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Einmal in der Woche gebe ich mir die Nadel. 18 Nadeln verschaffen mir eine Stunde lang totale Entspannung vom Uni-Stress. Dabei versetzt mir die bildhübsche Akupunk- turschwester über die Nadeln Stromstöße, die mich wild zu- cken lassen. Das entspannt aber derart, dass ich neuerdings manchmal dabei sogar einschlafe … Seit 4000 Jahren regen asiatische Ärzte den Fluss des Chi an, entlang der unsichtbaren Energiekanäle, Meridiane genannt. Alles Einbildung? Eines Wissenschaftlers unwürdig? Unse- riös? Typischer Placebo-Effekt? Westliche Mediziner bemängeln bisher: Zufällig gemischt und doppelblind lasse sich häufig kein Unterschied zum klas- sischen Placebo nachweisen. Bei Migräne und Kopfschmerzen wird die Akupunktur all- gemein anerkannt. Ob aber die laut Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) vorgegebenen Akupunkturpunkte tatsächlich die einzigen wirksamen Einstichorte für Nadeln sind, ist offen. Welche molekularen Mechanismen hinter der schmerzlin- dernden Therapie mit Nadeln stehen, ist noch ungeklärt. Ich war auch lange reserviert, doch nun fand ich in der höchst seriösen Nature Neuroscience einen überraschenden Artikel. In besagtem Artikel berichtet das Team um Maiken Nedergaard von der University of Rochester (USA) über Ver- suche mit Mäusen und Akupunktur. Das Molekül Adenosin spielt dabei die Hauptrolle. Adenosin kann mit Phosphatbin- dungen das wichtige Adenosintriphoshat (ATP) bilden. Mit ATP wird Energie in chemischer Form dorthin transportiert, wo sie im Körper dringend gebraucht wird. Adenosin ist aber auch als Botenstoff bei Schlaf und Im- munreaktionen bekannt und ein natürlicher Schmerzhemmer. 19 Lob der Nadel 19.06.10 R. Renneberg, V. Berkling, Biotechnologische Leckerbissen, DOI 10.1007/978-3-642-37111-0_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Biotechnologische Leckerbissen || Lob der Nadel

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Page 1: Biotechnologische Leckerbissen || Lob der Nadel

Einmal in der Wochegebe ich mir die Nadel.18 Nadeln verschaffenmir eine Stunde langtotale Entspannungvom Uni-Stress. Dabei versetzt mir die bildhübsche Akupunk-turschwester über die Nadeln Stromstöße, die mich wild zu-cken lassen. Das entspannt aber derart, dass ich neuerdingsmanchmal dabei sogar einschlafe … Seit 4000 Jahren regen asiatische Ärzte den Fluss des Chi an,entlang der unsichtbaren Energiekanäle, Meridiane genannt.

Alles Einbildung? Eines Wissenschaftlers unwürdig? Unse-riös? Typischer Placebo-Effekt?

Westliche Mediziner bemängeln bisher: Zufällig gemischtund doppelblind lasse sich häufig kein Unterschied zum klas-sischen Placebo nachweisen.

Bei Migräne und Kopfschmerzen wird die Akupunktur all-gemein anerkannt. Ob aber die laut Traditioneller ChinesischerMedizin (TCM) vorgegebenen Akupunkturpunkte tatsächlichdie einzigen wirksamen Einstichorte für Nadeln sind, ist offen.Welche molekularen Mechanismen hinter der schmerzlin-dernden Therapie mit Nadeln stehen, ist noch ungeklärt.

Ich war auch lange reserviert, doch nun fand ich in derhöchst seriösen Nature Neuroscience einen überraschendenArtikel. In besagtem Artikel berichtet das Team um MaikenNedergaard von der University of Rochester (USA) über Ver-suche mit Mäusen und Akupunktur. Das Molekül Adenosinspielt dabei die Hauptrolle. Adenosin kann mit Phosphatbin-dungen das wichtige Adenosintriphoshat (ATP) bilden. MitATP wird Energie in chemischer Form dorthin transportiert,wo sie im Körper dringend gebraucht wird.

Adenosin ist aber auch als Botenstoff bei Schlaf und Im-munreaktionen bekannt und ein natürlicher Schmerzhemmer.

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Lob der Nadel

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R. Renneberg, V. Berkling, Biotechnologische Leckerbissen,DOI 10.1007/978-3-642-37111-0_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Maiken Nedergaard wies nun nach, dass Akupunktur die-sen Stoff aktiviert. Die Forscher behandelten Mäuse mit einerschmerzenden Pfote so, wie man es auch bei Menschen ma-chen würde. Die Mäuse wurden am Zunsanli-Punkt, einembekannten Akupunkturpunkt nahe des Knies, genadelt.

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Die Sitzung dauerte dreißig Minuten. Auch die üblicheDrehung der Nadeln mit der Hand wurde durchgeführt – eineMaßnahme, die die Wirkung des Eingriffs verstärken soll.

Ob verstärkt oder nicht, eine Wirkung war jedenfalls da.Nedergaard fand heraus, dass der Adenosin-Gehalt im Gewebein unmittelbarer Nähe der Nadelstiche um das 24-fache ge-stiegen war. Die dergestalt behandelten Mäuse empfanden umrund zwei Drittel weniger Schmerzen. Dies zu überprüfen,nutzte man Verhaltenstests, z.B. wurden die Pfoten mit einerBürste gereizt und die Zeit des »Pfotenrückziehens« gemes-sen.

Adenosin vermittelt seine schmerzlindernde Wirkung of-fenbar durch Bindung an einen speziellen, so genannten A1-Rezeptor. Mäuse, denen das dazugehörige Gen aus demErbgut entfernt worden war, sprachen auch nicht auf die Aku-punktur-Therapie an.

Nedergaard und ihre Kollegen suchten nun nach Substan-zen, die den physiologischen Effekt der Akupunktur verstär-ken. Sie stießen auf Desoxycoformycin, das bislang vor allemin der Krebstherapie eingesetzt wurde. Der Stoff hemmt denAbbau von Adenosin im Gewebe. Dadurch stieg der Adenosin-Level in den Muskeln um das Dreifache. Dementsprechendhielt auch die schmerzlindernde Wirkung dreimal so lange an.

Die sehr sorgfältig ausgeführten Versuche zeigen, dass Ade-nosin ein neuer »Player« in diesem ganzen Prozess ist. Das istein sehr interessanter Beitrag für unser wachsendes Verständ-nis der Akupunktur und ihrer komplexen Wirkung. Adenosindürfte nicht der letzte Stoff gewesen sein, den es in diesemZusammenhang zu entdecken gibt.

Ob sich nun Ost und West – Meridianlehre und mole-kulare Medizin – annähern, bleibt abzuwarten. Ich halte es da mit dem großen Paracelsus, der sagte: »Wer heilt, hat Recht!«

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