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Frau Keseling stapft durch Stadt und Land „No-Gluten“, so steht es neuerdings auf einem Schild in unserer Kreuzberger Nachbarschaft. Es hängt in einem Schaufenster, hinter dem vor einiger Zeit ein neues Café eröffnet hat. In der Vergangenheit haben sich schon mehrere Café-Betreiber in den Räumen versucht. Aber das Geschäft lief offenbar nicht befriedigend, außerdem, so sah es aus, hatten die jungen Betreiber alle irgendwann die Nase voll von den langen Arbeitszeiten im eigenen Geschäft. Deswegen wechselten sie immer wieder. Nun also „No-Gluten“. Was haben wir zu erwarten? Bis zur vergangenen Woche interessierte mich das Wort Gluten wenig. Ja, ich weiß, dass es etwas mit Weizen zu tun hat. Aber die Inhaltsstoffe von Lebens- mitteln beschäftigen mich meistens nur dann, wenn es um den Geschmack geht. Gut, ich weiß, dass Zu- cker und Fette, Koffein und Alkohol einen nicht schöner machen. Aber wer sich zu viele Sorgen macht, wird ja auch nicht schöner. Deswegen habe ich es bisher vermieden, mich über Modekrank- macher zu sorgen wie Gluten oder Laktose. Lange wusste ich nicht einmal, wie man Gluten ausspricht. Ich hatte es für einen Plural gehalten und auf der ersten Silbe betont, was sich extrem harmlos anhörte. Betont man es hinten und verwendet es im Singular, dann reimt sich Gluten auf Arsen, was ganz gut zu seinem Ruf passt. Immer öfter begegne ich in letzter Zeit Menschen, die sich weigern, Brot, Nudeln oder Pizza zu essen, weil sie gegen Gluten allergisch sind oder es für sehr gesundheitsschädlich halten. Insofern ist das neue Café nur konsequent. Es bedient, wenn man so will, eine neue Angst vor dem Essen. Überhaupt scheint das Thema Essen die Menschen immer mehr zu emotionalisieren. Als es neulich bei der Eröffnung eines veganen Imbisses im benachbar- ten Neukölln zu einer Art Massenhysterie kam, we- gen der schließlich die Polizei anrückte, wurde das überdeutlich. Grund für die Aufregung: Der Imbiss bietet veganes Essen an. Sicher, es ist eine nette Geste, Essen ohne tierische Bestandteile anzubieten. Neu ist das nicht. Neu ist aber, dass zur Eröffnung eines sol- chen Imbisses gleich hunderte Gäste kommen und sich, so war es zumindest in Neukölln, drängeln wie Verhungernde. Das wirft doch Fragen auf. Insofern bin ich ganz froh, dass wenigsten die Eröff- nung des glutenfreien Café in unserer Nachbarschaft ohne Polizeieinsatz vonstatten ging. Meistens ist das Geschäft auch heute noch ziemlich leer – wenn es nicht sowieso geschlossen ist. Denn die Betreiber haben die Tradition ihrer Vorgänger fortgesetzt, das Café nur an manchen Tagen zu öffnen, und das auch gern nur ein paar Stunden am Tag. Inzwischen wundert mich das nicht mehr. Zwar gilt Kreuzberg als extrem angesagt, was seine gastromi- schen Angebote betrifft. Allein in unserer Nachbar- schaft gibt es drei Shishabars, zwei Griechen (einen ohne Essen), ein türkisches Restaurant mit engli- schem Namen, vier Italiener, einen Inder, ein Thai- Restaurant und mehrere Cafés mit ähnlichem Selbst- verwirklichungscharakter wie das neue. Ein Alleinstellungsmerkmal hat das neue Café allerdings doch: Es ist das einzige, das im Namen kein Angebot, sondern dessen Verneinung trägt. Etwas nicht anzubieten, diese Idee ist tatsächlich neu. Und irgendwie typisch Kreuzberg, wo eine gewisse Ver- weigerungshaltung ja schon immer dazugehörte. Denn im Grunde waren es ja die Kunden, die damit angefangen haben, Fragen zu stellen nach laktosefrei- er Milch, glutenfreier Pasta und zuckerfreiem Ku- chen. Sogar Fruchtzucker steht mittlerweile auf dem Index, habe ich gehört. Bloß: Was soll man dann noch verweigern, wenn außen am Geschäft schon „gluten- frei“ dran steht? Ich bin gespannt. Mehr Gluten, bitte Berliner Illustrirte Zeitung è Sonntag, 19. Juni 2016 Hintergrund 7 VON SUSANNE LEINEMANN Manchmal finden sich Experten dort, wo man sie nicht erwartet. Paul Gerhard Fabricius ist so einer. Gut, der Mann ist wirklich ein Experte, aller- dings auf dem Feld der Urologie. Das ist natürlich eine sehr spezielle Welt, rund um das beste Stück des Mannes: die Testikel, zu deutsch der Hoden. Testikel leitet sich übrigens vom lateinischen Wort „testis“ ab, der Zeuge. Professor Fabricius kann auch gleich erklären, wie es dazu kam. Im alten Rom schwor der Zeuge vor Gericht nicht mit der Hand auf dem Herzen, sondern mit der Hand auf dem Gemächt – das beste Stücke halt, das würde Mann niemals mit einer Falschaussage in Be- drängnis bringen. Deshalb spricht man im Engli- schen von einem „Testimonial“, deshalb lesen wir im Alten und Neuen Testament. Alles wegen der Lenden des Mannes. Aber darum geht es hier nicht. Paul Gerhard Fabricius ist nämlich noch ein an- derer Experte – ein Experte für die islamische Welt. Einmal im Monat fliegt er für einige Tage nach Kuwait, wo er zusammen mit einem be- freundeten kuwaitischen Arzt eine Klinik betreibt. Das geht schon seit Beginn der 1990er-Jahre so. In ein paar Tagen ist er wieder unterwegs, „und jetzt ist Ramadan. Da muss ich meinen Tee in das Schubfach unter die Schreibtischplatte stellen, wenn ein Patient hereinkommt“. Als Nicht-Mos- lem muss er natürlich nicht beim Ramadan mit- machen. Aber er darf in einem Land wie Kuwait nicht vor Sonnenuntergang vor Moslems essen oder trinken. So viel Respekt wird verlangt. Der Ramadan sei eine ganz eigene Zeit, erzählt Fabrici- us. Im Fernsehen beispielsweise laufen dann nur heitere Unterhaltungsfilme und Klamauk. Es ist nicht schwer, mit Professor Fabricius ein interessantes Gespräch zu führen, zumindest, wenn man sich für die arabische Welt interessiert. Denn er weiß einfach viel, kennt viele Leute. Das sei der Vorteil eines Arztes – in seine Praxis kom- men ganz verschiedene Leute, mit ganz verschie- denem Hintergrund. Und anders als in Deutsch- land, wo Gespräche beim Arzt ja meist eher sach- lich, kühl und zügig ablaufen, wird in Kuwait erwartet, dass ein Doktor sich Zeit nimmt. Ein bisschen höfliches Plaudern, ein langsames He- ranführen an das Problem. Die Leidensgeschichte des Patienten lässt er sich in „epischer Breite“ er- zählen, natürlich auf Arabisch, ein Übersetzer hilft dann weiter. Kurz: Ein Arzt erfährt hier viel über seine Patienten, aber auch über Land und Kultur. All das hat Paul Gerhard Fabricius jetzt in einem Buch zusammengefasst: „Berlin – Kuwait. Arzt in zwei Welten“. Und weil er eben kein klassischer Autor ist und auch kein Nahost-Experte, sondern ein neugieriger medizinischer Spezialist mit meh- reren Jahrzehnten Auslandserfahrungen, ist ein sehr wechselvolles, unterhaltsames, auch ein we- nig irrlichterndes Buch herausgekommen – eine Mischung aus Autobiografie, Sachbuch, Anekdo- tenansammlung und Gedanken. Ein Buch, aus dem man allerlei erfährt über ein Land, für das man von Berlin aus rund zehn Stunden Flug inklu- sive einem Zwischenstopp braucht. Man entdeckt lesend mehr über eine Region und auch eine Reli- gion, die uns spätestens seit dem 11. September 2001 zunehmend Kopfzerbrechen bereitet. Wie tickt der Islam? Das könnte Professor Fabricius so auch nicht beantworten. Aber zumindest weiß er ganz konkret, worunter er leidet. In Kuwait ist das beispielsweise die Fettleibig- keit. „Die Vorliebe für Fast Food und Cola hat in diesem Land um sich gegriffen, die Folgen sind jetzt schon absehbar“, schreibt er. Es ist heiß in Ku- wait, klar, ein Wüstenstaat halt. Deshalb fährt man im klimatisierten Auto bei McDonald’s vor, kauft dort allerlei kalorienreiche Kost, verspeist sie auch im Auto – 900 Kilokalorien und null Bewegung. Eingekauft wird in Malls, die sich kilometerlang hinstrecken, aber auch dort wird schnell das Ron- dell mit Cafés und Snackbars aufgesucht. „Un- mengen von Eis“ werden dann „reingeschaufelt“. Paul Gerhard Fabricius ist dagegen ein gut pro- portionierter Mann von 70 Jahren, groß und im- posant steht er da in seinem weißen Arztkittel, so ein bisschen wie Dr. Brinkmann. Eigentlich könn- te er längst in Pension sein, aber dafür ist er wohl zu umtriebig. Darum arbeitet er weiterhin einige Tage im Monat als Urologe in einer Privatklinik in Zehlendorf – und tatsächlich, das hat mit einer Klinik, wie wir normalen Kassenpatienten sie ken- nen, wenig zu tun. Man betritt einen Lounge-Be- reich, die Empfangsdamen stehen hinter einem Tresen. Alles ist exotisch angehaucht, einladende Sofas, bunt gefärbte Tücher an der Wand. Well- ness? Strandbar? Biegt man um die Ecke, werden die Behandlungsräume klassischer: steril und weiß. Ein sehr moderner Gynäkologen-Stuhl steht in der Ecke. Aber der ist doch nur etwas für Frau- en, oder? „Ich teile die Räume mit zwei anderen Ärzten, darunter einem Gynäkologen“, sagt Pro- fessor Fabricius. „Aber manchmal setze ich auch einen Mann da drauf.“ Wieder was gelernt. Wie oft ist er in Kuwait? „Einmal im Monat. Meist fünf bis sechs Tage“, erzählt Fabricius. Er hat ein Apartment dort, der Wechsel geht ganz leicht. „Du fährst auf Montage“, hat sein erwachsener Sohn schon gewitzelt. Der hat mit Urologie nichts zu tun, sondern ist Jazz-Musiker in München. Fa- bricius hat dort in Bayern anfangs gearbeitet, in den 1980ern, nachdem er mit „acht Koffern, einer Geige und zwei Meerschweinchen“ aus der DDR ausgereist war – samt Frau und beiden Kindern. Vorher hatten sie in Dresden gewohnt. Sie muss- ten das Land binnen 48 Stunden verlassen. Vielleicht ist es diese Erfahrung, eine radikale Ausreise und ein totaler Neuanfang, der ihn für andere Kulturen, auch für die Flüchtlinge dieses Sommers, so offen macht. Als er in den 1980er- Jahren im Westen ankam, musste er ganz neu an- fangen, hat, auch mit ein wenig Glück, im Münch- ner Klinikum Großhadern Fuß gefasst. Als er dann, viel später, nach dem Mauerfall, nach Berlin kam und in Moabit die urologische Abteilung übernahm, bewarb sich bei ihm ein junger kuwai- tischer Student als Assistent, der sich spezialisie- ren wollte: Ali Mehdizadeh, sein späterer Partner. Ein Kuwaiti mit iranischen Wurzeln, ein Schiit in einem Land, in dem die Sunniten die Mehrheit bil- den. Auch deshalb, weil er eben Schiit und damit eine Minderheit ist, wollte Dr. Mehdizadeh da- nach in Kuwait eine eigene Klinik aufbauen. „In einem normalen Krankenhaus wäre er nie nach ganz oben gekommen“, sagt Fabricius, der seinen Kollegen auch fachlich sehr schätzt. Und der über- haupt ein Fan der persischen Tugenden ist, die den preußischen wohl ziemlich nahe kommen. „Akkuratesse“ und „Pünktlichkeit“ entspricht der „persischen Kultur und Tradition“. Die Schwestern in der Klinik am Persischen Golf stammen übrigens alle aus Süd-Indien, aus Kerala, und sind christlichen Glaubens. Gibt es denn keine Schwestern direkt aus Kuwait, arbeiten die Frauen dort nicht? „Doch“, sagt Fabricius, „95 Prozent der kuwaitischen Frauen arbeiten.“ Er- staunlich, wer hätte das gedacht! Allerdings meist nur vier, fünf Stunden am Tag. Und es gibt im Land Kuwait nicht genug Kuwaitis, um alle Arbeitsplätze zu besetzen. Von den 3,52 Millionen Einwohnern sind nur 30 Prozent Einheimische. Der Rest lebt als Gastarbeiter im Land – darunter viele Inder, Ägypter und Philippinen. Wie ist es denn, in einem Land zu arbeiten, in dem Frauen ganz klar in der zweiten Reihe stehen? Die unter Kopftuch und weiten Gewändern in blassen Tönen oder schwarzer Farbe verschwin- den, nur Gesicht, Hände und Füße dürfen für ,fremde’ Männer zu sehen sein. „Manchmal treibt es mir die Zornesröte ins Gesicht“, sagt Paul Ger- hard Fabricius. Wenn er etwa sieht, wie ein kuwai- tischer Mann aus dem Supermarkt geschlendert kommt, mit etwas Abstand dahinter seine Frau, die mit drei, vier Tüten schwer beladen ist. Frauen als Lasttiere. Andererseits spielt Respekt in Fami- lien eine große Rolle. Besonders der Respekt der Jungen gegenüber den Alten. Es ist kompliziert. Kompliziert ist es auch, dort zu operieren. Zu- mindest, wenn etwas schief geht. Einmal operierte Professor Fabricius einen jungen Mann, der einen großen Kinderwunsch hatte und seine Chancen erhöhen wollte. Bei der OP kam es zu einer Blu- tung – „kann mal passieren“ –, aber der Patient überstand alles gut. Trotzdem kam er vorsichts- halber zur Kontrolle für einige Tage auf die Inten- sivstation. Alles ganz normal. Nicht normal war allerdings, dass Fabricius kurz darauf von der örtlichen Polizei der Pass ab- genommen wurde. Es stellte sich heraus, dass der junge Mann einem mächtigen Beduinen-Clan an- gehörte. Und die wollten den Professor im Land behalten, bis der Nachwuchs vollständig genesen wieder zuhause auftauchte. Nach Berlin zurück? Nein, das ginge leider jetzt nicht. Schließlich, so ar- gumentierte der Clan, sei er – Professor Fabricius – der Spezialist. Angenommen, es gäbe unerwartet eine weitere Komplikation und er sei in Deutsch- land, was solle man dann machen? Deshalb setzten sie ihn, sehr höflich, für zwei Wochen im Land fest. „Die Beduinen luden mich sogar zum gemeinsa- men Essen ein, um mir zu versichern, dass sie es auf keinen Fall bös mit mir meinen.“ Das Essen findet in einem Zelt in der Wüste statt, Besteck gibt es nicht, Reis, Soße und Fleisch werden mit der rechten (niemals der linken!) Hand zu Kugeln ge- formt. Irgendwann später ist der junge Mann dann gesund und der Pass wieder da. Und wenn in naher Zukunft eine OP mal schief gehen sollte, was macht er dann? „Sofort zum Flughafen und den nächsten Flieger nehmen – egal wohin. Nicht mehr ins Apartment, nicht mehr packen. Jede Minute zählt dann“, antwortet Paul Gerhard Fabricius seltsam gelassen. Oder sollte man sagen abgeklärt? In wenigen Tagen geht es wieder los. In eine ganz andere fremde Welt. Paul Gerhard Fabricius: „Berlin – Kuwait. Arzt in zwei Welten“, 255 Seiten, vbb-Verlag, 22,99 Euro Der Beduinenarzt Seit Jahrzehnten pendelt Paul Gerhard Fabricius zwischen zwei Welten – Berlin und Kuwait. Dort betreibt der Urologe eine Klinik. Nun hat er ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben. Wir haben ihn besucht. Allerdings in Zehlendorf Ein Zelt vor der Klinik tief im Berliner Süden – Paul Gerhard Fabricius in Arbeitskleidung Amin Akhtar Obwohl die Einheimischen nicht mehr wie Beduinen leben, spielen Zelte und Kamelfarmen immer noch eine große Rolle. In der Wüste verbringen Ku- waitis ihre Frei- zeit. Paul Ger- hard Fabricius (rote Jacke) besucht hier einen Kollegen KGUU (Kuwaiti German Urology Unit)

BIZ7 2016-06-19 BM RGB-MID - verlagberlinbrandenburg.de · erwartet, dass ein Doktor sich Zeit nimmt. Ein bisschen höfliches Plaudern, ein langsames He-ranführen an das Problem

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Page 1: BIZ7 2016-06-19 BM RGB-MID - verlagberlinbrandenburg.de · erwartet, dass ein Doktor sich Zeit nimmt. Ein bisschen höfliches Plaudern, ein langsames He-ranführen an das Problem

Frau Keseling stapft durch Stadt und Land

„No-Gluten“, so steht es neuerdings auf einem Schild in unserer Kreuzberger Nachbarschaft. Es hängt in einem Schaufenster, hinter dem vor einiger Zeit ein neues Café eröffnet hat. In der Vergangenheit haben sich schon mehrere Café-Betreiber in den Räumen versucht. Aber das Geschäft lief offenbar nicht befriedigend, außerdem, so sah es aus, hatten die jungen Betreiber alle irgendwann die Nase voll von den langen Arbeitszeiten im eigenen Geschäft. Deswegen wechselten sie immer wieder.

Nun also „No-Gluten“. Was haben wir zu erwarten? Bis zur vergangenen Woche interessierte mich das Wort Gluten wenig. Ja, ich weiß, dass es etwas mit Weizen zu tun hat. Aber die Inhaltsstoffe von Lebens-mitteln beschäftigen mich meistens nur dann, wenn es um den Geschmack geht. Gut, ich weiß, dass Zu-cker und Fette, Koffein und Alkohol einen nicht schöner machen. Aber wer sich zu viele Sorgen macht, wird ja auch nicht schöner. Deswegen habe

ich es bisher vermieden, mich über Modekrank-macher zu sorgen wie Gluten oder Laktose. Lange wusste ich nicht einmal, wie man Gluten ausspricht. Ich hatte es für einen Plural gehalten und auf der ersten Silbe betont, was sich extrem harmlos anhörte. Betont man es hinten und verwendet es im Singular, dann reimt sich Gluten auf Arsen, was ganz gut zu seinem Ruf passt.

Immer öfter begegne ich in letzter Zeit Menschen, die sich weigern, Brot, Nudeln oder Pizza zu essen, weil sie gegen Gluten allergisch sind oder es für sehr gesundheitsschädlich halten. Insofern ist das neue Café nur konsequent. Es bedient, wenn man so will, eine neue Angst vor dem Essen.

Überhaupt scheint das Thema Essen die Menschen immer mehr zu emotionalisieren. Als es neulich bei der Eröffnung eines veganen Imbisses im benachbar-ten Neukölln zu einer Art Massenhysterie kam, we-

gen der schließlich die Polizei anrückte, wurde das überdeutlich. Grund für die Aufregung: Der Imbiss bietet veganes Essen an. Sicher, es ist eine nette Geste, Essen ohne tierische Bestandteile anzubieten. Neu ist das nicht. Neu ist aber, dass zur Eröffnung eines sol-chen Imbisses gleich hunderte Gäste kommen und sich, so war es zumindest in Neukölln, drängeln wie Verhungernde. Das wirft doch Fragen auf.

Insofern bin ich ganz froh, dass wenigsten die Eröff-nung des glutenfreien Café in unserer Nachbarschaft ohne Polizeieinsatz vonstatten ging. Meistens ist das Geschäft auch heute noch ziemlich leer – wenn es nicht sowieso geschlossen ist. Denn die Betreiber haben die Tradition ihrer Vorgänger fortgesetzt, das Café nur an manchen Tagen zu öffnen, und das auch gern nur ein paar Stunden am Tag.

Inzwischen wundert mich das nicht mehr. Zwar gilt Kreuzberg als extrem angesagt, was seine gastromi-

schen Angebote betrifft. Allein in unserer Nachbar-schaft gibt es drei Shishabars, zwei Griechen (einen ohne Essen), ein türkisches Restaurant mit engli-schem Namen, vier Italiener, einen Inder, ein Thai-Restaurant und mehrere Cafés mit ähnlichem Selbst-verwirklichungscharakter wie das neue.

Ein Alleinstellungsmerkmal hat das neue Café allerdings doch: Es ist das einzige, das im Namen kein Angebot, sondern dessen Verneinung trägt. Etwas nicht anzubieten, diese Idee ist tatsächlich neu. Und irgendwie typisch Kreuzberg, wo eine gewisse Ver-weigerungshaltung ja schon immer dazugehörte. Denn im Grunde waren es ja die Kunden, die damit angefangen haben, Fragen zu stellen nach laktosefrei-er Milch, glutenfreier Pasta und zuckerfreiem Ku-chen. Sogar Fruchtzucker steht mittlerweile auf dem Index, habe ich gehört. Bloß: Was soll man dann noch verweigern, wenn außen am Geschäft schon „gluten-frei“ dran steht? Ich bin gespannt.

Mehr Gluten, bitte

Berliner Illustrirte Zeitung è Sonntag, 19. Juni 2016 Hintergrund 7

VON SUSANNE LEINEMANN

■Manchmal finden sich Experten dort, wo man sie nicht erwartet. Paul Gerhard Fabricius ist so einer. Gut, der Mann ist wirklich ein Experte, aller-dings auf dem Feld der Urologie. Das ist natürlich eine sehr spezielle Welt, rund um das beste Stück des Mannes: die Testikel, zu deutsch der Hoden. Testikel leitet sich übrigens vom lateinischen Wort„testis“ ab, der Zeuge. Professor Fabricius kann auch gleich erklären, wie es dazu kam. Im alten Rom schwor der Zeuge vor Gericht nicht mit der Hand auf dem Herzen, sondern mit der Hand auf dem Gemächt – das beste Stücke halt, das würde Mann niemals mit einer Falschaussage in Be-drängnis bringen. Deshalb spricht man im Engli-schen von einem „Testimonial“, deshalb lesen wir im Alten und Neuen Testament. Alles wegen der Lenden des Mannes.

Aber darum geht es hier nicht. Paul Gerhard Fabricius ist nämlich noch ein an-

derer Experte – ein Experte für die islamische Welt. Einmal im Monat fliegt er für einige Tage nach Kuwait, wo er zusammen mit einem be-freundeten kuwaitischen Arzt eine Klinik betreibt. Das geht schon seit Beginn der 1990er-Jahre so. In ein paar Tagen ist er wieder unterwegs, „und jetzt ist Ramadan. Da muss ich meinen Tee in das Schubfach unter die Schreibtischplatte stellen, wenn ein Patient hereinkommt“. Als Nicht-Mos-lem muss er natürlich nicht beim Ramadan mit-machen. Aber er darf in einem Land wie Kuwait nicht vor Sonnenuntergang vor Moslems essen oder trinken. So viel Respekt wird verlangt. Der Ramadan sei eine ganz eigene Zeit, erzählt Fabrici-us. Im Fernsehen beispielsweise laufen dann nur heitere Unterhaltungsfilme und Klamauk.

Es ist nicht schwer, mit Professor Fabricius eininteressantes Gespräch zu führen, zumindest, wenn man sich für die arabische Welt interessiert. Denn er weiß einfach viel, kennt viele Leute. Das sei der Vorteil eines Arztes – in seine Praxis kom-

men ganz verschiedene Leute, mit ganz verschie-denem Hintergrund. Und anders als in Deutsch-land, wo Gespräche beim Arzt ja meist eher sach-lich, kühl und zügig ablaufen, wird in Kuwait erwartet, dass ein Doktor sich Zeit nimmt. Ein bisschen höfliches Plaudern, ein langsames He-ranführen an das Problem. Die Leidensgeschichte des Patienten lässt er sich in „epischer Breite“ er-zählen, natürlich auf Arabisch, ein Übersetzer hilft dann weiter. Kurz: Ein Arzt erfährt hier viel über seine Patienten, aber auch über Land und Kultur.

All das hat Paul Gerhard Fabricius jetzt in einemBuch zusammengefasst: „Berlin – Kuwait. Arzt in zwei Welten“. Und weil er eben kein klassischer Autor ist und auch kein Nahost-Experte, sondern ein neugieriger medizinischer Spezialist mit meh-reren Jahrzehnten Auslandserfahrungen, ist ein sehr wechselvolles, unterhaltsames, auch ein we-nig irrlichterndes Buch herausgekommen – eine Mischung aus Autobiografie, Sachbuch, Anekdo-tenansammlung und Gedanken. Ein Buch, aus dem man allerlei erfährt über ein Land, für das man von Berlin aus rund zehn Stunden Flug inklu-sive einem Zwischenstopp braucht. Man entdeckt lesend mehr über eine Region und auch eine Reli-gion, die uns spätestens seit dem 11. September 2001 zunehmend Kopfzerbrechen bereitet. Wie tickt der Islam? Das könnte Professor Fabricius so auch nicht beantworten. Aber zumindest weiß er ganz konkret, worunter er leidet.

In Kuwait ist das beispielsweise die Fettleibig-keit. „Die Vorliebe für Fast Food und Cola hat in diesem Land um sich gegriffen, die Folgen sind jetzt schon absehbar“, schreibt er. Es ist heiß in Ku-wait, klar, ein Wüstenstaat halt. Deshalb fährt man im klimatisierten Auto bei McDonald’s vor, kauft dort allerlei kalorienreiche Kost, verspeist sie auch im Auto – 900 Kilokalorien und null Bewegung. Eingekauft wird in Malls, die sich kilometerlang hinstrecken, aber auch dort wird schnell das Ron-dell mit Cafés und Snackbars aufgesucht. „Un-mengen von Eis“ werden dann „reingeschaufelt“.

Paul Gerhard Fabricius ist dagegen ein gut pro-portionierter Mann von 70 Jahren, groß und im-posant steht er da in seinem weißen Arztkittel, so ein bisschen wie Dr. Brinkmann. Eigentlich könn-te er längst in Pension sein, aber dafür ist er wohl zu umtriebig. Darum arbeitet er weiterhin einige Tage im Monat als Urologe in einer Privatklinik in Zehlendorf – und tatsächlich, das hat mit einer Klinik, wie wir normalen Kassenpatienten sie ken-nen, wenig zu tun. Man betritt einen Lounge-Be-reich, die Empfangsdamen stehen hinter einem Tresen. Alles ist exotisch angehaucht, einladende Sofas, bunt gefärbte Tücher an der Wand. Well-ness? Strandbar? Biegt man um die Ecke, werden die Behandlungsräume klassischer: steril und weiß. Ein sehr moderner Gynäkologen-Stuhl steht in der Ecke. Aber der ist doch nur etwas für Frau-en, oder? „Ich teile die Räume mit zwei anderen Ärzten, darunter einem Gynäkologen“, sagt Pro-fessor Fabricius. „Aber manchmal setze ich auch einen Mann da drauf.“ Wieder was gelernt.

Wie oft ist er in Kuwait? „Einmal im Monat.Meist fünf bis sechs Tage“, erzählt Fabricius. Er hat ein Apartment dort, der Wechsel geht ganz leicht. „Du fährst auf Montage“, hat sein erwachsener Sohn schon gewitzelt. Der hat mit Urologie nichts zu tun, sondern ist Jazz-Musiker in München. Fa-bricius hat dort in Bayern anfangs gearbeitet, in den 1980ern, nachdem er mit „acht Koffern, einer Geige und zwei Meerschweinchen“ aus der DDR ausgereist war – samt Frau und beiden Kindern. Vorher hatten sie in Dresden gewohnt. Sie muss-ten das Land binnen 48 Stunden verlassen.

Vielleicht ist es diese Erfahrung, eine radikaleAusreise und ein totaler Neuanfang, der ihn für andere Kulturen, auch für die Flüchtlinge dieses Sommers, so offen macht. Als er in den 1980er-Jahren im Westen ankam, musste er ganz neu an-fangen, hat, auch mit ein wenig Glück, im Münch-ner Klinikum Großhadern Fuß gefasst. Als er dann, viel später, nach dem Mauerfall, nach Berlin kam und in Moabit die urologische Abteilung

übernahm, bewarb sich bei ihm ein junger kuwai-tischer Student als Assistent, der sich spezialisie-ren wollte: Ali Mehdizadeh, sein späterer Partner. Ein Kuwaiti mit iranischen Wurzeln, ein Schiit in einem Land, in dem die Sunniten die Mehrheit bil-den. Auch deshalb, weil er eben Schiit und damit eine Minderheit ist, wollte Dr. Mehdizadeh da-nach in Kuwait eine eigene Klinik aufbauen. „In einem normalen Krankenhaus wäre er nie nach ganz oben gekommen“, sagt Fabricius, der seinen Kollegen auch fachlich sehr schätzt. Und der über-haupt ein Fan der persischen Tugenden ist, die denpreußischen wohl ziemlich nahe kommen. „Akkuratesse“ und „Pünktlichkeit“ entspricht der „persischen Kultur und Tradition“.

Die Schwestern in der Klinik am PersischenGolf stammen übrigens alle aus Süd-Indien, aus Kerala, und sind christlichen Glaubens. Gibt es denn keine Schwestern direkt aus Kuwait, arbeitendie Frauen dort nicht? „Doch“, sagt Fabricius, „95 Prozent der kuwaitischen Frauen arbeiten.“ Er-staunlich, wer hätte das gedacht! Allerdings meist nur vier, fünf Stunden am Tag. Und es gibt im Land Kuwait nicht genug Kuwaitis, um alle Arbeitsplätze zu besetzen. Von den 3,52 Millionen Einwohnern sind nur 30 Prozent Einheimische. Der Rest lebt als Gastarbeiter im Land – darunter viele Inder, Ägypter und Philippinen.

Wie ist es denn, in einem Land zu arbeiten, indem Frauen ganz klar in der zweiten Reihe stehen? Die unter Kopftuch und weiten Gewändern in blassen Tönen oder schwarzer Farbe verschwin-den, nur Gesicht, Hände und Füße dürfen für ,fremde’ Männer zu sehen sein. „Manchmal treibt es mir die Zornesröte ins Gesicht“, sagt Paul Ger-hard Fabricius. Wenn er etwa sieht, wie ein kuwai-tischer Mann aus dem Supermarkt geschlendert kommt, mit etwas Abstand dahinter seine Frau, die mit drei, vier Tüten schwer beladen ist. Frauen als Lasttiere. Andererseits spielt Respekt in Fami-lien eine große Rolle. Besonders der Respekt der Jungen gegenüber den Alten. Es ist kompliziert.

Kompliziert ist es auch, dort zu operieren. Zu-mindest, wenn etwas schief geht. Einmal operierte Professor Fabricius einen jungen Mann, der einen großen Kinderwunsch hatte und seine Chancen erhöhen wollte. Bei der OP kam es zu einer Blu-tung – „kann mal passieren“ –, aber der Patient überstand alles gut. Trotzdem kam er vorsichts-halber zur Kontrolle für einige Tage auf die Inten-sivstation. Alles ganz normal.

Nicht normal war allerdings, dass Fabriciuskurz darauf von der örtlichen Polizei der Pass ab-genommen wurde. Es stellte sich heraus, dass der junge Mann einem mächtigen Beduinen-Clan an-gehörte. Und die wollten den Professor im Land behalten, bis der Nachwuchs vollständig genesen wieder zuhause auftauchte. Nach Berlin zurück? Nein, das ginge leider jetzt nicht. Schließlich, so ar-gumentierte der Clan, sei er – Professor Fabricius – der Spezialist. Angenommen, es gäbe unerwartet eine weitere Komplikation und er sei in Deutsch-land, was solle man dann machen? Deshalb setztensie ihn, sehr höflich, für zwei Wochen im Land fest.„Die Beduinen luden mich sogar zum gemeinsa-men Essen ein, um mir zu versichern, dass sie es auf keinen Fall bös mit mir meinen.“ Das Essen findet in einem Zelt in der Wüste statt, Besteck gibtes nicht, Reis, Soße und Fleisch werden mit der rechten (niemals der linken!) Hand zu Kugeln ge-formt. Irgendwann später ist der junge Mann dann gesund und der Pass wieder da.

Und wenn in naher Zukunft eine OP mal schiefgehen sollte, was macht er dann? „Sofort zum Flughafen und den nächsten Flieger nehmen – egal wohin. Nicht mehr ins Apartment, nicht mehr packen. Jede Minute zählt dann“, antwortet Paul Gerhard Fabricius seltsam gelassen. Oder sollte man sagen abgeklärt? In wenigen Tagen geht es wieder los. In eine ganz andere fremde Welt.

Paul Gerhard Fabricius: „Berlin – Kuwait. Arzt in zwei Welten“, 255 Seiten, vbb-Verlag, 22,99 Euro

Der BeduinenarztSeit Jahrzehnten pendelt Paul Gerhard Fabricius zwischen zwei Welten – Berlin und Kuwait. Dort betreibt der Urologe eine Klinik. Nun hat er ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben. Wir haben ihn besucht. Allerdings in Zehlendorf

Ein Zelt vor der Klinik tief im Berliner Süden – Paul Gerhard Fabricius in Arbeitskleidung Amin Akhtar

Obwohl die Einheimischen nicht mehr wie Beduinen leben, spielen Zelte und Kamelfarmen immer noch eine große Rolle. In der Wüste verbringen Ku-waitis ihre Frei-zeit. Paul Ger-hard Fabricius (rote Jacke) besucht hier einen KollegenKGUU (Kuwaiti German

Urology Unit)