunehmend Suk-kurs aus der Diaspora, wo die liberalenFreiheitsrechte es den Katholiken er-laubte, sich zu organisieren. Deren Zahlwuchs zudem rasch an, weil die Einwan-derung vor allem aus Italien, Süd-deutschland und Österreich in die wirt-schaftlich dynamischen Zentren erfolg-te. So entwickelte sich die Partei zueiner katholischen Milieupartei.

Für die Katholiken brachte die totalrevidierte Bundesverfassung von 1874eine Zäsur, weil der Ausbau der Volks-rechte die «Milieupartei» referendums-fähig machte. Sie brachte darauf diefreisinnige Regierungsmaschinerie zumStocken, worauf diese mit der Wahl desersten Vertreters der katholisch-konser-vativen Opposition, Josef Zemp, in denBundesrat im Jahr 1891 reagierte. Damitbegann die langsame Integration der Ka-tholiken in den modernen Bundesstaat.Für Altermatt drückt sich dieser Integ-

rationswille unter anderem in der Tatsa-che aus, dass sich die InnerschweizerSoldaten ohne Wenn und Aber an derUnterdrückung des Generalstreiks von1918 beteiligten. Sie drückten damit aus,dass sie den Staat Schweiz in seiner mo-dernen Form akzeptiert hatten und ihngar manu militari verteidigen wollten.Von diesem Zeitpunkt an verstandensich die Katholisch-Konservativen alsJuniorpartner der FDP; der gemeinsameGegner stand links.

Deshalb bauten die Katholiken in derDiaspora eine institutionelle Gegenweltzu den Sozialisten auf: christliche Ge-werkschaften, christliche Versicherun-gen, christliche Konsumgenossenschaf-ten, christliche Vereine. Die Blütezeitbegann nach dem ZweitenWeltkrieg, imSog der zentralen Rolle, welche diechristlichen Parteien beim Wiederauf-bau Europas spielten. In Italien,Deutschland, Österreich erwies sich diezentristische Politik dieser Parteien,verbunden mit einem klar deklariertenWertekanon, als die Zauberformel, umdie Schatten der Vergangenheit zu über-winden. Die katholisch-konservativePartei der Schweiz profitierte davon; sieöffnete sich nach links, was schliesslichzur Folge hatte, dass sie sich 1957 einenneuen Namen gab: «Konservativ-Christ-lichsoziale Volkspartei».

Politisch gesehen rückte sie immerstärker ins Zentrum und erlangte balddie berühmte Scharnierfunktion der«Mehrheitsbeschafferin in der Mitte».Unter dem Eindruck der Entwicklungder anderen christlichen Parteien in Eu-ropa trennte sie sich schliesslich 1970von beiden «K» im bisherigen Namen:Sie hiess fortan «Christlichdemokrati-

sche Volkspartei» und warb explizitauch umMitglieder anderer christlicherKonfessionen.

Der Schritt hatte, wie Altermattschreibt, durchaus eine gewisse Logik:Die Säkularisierung der Gesellschaftführte zu einer Lockerung der konfes-sionellen Bindungen. Das katholischeSondermilieu verschwand in dem Aus-mass, wie die Katholiken überall in Poli-tik, Wirtschaft und Gesellschaft akzep-tiert wurden. Aber längerfristig warendie Auswirkungen gravierend: Die Ka-tholiken fühlten sich fortan frei, auchandern Parteien beizutreten. Heute gibtes mehr Katholiken bei der SVP, die dasLabel konservativ wie ein Banner vorsich herträgt, als bei der CVP. Diese ver-lor kontinuierlich Wähleranteile, sackteauf den vierten Platz der Bundesratspar-teien ab und verlor 2003 ihren zweitenBundesratssitz an die SVP.

Zukunft der CVPAltermatt stellt sich auch der Frage, umdie sich mancher an seiner Stelle ge-drückt hätte: wie weiter? Gemäss seinerDiagnose befinde sich die CVP «aufdem langen und mühsamen Weg voneiner katholischen Milieupartei zu einerchristlich-konservativen oder zu einersäkularenWertepartei mit bürgerlichemHintergrund». Ohne eine Konsolidie-rung im heute zersplitterten politischenZentrum sieht der Historiker dafür nureine beschränkte Chance. Deshalb plä-diert er für eine Allianz oder Fusion mitder BDP, welche die CVP in geografi-scher und konfessioneller Hinsicht idealergänze. Damit ist der Historiker dortangelangt, wo viele seiner Zunftgenos-sen nie auftauchen: in der Gegenwart. l

ParteienDer FreiburgerHistorikerUrsAltermatt legt eine umfassendeGeschichte der CVP vor

Erst Integration, dannAbstieg

Von links: Bundesrat

Ludwig vonMoos,

Bundespräsident

Roger Bonvin und

Bundeskanzler

Karl Huber beim

traditionellen Essen

der Konservativ-

Christlichsozialen

Volkspartei am

14. Dezember 1967.

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25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 29

Hildegard von Bingen

(Mitte), die ihre

Visionen direkt von

Gott empfangen

haben soll, war schon

zu Lebzeiten populär.

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Michaela Diers: Hildegard von Bingen.

Aktualisierte Neuausgabe. dtv, München2012. 254 Seiten, farbig illustriert,Fr. 26.90.

VonGeneviève Lüscher

Die offizielle Heiligsprechung der Hil-degard von Bingen im Mai 2012 hat fast800 Jahre auf sich warten lassen. Bereitszu Lebzeiten (1098–1179) wurde dieFromme verehrt, und sie selbst hattediese Weihung schon immer angestrebt– Bescheidenheit gehörte nicht zu ihrenTugenden. Aus kirchlicher Sicht hattesie noch weitere Fehler, die aber heutegrosszügig unter den Teppich gekehrt,respektive anders «gelesen» werden.Papst Benedikt XVI. habe «eine ins Kon-servative gewendete Hildegard» gehei-ligt, eine, die sich der Autorität derKirche unterstelle, schreibt die Histori-kerin Michaela Diers in ihrer neu aufge-legten Biografie. Aber als Mystikerinhabe Hildegard bewusst auf die Mittler-rolle der Kirche verzichtet und ihre Vi-sionen direkt von Gott empfangen. Auchihre Rolle als Frau in Theologie und Kir-che sei vom Papst verwedelt worden.

Hildegard, Tochter einer reichen adli-gen Familie, wurde 1098 geboren, wogenau, ist in der Forschung umstritten.Schon im Kindesalter hatte sie Visionenund wurde ins Kloster Disibodenberg(Bad Sobernheim, Rheinland-Pfalz) ge-

geben. Über ihr Leben berichtet ihreVita zwar recht ausführlich, da sie je-doch im Hinblick auf die Heiligspre-chung zusammengestellt worden seiund deshalb bestimmten Mustern zufolgen hatte, sei sie mit Vorsicht zulesen, betont Diers.

1150 hatten sich so viele Frauen umHildegard geschart, dass sie auf demRupertsberg bei Bingen ein eigenesBenediktinerinnenkloster gründete, einzweites folgte 1165 in Ebingen bei Rüdes-heim. Beiden stand Hildegard als Äbtis-sin vor. Sie starb mit 81 Jahren und wiees sich für eine zukünftige Heilige ge-hörte mit einem Lichtwunder.

Hildegard schrieb drei grosse Werkemit Visionen und Prophetien. Sie the-matisiert darin die Grundfragen ihrerZeit: Schöpfung, Christentum, Kirche,Endzeit. Darin scheinen laut Diersdurchaus weibliche Akzente auf, aber«Grund zu einer feministischen Hagio-graphie besteht nicht». Die Nonne warweder Feministin noch Umweltaktivis-tin, weil sie das im 12. Jahrhundert garnicht sein konnte. Diers bezeichnet sieals «visionäre Theologin», die sich sou-verän über das biblische Schweigegebotfür Frauen hinwegsetzte, öffentlich pre-digte und den Klerus kritisierte.

Ob die ebenfalls Hildegard zuge-schriebenen natur- und heilkundlichenSchriften, für die sie heute vor allem be-rühmt ist, wirklich von ihr stammen, iststark umstritten. Hildegard geriet für

Jahrhunderte in Vergessenheit. In densiebziger Jahren des letzten Jahrhun-derts, einer Zeit desUm- undAufbruchs,erlebte ihre Verehrung eine Renais-sance. «Alternativ» war das Stichwort,aber auch Mystik, Frauenemanzipation,Ökologie, geheimnisvolles Mittelalter,spirituelle Neuorientierung – all das bil-dete eine für das Revival fruchtbare Ge-mengelage. Noch heute ist ihre Vereh-rung ungebrochen, Hildegard ist zueinerMarke geworden, unter der allerleiEsoterisches gewinnbringend verkauftwerden kann. Aber, warnt Diers: «Es istnicht überall, wo Hildegard drauf steht,auch Hildegard drin.»

Auch ihre eher problematischen Sei-ten – die intolerante Begeisterung fürdie Kreuzzüge, ihre Verdammung derKatharer und ihr penetranter Standes-dünkel, der für gesellschaftliche Verän-derungen keinen Platz liess, – fallen beider heutigen Popularität völlig unterden Tisch. Für die Heiligsprechungwaren sie hingegen kein Hindernis. l

Religion ImMai 2012wurdeHildegard vonBingen heilig-gesprochen. ImOktober erhielt dieMystikerin die selteneWeihe als Kirchenlehrerin

FrecheFraukommtindenHimmel

Mouhanad Khorchide: Islam ist

Barmherzigkeit.Grundzüge einermodernen Religion. Herder,Freiburg i. Br. 2012. 220 Seiten, Fr. 27.90.

VonKlaraObermüller

Über den Islam wird viel Unsinn gere-det – sowohl von denen, die ihn verteidi-gen, wie auch von denen, die ihn be-kämpfen. Mouhanad Khorchide, Leiterdes Zentrums für Islamische Theologiean der Universität Münster, ist angetre-ten, den Zerrbildern seiner Religioneine theologisch fundierte und mit mo-dernem Denken kompatible Interpreta-tion entgegenzusetzen. Sein Buch rich-tet sich an Muslime, die bereit sind,ihren Glauben im Lichte einer humanis-tischen Koranhermeneutik neu zu ent-decken. Es ist aber auch gedacht für

Nicht-Muslime, die sich vorurteilsfreiauf einen Dialog mit ihren muslimi-schen Nachbarn einlassen wollen.

Der Autor ist in Beirut in eine Familiehineingeboren, für die Toleranz gegen-über Andersgläubigen selbstverständ-lich war. In Riad hingegen, wo er auf-wuchs, wurde er mit der fundamentalis-tischen Lesart des Islam konfrontiertund sah sich zwischen den beiden La-gern hin und her gerissen. Einen Aus-weg aus demKonflikt suchte Khorchide,indem er zunächst in Beirut, später inWien islamische Theologie studierteund mit einer Arbeit über islamischenReligionsunterricht promovierte.

Diese persönlichen Erfahrungenhaben ihn geprägt und zum Verfechtereines Islam gemacht, der bereit ist, sichder eigenen Tradition wie den Heraus-forderungen der Moderne zu stellen.Khorchide geht es nicht darum, einen

für den westlichen Geschmack weichge-spülten Islam zu propagieren. Sein Zielist vielmehr aufzuzeigen, dass der Koranmehr ist als ein rigides Regelwerk vonGeboten und Verboten, mit dem einstrafender Gott seine Gläubigen bei derStange zu halten versucht. Khorchideliest die heiligen Schriften sehr genau.Im Gegensatz zu den fundamentalisti-schen Verfechtern des «wahren Islam»interpretiert er das Gelesene aus demhistorischen Kontext heraus und gehtWidersprüchen nicht durch selektiveLektüre aus dem Weg. Auf diese Weiseräumt er Vorurteile, Missverständnisseund Fehlinterpretationen aus und lässtdas Bild einer Religion entstehen, dieauf Barmherzigkeit, nicht auf Strafe be-ruht und sich in ihrer Achtung vor derWürde des Menschen mit den Wertvor-stellungen demokratischer Gesellschaf-ten durchaus vereinbaren lässt. l

IslamPlädoyer für einemoderneReligion, die auf Barmherzigkeit undToleranz beruht

Jenseits vonFundamentalismus

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Sachbuch

30 ❘NZZ amSonntag ❘ 25. November 2012

DasamerikanischeBuch«KillingKennedy» –Anatomie eines BestsellersViel gebraucht und oft zitiert, ist «Best-seller» in den USA ein relativer Begriff.Der Branchendienst Nielsen Bookscanverfolgt zwar die Absätze diverser For-mate minutiös und erstellt daraus wö-chentliche Verkaufslisten. Aber dieharten Zahlen werden nur an Verlageweitergegeben. Allerdings informiertAmazon neuerdings auch Autoren überihre Verkäufe. Die Öffentlichkeit hörtvon Umsätzen dagegen nur, wenn diesewirklich imposant sind. Aus Branchen-kreisen ist jedoch zu hören, dass eineVerkaufsauflage von 50000 auch fürnamhafte Autoren als Erfolg gilt.

Da bewegt sich Bill O’Reilly in ganz an-deren Dimensionen. Dank seiner Showauf FoxNews der populärste TV-Mode-rator Amerikas, fand O’Reilly eigenenAngaben zufolge seit dem vergangenJahr weit über zwei Millionen Käuferfür sein Sachbuch «Killing Lincoln».Das Buch bot zwar keine neuen Faktenüber die Ermordung Abraham Lincolnsund wurde auch von der seriösenPresse kaum beachtet. Aber offenkun-dig hungert das amerikanische Publi-kum nach Titeln, die historischeGrossereignisse in derManier einesThrillers aufbereiten und somit einembreiten Publikum zugänglich machen.

Nun habenO’Reilly und sein Co-AutorMartin Dugard nachgelegt.Wie der Titelankündigt, schildert Killing Kennedy.The End of Camelot (HenryHolt, 336Seiten) das Leben des Präsidenten alsVorgeschichte seiner Ermordung am22. November 1963 im texanischen Dal-las. Das Buch schoss prompt an dieSpitze der Bestsellerlisten. Einen er-kennbaren Anlass gibt es für den Titeljedoch nicht. Das scheint auch O’Reillybewusst zu sein, der imVorwort zu-

nächst die Brücke zu «Killing Lincoln»schlägt und eine Reihe «erstaunlicherVerbindungen» zwischen den Attenta-ten auf die Präsidenten auflistet: Soseien beide imAbstand von einhundertJahren erschossenworden, ihre Nachfol-ger hätten die Namen Johnson getragenundwären in den Südstaaten geborenworden. Doch dann vollzieht der Autoreinen Schwenk und schreibt, er undDugard seien keineswegs «Verschwö-rungstypen». Stattdessen präsentiere«Killing Kennedy» neue Informationenüber Leben und Tod ihres Protagonistenin unterhaltsamer, spannenderManier.

Das Duo hält dieses Versprechen nurteilweise. Von Neuigkeiten zu diesemintensiv bearbeiteten Thema fehlt jedeSpur. Laut der knappen Bibliografie ha-

ben die Autoren auf altbekannte Quel-len zurückgegriffen. Doch wie die«NewYork Times» zähneknirschend,aber anerkennend notiert, bietet dasBuch tatsächlich packende Lektüre. DieRezensionmerkt jedoch zu Recht an,dass dies auf Kosten historischer De-tails und Zusammenhänge geschieht.So finden die Ursachen und Anliegender Bürgerrechtsbewegung wenigerBeachtung, als die FrauengeschichtenKennedys und vonMartin Luther King.Dafür rollt das Buch JFKs Vita – begin-nendmit seiner heroischen Leistungals Kapitän eines Torpedobootes im Pa-zifikkrieg 1943 – als Sammlung dramati-scher Höhepunkte und Tragödien ab.

Diese werdenminutiös im Stil des Bou-levardjournalismus dargestellt undhäufig mit zeitgenössischen Fotos undKarten begleitet. Auf Anschaulichkeitfokussiert, walzen O’Reilly und Dugardden Tod des frühgeborenen Kennedy-Sohns Patrick im August 1963 und dannals Höhepunkt dieMordtat von LeeHarvey Oswald schonungslos aus.Hautnahmit Kennedys «explodieren-der Hirnschale» konfrontiert, kann sichder Leser diesen Schilderungen nurschwer entziehen.

Um die Spannung trotz des wohlbe-kannten Ausgangs ihrer Geschichteaufrecht zu erhalten, konstruieren dieAutoren die Biografien Kennedys undOswalds als Züge, die schicksalshaftaufeinander zurasen. DieMotive desMörders bleiben jedoch unklar. Dafürerinnert jedes Kapitel am Ende in omi-nösen Tönen an die dem Präsidentennoch verbleibende Zeit, bevor Oswaldden Finger an den Abzug seinesMann-licher-Carcano-Gewehrs legt.Von AndreasMink l

Jacqueline Kennedyruft umHilfe fürihrenMann John F.Kennedy, der am22. November 1963in Texas erschossenwird.Autor Bill O’Reilly(unten).

KEYSTONE

Gisela Tobler: Hüter der Ehre.Honorarkonsuln im Porträt. Stämpfli,Bern 2012. 191 Seiten, Fr. 37.90.

VonUrs Rauber

In der Schweiz residieren zurzeit rund140 Honorarkonsuln für 80 auswärtigeStaaten. 22 davon – darunter drei Frauen– porträtiert die St.Galler JournalistinGisela Tobler in einem kurz gefassten,abwechslungsreich geschriebenen Sam-melband. Unter Honorarkonsuln stelltman sich ältere weisshaarige Männervor, die mit dem CC-Autoschild herumbrausen, Parkbussen ignorieren und kei-nem richtigen Broterwerb nachgehen.Schillernde Gestalten wie der deutscheHonorarkonsul Weyer, der mit Titelnhandelt und dem Jetset angehört, ver-halfen zum Anschein, dieser Speziesgehe es vor allem darum, grosse Hono-rare einzustreichen.

So ist es natürlich nicht, wie die Auto-rin mit ihren Beispielen belegt. Hono-rarkonsuln regeln zivilstandsrechtlicheAngelegenheiten der Bürger ihres Ent-sendestaates und vertreten dessen wirt-schaftlichen Interessen in der Schweiz.Die meisten verdienen nichts an ihremAmt – ausser Prestige. Einige berappengar die Spesen und den Lohn ihrer An-gestellten: so die Anwälte Werner Stauf-facher (für Tschechien) und BrigittaArve-Jahreskog (Schweden), der Zahn-arzt Michal Cierny (Slowakei), der pen-sionierte Baumanager Franz Hidber(Grenada) oder die Kauffrau AnnemarieErnst-Kotob (Mauretanien). Entschä-digt werden hingegen die Konsulatsver-treter für Deutschland und die USA.

Die meisten betonen ihre Freude amaussergewöhnlichen «Hobby» und anden Kontakten. Honorarkonsuln heissensie, weil sie im Unterschied zu den Be-rufskonsuln ihre Tätigkeit als Ehren-dienst leisten. Der Basler Thomas E.

Preiswerk, früher Kommunikationschefbei Novartis, hat zum Spass das CC-Schild auf sein Velo geklebt.

Neben den still imHintergrund arbei-tenden Diplomaten gibt es auch Schwer-gewichte wie den Zürcher Anwalt undUnternehmer Markus A. Frey, der inThailand eine Hotelkette betreibt, denSt.Galler Professor Fredmund Malik(Österreich) oder den begüterten Inves-tor des Zürcher Dolder-Hotels Urs E.Schwarzenbach. Wie er zum Ehrenamtkam? Nicht wegen der Mongolenpferde,die der Poloclub-Besitzer als eher unge-eignet für sein Hobby hält, sondern weil«ich von mongolischen Freunden ange-fragt wurde». Schwarzenbach weiss na-türlich, dass sich seine Aufgabe nichtdarauf beschränkt, als Erster mongoli-schen Wodka in Europa zu vertreiben,sondern dass die Mongolei zu den zehnrohstoffreichsten Ländern der Welt ge-hört. Was für eine enorme Verlockungfür einen Anleger mit Weitblick. l

Auslandsvertretungen In der Schweiz amtieren 140Honorarkonsuln.Wer sie sind undwas sie tun

ExklusivesHobby fürFreizeit-Diplomaten

REUTERS

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Agenda

25. November 2012 ❘NZZ amSonntag ❘ 31

BaselMontag, 3.Dezember, 20 UhrJean Ziegler:Wir lassen sie verhungern.

Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 32,

Tel. 061 264 26 55.

Donnerstag, 6.Dezember, 20 UhrEugen undNoraGomringer. Lesung,

Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,

Tel. 061 261 29 50.

Mittwoch, 12.Dezember, 19 UhrManfred Koch: Faulheit. Lesung für an-

gehende Faulenzerinnen undMüssig-

gängermit Glühwein undGuetzli.

Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).

BernMittwoch, 5.Dezember, 19 UhrChristine Kopp: Betsy Berg.

Lesung, Fr. 15.–. Alpines

Museum, Helvetiaplatz 4.

Info: www.alpinesmuseum.ch.

Mittwoch, 5.Dezember, 20 UhrUrsMannhart: Gazpromheizt ein –Wah-

renGeschichten auf der Spur. Lesung

undGesprächmit Daniel Puntas Bernet.

Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51,

Tel. 031 320 20 40.

Montag, 17.Dezember, 12.30 UhrAdventsgeschichten in derMittagspause,

mit Roswitha Zenke. Lesungmit Tee und

Guetzli. BuchhandlungHaupt, Falken-

platz 4. Info: www.haupt.ch.

ZürichMontag, 3.Dezember, 20 UhrZüri Littéraire: Adolf

Muschg undMikeMüller.

Live-Literaturclub, Fr. 25.–.

Kaufleuten, Pelikan-

platz 1, Tel. 044 225 33 77.

Dienstag, 4.Dezember, 19.30 UhrPedro Lenz undAnneCuneo reden über

die Liebe. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.

Literaturhaus, Limmatquai 62,

Tel. 044 254 50 00.

Samstag, 8.Dezember, 19.30 UhrKrimitag Zürich. 6 Krimiautoren lesen

gegen die Gewalt; Ehrengast Peter

Zeindler. Pestalozzi-Bibliothek, Zährin-

gerstrasse 17. Info:www.krimitag.com.

Montag, 10.Dezember, 19.30 UhrRuth Lewinsky undUrsulaHohler:Wen-

debuch. Lesung.Hotel duThéâtre, Seiler-

graben 69. Info:www.literarischerclub.ch.

Donnerstag, 20.Dezember, 20 UhrTausendMeter Stille. EinAbend zu

S. CorinnaBille. Präsentation dreier ihrer

erstmals aufDeutsch erschienenenBü-

cher. Remise, Lagerstrasse 98.

BestsellerNovember 2012

Bücher amSonntag Nr. 1erscheint am27. 1. 2013

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher amSonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60

oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange

Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,

8001 Zürich, erhältlich.ErhebungMedia Control imAuftrag des SBVV; 13.11. 2012. Preise laut Angaben vonwww.buch.ch.

SachbuchBelletristik

1 GuinnessWorld Records 2013.Bibliographisches Institut. 285 S., Fr. 32.40.

2 Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns.Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90.

3 Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.

4 Leonie: Federleicht.Wörterseh. 184 Seiten, Fr. 34.90.

5 Blaine Harden: Flucht aus Lager 14.DVA. 250 Seiten, Fr. 29.90.

6 Gian D. Borasio: Über das Sterben.C.H. Beck. 207 Seiten, Fr. 29.90.

7 Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern.Bertelsmann. 319 Seiten, Fr. 28.40.

8 Rhonda Byrne: The Magic.Droemer/Knaur. 425 Seiten, Fr. 23.20.

9 BoKatzman: Zwei Minuten Ewigkeit.Giger. 349 Seiten, Fr. 39.90.

10 Jörg undMiriam Kachelmann: Recht undGerechtigkeit.Heyne. 383 Seiten, Fr. 29.90.

1 Martin Suter: Die Zeit, die Zeit.Diogenes. 296 Seiten, Fr. 29.90.

2 Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.

3 Joanne K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall.Carlsen. 574 Seiten, Fr. 24.20.

4 Ken Follett: Winter der Welt.Bastei Lübbe. 1023 Seiten, Fr. 27.90.

5 Carlos Ruiz Zafón: Der Gefangene desHimmels. Fischer. 402 Seiten, Fr. 32.90.

6 Cecelia Ahern: Hundert Namen.Krüger. 397 Seiten, Fr. 24.50.

7 Vina Jackson: 80 Days – Die Farbe der Lust.Carl’s Books. 366 Seiten, Fr. 18.90.

8 Donna Leon: Himmlische Juwelen.Diogenes. 297 Seiten, Fr. 32.90.

9 Jussi Adler-Olsen: Verachtung.Dtv. 539 Seiten, Fr. 27.90.

10 Charlotte Link: Im Tal des Fuchses.Blanvalet. 575 Seiten, Fr. 29.90.

AgendaDezember 12

CHRISTIANBEUTLER

JÜRGRAMSEIER

Achtziger JahreAls es brodelte in der Schweiz

Die 1980er Jahre waren für die Schweizer Kultur-szene eine Zeit des Aufbruchs und der Rebellion:Nach dem ersten Zürcher Opernhauskrawall vom30. Mai 1980 kam Bewegung in die Jugendszene. Inzahlreichen Schweizer Städten wurde um neue Frei-räume gekämpft. Die Aktionen wurden oft von Musikbegleitet, wenn nicht gar in Gang gesetzt. Der vor-liegende Band beschreibt diesen Prozess in Essayssowie Porträts und zeigt die Protagonisten in Hunder-ten von Bildern. Eine umfassende, illustrierte Disko-

grafie stellt fast 1500 Tonträger (Schallplatten undMusikkassetten) vor, viele von ihnen Eigenpro-duktionen in Kleinstauflagen. Unser Bild stammt vonJürg Ramseier und zeigt die bis heute aktive BandZüri West im Jahr 1989 vor ihrem Übungslokal imKeller des Pickwick-Pubs in Bern. Manfred PapstAndré Tschan, Lurker Grand (Hrsg.): Heute unddanach. The Swiss Underground Music Scene of the80’s. Deutsch und französisch. Edition Patrick Frey,Zürich 2012. 672 Seiten, Fr. 84.90.

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