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29 „Bilder-Esperanto“ – Gestal- tung und posttypografische Form Frank Hartmann Frank Hartmann ist Professor für Geschichte und Theorie der Visuellen Kommuni- kation an der Fakultät Kunst und Gestaltung, Bauhaus-Universität Weimar Mikimaus hilft uns bei der Aufgabe der sozialen Aufklärung. Alles ist bunt, lebhaft, interessant, zeitgemäß … Methode und Apparat existie- ren schon. 1 Anfang der 1950er Jahre publizierte Marshall McLuhan, ein damals noch ganz unbekannter kanadischer Professor für englische Literatur, einen fulminanten Essay über die neue visuelle Kultur des 20. Jahrhun- derts: Culture without Literacy – was falsch ins Deutsche übersetzt wur- de mit Kultur ohne Schrift. 2 Unterm Eindruck von neuen Medien, damals 1 Otto Neurath: „Bildstatistik – ein internationales Problem“ (London 1933), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 263f. 2 Marshall McLuhan: „Culture without Literacy“, in: Explorations Vol. 1, Toronto 1953: 117–127. Deutsch in: Baltes, Martin et al. (Hg.): Medien verstehen. Der McLuhan Reader, Mannheim 1997: 68–76.

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„Bilder-Esperanto“ – Gestal-tung und posttypografische Form

Frank Hartmann

Frank Hartmann ist Professor für Geschichte und Theorie der Visuellen Kommuni-kation an der Fakultät Kunst und Gestaltung, Bauhaus-Universität Weimar

Mikimaus hilft uns bei der Aufgabe der sozialen Aufklärung. Alles ist bunt, lebhaft, interessant, zeitgemäß … Methode und Apparat existie-ren schon.1

Anfang der 1950er Jahre publizierte Marshall McLuhan, ein damals noch ganz unbekannter kanadischer Professor für englische Literatur, einen fulminanten Essay über die neue visuelle Kultur des 20. Jahrhun-derts: Culture without Literacy – was falsch ins Deutsche übersetzt wur-de mit Kultur ohne Schrift.2 Unterm Eindruck von neuen Medien, damals

1 Otto Neurath: „Bildstatistik – ein internationales Problem“ (London 1933), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 263f.

2 Marshall McLuhan: „Culture without Literacy“, in: Explorations Vol. 1, Toronto 1953: 117–127. Deutsch in: Baltes, Martin et al. (Hg.): Medien verstehen. Der McLuhan Reader, Mannheim 1997: 68–76.

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noch nicht Computer, sondern Radio und Fernsehen, ging es um die zentrale These, dass nicht allein Schriftlichkeit (und Schriftkompetenz) das ausmacht, was als Kultur bezeichnet werden darf, sondern auch jene neue Bildkultur, die sich nicht länger auf die klassischen Bilder der Kunst beschränkt, sondern Welterschließung durch Visualisierungen leistet: Bildstatistik, Diagramme, grafische Reproduktionstechniken, optische Aufzeichnung und Übertragung. Diese Medientechniken ste-hen für ein neues Bewusstsein, eine neue Aufmerksamkeitsökonomie und völlig neue Kommunikationswelten jenseits tradierter Begrifflichkeit.

Otto Neurath, ein Pionier der visuellen Kommunikation, sprach es wenige Jahre zuvor deutlich aus:

I believe that the day of „eye-consciousness“ is rapidly approaching. Communication of knowledge through pictures will play an increasing-ly large part in the future. Now is the time to collect records of what has been happening visually in the last decades.3

Dass Kultur auch ohne Schrift auskommen mag, war eine gewagte und der damaligen Medienkultur noch nicht ganz entsprechende These, die so gedeutet werden kann, dass eben auch andere als nur der bislang mächtigste Code, nämlich die phonetische Schrift, kulturstiftend sind. Unter anderem gilt das für die neuen Technologien des Speicherns und Übertragens, neben Musik und Rhythmen vor allem für Bilder und Visualisierungen, die vom Veralten jener Bildungsidee zeugen, wel-che mangels Reproduktionstechnik über Jahrhunderte exklusiv an die Schrift- und Druckkultur gebunden war.

Mit der Durchsetzung der kulturstiftenden Funktion von Schrift und Druck im Abendland seit mehr als zwei Jahrtausenden hat sich, wie McLuhan und andere Theoretiker seiner Generation (u. a. Harold A.

3 Otto Neurath: From Hieroglyphics to Isotype: A Visual Autobiography (1946), Princeton Architectural Press 2010: 5.

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Innis, Erik Havelock) unermüdlich dargelegt haben, eine neue mediale Qualität kultureller Codierung durchgesetzt. Diese habe, so die grund-legende These, eine spezifische Rationalität des typographic man geprägt: Der typografische Mensch denke in einer ganz bestimmten Weise, näm-lich im funktionalen Modus der Linearität, was in jüngerer Zeit Prozes-se der Mechanisierung und Industrialisierung befördert habe. Letztlich tendiere dies dazu, über permanente Prozesse der Verschriftlichung al-len Geschehens eine abstrakte Lesbarkeit der Welt zu gewinnen und diese dann auch noch wissenschaftlich zu prämieren, während andere ästhe-tische Formen auf Kosten einer erweiterten Sinnlichkeit mehr oder we-niger strikt ausgeblendet würden.

Inzwischen aber, dank Elektrizität und Elektronik, finde der techno-logische Mensch zunehmend bei visuellen Metaphern Zuflucht, womit

Abbildung 1 ― Werbung für die Wiener Methode (Loseblattsammlung von 100 Bildtafeln und 30 Texttafeln zur Erläuterung der Methode), Quelle: Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatis-tisches Elementarwerk des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien, Bibliographisches Institut AG, Leipzig 1930.

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die „neue vereinheitlichende Sprache für die Vielfalt der Kulturen der gesamten Erdkugel“ greifbar wird.4 Technologie, allem voran die neuen Bildmedien, erwecke die Kultur aus ihrem historisch konditionierten Alp-traum schriftinduzierter Rationalität und so könnte sich der alphabeti-sierte Mensch letztlich als bloße Episode in einer Menschwerdung zum Weltbürgertum (cosmic man) erweisen. Das klingt übertrieben und pathe-tisch zugleich, ist im Kern aber die erste Diagnose der neuen Medien-welt, die sich nicht in kulturpessimistischen Bequemlichkeiten einrich-tete, sondern ihre Aufgabe ernst nahm: jene neue Literacy zu bestimmen, die als Medienkompetenz jenseits von Schriftverhältnissen auszubilden wäre.

Eine Kultur ohne Schrift, so McLuhans Argument, signalisiert den veränderten Bedarf an Formen und Funktionen der Kommunikation, die zunehmend transnational und interkulturell bestimmt sind. Den-ken wir nur daran, dass erst wenige Jahrzehnte zuvor die transatlanti-schen Kabel verlegt worden waren, um die Welt durch internationale Codes und standardisierte Technik global zu verschalten.5 Die über Ka-belnetze ermöglichte technische Reproduktion und Übertragung von Bildern schuf neu strukturierte Kommunikationsverhältnisse, und wie McLuhan hervorhob, stünde uns mit der Bildersprache ein praktisch noch „unbenutztes Esperanto“6 zur Verfügung.

Grafische Reproduktionstechniken, Fotografie, Außenwerbung, Kino und Fernsehen begründen seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine neuartige Visuelle Kommunikation – eine Bezeichnung, die auf Otto Neurath zurückgeht.7 Manches deutet darauf hin, dass McLuhan das Isotype-Projekt von Otto Neurath gekannt hat, vermutlich vermittelt

4 McLuhan 1997: 76 (vgl. Anm. 2).5 Frank Hartmann: Globale Medienkultur. Geschichte, Technik, Theorien, Wien 2006.6 McLuhan 1997: 76; vgl. auch die Ausführungen in Marshall McLuhan: Understand-

ing Media. The Extensions of Man, New York 1964, Kap. 16.7 Neurath 2010: 5 (vgl. Anm. 3).

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durch Zeitungsartikel und durch die Aktivitäten von Rudolf Modley, dessen in den Vereinigten Staaten gewerblich tätigen Schüler.8

Die Konstruktion von Bilderschrift, so sah das zuvor schon der Kul-turphilosoph Walter Benjamin, ist die neue Herausforderung, um darauf zu reagieren, dass „Schrift, die immer tiefer in das graphische Bereich (sic!) ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, mit einem Male ihrer adäquaten Sachverhalte habhaft wird“ – womit die Machtansprü-che der traditionellen Ausdrucksmodalitäten in Wissenschaft und Wirt-schaft gemeint waren; Benjamin hat sich dabei besonders auf statistische und technische Diagramme bezogen.9

Zu sehen gab es diese neue Bilderschrift bereits in illustrierten Maga-zinen der 1920er/1930er Jahre, wie dem amerikanischen Survey Graphic, sowie in den populären europäischen Wissenschaftsausstellungen jener

8 Rudolf Modley: Pictographs and Graphs: How to make and use them, New York 1952.9 Walter Benjamin: „Vereidigter Bücherrevisor“ (1928), in: ders., Medienästhetische

Schriften, Frankfurt am Main 2002: 197.

Abbildung 2 ― Seit 1921 erschien die auf gesellschaftspolitische Themen spezialisierte US-amerikanische Zeitschrift Survey Graphic (hier das Cover der Ausgabe von Januar 1938).

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Zeit, die sowohl als Dokumente einer neuen öffentlichen Kommunika-tionskultur gelten dürfen, wie sie auch durch neuartige Visualisierungs-objekte der Bildstatistik und Bildsprache aus Beruf und Arbeit, Hygiene und Gesundheit, Fürsorge und Sozialversicherung, oder Gesellschaft und Wirtschaft geprägt waren. Beispiele dafür sind die im ausgehenden 19. Jahrhundert teils aus den populären Weltausstellungen, teils aus the-matischen Fokussierungen entstandenen Wissenschaftsmuseen.

• 1926 fand in Düsseldorf die „GeSoLei“ statt, jene Große Ausstel-lung für Gesundheitspflege, Sociale Fürsorge und Leibesübungen, aus der 1927 das Reichsmuseum für Gesellschafts- und Wirtschaftskunde Düssel-dorf hervorging;

• 1930 gab es die II. Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden, die drei Millionen Besucher anzog, und damit verbunden einen Neubau des Deutschen Hygiene-Museum Dresden;

• 1936 publizierte Otto Neurath die Broschüre International Picture Language, die seine Idee einer neuen Bildersprache propagierte – sie entstand ab 1924 aus der Ausstellung für Siedlung und Städtebau des Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und zahlreichen me-thodischen Artikeln.10

Neuraths Projekt – in Wien, aber auch in Düsseldorf, Dresden oder Moskau präsent – war sowohl dem Gedanken einer neuen Wissenschaft-lichkeit gemäß der Logik des Wiener Kreises verpflichtet als auch der Idee, mittels einer neuen grafischen Bildersprache auf breitere Volksschichten pädagogisierend und aufklärerisch orientierend zu wirken:

Um solche soziale Aufklärung verbreiten zu können, bedarf es beson-derer Hilfsmittel. Im Jahrhundert des Auges kommen in erster Linie

10 Otto Neurath: International Picture Language. The First Rules of Isotype, London 1936; zum Kontext vgl. Frank Hartmann und Erwin K. Bauer: Bildersprache. Otto Neurath, Visualisierungen, Wien 2006.

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Museen und Ausstellungen, Abbildungen und Filme in Frage. Wäh-rend man aber technische und hygienische Zusammenhänge durch Photographie, Modelle, Schnitte einigermaßen ausreichend veran-schaulichen kann, verlangen die gesellschaftlichen Vorgänge besonde-re, neuartige Methoden. […] Eine neue Bilderschrift ist im Entstehen […], ein Bilderlexikon mit einer Bildgrammatik. […] Damit ein ein-heitliches „Bilder-Esperanto“ – um einen Ausdruck der Amerikaner zu gebrauchen – sich durchsetzen kann und nicht eine babylonische Bildersprachenverwirrung entsteht, muß man die Methoden der Bild-statistik zentral pflegen und ausgestalten.11

Was Neurath anstrebte, war eine visuelle Informationsvermittlung, die überall (d. h. keineswegs nur in Büchern und anderen Druckwer-ken) rasch und eindrucksvoll funktionieren sollte: „Wer schnellen und bleibenden Eindruck machen will, bedient sich der Bilder.“ Seine Idee war nicht von akademischen Überlegungen getragen, sondern aus ei-nem konkreten Anwendungsbereich entwickelt worden, und versprach Wirkung eher durch Interventionen im öffentlichen Raum als von ge-druckten Publikationen – ein Detail, das in der Forschung manchmal übersehen wird.

Im Auftrag der sozialistischen Stadtregierung organisierte Neurath Ausstellungen unter anderem mit dem Zweck, die Öffentlichkeit über das soziale Wohnbauprogramm der Stadt Wien zu informieren und die Bevölkerung über hygienische Maßnahmen aufzuklären, etwa um an-steckende Krankheiten wie die Tuberkulose in den Griff zu bekommen. Über allem stand das Ziel, die verborgenen Mechanismen von Wirt-schaft und Gesellschaft explizit zu machen. „Die meisten Menschen interessiert es vor allem zu erfahren, woher es kommt, dass in Zeiten höchster technischer Entwicklung Mangel und Elend herrschen“, so

11 Otto Neurath: „Soziale Aufklärung nach Wiener Methode“ (1933), in: ders., Ge-sammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 234f.; 239.

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Neurath 1933 im Wiener Gemeinde-blatt.12

Soziale Aufklärung war das Stichwort für Projekte zur Verbes-serung der konkreten Lebenslage. Überhaupt war Neurath der erste Soziologe, der sich über einen Le-benslagenkataster, einen Index der Lebensqualität, methodisch Ge-danken machte.13

Da die Wohn- und Arbeitsver-hältnisse in der Zwischenkriegs-zeit besonders im städtischen Bal-lungsraum ziemlich ausbeuterisch und damit desolat waren, verbun-den mit Krankheiten und hoher Säuglingssterblichkeit, engagierte sich die damals noch neue Sozialwissenschaft besonders in solchen Berei-chen. Es war die Zeit voller Hoffnung auf eine neue, sozialdemokrati-sche Politik und auch die neue Rolle der Philosophie, etwa in ihrer ra-dikalen Form des Wiener Kreises mit dem Versprechen logischer Klarheit und streng wissenschaftlicher Problemlösung.14 Man wollte nicht nur die metaphysischen Spekulationen des 19. Jahrhunderts überwinden, sondern suchte auch – nicht zuletzt herausgefordert durch die globalen Telegraphennetze und technischen Codes, die freilich nicht themati-siert wurden – nach neuen Kommunikationsformen. Anders als seine

12 Ebd., S. 232.13 Otto Neurath: „Inventory of the Standard of Living“, in: Zeitschrift für Sozialfor-

schung, hg. v. Max Horkheimer, Jg. 6, Heft 1, Paris 1937: 140–151.14 Vgl. den strengen Habitus von Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, pu-

bliziert 1921 in Wilhelm Ostwalds ANNALEN DER NATURPHILOSOPHIE, Bd. 14, Heft 3–4. Jahre später publizierte Otto Neurath zusammen mit Rudolf Carnap und Hans Hahn den Traktat Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis (Veröffentlichungen des Vereins Ernst Mach, Wien 1929).

Abbildung 3 ― Brief an Mrs. Moholy, 6. Juni 1941 (Ausschnitt). Neurath signierte seine Korrespondenz humorvoll mit einem selbst gezeichneten Elefanten. Quelle: Archiv des Autors.

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akademischen Kollegen zeigte Neurath sich auch von der neuen visu-ellen Kultur – von Charlie Chaplin bis Mikey Mouse – grundsätzlich angetan:

Der moderne Mensch ist vor allem Augenmensch. Die Reklame, das Aufklärungsplakat, Kino, illustrierte Zeitungen und Magazine bringen einen Großteil aller Bildung an die breiten Massen heran. Auch die, welche viele Bücher lesen, schöpfen immer mehr Anregung aus Bil-dern und Bilderreihen. Der ermüdete Mensch nimmt rasch etwas zur Kenntnis, was er lesend nicht mehr auffassen könnte. Darüber hinaus ist die bildhafte Pädagogik ein Mittel, weniger vorgebildeten Erwach-senen, die optisch empfänglicher zu sein pflegen, und auch der weniger begünstigten Jugend Bildungschancen zu eröffnen, die für sie sonst nicht in Frage kommen. […] Worte trennen, Bilder verbinden.15

Neurath diagnostizierte angesichts der Visualisierungen in Werbung, Unterhaltung und Publizistik ein neuartiges „Netz visueller Argumen-te“, das sich für Zwecke der sozialen Aufklärung gut anwenden ließe. Das Bilder-Esperanto, eine neue aus ikonischen Elementen aufgebaute internationale Bildersprache, sollte helfen, allgemein zugängliche Über-sichten zu schaffen und Zusammenhänge explizit zu machen, die im ab-strakten Ausdruck von Texten und Statistiken verdeckt blieben – daher wurde das Verbindende der Bildzeichen betont: lesbar für alle, unabhän-gig vom individuellen Bildungsstand (daher inkludierend, und nicht ex-kludierend im Sinne seines Slogans „Worte trennen, Bilder vereinen“).16

Von seiner Ausbildung her Nationalökonom, hatte Neurath ei-gentlich mit Bildern wenig zu tun. Aber er kannte natürlich die nun

15 Otto Neurath: „Bildstatistik nach Wiener Methode“ (1931), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 189f. An anderer Stelle heißt es auch: „Worte trennen, Bilder vereinen.“ (ebd.: 179).

16 Vgl. auch die Diagnose von McLuhan: „We return to the inclusive form of the icon.“ – in McLuhan 1964: 12.

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vermehrt eingesetzten Bildstatistiken und Diagramme, die als Vorläufer moderner Infografiken für mehr Anschaulichkeit der immer populärer und einflussreicher werdenden Bildstatistiken sorgten. Seine zentrale Idee war es, die einzelnen Bildelemente oder Piktogramme exempla-risch zu gestalten und deren Verwendung einheitlich zu systematisieren.

Es war ein historischer Glücksfall, dass Neurath für sein Projekt zum richtigen Zeitpunkt den Grafiker Gerd Arntz, einen Vertreter der Kölner Gruppe Progressiver Künstler, nach Wien verpflichten konnte. Dieser gab gemeinsam mit dem österreichischen Grafiker Erwin Ber-nath den Bildzeichen jenen Schliff, der zu den reduzierten grafischen Formen führte, die sich in den heute eingesetzten internationalen Pik-togrammen und Standardsymbolen noch finden. Ein anderer Wiener Mitarbeiter, Rudolf Modley, emigrierte bereits vor 1930 in die USA und setzte dort ein kommerzielles Projekt zur Standardisierung grafischer Symbole durch (Glyphs Inc.); sein Handbook of Pictorial Symbols ist übrigens heute noch am Buchmarkt zu finden.

Hier muss noch eine prägende Publikation genannt werden, die Neurath in seiner Bibliothek gehabt haben mag: Graphic Methods for Presenting Facts, von einem amerikanischen Ingenieur namens Willard Brinton 1914 veröffentlicht.17 Als Anlauf zur Systematisierung moder-ner Datenvisualisierung, deren Grundzügen man sich auch im Neuraths Wiener Büro verschrieben hatte, analysierte Brinton die damals gängi-gen Methoden. Vor allem der damals wie heute leider noch üblichen Praxis, Mengendarstellungen durch größere oder kleinere Bildsymbole darzustellen, stellte bereits Brinton das Verfahren gegenüber, Pikto-gramme von gleicher Größe seriell anzuordnen, um die visuelle Rezep-tion durch eine klare Vergleichbarkeit zu erleichtern.18

17 Vgl. auch Willard Cope Brinton: Graphic Presentation, New York 1939.18 Ob Brintons Publikation Neurath nun direkt oder lediglich indirekt bekannt war,

bleibt in der Forschung umstritten, ist aber von sekundärer Bedeutung. Serialisie-rung und Normierung in der Produktion entsprach einer Notwendigkeit, die der Erfahrung des Ersten Weltkrieges geschuldet war: hieraus ergab sich wohl erst-mals die Bedeutung der Massenproduktion im Sinne der Kriegswirtschaft.

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Neuraths Bilder-Esperanto – die Bilderstatistik nach Wiener Methode, die er ab 1936 Isotype nannte (International System of Typographic Picture Education) – bestand aus einfachen ikonischen Piktogrammen, die in-ternational unabhängig von der jeweiligen Landessprache einsetzbar sein sollten. Neurath schöpfte auch aus persönlicher Erfahrung, denn er war als gefragter Berater und Projektemacher viel unterwegs, bei den Behörden in Wien ebenso wie in anderen europäischen Städten, für die Gesundheitsbehörde in den Vereinigten Staaten war er ebenso tätig wie für die Sowjetregierung und zuletzt dann im Exil in den Niederlanden sowie in England.

Isotype ist eine moderne Bildersprache, die durch Verbindung von ge-wissen Symbolen Tatsachen darstellt. Sie wurde als Hilfssprache für die Verbreitung technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wissens geschaffen. […] Wir leben im Jahrhundert des Auges und ver-suchen darum, das Mittel der Veranschaulichung auch auf dem Gebiet des sozialen Fortschritts planmäßig anzuwenden. Diese Bestrebungen gehen glücklicherweise mit Bestrebungen einzelner Graphiker zusam-men, die vereinfachte Formen von Menschen und Gegenständen an-wenden, hauptsächlich, um soziale Zustände zu schildern. […] Unter dem Einfluß dieser graphischen Richtung entstanden die Symbole der neuen Bildersprache, die immer mehr den Charakter von „Typen“ be-kommen. […] Die Bildpädagogik geht von der Tatsache aus, daß ein deutliches, einfaches Bild schneller und leichter verständlich ist als ein Text.19

Von 1925 bis 1945, in zwei turbulenten Jahrzehnten also wurde die Internationale Bildersprache konzipiert und systematisiert: erklärtes Ziel war neben der interkulturellen Kommunikation die Schaffung eines

19 Otto Neurath: „Isotype und die Graphik“ (1935), in: ders., Gesammelte bildpädagogi-sche Schriften, Wien 1991: 342f.

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visuellen Thesaurus für Wissenschaftler, als Hilfsinstrument zur einheit-lichen Visualisierung von Daten in wissenschaftlichen Publikationen. Zusammen mit einigen Regeln für ihren Einsatz würden diese Bildzei-chen universal anwendbar sein, in Ausstellungen, Druckwerken, Dia-grammen, oder in filmischen Animationen. Neurath berichtet rück-blickend aus der Pionierphase der Arbeit am Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum:

Wir begannen unsere Symbole aus farbigem Papier auszuschneiden – Silhouetten von Tieren, Pflügen und Menschen –, beschränkten not-wendigerweise die Umrisse auf ein Minimum und vermieden nach Möglichkeit Linien im Inneren. Wir machten Druckstöcke, mit denen wir Hunderte von identischen Symbolen drucken konnten, die ausge-schnitten und auf unsere Tafeln geklebt wurden. Auf diese Weise ent-wickelten wir Schritt für Schritt eine sprachähnliche Technik, die gleich gut von Menschen verschiedener Nationalitäten verstanden wird.20

Bei der Anordnung der Bildzeichen zu den Mengenbildtafeln, die er Sprachbilder nannte, folgte Neurath nicht dem linearen Prinzip der Schrift, sondern es wurden etwa nach Vorbild chemischer Formeln Sze-nen (Mengenbilder) gestaltet, die nach zwei Richtungen (meist von links nach rechts und zugleich von oben nach unten) gelesen werden können und die oft eine mit Trennlinie angedeutete Vergleichsmöglichkeit bein-halten. Das Ergebnis war ein neues piktografisches System, dessen kla-rer Konstruktivismus sich Neuraths Sozialphilosophie ebenso verdankt wie der Gestaltung seiner künstlerischen Mitarbeiter sowie der „Trans-formationsarbeit“ von Zahlen und Daten zu Zeichen.21 Die Bildelemen-

20 Otto Neurath: „Von Hieroglyphen zu Isotypen“ (1946), in: ders., Gesammelte bildpä-dagogische Schriften, Wien 1991: 642 (= Neurath 2010, vgl. Anm. 3).

21 Neben dem Isotype-Lexikon an Symbolen und der Isotype-Grammatik als Re-geln ihrer Anwendung setzt Neurath die Isotype-Transformation als wesent-lichstes Gestaltungselement: „Der mit Isotype-Transformation Befaßte muß die gefährliche Kluft zwischen wissenschaftlichen und graphischen Experten über-

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te dieses Systems codierten im Wesentlichen statistisches Material, wel-ches in Lehrbildern und auf Schautafeln im öffentlichen Raum gezeigt wurde, in gedruckten Werken aber eher exemplarisch zur Anwendung kam. Die Ausstellungssituation mit ihrer Reaktion der Betrachter gehört mit zum Prozess des Argumentierens mit der Bildersprache (Lehrbil-der und Bild-Enzyklopädie sind weitere Anwendungsbereiche). Immer wieder betonte Neurath den aktivierenden Charakter der Isotype-Mon-tagen, die man ohne eigenes Zutun nicht „lesen“ könne – der visuelle Stil wäre demnach ein inkludierender, weil die Rezipienten an der Bedeu-tungskonstruktion auch aktiv beteiligt sind.

Die damals üblichen Balkendiagramme waren Neurath noch zu ab-strakt, seine Bildersprache bestand aus figurativen Elementen: Männer, Frauen, Kinder, Alte, Arbeiter, etc. Dazu wurde eine weitere Reihe von Symbolen und Signets entwickelt und im praktischen Einsatz zusehends systematisiert. Aus dem von Behörden vorliegenden Datenmaterial zum Thema eines konkreten bildstatistischen Auftrages wurde in einem kol-lektiven Arbeitsprozess die relevante Information herausgefiltert und dann in ein Schaubild transformiert. Danach folgte die eigentliche Vi-sualisierungsarbeit, die grafische Umsetzung zur Herstellung der Bildta-feln in normierten Größen für die jeweilige Ausstellung.

Neurath verlangte von Anbeginn seiner Tätigkeit auch nach Dauer-modellen, nach „einheitlichen Dimensionen für Graphika und Photos“, die sich für eine visuelle Gewöhnung und Tradierung im Sinne pädago-gischer Zwecke eignen.

Wir brauchen für unsere Bildersprache eine allgemeine Liste mit einer beschränkten Anzahl von Zeichen für den internationalen Gebrauch. […] Auf diese internationale Liste, die alle notwendigen Regeln über Formen und Farben enthält, werden internationale Bildpädagogik und

brücken.“ – Otto Neurath: „Isotype-Institut und Erwachsenenbildung“ (1942), in: ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, Wien 1991: 592.

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Bildinformation gegründet wer-den.22

Betrachten wir nun etwas genauer die gestalterische Methode dieser neuen Bildersprache, so fällt auf, dass sie erstens ohne Perspektive auskommt und zweitens streng geometrisch aus der Umrisslinie, also diagrammatisch entwickelt wur-

de, wobei möglichst klare Hinweise auf spezifische Differenzen integ-riert wurden. Aus der Umrisszeichnung für Personen wird ein einfaches Signet, ein schnell erfassbares visuelles Zeichen, welches durch einfa-che Zusätze differenziert werden kann. Kommt ein grafisches Element hinzu, etwa eine Schiebermütze als Kopfbedeckung, dann bedeutet die Figur nach damaligen Bekleidungskonventionen einen Arbeiter, und hat dieser seine untätigen Hände in die Hosentaschen gesteckt, bedeutet sie einen Arbeitslosen, bzw. durch die vor der Brust verschränkten Arme einen streikenden Arbeiter. Statt der Mütze des Arbeiters zeigt die Schirm-kappe einen Dienstmann, ein eleganter Hut einen Angestellten, während etwa ein Strohhut den Asiaten bezeichnet, oder krauses Haar den Afri-kaner. Mehr als drei Differenzierungskriterien in einem Bildzeichen ließ Neurath in seiner Methode nicht zu:

A picture which makes good use of the system gives all the important facts in the statement it is picturing. At the first look you see the most important points, at the second, the less important points, at the third, the details, at the forth, nothing more – if you see more, the teaching picture is bad.23

22 Otto Neurath: „Internationale Bildersprache“ (1936), in: ders., Gesammelte bildpäda-gogische Schriften, Wien 1991: 364f.

23 Otto Neurath: „The Chief Points of the Isotype System“, in: International Picture Language, London 1936: 27 (= Neurath 1991: 363).

Abbildung 4 ― Figurenzeichen für die fünf Völkergruppen der Erde (Ausschnitt), Quelle: Otto Neurath, International Picture Language, London 1936: 47.

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Die Schwierigkeit der Visualisierung also lag darin, dass für die Dif-ferenzierungen entsprechend prägnante Unterscheidungsmerkmale ge-funden werden mussten. Mengenbilder bilden nicht individuelle Ange-stellte, Asiaten oder Afrikaner ab, sondern Mengenangaben zu statistischen Aussagen über Beschäftigungsgruppen oder ganze Völker und Nationen. Bilder, deren Einzelheiten jedem Betrachter klar sind, wären dann auch international verständlich, weil sie die begrifflichen Grenzen der Ver-balsprache hinter sich lassen und durch ihre anschauliche Konkretion zu „klarem Denken“ einladen.

Natürlich fällt einem das Grundproblem eines derartigen Verfahrens sofort auf: Visuelle Zeichen spiegeln eine jeweils soziale Wirklichkeit wi-der, die unterschiedlichste, historisch kontingente Bedeutungen hervor-heben. Kulturen verändern sich laufend, und soziale Äußerlichkeiten nehmen dementsprechend neue Form und Bedeutung an. So tragen Ar-beiter heutzutage jene Schiebermützen nicht mehr, mit denen sie in den Piktogrammen gekennzeichnet wurden, und Hüte aus Reisstroh sind bei urbanisierten Asiaten auch nicht mehr üblich. Überdies kann, was in einem Kontext als angemessen erscheint, unter veränderten Vorzeichen diskriminierend wirken oder schlicht unverständlich werden – Dienst-männer an Bahnhöfen etwa kennt man nur mehr aus alten Filmen, ebenso Dienstmädchen in Uniform, wie sie in bürgerlichen Haushalten einst üblich waren. Zudem gibt es erhebliche kulturelle Unterschiede in der Symboltechnik, die in jedem Kulturkreis ihre eigene Tradition hat.

Doch Neurath strebte keineswegs an, eine ideale Sprache zu schaf-fen, vielmehr lag ihm an einer visuellen Hilfssprache für möglichst vielseitige Anwendungen.24 Deren Einsatz wäre dort, wo Menschen und Kulturen aufeinandertreffen – öffentliche Orte, Bahnhöfe, Flug-häfen, Hotels – und auch die Wissensvermittlung bei unterschiedlichen Bildungsniveaus innerhalb einer Kultur würde davon profitieren. Ein

24 Otto Neurath: „Isotype as a Helping Language“, in: International Picture Language, London 1936: 17ff (= Neurath 1991: 359ff.).

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internationaler „Zivilisationsatlas“ war geplant, eine unabhängig vom jeweiligen Bildungsstand funktionierende und für alle zugängliche Möglichkeit zur Navigation im gesamten gesellschaftlichen Wissen:

Der gewöhnliche Bürger sollte in der Lage sein, uneingeschränkt Infor-mationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie er geographisches Wissen von Karten und Atlanten erhalten kann.25

Die Verwaltung und technische Organisation kulturellen Wissens, des-sen war Neurath gewiss, würde sich mit den neuen medientechnischen Möglichkeiten im 20. Jahrhundert ganz grundlegend verändern. 1851 begann in London die große Schau der Weltausstellungen, und mit der Telekommunikation und der Wirtschaftsvernetzung haben sich die kul-turelle Wahrnehmung und das Bewusstsein kontinuierlich globalisiert. Neue Formate für Ausstellungen und Museen waren gefragt – Neurath kooperierte mit dem belgischen Privatgelehrten Paul Otlet, der mit seinem Mundaneum ab der Weltausstellung in Brüssel 1910 eine analog aufgebaute Wissensdatenbank betrieb.26 Die Museen der Zukunft, so Otto Neurath, würden ganz ungeahnte Formen annehmen, die mit der dem 19. Jahrhundert entstammenden bildungsbürgerlich repräsentativen In-szenierung von Wissenschaft und Kunst nichts mehr gemein hätten.27

Neurath selbst experimentierte mit allen denkbaren Formen der mu-sealen Inszenierung von Informationen: Schautafeln, Reliefs, bewegli-chen Modellen, animierten Filmbildern – kurzum, eine Beschränkung der Mittel zur Entwicklung von geeigneten Medien des Wissens (oder Datenträgern) kannte er nicht. Generell aber wurden von ihm Logik und Argumentationskraft von Bildern gegenüber Texten aufgewertet.

25 Otto Neurath: „Von Hieroglyphen zu Isotypen“ (1946), in: ders., Gesammelte bildpä-dagogische Schriften, Wien 1991: 645.

26 Frank Hartmann (Hg.): Vom Buch zur Datenbank. Paul Otlets Utopie der Wissensvisuali-sierung, Berlin 2012.

27 Vgl. ebd., S. 143ff.

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Gleichzeitig zeigt sein Projekt, wie die Möglichkeiten der Montage als medialer Schlüsseltechnologie des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlich seriöse Nutzung zu übersetzen wäre. Über die Veranschaulichung empi-rischer Fakten hinaus sollte eine gesellschaftspolitische Anwendung des Wissens erreicht werden. Die Bildersprache wurde nicht systematisiert, um Gesellschafts- und Wirtschaftsprozesse zu illustrieren, sondern um sonst kaum wahrnehmbare Zusammenhänge – etwa zwischen Woh-nungsqualität und Säuglingssterblichkeit, oder maschineller Rationali-sierung und Arbeitslosigkeit – ins Bewusstsein zu heben und kritische Diskurse über diese Verhältnisse in Gang zu bringen.

Das Vermächtnis von Neuraths Programm ist, dass die modernen Bildwelten einer aufmerksamen Gestaltung bedürfen und dass ein ge-schultes Wissen um die Herstellung und die Organisation der neuen

Abbildung 5 ― Mitarbeiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums bei der bildstatischen Arbeit im Wiener Büro (Ullmannstraße 44), Fotograf unbekannt, Quelle: Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading, GB.

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Visualität von entscheidender Bedeutung ist. Spuren seiner Bildzeichen, auch Piktogramme genannt, finden sich überall: kein öffentlicher Raum ohne das Symbol für den Notausgang, für den Feuerlöscher, für Erste Hilfe und ähnliches, vor allem aber bei Visualisierungen mit appellati-vem Charakter. Informationsgrafiken sind außerdem zu einem unver-zichtbaren Bestandteil journalistischer Berichterstattung geworden, und es ist anzunehmen, dass dabei der Trend zu interaktiven Grafiken sich künftig noch verstärken wird.

Eine rasche Auffassung von Informationen ist essentiell in der so-genannten Wissensgesellschaft, und damit wird die Visualisierung von Daten zu einer immer anspruchsvolleren Aufgabe, die in den gegen-wärtigen Medien keineswegs immer gut gelöst ist.28 Die Bildersprache hängt zudem ab von der Qualität der zugelieferten Daten, auf denen die Grafiken beruhen. Neurath nutzte die Zahlen des Wiener Statistischen Amtes und wusste um die Schwierigkeiten ihrer Transformation in vi-suelle Zeichen. Heutige Infografiken lassen meist nicht mehr erkennen, auf welchen Daten die Bilder beruhen und nach welchen Modellen sie übersetzt worden sind. Hier lässt sich Vieles übertreiben oder auch re-lativieren.

Wie eine Infografik gelingen kann, wirft uns zurück auf die Frage, wie eine Visualisierung überhaupt funktioniert: „debabelization is a very hard and complex work.“29 In diesem Punkt blieb Neurath sehr streng: Eine gelungene Visualisierung funktioniert nicht, wenn sie einfach schön und ansprechend ist, sondern dann und eben nur dann, wenn sie nicht erst umständlich erklärt werden muss.

Die Gestaltung von Piktogrammen im öffentlichen Raum unterliegt inzwischen internationalen Normvorschriften und hat jeden systemati-sierenden Anspruch im Sinne einer sprachähnlichen Technik abgelegt. Die Verständlichkeit grafischer Symbole ist damit freilich noch nicht

28 Vgl. die teils erschreckende Beliebigkeit der wöchentlichen Beiträge in der Die Zeit, Serie „Wissen in Bildern“, www.zeit.de/serie/wissen-in-bildern

29 Neurath 1936: 13 (vgl. Anm. 10).

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garantiert. Wer hätte sich noch nie darüber gewundert, welches Ver-halten ein bestimmtes Zeichen ihm oder ihr nahelegen soll? Dennoch hat die Voraussage eines visuellen Esperanto in unserer Zeit sich im wesentlichen erfüllt:

Pictorial and other experience today is filled with metaphors from all the cultures of the globe. Whereas the written vernaculars have always locked men up within their own cultural monad, the language of tech-nological man, while drawing on all the cultures oft he world, will nec-essarily prefer those media which are least national. The language of visual form is, therefore, one which lies to hand as an unused Esperan-to at everybody’s command. The language of vision has already been adopted in the pictograms of scientific formula and logistics. These ideograms transcend national barriers as easily as Chaplin or Disney and would seem to have no rivals as the cultural base for cosmic man.30

Auch die Datenmengen, die moderne Wissenschaft generiert, lassen sich für Menschen zunehmend nur noch mittels Algorithmenbasierter Visualisierung verarbeiten. Otto Neurath war keineswegs ihr Erfinder, aber er glaubte mit guten Gründen an die Verfahren der, in heutiger Diktion, statistischen Inferenz.31 Nicht nur Metaphysik war ihm ein Gräuel, sondern auch die bürgerliche Person mit ihrem Urteil oder ihrer ideolo-gischen Meinung – deshalb galt ihm über alles die Parole Statistik ist Sache des sozialistischen Proletariats! 32

Konsequent hat Otto Neurath abseits sämtlicher kunsthistorischer oder bildwissenschaftlicher Allüren den Gedanken verfochten, dass der

30 McLuhan 1953: 127.31 Das bedeutet, dass je nach Software-Anwendung Verweise, Empfehlungen oder

auch Entscheidungen aus einer bestehenden Wissensbasis generiert werden. Be-stimmte Aussagen und Bewertungen lassen sich auch algorithmisch, ohne direktes menschliches Zutun aus dem aufgezeichneten Verhalten von Nutzern ableiten.

32 Otto Neurath: „Statistik und Proletariat“ (1927), in: ders., Gesammelte bildpädagogi-sche Schriften, Wien 1991: 78.

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Mensch nicht nur ein sprachliches, sondern ein immer auch visuell den-kendes Wesen ist.33 Bildzeichen ersetzen die Sprache nicht, aber Vieles muss dank Bildern und Piktogrammen nicht explizit ausformuliert und kann leicht entsprechend visuell kommuniziert werden. Doch es man-gelt nach wie vor am entsprechenden Bewusstsein für die systematische Gestaltung und Anwendung der Bildzeichen. Dennoch kann Neurath als Pionier für die Ausbildung visueller Medienkompetenz bezeichnet werden. Mit einer gut hergestellten Schautafel ließen sich schließlich nicht nur einzelne Fakten darstellen, sondern ganze Argumentationen verbreiten. Man begann ab den 1920er Jahren von „public opinion“ (öffentlicher Meinung) zu sprechen, und was Neurath wollte, war nichts weniger als die „education of public opinion“, denn die öffentliche Meinung beruht eigentlich nicht nur auf dem journalistischen Vermittlungsprozess, son-dern ebenso auf einem partizipativen Bildungsprozess, der die visuelle Ebene für den Wissenszugang benötigt – eine Einsicht, die mittlerweile zum Basiswissen von Kommunikationsexperten und Medienberatern gehört.

33 Vgl. dazu auch jene Revision der Einbildungskraft, die eingefordert wurde von Rudolf Arnheim: Visual Thinking, Los Angeles 1969.