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Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes Das Verhängnis jeder Kunsttheorie ist in dem Gemeinplatz ausge- sprochen, über den Geschmack ließe sich nicht streiten. Weshalb eigentlich nicht? Weil vorausgesetzt wird, daß ein Streit über be- stimmte bzw. bestimmbare Gegenstände seinen Sinn nur darin haben könne, die eindeutige Bestimmtheit des Gegenstandes auch zur Form des Resultates der.Auseinandersetzung über den Gegen- stand werden zu lassen. Immer also sucht die Ästhetik aus ihrem Dilemma herauszukommen, indem sie sich die theoretische Ob- jektivierung zum wenn nicht erreichbaren, so doch näherungs- weise erstrebbaren Modell setzt. So hat Kant die subjektive All- gemeinheit des ästhetischen Urteils als die einzige Möglichkeit gesehen, das ästhetische Gegenstandsverhältnis davor zu bewah- ren, zu einer völlig unverbindlichen Relation der absoluten Indivi- dualität zu werden. Diese Intention als solche muß jede Philoso- phie der Kunst teilen; nur ist die Frage, ob der Weg Kants der einzig mögliche ist. Liegt die ästhetische Subjektivität wirklich nur und primär bei den Subjekten, oder ist der ästhetische Gegenstand seinerseits und essentiell vieldeutig, und zwar so, daß diese Vieldeutigkeit nicht seine Defizienz gegenüber dem theoretischen Gegenstand ausmacht, sondern seine ästhetische Funktion erst ermöglicht? Vieldeutigkeit ist geradezu der Index, unter dem die Gegenständ- lichkeit des Ästhetischen sich ausweist. Es ist keineswegs selbst- verständlich, daß das durch den Dichter oder bildenden Künstler hervorgebrachte Werk eine eigene ästhetische Gegenständlichkeit besitzen muß. Gemeint ist natürlich nicht diejenige physische raumzeitliche Objektivität, die mich ein Gemälde ergreifen und forttragen, den Malgrund oder die Farben chemisch untersuchen, seine Größenangaben nachprüfen läßt. Sondern gemeint ist, daß ein solches Werk auch eine rein vermittelnde oder verweisende, nicht selbst unmittelbar gegenständliche Bedeutung haben kann, indem es z.B. an erlebbare Situationen gegenüber der Natur oder aus der inneren Erfahrungswelt des Menschen erinnert oder, wie auch gern gesagt worden ist, etwas noch nicht Gesehenes, aber prinzipiell Sichtbares, sichtbar macht bzw. mit einem Akzent ver- 112

Blumenberg Die Essentielle Vieldeutigkeit

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Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes

Das Verhängnis jeder Kunsttheorie ist in dem Gemeinplatz ausge­sprochen, über den Geschmack ließe sich nicht streiten. Weshalb eigentlich nicht? Weil vorausgesetzt wird, daß ein Streit über be­stimmte bzw. bestimmbare Gegenstände seinen Sinn nur darin haben könne, die eindeutige Bestimmtheit des Gegenstandes auch zur Form des Resultates der.Auseinandersetzung über den Gegen­stand werden zu lassen. Immer also sucht die Ästhetik aus ihrem Dilemma herauszukommen, indem sie sich die theoretische Ob­jektivierung zum wenn nicht erreichbaren, so doch näherungs­weise erstrebbaren Modell setzt. So hat Kant die subjektive All­gemeinheit des ästhetischen Urteils als die einzige Möglichkeit gesehen, das ästhetische Gegenstandsverhältnis davor zu bewah­ren, zu einer völlig unverbindlichen Relation der absoluten Indivi­dualität zu werden. Diese Intention als solche muß jede Philoso­phie der Kunst teilen; nur ist die Frage, ob der Weg Kants der einzig mögliche ist.

Liegt die ästhetische Subjektivität wirklich nur und primär bei den Subjekten, oder ist der ästhetische Gegenstand seinerseits und essentiell vieldeutig, und zwar so, daß diese Vieldeutigkeit nicht seine Defizienz gegenüber dem theoretischen Gegenstand ausmacht, sondern seine ästhetische Funktion erst ermöglicht? Vieldeutigkeit ist geradezu der Index, unter dem die Gegenständ­lichkeit des Ästhetischen sich ausweist. Es ist keineswegs selbst­verständlich, daß das durch den Dichter oder bildenden Künstler hervorgebrachte Werk eine eigene ästhetische Gegenständlichkeit besitzen muß. Gemeint ist natürlich nicht diejenige physische raumzeitliche Objektivität, die mich ein Gemälde ergreifen und forttragen, den Malgrund oder die Farben chemisch untersuchen, seine Größenangaben nachprüfen läßt. Sondern gemeint ist, daß ein solches Werk auch eine rein vermittelnde oder verweisende, nicht selbst unmittelbar gegenständliche Bedeutung haben kann, indem es z.B. an erlebbare Situationen gegenüber der Natur oder aus der inneren Erfahrungswelt des Menschen erinnert oder, wie auch gern gesagt worden ist, etwas noch nicht Gesehenes, aber prinzipiell Sichtbares, sichtbar macht bzw. mit einem Akzent ver-

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sieht. Oder die Funktion des Werkes kann darin bestehen, Gedan­ken mitzuteilen, sie am Modell der Anschaulichkeit deutlicher oder eindrucksvoller nahezubringen.

Etwas ganz anderes ist es, wenn ein moderner Autor fordert, der Dichter dürfe niemals einen Gedanken äußern, sondern einen Ge­genstand, und das heiße, daß er noch den Gedanken die Haltung eines Gegenstandes einnehmen lassen müsse. Das aber bedeutet, daß der Gedanke nicht einfach nur in ein passendes Medium der Anschaulichkeit übersetzt ist, um diesem Medium jederzeit wieder entnommen werden zu können und in seine Ausgangsidentität zu­rückzukehren - freilich nur in der Sphäre eines anderen Subjek­tes -, sondern es heißt, daß der Gedanke endgültig und irreversibel Gegenstand geworden ist, daß er für jeden Rezipienten etwas ande­res und eigenes bedeuten wird, daß er endgültig aus der Eindeutig­keit seiner Herkunft verlorengegangen ist in die Vieldeutigkeit einer ihm immanenten Geschichte.

Der ästhetische Gegenstand stellt seinen absoluten Anspruch, die Bezugsfähigkeit des Subjektes auf sich zu konzentrieren und endgültig ohne Weiterverweisung bei sich aufzufangen, gerade durch die Ausschaltung alles Gedanklichen, Semantischen, Inten-tionalen. Vielleicht läßt sich das am besten am Beispiel der Allegorie demonstrieren. Der zeitgenössische Verfasser eines Theaterstücks notiert sich folgenden Einfall: Feriengäste sitzen in einer Pension, und dann erscheint eine Maurerkolonne, die allmählich die Fen­ster und zuletzt die Türen zumauert. Keiner der Gäste... wird den Raum verlassen. Zuerst ignorieren sie den Vorgang, dann werden sie unruhig, dann versuchen sie ihn komisch zu nehmen, dann ge­raten sie in Panik, und zum Schluß sind sie wie gelähmt. Die Maurer stellte ich mir harmlos gemütlich, aber unbeirrbar vor. Sie beriefen sich gegenüber den Gästen auf einen Auftrag des ab­wesenden Wirtes. Auf den ersten Blick ist man geneigt, das eine Allegorie zu nennen; aber bei der Verifikation dieser Figur zeigt sich, daß etwas fehlt, was die klassische Allegorie auszeichnet, nämlich, daß sie immer schon weiß, was sie darstellt, daß ihr Verwei­sungsbezug durch dieses Vorwissen Eindeutigkeit beansprucht, und daß das Verständnis nicht ruhen darf, ehe es nicht diesen eindeutigen Bezug aufgedeckt bzw. nachvollzogen hat. Die mo­derne Allegorie von der Art der zitierten geht weder von einer abstrakten Formulierung eines Inhaltes aus noch tendiert sie auf eine solche Faßbarkeit. Zwar muß die Möglichkeit ihrer De-

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chiffrierung immer im Hintergrund stehen, aber sie kann nicht realisiert werden, oder sie darf, ja sie muß sogar Vieldeutigkeit zu­lassen, d. h. die Nichtkorrigierbarkeit einer jeweils gegebenen Deu­tung durch eine andere, evidentere. Der schon zitierte Autor eines modernen Bühnenstückes notiert sich weiter: Ich konnte sicher sein, daß es auf die Frage >Wer oder was sind die Maurer?< eine Menge Antworten gab. Wenn man einmal eine solche Modellsitua­tion gefunden hat, braucht man sich keine Gedanken zu machen. Das tun dann die anderen ... Das würde sich auch nicht ändern, wenn ich mich selbst für eine bestimmte Deutung entschied. Diese Art von Allegorie ist also nicht eine Fiktion, die für eine vorge­gebene bzw. dahinterstehende Bedeutung eintritt, um dieser Be­deutung als Vehikel zu dienen, um sie eingängiger, prägnanter, ablesbarer, transportabler zu machen. Sondern diese Allegorie be­ansprucht für sich selbst die Charaktere einer letzten Gegebenheit, die zwar immer Deutungen provoziert, diese Deutungen aber durch ihre Ablösbarkeit bzw. ihre Interferenz entkräftet, in der Schwebe läßt, aufhebt, nicht zur Endgültigkeit gelangen läßt. Diese Gegebenheit dessen, was ursprünglich ein Zeichen für anderes war, geht selbst in die Gegebenheitsweise jenes anderen über, verding­licht sich, gewinnt jene innere Konsistenz, in der sie selbst perspek­tivisch erfaßbar wird, Aspekte darbietet, die sie auf einen Pol von Gegebenheit beziehen lassen. Diese Aspekte, deren Realisierung bzw. Vollstreckung in jedem Falle den Titel »Kommentar« tragen könnte, haben ihren Realitätsbewußtsein stiftenden Sinn aber nur und gerade in ihrer Pluralität, in der Potentialität ihrer Implikatio­nen, einem Reichtum, dessen Mitpräsenz sich sofort verflüchtigt, wenn eine dieser Möglichkeiten nicht mehr ästhetisch, sondern theoretisch realisiert und bis in die volle Explikation hinein vollzo­gen wird. Daraus ergibt sich der paradoxe Sachverhalt bei moder­ner Kunst, nicht nur bei der bildenden Kunst, sondern auch etwa in der Lyrik (Eliot, The Waste Land; Ezra Pound, Cantos), daß ihre Produkte geradezu nach dem Kommentar schreien, daß aber jeder Kommentar zerstörerisch auf ihren Realitätsmodus wirkt. Diese Paradoxie ist symptomatisch für die Essentialität der Viel­deutigkeit des ästhetischen Gegenstandes.

Der Perspektivismus, den der Roman seit Balzac in seine Er­zähltechnik, in sein Darstellungssystem selbst einbeziehen konnte, aber doch mit der Fixierung des Lesers auf die jeweils ins Spiel gebrachte Perspektive, wird in der Lyrik oder im Werk der bilden-

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den Kunst gleichsam als Netz besetzbarer Variablen in den Raum um das Werk hinausprojiziert.

Gehen wir von unserem Beispiel der Allegorie noch einen Schritt zurück, so stoßen wir auf eine Theorie der Phantasie selbst, die nicht mehr originär schöpferisch ist, sondern die sich als Organ in einem Räume des Vorfindbaren bewegt, der nicht identisch ist mit dem Raum der empirischen Realität, aber auch nichts zu tun hat mit dem der Phantasie traditionell ganz fremden Bereich des sogenannten Idealen. Dadurch bekommen die Produkte der Phan­tasie einen eigenen Charakter der Objektivität, der für das phanta­sierende Subjekt selbst überraschend angetroffenen Solidität. Das gibt der Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes jene Sank­tion, die er benötigt, damit Vieldeutigkeit nicht gleichgesetzt wer­den kann mit dem Mangel an Verbindlichkeit und Klarheit dessen, der zu wenig gesehen, zu wenig hingesehen, nur halbe Arbeit in der Deskription des Geschaffenen geleistet hätte. Obwohl also die Phantasie gerade in der Neuzeit als schöpferisch, als erfinderisch entdeckt und definiert worden ist, scheint sie zu erfahren, daß sich ihr etwas zeigt, wenn sie eine bestimmte Einstellung bezieht. Man sieht leicht, daß man hier mit der klassischen Differenzierung des Subjektiven und des Objektiven nicht mehr weiterkommt, daß ge­rade das, was man als im höchsten Grade subjektiv bezeichnen müßte, insofern Charaktere der Objektivität annimmt, als es der Verfügung und willkürlichen Bestimmung gerade des Produzie­renden entzogen ist.

Die objektive Faktizität im Raum der Phantasie läßt zumindest die Konvention zu, daß dieser Raum intersubjektiv zugänglich sei und daß die Identität des Subjekts, das ihn betreten und in ihm seine Erfahrungen gemacht hat, zufällig sei. Ein moderner Lyriker schreibt in der Vorrede zu seinen ausgewählten Gedichten an den Leser: Wenn auf den Seiten dieses Buches irgendein glücklicher Vers gelingt, möge mir der Leser die Unhöflichkeit verzeihen, daß ich diesen zuerst usurpiert habe. Unsere Spielereien unterscheiden sich wenig; trivial und zufällig ist der Umstand, daß du der Leser dieser Übungen bist und ich ihr Verfasser bin. Die Zufälligkeit der Zuordnung von Verfasser und Leser beruht gerade auf der ver­meintlichen Unabhängigkeit der Werkstücke von der Subjektivität ihres Autors: sie werden nicht erfunden, sondern vorgefunden, sie haben innere Notwendigkeit ihres So-und-nicht-Andersseins, sie liegen sozusagen auf dem Wege, und es ist ein pures Faktum, wer sie

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findet. Sie sind dem Subjekt des Lesers daher genauso fremd oder vertraut, wie dem des Autors, und diese Konvention bzw. Fiktion gibt die Chance, daß das Verhältnis des Rezipienten zum ästhe­tischen Gegenstand genauso authentisch, so hoffnungsvoll im Ge­lingen des deutenden Zugriffs sein kann, wie das des Autors. Ihre Stellen sind vertauschbar. Der Autor entschuldigt sich dafür, daß er diese Gegenstände sich angeeignet und sie als die seinigen ausgege­ben hat. Wir haben es nicht mit einer rhetorischen Bescheidenheits­formel des Autors zu tun, sondern mit einem sehr genau erwoge­nen Versuch, den Realitätsgräd seiner ästhetischen Produkte mit Hilfe der Fiktion einer InterSubjektivität, einer Vertauschbarkeit der Positionen, zu steigern. Der Unterschied von Produktionsäs­thetik und Rezeptionsästhetik soll aus der Welt geschafft werden. Die ästhetische Interpretation löst sich nicht nur von der psycho­logischen Fragestellung nach dem, was der Autor mit seinem Werk gewollt hat, sondern auch von der historisch objektivierten Pro­blemstellung, die sein Wollen in den Horizont dessen stellt, was dem Rezipienten seines Werkes zugetraut werden konnte, mit an­deren Worten: was er mit seinem Werk gewollt haben konnte. Der Wille des Autors, als eindeutig bestimmter vorgestellt, ist von vornherein inadäquat der essentiellen Vieldeutigkeit und Unbe­stimmtheit dessen, was als ästhetisch ansprechender Gegenstand existiert. Noch die romantische Idee von der Selbstaufhebung des Kunstwerkes durch die Implikation, daß erst der ihm kongeniale Kritiker seine Realisierung vollendet, führt zu einer einseitigen Akzentuierung, wenn nicht Mystifizierung der Rezeptionsästhetik im strengsten Sinne, indem der Kritiker hier zu dem von der Natur disponierten Exponenten eines Publikums wird, an dessen Fähig­keit zum Allgemeinen nicht mehr geglaubt werden kann, weil die ästhetische Sonderstellung des Genies aus der Sphäre der Produk­tion in die der Rezeption transponiert ist. Aber das Genie der Rezeption schafft den Widerspruch einer Pluralität von absoluten Integrationen, die sich je auf ihre Legitimation durch Genie beru­fen können. Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes ist hier systemwidriges Faktum.

Nun könnte man einwenden, dieser Konzeption widerspreche aufs entschiedenste das Phänomen der Ausschaltung der Perspek­tive in der modernen Malerei. Aber, ganz im Gegenteil, dieser Vorgang bestätigt gerade, daß die technische Festlegung des Be­trachters auf einen vom Künstler gewählten Aspekt das auszu-

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schaltende Ärgernis ist. Die Hereinnahme einer Pluralität als Gleichzeitigkeit von Aspekten in das Bild selbst (Picasso) bzw. die Durchbrechung der Erwartungsstruktur in der Plastik (Archi-penko, Moore) bestätigen, daß der ästhetische Gegenstand dem Betrachter die Wahl des Deutungsstandpunktes nicht mehr auf­zwingen, sondern offenlassen soll, und daß er sich gerade darin zu einem neuen Realitätsgrad verdichtet. Die Verachtung der Erzeu­gung von Illusion, die mit der Technik der Perspektive und mit der Befriedigung der raumtypischen Erwartung verbunden war, be­ruht auf der Geringschätzung des Verzichtes für das ästhetische Werk, selbst und seinerseits das Letzte, der absolute Bezugspol der ästhetischen Relation zu sein. Das moderne Bild, die moderne Pla­stik wollen nicht Gebrauchsanweisungen für Illusionen, Eröff­nungen der Sichtbarkeit für anderes sein; sie wollen selbst das und nichts weiter als das sein, als was sie sich darstellen.

Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: die Pluralität der ästhetischen Interpretationen ist nicht eine Form des Verun-glückens der gesollten Einstellung und Rezeption; sie scheint vielmehr die einzige Form zu sein, in der eine Äußerung des >Ge-schmacks< überhaupt einen Sinn hat. Nur wenn man sich der Vorstellung hingibt, ein Mensch besitze seine Individualität als ei­nen Merkmalsbestand unabhängig davon, ob er überhaupt mit anderen Menschen in Austausch, in Vergleich, in Widerspruch tritt, nur dann kann man glauben, es gäbe >Geschmack< als je iso­liert sich ausbildenden ästhetischen Gegenstandsbezug, als eine in die Individualität eingeschlossene Sphäre ästhetischer Formulier-barkeit. Dagegen gibt es so etwas wie ein ästhetisches >Urteil< im Sinne der isolierten Endgültigkeit dieser logischen Kategorisierung eigentlich nicht; formuliert wird die ästhetische Erfahrung doch nur, um sich mit anderen zu messen, um sich gegen andere zu be­haupten, aber dies im Sinne einer pluralistischen Versicherung der Relevanz des Gegenstandes, nicht primär der >Richtigkeit< der eigenen Position. Daß der Geschmack sich mitteilen läßt, ist die eigentliche Grundform seiner >Allgemeinheit<. Die Verständigung über den Geschmack scheint vergebens zu sein, wenn man als das Ideal und Ziel die objektive Identität eines Resultates ansieht, wie in der theoretischen Praxis. Der mögliche Austausch, l'échange possible (Valéry), ist der Sinn jeder ästhetischen Behauptung, die in dem Augenblick, in dem sie zur identischen Meinung aller mög­lichen Partner dieses Austausches geworden wäre, nicht nur ihren

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intersubjektiven Sinn verloren hätte, sondern den Gegenstand zur erledigten Sache< zusammensinken ließe.

Wir haben heute einen ästhetischen Pluralismus in der Dimen­sion der Zeit, den ästhetischen Historismus, durch den es uns selbstverständlich ist, daß der Geschmack sich geschichtlich wan­delt und daß die gewandelten Urteile jeweils in ihrem Sinnhori­zont fundiert und legitimiert sind; aber wir haben kein System der gleichzeitigen Pluralität des ästhetischen Gegenstandsbezuges, d. h. keine Rechtfertigung dieses Zustandes, der zumeist mit einem schlechten Gewissen< toleriert wird. Die Unübersehbarkeit des äs­thetischen Gegenstandes ist seine eigentliche >Qualität<, in der Weise, daß sich die ästhetische Erfahrung um ihn nicht drücken kann, so wie in der empirischen Realität bestimmte Grunderfah­rungen nicht ausgelassen werden können. Das mag man akute Dringlichkeit, unausschlagbare Relevanz oder wie immer sonst nennen - die Nötigung zum Eintreten in den Potentialitätshori-zont der ästhetischen Stellungnahme ist das wesentliche Kriterium der ästhetischen Gegenständlichkeit.

Paul Valéry hat dies in seinem Dialog »Eupalinos« dargestellt an der schicksalhaften Rolle jenes von Sokrates am Meeresstrand aufgefundenen objet ambigu, an dessen Erinnerung der im Ha­des auf sein Leben reflektierende Sokrates eine Vieldeutigkeit ge­wahr wird, deren Übersehenhaben ihm nun als die anstößige Fak-tizität seiner Entscheidung- für ein Philosophenleben aufgeht. Dieses zweifelhafteste Ding von der Welt< ist zwar ein Naturpro­dukt; aber indem es in der Zone zwischen Meer und Land einer unübersehbaren Vielfalt von einwirkenden Faktoren über unend­liche Zeit ausgesetzt war, hat seine Form den paradoxen Status der vollendeten Unbestimmtheit erreicht, dem der Künstler nur auf dem Gipfel einer unendlichen Anstrengung nahezukommen ver­mag. Diese Gegebenheit widersetzt sich der traditionellen Ontolo­gie seit der Antike, die die Frage nach der natürlichen oder künst­lichen Herkunft eines Gegenstandes immer für entscheidbar halten mußte und das Künstliche von vornherein als sekundär gegenüber dem Natürlichen auffaßte. Erst in einer Natur, deren Grundkräfte als Evolution und Erosion bestimmbar geworden sind, bestimmt der paradoxe Sachverhalt der erwarteten Überraschung des Niege­sehenen die Einstellung, der auf der Seite der Kunst die Grundbe­griffe von Erfindung und Konstruktion adäquat gegenüberstehen. Der Sokrates im Dialog Valérys gelangt nicht zur ästhetischen Ein-

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Stellung gegenüber dem objet ambigu, weil er auf der Frage, auf der Definition, auf der Klassifikation des Gegenstandes besteht - darin hat er sich zum Philosophen entschieden. Die ästhetische Einstel­lung läßt die Unbestimmtheit stehen, sie erreicht den ihr spezifi­schen Genuß durch einen Verzicht, durch den Verzicht auf die theoretische Neugier, die letztlich immer Eindeutigkeit der Be­stimmtheit ihrer Gegenstände fordert und fordern muß. Die ästhe­tische Einstellung leistet weniger, weil sie mehr aushält, weil sie den Gegenstand für sich stark sein läßt und ihn nicht in den an ihn gestellten Fragen in seiner Objektivierung aufgehen läßt.

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