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Biodiversität & Naturschutz 2. Geschichte und Gegenwart der Biodiversität

Biodiversität & Naturschutz - Landau · Rekonstruktion der Vergangenheit durch Fossilien • Fossilfunde nicht für alle Zeiträume in gleichem Maße vorhanden;

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Biodiversität & Naturschutz

2. Geschichte und Gegenwart der Biodiversität

Aussterberaten in der Vergangenheit

Primack 1995

Aussterberaten in der Vergangenheit

Primack 1995

Rekonstruktion der Vergangenheit durch Fossilien

• Fossilfunde nicht für alle Zeiträume in gleichem Maße vorhanden; <1 bis wenige % der Arten als Fossilien dokumentiert

• nur ein geringer Teil der Fossilien entdeckt• Nachweise von Fossilien zugunsten der häufigeren,

weiter verbreiteten, länger existenten Arten verschoben• Organismengruppen mit Schalen oder Skeletten besser

dokumentiert• 95 % der Fossilien von marinen Arten, jedoch 85 % der

rezenten Arten terrestrisch• verlässliche Aussagen über Aussterberaten nur für

höhere Taxa möglich

Rekonstruktion der Vergangenheit durch molekulare Hinweise

• Stammbäume zunehmender Ähnlichkeit ermöglichen Hypothesen zu phylogenetischen Verwandtschaftsmustern

• „molekulare Uhr“ gibt Hinweise zum Zeitpunkt evolutionärer Ereignisse

• Differenzen zwischen fossilen und molekularen Hinweisen:– z.B. Trennung der Primaten von den übrigen

Placentatiere vor 90 oder 55 Mill. Jahren

Beginn des Lebens

• Entstehung der Erde (und des Sonnensystems) vor 4,5 Milliarden Jahren

• sichtbare Fossilien reichen zurück bis zum Beginn des Kambriums (vor 570 Mill. Jahren)

• älteste Mineralien ca. 3,8 Milliarden Jahre zeigen Hinweise auf Prokaryoten:– mikroskopische Untersuchungen von Dünnschliffen

zeigten winzige runde oder hantelförmige Strukturen– ungewöhnliche Mengenverhältnisse der C12- und

C13-Kohlenstoffisotope

Vorherrschaft der Bakterien

• bis vor 670 Mill. Jahren wurde die biologische Vielfalt durch Bakterien bestimmt

• Äon Archaikum („Erd-Antike“) geprägt durch das Fehlen freien Sauerstoffs in der Atmosphäre

• Entwicklung vielfältiger Stoffwechselsysteme• Besiedlung vielfältiger, teilw. extremer

Lebensräume

Die erste Umweltkatastrophe

• Freisetzung von Sauerstoff durch Cyanobakterien (Entstehung vor ca. 2,6 Milliarden Jahren)

• zunächst Reaktion des freien Sauerstoffs mit Kalzium und Eisen

• Zunahme des atmosphärischen Sauerstoffs führte zum Sterben vieler Prokaryotengruppen bzw. zur Verdrängung in sauerstofffreie Lebensräume

• Austausch der Kohlendioxid- und Methanhaltigen Atmosphäre durch Sauerstoff führten zur ersten Eiszeit

• Ausbreitung von Bakterien, die Sauerstoff nutzen können, und Evolution der Eukaryota

Differenzierung des Lebens

• Entstehung mehrzelliger Organismen vor ca. 1,4 Milliarden Jahren (60 % der „Lebensgeschichte“)

• Metazoen (mehrzellige Tiere) seit 600 Mill. Jahren (80% der „Lebensgeschichte“)

• bis Ende des Kambriums (vor 500 Mill. Jahren) Entwicklung aller wichtigen rezenten Tierstämme / Baupläne (Kambrische Explosion)

• Höhepunkt der anatomischen Diversität zur Zeit der kambrischen Explosion

• weitere Entwicklung: wenigen Arten & viele Bauplänen → mehr Arten & weniger Bauplänen

Differenzierung des Lebens

Aus GASTON & SPICER 1998

Gen-überein-stimmungMensch/ Frucht-fliege 60 %

Differenzierung des Lebens

Logistisches Wachstum Exponentielles Wachstum

Lineares Wachstum

Entwicklung der Anzahl von Familien:a) alle Organismen

• exponentielles Wachstumb) kontinentale Organismen

• exponentielles Wachstumc) marine Organismen

• logistisches Wachstum

Aus GASTON & SPICER 1998

Entwicklung des Lebens

Aus GASTON & SPICER 1998

Diversifizierung

I. Gefäßsporen-pflanzen (Pteridophyta)

II. Nacktsamer (Gymno-spermae)

III. Bedecktsamer (Angio-spermae)

Aus GASTON & SPICER 1998

Diversifizierung

a) Kieferlose (Agnatha)b) Cimolesta

Aus GASTON & SPICER 1998

DiversifizierungHoher Anteil der Biodiversität wird begründet durch wenige Gruppen, z.B. Animalia > Arthropoda > Insecta > Diptera & Hymenoptera & Coleoptera

Diversifizierung

Purvis & Hector 2000

Mögliche Begründungen:a) Artefakt der Klassifizierungb) Zufall

c) Entwicklung von „key innovations“ (Samenverbreitung durch Tiere, Insektenflug, Phytophagie) ermöglicht überdurchschnittliche Diversifizierung

DiversifizierungHoher Anteil der Biodiversität wird begründet durch wenige Gruppen, z.B. Animalia > Arthropoda > Insecta > Diptera & Hymenoptera & Coleoptera

Aussterben• Rate der Diversifizierung > Austerberate →

Zunahme der Artenvielfalt

• Austerberate > Diversifizierung → Abnahme der Artenvielfalt

• Austerberate = Diversifizierung → Artenvielfalt konstant

• > 90 % der Arten sind im Laufe der Erdgeschichte wieder ausgestorben

Austerben

Aus GASTON & SPICER 1998

Lebensspanne von 17500 ausgestorbenen Gattungen mariner Tiere.

Aussterben

Aus GASTON & SPICER 1998

Massenaussterben betreffen nur 4 % aller ausgestorbener Arten.

Merkmale von Massenaussterben

• Qualität der Verluste: kompl. Evolutionslinien verschwinden, mehrere Lebensräume beeinflusst, dominante Taxa werden ersetzt

• Maßstab: globale Folgen, kurzzeitig, viele Organismengruppen (75-95 % der Arten)

• Überleben: durch Zufall oder aufgrund von Eigenschaften, die sich als vorteilhaft erwiesen

• Fortgesetztes Glück: Taxa, die frühere Massensterben überlebten, überleben auch spätere

• Dauer der Erholung: 2-10 Mill. Jahre

• Wie viele Arten gibt es aktuell auf der Erde?

• Mit welcher Methode kann die Artenzahl bestimmt werden?

Wie viele Arten gibt es?

Methoden zur Schätzung der Artenvielfalt (notwendige Annahmen):

1. Schätzung durch Experten (ausreichende Kenntnis der Experten)

2. Entwicklungen in der Beschreibung von Arten (Anzahl der beschriebenen Arten folgt einer Sättigungskurve)

3. Verhältnis von beschriebenen zu unbeschriebenen Arten in Stichproben (repräsentative Stichprobe)

4. Extrapolation von gut untersuchten Flächen (Fläche repräsentativ für größere Gebiete)

5. Globale Schätzung auf der Basis gut untersuchter Gruppen (konstantes Verhältnis der Gruppen)

Schätzungen der biologischen Diversität

Raven (1985):

Ausgangspunkt:in der Gruppe der Säuger und Vogel gibt es in den Tropen doppelt so viele Arten wie in den gemäßigten Breiten

Übertragung dieses Verhältnis auf alle Organismen: →1,5 Millionen sind bisher beschrieben, davon leben 2/3 in den gemäßigten Breiten leben

Mio 3 2 32 Mio 1,5

32Mio 1,5 =⋅⋅+⋅

Schätzungen der biologischen Diversität

Hawksworth (1991):

Ausgangspunkt: Verhältnis von Pilzarten zu Arten von Gefäßpflanzen in verschiedenen Regionen der Welt beträgt 1:1,4 bis 1:6

Übertragung dieses Verhältnis weltweit

→1,5 mio Pilzarten (bei 270 000 Arten von Gefäßpflanzen)

Mioxx

5,11

5,52700002700005,5

1≈

⋅=⎯→⎯=

Erwin (1982):

Untersuchung der Käferfauna im Dach von 19 tropischen Bäumen (Luehea seemannii) in Panama

Ergebnis:• 955 Käferarten (ohne Rüsselkäfer)• 1200 Käferarten (mit Rüsselkäfern)

Schätzungen der biologischen Diversität

Dobson 1997

1. Annahme: 162 wirtsspezifische Käferarten

Schätzungen der biologischen Diversität

Dobson 1997

Stork 1997

2. Annahme: 40% aller Arthropodenarten der Baumkrone sind Käfer 405 Arthropodenarten pro Baumart in der Krone

3. Annahme: nach Schätzungen gibt es 50 000 tropische Baumarten 20,25 Mio wirtsspezifische Arthropodenarten in der Baumkrone

Schätzungen der biologischen Diversität

Dobson 1997

Dobson 1997

4. Annahme: Fauna der Baumkronen ist doppelt so reichhaltig wie die des Waldbodens

ca. 30 Mio tropische Arthropodenarten

Schätzungen der biologischen Diversität

Dobson 1997

Zusammenhang zwischen Körpergröße und Artenvielfalt:

xLS −~S: ArtenanzahlL: Körperlängex: 1,5 – 3,0

10 – 50 Mio Arten weltweit

Schätzungen der biologischen Diversität

Stork 1997

Species Turnover:

• Ansatz aus dem marinen Bereich

• Bestandserhebungen in der Tiefsee entlang von Transekten von jeweils 176 km: 90 677 Organismen, 798 Arten

Feststellung:

• mit zunehmender Entfernung von der Küste steigt die Anzahl neu gefundener Arten rapide an

• dann ging die Rate wieder zurück auf 1 neue Art/km

Extrapolation dieser Daten: 107 Arten

Schätzungen der biologischen Diversität

Wie viele Arten gibt es?

Gruppe beschriebene Arten (x103)

geschätzte Artenzahl (x103) Genauigkeit der Schätzung

Bakterien 4 3000 50 gering

Pilze 72 2700 200 mäßig

Protozoen 40 200 60 gering

Pflanzen 270 500 300 gut

Nematoden 25 1000 100 gering

Krebse 40 200 75 mäßig

Insekten 950 100.000 2000 mäßig

Mollusken 70 200 100 mäßig

Chordata 45 55 50 gut

Wie viele Arten gibt es?

Mittlere Anzahl von Arten die im Zeitraum von 1978 bis 1987 jährlich neu beschrieben wurden (Summe pro Jahr ca. 13.000).

Aus GASTON & SPICER 1998

Wie viele Arten gibt es?

Aus GASTON & SPICER 1998

Kummulative Anzahl beschriebener Arten aus der Gruppe der Säugetiere.

Wie viele Arten gibt es?

Aus GASTON & SPICER 1998

Kummulative Anzahl beschriebener Arten aus der Gruppe der Thalassinidea (Decapoda, Eucarida, Malacostraca).

Zusammenfassung• Zunahme der Arten im Laufe der Erdgeschichte; mind.

90 % der Arten bereits wieder ausgestorben• Zunahme folgt keinem konstanten Trend, sondern

beinhaltet Phasen schneller Radiation, stabile Phasen und kurze Ereignisse von Massenaussterben

• Massensterben sind für das Verschwinden nur eines geringen Anteils der Arten verantwortlich, beeinflussen aber die Entwicklung nachhaltig

• Biodiversität wird geprägt durch wenige Gruppen; wohingegen die meisten Gruppen nur wenige Arten enthalten

• Schätzung der Artenvielfalt basiert auf unterschiedlichen Schätzverfahren; nur geringer Anteil der Arten bisher beschrieben

Diskussion• Die Geschichte des Lebens ist geprägt durch 5 große

Aussterbeereignisse. Wenn Artensterben ein natürlicher Prozess ist, der die Evolution und Diversifizierung neuer Gruppen ermöglicht, warum sollten wir uns über den prognostizierten Rückgang der Artenvielfalt Sorgen machen? Wie unterscheidet sich die gegenwärtige Phase von früheren?

• Welche Folgerungen, beunruhigende oder hoffnungsvolle, lassen sich aus der Geschichte des Lebens für die Gegenwart und Zukunft der Biodiversität ableiten?

• Die Schätzungen zur Artenvielfalt variieren in einem weiten Bereich. Bei der gegenwärtigen Rate der Beschreibungen würde es noch ca. 1000 Jahre dauern, bis alle Arten erfasst wären. Was sind mögliche Lösungen für dieses Problem? Wo sollten Prioritäten gesetzt werden?