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Institut für Maschinenelemente Direktor: o. Prof. Dr.-Ing. Bernd Bertsche Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Haas Lehre und Forschung: Antriebstechnik CAD Dichtungstechnik Zuverlässigkeitstechnik Betrachtungen zur Zuverlässigkeit und Lebensdauer von Hydraulikdichtungen Institut für Maschinenelemente Pfaffenwaldring 9 70569 Stuttgart www.ima.uni-stuttgart.de Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Haas Dipl.-Ing. Lothar Hörl Dipl.-Ing. Benjamin Klein Veröffentlicht auf www.ima.uni-stuttgart.de/dicht

Betrachtungen zur Zuverlässigkeit und Lebensdauer von ... · PDF fileEinleitung 1 1 Einleitung Hydraulikdichtungen werden in vielen Bereichen der Technik eingesetzt. Ein Dichtungsaus-fall

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Institut für MaschinenelementeDirektor: o. Prof. Dr.-Ing. Bernd Bertsche Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Haas

Lehre und Forschung: Antriebstechnik CAD Dichtungstechnik Zuverlässigkeitstechnik

Betrachtungen zurZuverlässigkeit und Lebensdauer von

Hydraulikdichtungen

Institut für MaschinenelementePfaffenwaldring 970569 Stuttgart

www.ima.uni-stuttgart.de

Prof. Dr.-Ing. habil. Werner HaasDipl.-Ing. Lothar Hörl

Dipl.-Ing. Benjamin Klein

Veröffentlicht auf www.ima.uni-stuttgart.de/dicht

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Inhaltsverzeichnis

1  Einleitung ......................................................................................................................... 1 

2  Hydraulikdichtungen - Grundlagen ................................................................................ 2 

2.1  Dichtmechanismus ..................................................................................................... 2 

2.2  Stangendichtung ........................................................................................................ 3 

2.2.1  Kolbendichtungen ........................................................................................... 5 

2.2.2  Abstreifer ........................................................................................................ 6 

2.2.3  Führungen und Schleppdruck ........................................................................ 6 

2.2.4  Oberflächen .................................................................................................... 7 

2.3  Pneumatikdichtungen ................................................................................................ 7 

3  Zuverlässigkeit und Lebensdauer .................................................................................. 9 

3.1  Begriffsdefinitionen .................................................................................................. 12 

3.2  Bekannte Lebensdaueruntersuchungen in der Dichtungstechnik ............................ 14 

3.2.1  Die Lebensdauer auf Grundlage der Reibarbeit ........................................... 15 

3.2.2  Berechnung der Lebensdauer auf der Grundlage von Verschleiß ............... 16 

4  Reduktion der Einflussparameter ................................................................................ 17 

4.1  Randbedingen für Lebensdauerversuche ................................................................ 17 

4.1.1  Einschränkungen .......................................................................................... 19 

4.1.2  Versuchsplan ................................................................................................ 20 

5  Nutzung von Felddaten für Lebensdaueraussagen ................................................... 21 

6  Zusammenfassung ........................................................................................................ 24 

7  Literatur .......................................................................................................................... 25 

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Einleitung

1

1 Einleitung

Hydraulikdichtungen werden in vielen Bereichen der Technik eingesetzt. Ein Dichtungsaus-fall führt meist zum Ausfall des Gesamtsystems und damit zu hohen Folgekosten. Infolge der kritischen Belastung durch Reibung, Verschleiß und hohe Temperaturen sowie den komple-xen Wechselwirkungen zwischen Dichtring, Stange und abzudichtendem Fluid ist es bisher nicht möglich die Lebensdauer dieser tribologischen Systeme zielsicher zu prognostizieren. Strukturierte Lebensdaueruntersuchungen in größerem Umfang sind nicht bekannt. Das Dichtsystem Hydraulik-Stangendichtring (HSDR) als typisches nicht berechenbares Risiko-element kann deshalb nur ungenügend in der Zuverlässigkeitsbetrachtung berücksichtigt wer-den.

Zur Abrundung sind in Kapitel 2 die technischen Grundlagen der Hydraulikdichtungen aufge-führt. Kapitel 3 gibt einen Überblick über aus der Literatur bekannte Modelle zur Lebensdau-erberechnung von Radial-Wellendichtringen. In Kapitel 4 werden die Einflussfaktoren auf das Dichtsystem Hydraulikstangendichtring betrachtet und eine Eingrenzung auf wesentliche Ein-flussfaktoren durchgeführt. Für das gewählte Szenario werden der Aufwand und die Prüfzeit ermittelt. Kapitel 5 gibt eine Zusammenfassung.

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Hydraulikdichtungen - Grundlagen

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2 Hydraulikdichtungen - Grundlagen

Hydraulikdichtungen werden in der Technik äußerst häufig eingesetzt. Zur Abrundung sind die Grundlagen hier noch mal aufgeführt.

2.1 Dichtmechanismus Die Abdichtung translatorisch bewegter Bauteile ist eine häufige Aufgabe in der Pneumatik- und Hydraulik, aber auch das Abdichten von Führungen, beispielsweise an Werkzeugmaschi-nen, zählen hierzu.

Bild 2.1: Ein Hydraulikzylinder als technisches System – Dichtungen und Führungen

(TTS – Technisches Teilsystem [Baugruppe, Funktionseinheit], KE – Konstruktionselement, ME - Maschinenelement)

Anhand eines Hydraulikzylinders zeigt Bild 2.1 die wesentlichen Elemente zur Abdichtung von Kolben und Stange, sowie zu deren Sauberhaltung und Führung. Eingetragen ist hier auch noch, ob es sich systemtechnisch betrachtet um einteilige Maschinen- oder mehrteilige Konstruktionselemente oder aber um Technische Teilsysteme TTS handelt. Entscheidend für deren Reibung, Verschleiß und damit Lebensdauer ist, dass sich bei Bewegung ein schmie-render Flüssigkeitsfilm zwischen Dichtelement und Stange oder Zylinderwand bildet. Ist der Verlauf der Flächenpressung unter der Dichtung in axialer Richtung bekannt, so kann mittels der Reynolds-Gleichung für die eindimensionale Schlepp-Druck-Strömung der Spalthöhen-

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Hydraulikdichtungen - Grundlagen

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verlauf und damit letztlich die durchgeschleppte Schmierfilmdicke h bestimmt werden, Bild 2.2.

Bild 2.2: Spaltbildung und Schmierfilmdicke bei Hydraulikdichtungen

Unter der Annahme die Dichtung als auch die Stange seien ideal glatt und durch einen Schmierfilm getrennt, dann ist die Dicke des Schmierfilms von der Viskosität η, der Gleitge-schwindigkeit u und von der Pressungsverteilung in der Dichtfläche in Bewegungsrichtung abhängig. Flacher Pressungsanstieg wmax ergibt einen dicken Schmierfilm h, steiler Pres-sungsanstieg bedeutet dünner Schmierfilm. Die Pressungsverteilung und damit wmax ist ab-hängig von der geometrischen Form der Dichtelemente und von deren Verformung infolge der wirkenden Kräfte, Bild 2.3. Verschleiß beeinflusst die geometrische Form wesentlich.

Hinweis: Die Schmierfilmdicke und damit die eventuell auftretende Leckage ist nicht primär vom abzudichtenden Druck abhängig. Der Druck beeinflusst die Schmierfilmdicke nur se-kundär durch Verformung der Dichtelemente.

2.2 Stangendichtung Ist der Schmierfilm ha, den die Dichtung beim Ausfahren einer Stange aus dem Druckraum auf deren Oberfläche zurücklässt, dünner als der potentiell mögliche Schmierfilm he beim Einfahren, so ist die Dichtung dicht. Stangendichtungen werden deshalb mit asymmetrischer

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Hydraulikdichtungen - Grundlagen

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Pressungsverteilung ausgelegt, möglichst steil auf der Flüssigkeitsseite und flach auf der Luft-seite, Bild 2.3 B, C, D.

In der modernen Dichtungstechnik werden drei prinzipiell unterschiedliche Bauformen von Stangendichtungen eingesetzt, Bild 2.4; Nutringe A, Kompaktringe B und vor allem Dicht-kantenringe CK. Element D ist eine Variante von B mit einem O-Ring als Spannring, E und F sind Varianten von A mit verstärktem Rücken zur Vermeidung von Spaltextrusion. Die Ele-mente A-F bestehen aus Elastomeren (NBR, PU) unterschiedlicher Härte. Die Nutringvarian-ten G-I bestehen aus PTFE-Compounds mit einer Spannfeder aus Edelstahl.

Der heute für hochwertige Abdichtungen meist eingesetzte Dichtkantenring CK besteht vor-zugsweise ebenfalls aus PTFE-Compound und hat einen Elastomer-Spannring C. Es gibt auch Dichtkantenringe aus hornartigem Polyurethan PU. Sie sind preisgünstiger, unempfindlicher, verschleißen weniger und lassen sich, weil sie elastisch sind, einfacher in geschlossene Nuten montieren. Dafür haben sie eine wesentlich höhere Reibung und neigen zum Ruckgleiten (Stick-Slip). Dichtkantenringe widerstehen Drücken bis ca. 20 MPa. Sind höhere Drücke ab-zudichten, werden Mehrfachanordnungen (Tandem) eingesetzt, Bild 2.1. Der Druck wird dann kaskadenförmig abgebaut.

Bild 2.5 vermittelt einen Eindruck über die Profilvielfalt von Hydraulikstangendichtungen, die auf den Grundformen A, B, D, E und F in Bild 2.4 beruhen.

Bild 2.3: Pressungsverteilung abhängig von Ge-ometrie und einwirkenden Kräften

Bild 2.4: Stangendichtung zur Abdichtung von Fluiden

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Hydraulikdichtungen - Grundlagen

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Bild 2.5: Profilvielfalt von Stangendichtungen eines Herstellers

2.2.1 Kolbendichtungen Nur einseitig druckbeaufschlagte Kolben werden wie Stangen abgedichtet. Kolbendichtungen für beidseitig druckbeaufschlagte Kolben werden mit symmetrischer Pressungsverteilung und flachem Pressungsgradient ausgelegt. Dies bewirkt einen dicken Schmierfilm und damit ge-ringe Reibung und Verschleiß. Eventuelle Leckage spielt keine Rolle, sie bleibt im System. Neben einer Vielzahl mehr oder minder günstiger Dichtsysteme werden in der modernen Dichtungstechnik nur noch zwei prinzipiell verschiedene Dichtsysteme verwendet, Bild 2.6; „Kompaktdichtungen“ ähnlich Variante A oder mit Elastomerringen vorgespannte rechtecki-gen Gleitringe B aus Werkstoffen wie PTFE, PA oder PU.

Bild 2.6: Moderne Kolbendichtungen

Kompaktdichtungen beinhalten maximal Führungs-, Stütz- und Dichtelemente. Für einfachere Anwendungen wird auf den Stützring häufig verzichtet. Der Elastomerdichtring gewährleistet eine hohe Dichtqualität.

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Hydraulikdichtungen - Grundlagen

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PTFE-Rechteckringe mit Elastomer-Spann- und Nebenabdichtring sind einfache, kleine, preiswerte, reibungs- und verschleißarme Kolbendichtungen. Wird gute statische Dichtheit verlangt (Haltefunktion) werden Elastomer-Formdichtungen, z.B. ein X-Ring (Variante C in Bild 2.6) in den PTFE-Compound-Rechteckring eingelegt. Ein vielfach verwendetes PTFE-Compound in der Mineralöl-Hydraulik ist mit ca. 40 % Bronzepulver gefülltes PTFE.

2.2.2 Abstreifer Abstreifer, Bild 2.7, haben eine schwierige Aufgabe. Sie sollen Schmutz, Eis, Wasser usw. abstreifen, den ausgeschleppten Ölfilm aber wieder durchlassen. Dazu darf der Pressungsan-stieg nicht zu steil sein. Explizite Größen dafür sind nicht bekannt. Es gibt Elastomerabstreifer mit einer Lippe A und doppellippige B. Die nach innen weisende Lippe streift den von der Primärdichtung durchgelassenen Ölfilm zusätzlich ab. Variante C, ein Ab-streifer aus PTFE-Compound, hat sogar zwei Ölabstreifkanten.

Bild 2.7: Abstreifer

2.2.3 Führungen und Schleppdruck Kolben und Stangen müssen durch separate Elemente geführt werden, damit die Dichtelemen-te ihre Aufgabe „abdichten“ erfüllen können. Sie werden bezüglich Festigkeit ausgelegt wie Gleitlager. Besondere Beachtung ist der Vermeidung von Schleppdruck zu widmen. Im Raum zwischen Führung und Dichtung baut sich durch die Bewegung ein hydrodynamischer Druck ps auf, der ein Vielfaches des Systemdrucks p1 betragen kann. Ursache ist die hydrodynami-sche Schleppströmung, Bild 2.8. Die Druckerhöhung berechnet sich zu

s 1 26 u lp p p

h⋅ η ⋅ ⋅

Δ = − = (2.1)

Um dies zu vermeiden, müssen bei metallischen Führungen Rücklaufkanäle für Druckaus-gleich sorgen. Vorzugsweise werden die Rücklaufkanäle als Spiralnut mit einem drei mal größeren Querschnitt als die Spaltringfläche ausgeführt, Bild 2.8. Axiale Druckausgleichsboh-rungen sollten vermieden werden. Beim Einsatz von Führungsbändern aus Kunststoff sind Rücklaufkanäle in Form schräg geschnittener Stoßspalte bereits vorhanden, Bild 2.1. Die Stoßspalte müssen genügend groß gestaltet werden.

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Hydraulikdichtungen - Grundlagen

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Bild 2.8: Schleppdruck

2.2.4 Oberflächen Die Gleitflächen in hydraulischen Systemen sind meist hartverchromt, geschliffen und poliert oder gehont. Die Rauheit kann Tabelle 2.1 entnommen werden.

Tabelle 2.1: Oberflächenrauheit in μm von Gegenlaufflächen in der Hydraulik

Kennwert Gegenlauffläche Nutober-

fläche PTFE-Compounds

Polyurethan Elastomere

Rmax 0,63 – 2,50 1,00 – 4,00 < 16,0

Rz DIN 0,40 – 1,60 0,63 – 2,50 < 10,0

Ra 0,05 – 0,20 0,10 – 0,40 < 1,6

Wichtig: Der Materialanteil Mr sollte ca. 50 bis 70 % betragen, gemessen in einer Schnitttiefe Zc 0,25 R= ⋅ , ausgehend von einer Bezugslinie von Cref 5 %.

2.3 Pneumatikdichtungen Abstreifer und Führungen in der Pneumatiktechnik haben die gleichen Aufgaben wie die in Hydraulikzylindern. Kolben- und vor allem Stangendichtungen haben eine besondere Aufga-be. Neben der Abdichtung von Luft müssen sie den meist nur initial aufgebrachten Schmier-film möglichst lange erhalten. Deshalb sind die Dichtflächen mit flachen symmetrischen Pres-

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Hydraulikdichtungen - Grundlagen

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sungsverteilungen konstruiert, damit die Dichtung über den Schmierfilm hinweggleitet, ihn aber nicht abstreift. Zudem muss die Reibung gering gehalten werden. Dazu werden die Dich-tungen nur wenig angepresst und spezielle Werkstoffe und Oberflächenbeschichtungen, z.B. Fließe, eingesetzt. Ist beispielsweise die Haftreibung zu groß fahren Pneumatikzylinder erst gar nicht los (so genannter Montagmorgeneffekt). Durch das kompressible Druckfluid „Luft“ kommt es zu ungleichförmiger Bewegung und es steigt die Gefahr des Stick-Slip extrem an.

Bild 2.9: Typische Elastomer-Pneumatikdichtungsformen

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Zuverlässigkeit und Lebensdauer

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3 Zuverlässigkeit und Lebensdauer

Technische Systeme setzen sich aus einer Vielzahl unterschiedlichster Bauteile zusammen. Die Beschreibung der Systemzuverlässigkeit erfolgt auf Basis der Zuverlässigkeit der einzel-nen Bauteile des Systems [1], [2]. In der Zuverlässigkeitstechnik werden die Bauteile (Sys-temelemente) in 3 Klassen eingeteilt, Tabelle 3.1. Tabelle 3.1: A-, B- und C-Klassifizierung von Systemelementen [1]

A-Teile

Risikoreich und berechenbar

z.B.: Zahnräder, Wälzlager, Schrauben, Wellen

Belastung durch definierbare statische und dynamische Belastung; Lastkollektiv bekannt; leistungsführend

Lebensdauerberechnung möglich und weitgehend gesichert Ausfallverhalten aus Wöhlerversuchen bekannt

B-Teile

Risikoreich und nicht berechenbar

z.B.: Synchronisierungen, Gleitlager, Dichtungen

Beanspruchung vorwiegend durch Reibung, Verschleiß, extreme Temperatu-ren, Erschütterungen, Schmutz und Korrosion

Lebensdauerberechnung nicht möglich oder nicht gesichert Ausfallverhalten schätzen oder durch Versuche ermitteln

C-Teile

Risikoneutral

z.B. Gehäusedeckel, Sicherungsringe, Distanzhülsen

Beanspruchung stochastisch durch Stöße, Reibung, Verschleiß, ... Keine rechnerische Auslegung möglich und nötig Nur Zufalls- und Frühausfälle

In Klasse A werden Systemelemente eingeordnet, die als risikoreich für das Gesamtsystem eingeschätzt werden, deren Lebensdauer aber in weiten Einsatzgrenzen berechenbar ist. Ele-mente der Klasse A können schon zum heutigen Zeitpunkt mit hoher Güte in die Zuverlässig-keitsbetrachtung des Gesamtsystems eingebunden werden.

Die Klasse B umfasst ebenfalls risikoreiche Systemelemente, deren Lebensdauer bis heute aber nicht oder nur ungenügend genau berechnet werden kann. Zum einen liegt dies daran, dass das Bauteilverhalten durch eine Vielzahl an Einflussfaktoren und Eigenschaften be-stimmt wird, die einzeln und im Zusammenwirken nur schwer beschreibbar sind. Zum ande-ren können die Beanspruchungen wie z.B. durch Reibung, Verschleiß und lokal extreme Temperaturen nicht ausreichend genau erfasst werden. Elemente aus Klasse B können derzeit nicht oder nur mit zu groben Vereinfachungen in die Zuverlässigkeitsbetrachtung eingebun-den werden [1]. Typische Vertreter der B-Teile sind die in nahezu allen Bereichen der Tech-nik eingesetzten Dichtungen. Sie kommen ebenso zur Abdichtung translatorisch und rotatorisch bewegter Maschinenteile wie zur Abdichtung ruhender Maschinenteile zum Ein-satz. Beispiele sind Kolben- und Stangendichtungen in der Hydraulik und Pneumatik, Dreh-durchführungen in Werkzeugmaschinen, Kurbelwellendichtungen in Kraftfahrzeugen und Flanschdichtungen in der Verfahrenstechnik.

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Zuverlässigkeit und Lebensdauer

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HSDR’s als nicht berechenbare Risikoelemente nehmen eine zentrale Stellung ein. Denn ins-besondere in sicherheitsrelevanten Anlagen werden hohe Anforderungen an die Zuverlässig-keit der Dichtungen gestellt. Bei einem Versagen entstehen beträchtliche Folgekosten. Nicht selten sind sie hundert oder tausendmal größer als der Preis des ausgefallenen Dichtelements.

Nicht die berechenbaren Risikoelemente (A-Teile), hierfür existieren eine Reihe an Berech-nungsgrundlagen, oder die risikoneutralen Elemente (C-Teile), sondern die nicht berechenba-ren Risikoelemente (B-Teile), hier speziell HSDR-Systeme, stellen die große Herausforde-rung an die Zuverlässigkeitsbetrachtung der Bauelemente. Nur wenn diese Elemente der Zu-verlässigkeitsbetrachtung zugänglich gemacht werden können, ist eine ausreichend genaue Aussage über die Systemzuverlässigkeit möglich. B-Teile berechenbar zu machen ist eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung innovativer Produkte mit langer, prognostizierbarer Lebensdauer und Zuverlässigkeit. Bei den zuverlässigkeitstechnisch berechenbaren Maschinenelementen wie Wälzlagern, Zahn-rädern und Wellen konnte nachgewiesen werden, dass die Lebensdauer letztlich nur durch einen Einflussparameter, der Materialspannung, beschreibbar ist. Beispielsweise verursacht die Anzahl der Überrollungen im Wälzlager bei gegebener Last die Ermüdung des Grundma-terials, worüber die Lebensdauer bestimmt werden kann. Eine experimentelle Lebensdauer-ermittlung ähnelt dann einem Wöhlerversuch, bei welchem auch nur ein Einflussfaktor zu berücksichtigen ist, was vom Versuchsaufwand dann noch vergleichsweise moderat ist. Bei Dichtungen wird die Lebensdauer aber durch deutlich mehr Einflussfaktoren bestimmt. Au-ßerdem treten meist mehrere verschiedene Schädigungsmechanismen gleichzeitig auf, die zum gleichen Ausfall führen, Bild 3.1.

Bild 3.1: Beispiele wie gleiche Einflussfaktoren auf ganz unterschiedliche Schädi-

gungsmechanismen wirken, aber zum selben Ausfall führen.

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Zuverlässigkeit und Lebensdauer

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Klassischer Vertreter der Hydraulikstangendichtungen (HSDR) ist der in unzähligen unter-schiedlichen Produkten eingesetzte Nutring aus Elastomer, Bild 3.2. Der HSDR muss auf der Kolbenstange abdichten und somit verhindern, dass das abzudichtende Fluid in die Umge-bung gelangt. Auf die Funktionen eines HSDR – also auf die Vermeidung von Leckage – ha-ben eine ganze Reihe von Faktoren einen mehr oder weniger starken Einfluss.

Nach Bild 3.2 sind die wesentlichen Einflussfaktoren: • der Dichtring (Profil, Material, ...), • die Stange (Werkstoff, Rauheit, ...), • das abzudichtende Fluid (Viskosität, chemische Zusammensetzung, ...), • das Umfeld (Einbaustelle, Außenbeaufschlagung durch Schmutz, ...,) und • die Betriebsbedingungen (Druck, Geschwindigkeit, Temperatur, ...).

Im Gegensatz zum Wälzlager mit nur einem Schädigungsmechanismus hervorgerufen durch nur eine Einflussgröße der Last, erschweren beim die HSDR die verschieden Schädigungsme-chanismen eine isolierte Betrachtung der einzelnen Einflussfaktoren. Ob ein Hydraulikdicht-ring im Laufe der Zeit durch Extrusion ausfällt, ev. durch zu hohe Betriebstemperaturen auf-grund zu hoher Reibung, oder durch abrasiven Verschleiß durch zu raue Stange, oder durch einen chemischen Angriff vom abzudichtenden Fluid ausfällt… – das Ausfallkriterium ist jedesmal eine zu hohe Leckage. Die Ausfallursache für zu hohe Leckage beim HSDR lässt sich nur in den seltensten Fällen auf lediglich eine Einflussgröße zurückführen, meist sind es mehrere oder gar Wechselwirkungen von Einflussgrößen. Deswegen müssen in einer experi-mentellen Untersuchung alle wichtigen Einflussfaktoren gleichzeitig berücksichtigt werden, da sonst Wechselwirkungen unentdeckt bleiben. Dieser Umstand vervielfacht aber den expe-rimentellen Aufwand erheblich. Fazit: Bei Hydraulikdichtungen, bzw. bei Dichtungen allgemein, haben eine Vielzahl von Einflussfaktoren Auswirkung auf deren Lebensdauer. Salopp kann formuliert werden, dass bei technischen Systemen mit n Einflussfaktoren der Aufwand zur experimentellen Lebens-dauererprobung 2n mal höher ist als bei nur einem Einflussfaktor. Aus diesem Grund gelang es bis dato noch nicht eine Lebensdauerformel für Dichtungen experimentell zu erproben bzw. einen theoretischen Ansatz zu verifizieren.

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Zuverlässigkeit und Lebensdauer

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Bild 3.2: Einflussfaktoren auf das Funktionsverhalten von Hydraulik-Stangen-

dichtungen

3.1 Begriffsdefinitionen Zum Leidwesen der Anwender weisen HSDRs selbst unter günstigen Betriebsbedingungen eine begrenzte Lebensdauer auf. Neben Fehlern bei der Fertigung, dem Transport, der Lage-rung, der Montage und Mängeln bei der Dichtungsauswahl führen im Betrieb eine Reihe von Ursachen, Bild 3.2, zur Undichtheit und damit zum Ausfall des HSDR-Systems.

Um den Einfluss auf Lebensdauer und Zuverlässigkeit besser zu beschreiben, zunächst noch einige Definitionen, Erläuterungen und Anmerkungen:

Betriebs-beding-

ungenStange

FluidProfil

Konstruktion

Herstell-prozeß

Material- eigen- schaften

Montage

Lippenlänge

Überdeckung

Lippenprofil

Fluidseitiger Dichtkantenwinkel

Luftseitiger Dichtkantenwinkel

Stützring

Dichtkantenradius

Dichtlippendurchmesser

Aufhängung der Dichtlippe

Vorpressung

2. Dichtkante

gestochene/gespritzte Dichtkante

Länge/Breite

Dichtrücken-Strukturierung

Temperaturbeständigkeit

Chemische Beständigkeit

Elastizitätsmodul

Kaltfluß/Kriechen

Alterungsbeständigkeit

Verschleiß

Mischprozeß

Härte

Vulkanisierungsbedingungen

VernetzungsartTemperung

Zusammensetzung der Mischung

Spritzgussprozess

Werkstoff

Verschleißbeständigkeit

Beschichtung

Härte

Benetzungsverhalten

Korrosionsverhalten

Rauheit Welligkeit

Bearbeitungs-struktur

Herstellverfahren

Wärmeabfuhr

BeschädigungenAbrasion

Adhäsion

Durchmesser Vibrationen

Gleitweg

Chemische Zusammensetzung

Temperatur

Verunreinigungen

Viskosität

Druck

Anzahl Start/Stop

Stangenauslenkung

Gas-Sättigung

Zustand der Nut

scharfe Kanten

Extrusionspalt

Schleppdruck

Sauberkeit

Beschädigungen

geschlossene/offene Nut

Stangenmontage (Einschieben)

Schmutz/Staub

Geschwindigkeit

Um-gebung

Temperatur

FührungAbstreifer

Ozon

UV-Strahlung

Wasser

Fließgrenze

Querkontraktion

pH-Wert

Oxidationsverhalten

Menge

Benetzungsfähigkeit

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Zuverlässigkeit und Lebensdauer

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Lebensdauer Unter der Lebensdauer versteht man die Zeit in welcher ein Bauteil seine Funktion erfüllt.

Anmerkung: Da aber beim Einsatz von HSDR keine einheitlichen Betriebsbedingungen herr-schen, ist es sinnvoll die Lebensdauer von HSDR nicht über die Zeit sondern über die Gleis-trecke/Hubanzahl zu definieren. Um Missverständnisse zu vermeiden sollte im Zusammenhang mit dem Begriff „Lebensdau-er“ noch deren statistische Definition vereinbart werden. Bei sicherheitsrelevanten Bauteilen wie Dichtungen interessiert weniger eine arithmetisch gemittelte Lebensdauer, sondern eher, analog zum Wälzlager, die B10-Lebensdauer als Kennwert. Der B10-Wert ist jene Zeit/Gleitstrecke bei der unter gegeben Bedingungen 10% aller Dichtungen ausgefallen sind, oder anders formuliert eine Zuverlässigkeit von 90% besteht.

Ausfallkriterium Um eine Lebensdauer zu bestimmen, muss das Ausfallkriterium klar definiert sein. Bei Dich-tungen ist im Folgenden eine zu hohe Leckage das Ausfallkriterium.

Anmerkung: In gewissen hydraulischen/pneumatischen Anwendungen können aber auch Quietschgeräusche, zu hohe Reibung oder Ruckgleiten das Ausfallkriterium sein. Im Weite-ren soll jedoch nur die Leckage als Ausfallkriterium betrachtet werden. Da bei HSDR meist eine allmähliche Zunahme der Leckage zu beobachten ist, hat das KO-Level, die akzeptable Leckagemenge, eine großen Einfluss auf die Lebensdauer. Akzeptiert der Anwender A nur eine trockene Stange, darf es beim Anwender B zu einem ein Ölrand am Hubende kommen oder beim Anwender C zu abtropfender Leckage... Das identische Dichtsystem hätte aufgrund der Definition des Ausfallkriteriums – hier die tolerierte Leckagemenge - im Fall A eine we-sentlich kürzere Lebensdauer als im Fall C. Diese Betrachtung zeigt, dass Lebensdauerwerte bei HSDR stark von der Anwendung abhängen und keine allgemeingültige Regeln zum Aus-fallkriterium geben wird, sondern diese im Einzellfall zu definieren sind.

Zuverlässigkeit Die Zuverlässigkeit ist die Wahrscheinlichkeit in % dafür, dass ein Produkt während einer definierten Zeitdauer unter gegebenen Funktions- und Umgebungsbedingungen nicht ausfällt. Zuverlässigkeitstechnik behandelt Ausfälle bzw. NICHT-Funktionsfähigkeit von technischen Produkten und Systemen mit dem Ziel, die Zuverlässigkeit eines Produktes zu überprüfen und zu prognostizieren, sowie Schwachstellen zu beseitigen und liefert so einen entscheidenden Beitrag zur Qualitätssicherung.

Aussagewahrscheinlichkeit: Die Forderung nach einer gewissen Zuverlässigkeit bei einer definierten Lebensdauer reicht allein nicht aus. Da es sich bei der Zuverlässigkeit um eine Zufallsgröße handelt, ist die Fest-legung einer bestimmten Aussagewahrscheinlichkeit unabdingbar. Die Aussagewahrschein-lichkeit hängt stark von der Anzahl der Prüflinge ab und beschreibt die Wahrscheinlichkeit mit der eine Lebensdauervorhersage eintritt.

Erläuterung: Werden beispielsweise, wie in ISO/FDIS 19973-1 [11] gefordert, mindestens 7 Komponenten (=Dichtungen) untersucht und alle 7 Dichtungen überstehen den Test, dann wird für eine Zuverlässigkeit von 90 % (= B10-Lebensdauer) eine Aussagewahrscheinlichkeit von 52% erreicht, siehe Larson Nomogramm [10]. Das heißt nur in 52 % aller Fälle trifft die Behauptung zu, dass eine Dichtung diese B10-Lebensdauer erreicht. Möchte man die Aussa-

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Zuverlässigkeit und Lebensdauer

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gewahrscheinlichkeit auf 90 % steigern, müssen 22 Dichtungen erfolgreich getestet werden. Tritt bei den 22 Dichtungen ein Ausfall auf, müssen 15 weitere Dichtungen getestet (also ins-gesamt 37) werden um bei gleicher Aussagewahrscheinlichkeit von 90 % den B10-Wert zu garantieren.

3.2 Bekannte Lebensdaueruntersuchungen in der Dichtungstechnik

Zur Hydraulik und Pneumatik findet man in der Literatur kaum Veröffentlichungen über Le-bensdaueruntersuchungen. Jedoch im Bereich der drucklos abdichtenden Radial-Wellen-dichtringe sind einige Arbeiten zu finden. Da eine prinzipielle Ähnlichkeit zwischen den rotativ arbeitenden RWDR zu den translatorisch arbeitenden HSDR vorhanden ist, folgt in diesem Kapitel ein Überblick zu den Arbeiten im Bereich von Radial-Wellendichtringen (RDWR).

Die umfangreichsten veröffentlichten Untersuchungen zur Lebensdauer von RWDR-Syste-men und dem Einfluss verschiedener Betriebsparameter auf die Lebensdauer wurden in [3] von Horve vorgenommen. Hier werden u. a. verschiedene Testmethoden (vollständige und zensierte Tests) untersucht und ihre sinnvolle Anwendung zur Bestimmung der Zuverlässig-keit von RWDR diskutiert. Horve vergleicht u. a. Success Run und Weibull-Test als Grundla-ge der Konstruktionsfreigabe eines Designs, für die 300 h ohne Ausfall bei einer Zuverlässig-keit von 99 % nachgewiesen werden müssen. Er kommt dabei zum Schluss, dass der Weibull-Test infolge geringerer Probandenanzahl und kürzerer Testzeit wesentlich kostengünstiger ist. Bei der Betrachtung geht er aber davon aus, dass die Dichtungen einzeln nacheinander getes-tet werden, was eigentlich unrealistisch ist.

Ein Kapitel widmet Horve der Untersuchung des Einflusses lebensdauerrelevanter Parameter von Radialwellendichtungen. So wurden untersucht:

• Einfluss der Ölsumpf-Temperatur, • Einfluss von Exzentrizität und Schiefstellung, • Art der abzudichtenden Flüssigkeit, • Einfluss der Füllhöhe, • Einfluss von Druckbelastung und • Verschmutzung des Öles (Staub, Schmutzpartikel, Wasser).

Eine allgemeine Lebensdauergleichung wird als Ergebnis der Untersuchungen dabei aber nicht aufgestellt. Lediglich für den Einfluss der Temperatur wird auf Basis des Arrheniusmodells die folgende Gleichung angegeben:

, (1)

wobei L die Lebensdauer in h, α die Lebensdauerkonstante in h, E die Aktivierungsenergie, R die Gaskonstante und Tk die Ölsumpftemperatur in Kelvin bedeuten. Für zwei Werkstoffe NBR und PA (Polyacrylat) wurden die entsprechenden Lebensdauer- und Werkstoffparameter bestimmt, so dass folgende Grundgleichungen aufgestellt werden konnten:

)exp(KTR

EL⋅

⋅= α

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Zuverlässigkeit und Lebensdauer

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(2)

(3)

3.2.1 Die Lebensdauer auf Grundlage der Reibarbeit In [4] wird von Deuring die Lebensdauer eines RWDR proportional zur Menge der aufge-nommenen Reibarbeit bestimmt. Deuring stützt sich bei den hier angegeben Berechnungs-grundlagen vor allem auf die Arbeiten von Brink [5], der folgende Lebensdauergleichung für Dichtungen aufgestellt hat:

. (4)

In Gl.(4) bedeuten: B – Arbeitsaufnahmekapazität des RWDR pro m Wellendurchmesser während seiner Gesamtlebensdauer, D – Wellendurchmesser in m, M – RWDR-Drehmoment in Nm und ω - Winkelgeschwindigkeit der Welle in h-1.

Diese Lebensdauergleichung kann zur Berechnung der Lebensdauer für verschiedene Wellen-durchmesser, Drehzahlen und Kräfte am Dichtring verwendet werden, wenn der Lebensdauer-faktor B, der das Design des Dichtrings, den Werkstoff, das abzudichtende Medium, dessen Temperatur, die Exzentrizität und die Oberfläche der Wellen berücksichtigt, bekannt ist.

In seinen Untersuchungen zum Temperatureinfluss stellte Brink u. a. auch fest, dass der Tem-peraturanstieg an der Dichtlippenoberfläche proportional der Quadratwurzel aus der Welle-Umfangsgeschwindigkeit ist.

(5)

Aus Gl. (5) ergibt sich der Temperaturanstieg an der Dichtlippe in °F, wenn die Wellenge-schwindigkeit S in ft /min eingesetzt wird. Die Konstante K liegt dabei für typische Dichtun-gen und Schmiermittel im Bereich von 1,5 bis 2,5 und kann mit 2 angenommen werden.

Der Gültigkeitsbereich der Gl. (5) wird für einen Bereich der Sumpftemperatur von 170 °F (77 °C) bis 300 °F (149 °C) angegeben. Bei Überprüfung dieser Näherungsgleichung mit den Ergebnissen von Horve, der die Dichtlippentemperatur in Abhängigkeit der Sumpftemperatur für verschiedene Drehzahlen der Welle bestimmt hat, Bild 3.3, konnte die Temperaturabhän-gigkeit nach Gl. (5) nicht bestätigt werden.

⎟⎟⎠

⎞⎜⎜⎝

⎛⋅= −

KNBR T

L 7905exp1054,8 7

⎟⎟⎠

⎞⎜⎜⎝

⎛⋅= −

KPA T

L 7905exp1059,113 7

ω⋅⋅

=M

DBt

SKT ⋅=Δ

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Zuverlässigkeit und Lebensdauer

16

Bild 3.3: Temperatur an der Dichtlippe nach [3]

3.2.2 Berechnung der Lebensdauer auf der Grundlage von Verschleiß

In Analogie zur Lebensdauerberechnung von Gleitlagern kann auch mit der für Tribosysteme geltenden verschleißspezifischen Reibarbeit nach Fleischer [14] eine Lebensdauerberechnung erfolgen:

,

wf - verschleißspezifische Reibarbeit [J/m3] f – Reibungszahl U –Gleitgeschwindigkeit [m/s] t – effektive Nutzungsdauer [h] Vw – Verschleißvolumen [mm3]

(6)

mit , D – Wellendurchmesser [mm] B – Lagerbreite in [mm] hw – Verschleißhöhe [μm]

(7)

und , n – Drehzahl [min-1] (8)

, p – spezifische Belastung [N/mm2] (9)

ergibt sich: .

(10)

Abrasiver Verschleiß, der obige Gleichung rechtfertigt, ist aber bei Radialwellendichtringen nicht das dominante Ausfallkriterium. In [7] wurde das Lebensdauerverhalten von RWDR und PTFE-Manschetten untersucht. Bei PTFE-Manschetten, die eine geringere Lebensdauer aufwiesen, konnte als Ausfallursache Verschleiß nachgewiesen werden, wogegen das Aus-fallverhalten des RWDR durch eine konstante Ausfallrate, also Zufallsausfälle, gekennzeich-net war.

wf V

tUFfw ⋅⋅⋅=

ww hBDV ⋅⋅⋅= π

nDU ⋅⋅= π

DBpF ⋅⋅=

npfhw

t wf

⋅⋅

⋅=

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Reduktion der Einflussparameter

17

Fazit: Es können in der Literatur einzelne Ansätze zur Lebensdauerberechnung gefunden werden, die dort getroffenen Ansätze sind jedoch sehr vereinfachend und die Rechenergebnis-se decken sich nicht mit den Tests, die bereits am IMA durchgeführt wurden. In der Realität ist meist ist nicht nur einer der in Kapitel 3.2 beschrieben Effekte für das Dichtungsversagen verantwortlich sondern alle Effekte und deren Wechselwirkung.

4 Reduktion der Einflussparameter

Betrachtet man die 75 Einflussparameter in Bild 3.2 wird schnell klar, dass so ein komplexes System nicht mehr handhabbar ist. Die Versuchszeit um alle Parameter zu berücksichtigen wäre immens. Die Einflussparameter können aber in drei Klassen unterteilt werden, was dann zu einer Reduktion der im Experiment zu untersuchenden Einflussparameter führt:

Standardisierung: Darunter fallen jene Einflussparameter, die zwar einen Einfluss auf die Lebensdauer haben, die aber nicht direkt mit der Zeitachse zusammenhängen, oft auch als systematische Einfluss-parameter bezeichnet. Beispiel hierfür wäre das Profil des Hydraulikdichtrings. Eine anderes Profil zeigt sicherlich eine andere Lebensdauer, die prinzipielle Alterung einer Dichtung wird aber durch die Form des Profils kaum beeinflusst.

Qualität: Darunter fallen jene Einflussparameter, die durch Variation der Einflussparameter, also durch Qualitätsschwankungen beschrieben werden können. Ein Beispiel hierfür wäre die Montage des HSDR. Ein bei der Montage beschädigter Dichtring wird sich hinsichtlich der Lebensdau-er zwar anders verhalten, aber für eine Lebensdauer im Sinne der Alterung hätte dies keinen prinzipiellen Einfluss.

Lebensdauer: Darunter fallen alle Einflussparameter die einen ganz direkten Einfluss auf die Lebensdauer im Sinne der Alterung haben. Beispiel hierfür wäre die Temperatur oder der Druck.

Ziel der Klassifizierung ist möglichst viele Einflussparameter zu „eliminieren“. Zur experi-mentellen Ermittlung der Lebensdauer würde man in Lebensdauersuchen alle Einflussparame-ter aus den Klassen Standardisierung und Qualität möglichst konstant halten. Lediglich jene Einflussparameter aus der Klasse Lebensdauer werden dann bei Lebensdauerversuchen vari-iert.

4.1 Randbedingen für Lebensdauerversuche Um mit einem möglichst geringen bzw. überhaupt finanzierbaren Versuchsaufwand doch zu einer Art Lebensdauerformel zu gelangen, muss ein Kompromiss eingegangen werden. Die Bandbreite der Einflussparameter wird dabei reduziert, dadurch aber auch die Gültigkeit der

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Reduktion der Einflussparameter

18

Lebensdauerformel eingeschränkt. Ein Kompromiss zur Aufstellung eines Versuchsplans zur Ermittlung einer Lebensdauerformel könnte folgendermaßen aussehen, Bild 4.1.

• Es wird nur ein Dichtprofil in einem Werkstoff betrachtet. Im Bereich industrieller Anwendungen gibt es solche Dichtungstypen, die schon seit vielen Jahren in unverän-derter Form verwendet werden. Dies hat zwei wesentliche Vorteile, zum einen könn-ten alte Versuchsergebnisse verwertet werden, zum anderen wird nach aller Voraus-sicht jener Dichtungstyp auch in einigen Jahren noch verwendet wenn die Versuche abgeschlossen wären.

• Für die Stange wird nur ein Werkstoff verwendet und auch die Bearbeitung soll nicht variiert werden. Der Vorschlag wäre Hartchrom geschliffen und poliert.

• Durch chemische Wechselwirkungen mit dem Dichtungswerkstoff hat natürlich das abzudichtende Medium einen sehr großen Einfluss auf die Lebensdauer. Betrachtet man die Vielzahl an verschiedenen Ölen am Markt muss man sich auch hier so weit als möglich einschränken. Der Vorschlag wäre ein weit verbreitetes HLP Mineralöl zu verwenden. Verunreinigungen im Öl sollen nicht mitbetrachtet werden.

Bild 4.1: Klassifizierung/Reduzierung der Einflussparameter

OxidationsverhaltenBenetzungsfähigkeit

Betriebs-beding-

ungenStange

FluidProfil

Konstruktion

Herstell-prozeß

Material- eigen- schaften

Montage

Lippenlänge

Überdeckung

Lippenprofil

Fluidseitiger Dichtkantenwinkel

Luftseitiger Dichtkantenwinkel

Stützring

Dichtkantenradius

Dichtlippendurchmesser

Aufhängung der Dichtlippe

Vorpressung

2. Dichtkante

gestochene/gespritzte Dichtkante

Länge/Breite

Dichtrücken-Strukturierung

Temperaturbeständigkeit

Chemische Beständigkeit

Elastizitätsmodul

Kaltfluß/Kriechen

Alterungsbeständigkeit

Verschleiß

Mischprozeß

Standardisierung:

Qualität:

Lebensdauer:

Härte

Vulkanisierungsbedingungen

VernetzungsartTemperung

Zusammensetzung der Mischung

Spritzgussprozess

Werkstoff

Verschleißbeständigkeit

Beschichtung

Härte

Benetzungsverhalten

Korrosionsverhalten

Rauheit Welligkeit

Bearbeitungs-struktur

Herstellverfahren

Wärmeabfuhr

BeschädigungenAbrasion

Adhäsion

Durchmesser Vibrationen

Gleitweg

Chemische Zusammensetzung

Temperatur

Verunreinigungen

Viskosität

DruckAnzahl Start/StopStangenauslenkung

Gas-Sättigung

Zustand der Nut

scharfe Kanten

Extrusionspalt

Schleppdruck

Sauberkeit

Beschädigungen

geschlossene/offene Nut

Stangenmontage (Einschieben)

Schmutz/Staub

Geschwindigkeit

Um-gebung

Temperatur

FührungAbstreifer

Ozon

UV-Strahlung

Wasser

Fließgrenze

Querkontraktion

pH-Wert

Menge

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Reduktion der Einflussparameter

19

Durch diesen Kompromiss reduziert man die Lebensdauer-Ermittlung weg von einem kom-plexen Dichtsystem hin zur Betrachtung der Dichtkante, Bild 4.2.

Bild 4.2: Reduzierung der Einflussparameter heißt Beschränkung auf die Dichtkante. In dem gewählten Beispiel ist mit Temperatur die Sumpftemperatur gemeint. Es muss hier noch mal betont werden, dass die „eliminierten“ Einflussparameter nicht unwichtig sind, son-dern ganz im Gegenteil, sie müssen in den Versuchen so gut als möglich konstant gehalten werden. Da der Großteil der Einflussfaktoren konstant gehalten ist, beschreiben die vier ver-bleibenden Einflussparameter aus der Klasse Lebensdauer dann auch nur den Dichtring (die Dichtkante) und nicht das ganze Dichtsystem.

Lebensdauer-Aussagen über weitere Einflüsse wie beispielsweise eine Stangenauslenkung, eine andere Stangenrauheit oder ein anderes Öl, können nicht getroffen werden. Zusätzliche einzelne Stichversuche liefern dann kaum ein Mehr an Sicherheit, da damit die Wechselwir-kungen mit den bereits untersuchten Parametern nicht erfasst werden können. Wenn zu erwar-ten ist, dass einer der konstant gehaltenen Einflussparameter einen signifikanten Einfluss auf die Lebensdauer hat, müssten alle Versuche nochmals wiederholt werden.

4.1.1 Einschränkungen Die hier aufgeführten 75 Einflussparameter vernachlässigen sicherlich noch den ein oder an-deren Faktor, stellen aber eine breite Basis dar. Durch die Einteilung in die Klassen Standar-disierung, Qualität und Lebensdauer konnten die experimentell zu untersuchenden Einflusspa-rameter zwar auf nur 5 Stück reduziert werden, dadurch geben sich aber eine ganze Reihe von Einschränkungen:

• Die 70 Einflussparameter, die in Lebensdaueruntersuchungen nicht variiert würden, sind nicht zu vernachlässigen, sie sind konstant zu halten. Das bedeutet andererseits, wenn auf alte, bestehende Untersuchungen zurück gegriffen werden soll, müssen dort auch jene 70 Einflussfaktoren konstant gewesen sein, zumindest aber mitprotokoliert worden sein. Das dürfte in den allerwenigsten bestehenden Versuchsdaten der Fall sein.

Gleitweg

Temperatur Druck

Anzahl Start/Stop

Geschwin-digkeit

Reduktion der Einflussparamter heißt:

weg vom Dichtsystem hin zur Dichtkante

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Reduktion der Einflussparameter

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• Es wird nur ein Dichtprofil aus einem Werkstoff mit einem Öl bei einer Art von Stan-ge betrachtet. Für andere Kombinationen sind große Teile der Untersuchungen noch-mals neu zu machen.

• Je nach Anzahl der untersuchten Dichtungen, ist die ermittelte Lebensdauer statistisch sehr gut belegt und wird damit berechenbar. Der Mechanismus, welcher eine Dichtung ausfallen lässt, wird dadurch nicht ermittelt. Es wird lediglich das Ausfallverhalten des Dichtrings erfasst.

4.1.2 Versuchsplan Bevor ein Versuchsplan aufgestellt wird noch einige Vereinbarungen:

Abbruchkriterium: Als Ausfallkriterium für die Lebensdauer dient nur die Leckage. Wie in Kapitel 3.1 schon aufgeführt ist die tolerierbare Leckage noch zu definieren. Sinnvoll er-scheint das über eine akkumulierte Leckagemenge (z.B. 1 g) zu tun.

Testzeit: Die Prüfzeit wird durch die geforderte Lebensdauer bestimmt. Für Kfz, die für eine Laufleistung von ca. 250.000 km ausgelegt werden, ergibt sich damit eine erforderliche Le-bensdauer von 5.000 h. Bei industriellem Einsatz werden wesentlich höhere Lebensdauern erwartet, die Garantiezeit von einem Jahr wird vorausgesetzt. Das entspricht ca. 8.000 bis 10.000 Betriebsstunden, die Windkraftbranche verlangt beispielsweise 20.000 Stunden.

Will man nicht nur eine geforderte Lebensdauer verifizieren (so genannter success run), son-dern die tatsächliche erreichbare Lebensdauer ermitteln, müssen alle Prüflinge bis zum Aus-fall getestet werden. Dabei ist davon auszugehen, dass einige Prüflinge ein Vielfaches der oben angesetzten 10.000-Stundenforderung erreichen, also mehrere Jahre Prüfzeit.

Stichprobenumfang: Sollte eine Zuverlässigkeit von R(t) = 90 % bei einer Aussagewahr-scheinlichkeit von PA = 90 % nachgewiesen werden, ist ein Stichprobenumfang von n = 22 erforderlich.

Raffung: Eine Raffung, d.h. Tests mit verschärfter Beanspruchung, kann nur dann erfolgen, wenn dabei der Schädigungsmechanismus unverändert bleibt. Da das eigentliche Langzeit-verhalten der HSDR wenig bekannt ist, ist die Gefahr hoch, durch Raffung mehr Schaden anzurichten als Versuchsaufwand einzusparen. Des Weiteren ist zu bedenken, dass der Dich-tungswerkstoff mechanisch und auch thermisch schon sehr hoch belastet ist, also wenig Spiel-raum für eine Raffung zur Verfügung steht.

Versuchsplan: Setzt man für die fünf Einflussparameter (Temperatur, Druck, Geschwindig-keit, Gleitweg, Start-/Stoppvorgänge) eine vollfaktorielle statistische Versuchsplanung an (DoE), so wären hierfür 25 = 32 Versuche notwendig. Vollfaktoriell deswegen um auch Wechselwirkungen der Einflussparameter untereinander zu erfassen. Die Einflussparameter werden dabei nur in den Stufen hoch und niedrig variiert. Die Lebensdauer (Gleitweg)- die Zielgröße der Versuche - wird dann durch eine Varianzanalyse der Versuchsdaten berechnet.

Kosten/Prüfstände/Zeit: Angenommen die mittlere Versuchsdauer der Test sei 10.000 Stun-den, es werden je 22 Prüflinge untersucht und die Betriebsstunde pro Prüfling kostet 2 €, so wären für die Versuche 14 Millionen Euro aufzuwenden. Bei 10 Prüfstellen würden die Ver-suche 80 Jahre Prüfzeit erfordern.

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Nutzung von Felddaten für Lebensdaueraussagen

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Fazit: Nach den Versuchen liefert eine Varianzanalyse der Testergebnisse eine Gleichung, welche die Lebensdauer als Funktion der fünf Einflussparameter (Druck, Temperatur, Geschwindig-keit, Gleitweg, Anzahl Start/Stopp) beschreibt. Da aber der Großteil des Dichtsystems Hyd-raulikstangendichtring, bzw. anders formuliert ein Großteil der Einflussparameter in den Tests dann konstant gehalten sind, bildet das Testergebnis auch lediglich die Dichtkante als kleine Teilmenge eines Dichtsystems ab. Mit anderen Rauheiten, anderen Dichtringwerkstoffe, an-deren Ölen wird wieder ein neuer Versuchsplan notwendig, da mit diesen weiteren Einfluss-parametern auch Wechselwirkungen auf die bereits 5 untersuchten Einflussparameter zu er-warten sind. Solche Wechselwirkungen sind mit einem Stichversuch nicht ermittelbar, es muss der ganze (erweiterte) Versuchsplan neu durchgeführt werden.

Durch die Vielzahl der Einflussparameter ist es auch schwierig Versuchsergebnisse aus alten Untersuchungen zu integrieren, da deren Aussagekraft erlischt, je mehr Einflussparameter dort nicht dokumentiert wurden.

Die durch statistische Versuchsplanung (DoE) ermittelte Lebensdauergleichung beschreibt zwar das Ausfallverhalten des Dichtrings, gibt aber keinen Hinweis auf die Ausfallursache. Ob Extrusion, Abrieb oder ein Verhärten des Dichtungswerkstoffs ursächlich waren, wird dadurch nicht erfasst.

Hier liegt auch das Dilemma bei der statistischen Versuchsplanung am Dichtsystem HSDR. Es können nur Einflussparameter untersucht und letztlich abgebildet werden, die zu Beginn des Versuchs definiert einstellbar sind wie beispielsweise der Druck. Einflussparameter die erst aufgrund der Laufzeit in den Tests entstehen, können nicht berücksichtigt werden. Para-meter wie Extrusion oder Werkstoffverhärtung sind somit im Sinne der statistischen Ver-suchsplanung kaum darstellbar, da man diese ja schon zu Beginn eines Versuchs einstellen müsste.

5 Nutzung von Felddaten für Lebensdaueraus-sagen

Der Nachweis einer Lebensdauer durch Versuche ist wie oben beschrieben nur mit einem sehr hohen Zeit- und Kostenaufwand zu erreichen. Eine andere Möglichkeit bietet die Analyse von Daten aus dem Feldeinsatz. Die Menge der Datensätze aus Feldeinsätzen ist im Vergleich zu Lebensdauerversuchen sehr viel größer. Zudem sind die Dichtringe realen Einsatzbedingun-gen mit üblicherweise vorkommenden Belastungen ausgesetzt. Prüfstandsversuche unterlie-gen jedoch häufig vielen Vereinfachungen und Abstraktionen, die eine Übertragbarkeit auf reale Einsatzfälle erschweren können.

Zur Auswertung von Ausfalldaten wird im Maschinenbau meist die Weibullverteilung ver-wendet. Die drei Parameter der Verteilung, b, T, und t0, bieten die Möglichkeit verschiedenste Ausfallverläufe nachzubilden. Zu jeder Ausfallzeit ti wird eine Ausfallwahrscheinlichkeit F(ti)

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Nutzung von Felddaten für Lebensdaueraussagen

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zugeordnet, die von der Anzahl der Ausfälle n und dem Rang i der Ausfallzeit abhängt, siehe Gl. (11). Der Rang gibt die Stelle an, an der eine Ausfallzeit bei aufsteigender Sortierung in der Liste der Ausfälle steht.

0,30,4

· 100% (11)

Mit dieser Zuordnung der Ausfallwahrscheinlichkeit können die Ausfallzeiten als Punkte in das Weibulldiagramm eingetragen werden und es können graphisch oder rechnerisch die Pa-rameter der Verteilung bestimmt werden. Damit können Aussagen darüber getroffen werden, wann z.B. 10 % aller Teile ausgefallen sind, die sogenannte B10-Lebensdauer oder bei Wälz-lagern auch L10 genannt. In Bild 5.1 ist beispielhaft eine Weibullkurve mit einer ausfallfreien Zeit dargestellt.

Bild 5.1: Ausfallkurve im Weibullpapier; dargestellt die Zeit bei der 10 % der Teile ausgefallen sind.

Bei Felddaten sind die Rückläufer meist die Teile, die im Betrieb am stärksten belastet (Bild 5.2 b) bzw. die Teile die am wenigsten belastbar waren (Bild 5.2 a). Deshalb lassen diese Rückläufer nur bedingt Aussagen über alle Teile die sich im Feld befinden zu (Bild 5.2 Grundgesamtheit c). Um auch die Teile zu berücksichtigen die nicht als Ausfall zurückge-kommen sind, werden die nicht ausgefallenen Teile über eine sogenannte Zensierung in die Auswertung einbezogen. Hierbei dient die Anzahl der ausgelieferten Teile, die Grundgesamt-heit c, als Grundlage. Die nicht-ausgefallenen Teile werden je nach Verfahren in die Auswer-tung mit einbezogen. Hierzu werden Laufleistungsverteilungen wie sie im Automobilbau be-kannt sind verwendet. Damit lassen sich die Laufzeiten der Teile im Feld abschätzen. Eine andere häufig verwendete Methode ist die Sudden-Death-Methode, bei der angenommen wird, dass die Laufzeiten der nicht-ausgefallenen Teile gleichmäßig zwischen den ausgefalle-nen Teilen liegen. Damit ist eine etwas konservativere Abschätzung möglich. Durch die Zen-sierung kann eine Beschreibung des Ausfallverhaltens aller Teile erreicht werden.

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Nutzung von Felddaten für Lebensdaueraussagen

23

Bild 5.2: Einbeziehung von nicht ausgefallenen Teilen (Zensierung)

Bei HSDR treten, wie zu Beginn erwähnt, verschiedene Schädigungsmechanismen auf. Da jeder Schädigungsmechanismus ein anderes Ausfallverhalten hervorruft, treten mehrere kon-kurrierende Verteilungen auf. Sind diese Schädigungsmechanismen und damit die Verteilun-gen unabhängig voneinander, können Sie als Mischverteilung ausgewertet werden. Können wie beim HSDR alle Schädigungen einen Ausfall hervorrufen, der zum Ausfall des Dichtsys-tems führt, kann dieses Verhalten mittels der Booleschen Theorie als eine Hintereinander-schaltung von Schädigungsmechanismen betrachtet werden. Das Auftreten eines Schädi-gungsmechanismus bewirkt dann den Ausfall des Dichtrings. Fällt wie in Bild 5.3 dargestellt der Dichtring durch Relaxation aus, sind die anderen Schädigungen zweitrangig.

Bild 5.3: HSDR als Boolesches Seriensystem

Dargestellt im Weibulldiagramm ergibt sich für ein solches Boolesches Seriensystem eine Kurve die das gesamte Ausfallverhalten wiedergibt. Diese sogenannte Systemkurve wird durch die einzelnen Verteilungen der Schädigungsmechanismen erzeugt, siehe Bild 5.4. Jeder Schädigungsmechanismus bewirkt eine Veränderung des gesamten Ausfallverhaltens.

Mit geeigneten zuverlässigkeitstechnischen Auswertemethoden, wie z.B. dem MLE/EM-Algorithmus oder numerischen Verfahren können dann die einzelnen Verteilungen zu den Schädigungsmechanismen bestimmt werden. Dadurch kann das Ausfallverhalten sehr viel genauer beschrieben werden. Zudem kann dieses Wissen dazu dienen den Versuchsumfang sehr stark zu reduzieren. Da der globale Verlauf der Ausfälle für jede Schädigung bekannt ist,

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Zusammenfassung

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reichen schon wenige Stichversuche um das Ausfallverhalten beispielsweise von neuen An-wendungsfällen vorherzusagen.

Bild 5.4: Beispielhaftes Ausfallverhalten von HSDR mit den verschiedenen Schädigungs-mechanismen

Fazit: Die Sammlung und Auswertung von Felddaten erlaubt es damit, sowohl Aussagen über das Ausfallverhalten aller Teile im Feld zu treffen, als auch, durch die Auswertung einzelner Schädigungsmechanismen, den Versuchsaufwand von Lebensdauertests auf wenige Teile zu reduzieren.

Die Ermittlung der Lebensdauer von Dichtungen ist aufgrund der vielen und unterschiedli-chen Schädigungsmechanismen aufwändig und kostspielig. Die Sammlung von Felddaten verspricht daher das beste Verhältnis von Nutzen zu Aufwand um die Lebensdauer von Dich-tungen fundiert zu ermitteln. Das Institut für Maschinenelemente steht hierfür als kompetenter Partner zur Verfügung.

6 Zusammenfassung

Hydraulikstangendichtungen werden in vielen Bereichen der Technik eingesetzt. Ein Dich-tungsausfall führt meist zum Ausfall des Gesamtsystems und damit zu hohen Folgekosten. Infolge der kritischen Belastung durch Reibung, Verschleiß und hohe Temperaturen sowie den komplexen Wechselwirkungen zwischen Dichtring, Stange und abzudichtendem Fluid ist es bisher nicht möglich die Lebensdauer dieser tribologischen Systeme zielsicher zu prognos-tizieren. Strukturierte Lebensdaueruntersuchungen in größerem Umfang sind nicht bekannt.

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Literatur

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Das Dichtsystem Hydraulikstangendichtungen als typisches nicht berechenbares Risikoele-ment kann deshalb nur ungenügend in der Zuverlässigkeitsbetrachtung berücksichtigt werden.

Die hier vorgestellte Reduktion auf nur 5 Einflussparameter zeigt, dass zur Ermittlung der Lebensdauer mit einer statistisch abgesicherten Aussagewahrscheinlichkeit hohe finanzielle Aufwendungen nötig sind und Versuche über viele Jahre bedürfen. Will man die getroffenen Einschränkungen aufheben und Lebensdaueraussagen für Hydraulikstangendichtungen allge-mein – also andere Werkstoffe, Öle etc. – treffen, ist noch mal ein Vielfaches an experimen-tellen Aufwand notwendig.

Die Ursache für die nachlassende Dichtwirkung und damit der Lebensdauer eines HSDR ist nach heutigem Wissen noch nicht eindeutig geklärt. Aus wissenschaftlicher Sicht scheint es aussichtsreicher das Nachlassen der Rückförderung des ausgeschleppten Ölfilms von HSDR+Stange zu untersuchen, als das Ausfallverhalten mit hohem Aufwand im eng gesteck-ten Rahmen experimentell zu ermitteln.

7 Literatur

[1] Bertsche, B.; Lechner, G.: Zuverlässigkeit im Maschinenbau. Springer-Verlag, Berlin 1999.

[2] Brodbeck, P.: Experimentelle und theoretische Untersuchungen zur Bauteilzuverlässig-keit und zur Systemberechnung nach dem Booleschen Modell. Dissertation, 1995. Uni-versität Stuttgart, Institutsbericht Nr. 60.

[3] Horve, L.: Shaft seals for dynamic applications / Les Horve. Marcel Dekker, Inc. New York, 1996.

[4] Deuring, H.: Verschleiß und Undichtheit von Abdichtungen mit Radial-Wellendichtringen durch das abzudichtende Medium und Schmutz. E11, Goetze AG, Burscheid, 1978.

[5] Brink, R. V.: The Working Life of a Seal (A Elementary Theory). 25th ASLE Annual Meeting, May 4-8, 1970, Chicago, S. 375-380.

[6] Fleischer, G.; Gröger, H.: Verschleiß und Zuverlässigkeit. Verlag Technik, Berlin 1980. [7] Krolo, A.; Olbrich, M.; Haas, W.; Bertsche, B.: Untersuchung zur Zuverlässigkeit von

druckbelasteten Wellendichtungen. Zuverlässig Abdichten: modernde Dichtsysteme in der Anwendung. Tagung Baden-Baden, 7./8. November 2000. VDI-Gesellschaft (VDI-Berichte: 1579); Düsseldorf, VDI-Verlag, s.143-160.

[8] Krolo, A; Bertsche, B.: Zuverlässigkeitsnachweis an Hand von Tests unter Berücksich-tigung von Vorinformationen. TTZ 2002, 10.-11. Oktober 2002, Stuttgart, VDI-Bericht 1713, S. 341-359.

[9] Krolo, A.; Bertsche, B.: An Approach for the Advanced Planning of a Reliability Dem-onstration Test Based on a Bayes Procedure. Proc. RAMS 2003-Conference, 27.-30. Januar 2003, Tampa, USA, p. 288-294.

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Literatur

26

[10] Larson Nomogramm: http://www.arstechnica.de/index.html?name=http://www.arstechnica.de/computer/JavaScript/larson.html

[11] ISO/FDIS 19973-1: Fluidtechnik - Bewertung der Überlebenswahrscheinlichkeit pneu-matischer Bauteile durch Versuche - Teil 1: Allgemeine Vorgehensweise