Borges Das Aleph

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    Jorge Luis Borges

    Das Aleph

    Inhalt

    Der UnsterblicheDer ToteDie TheologenGeschichte vom Krieger und der GefangenenBiographie von Tadeo Isidoro CruzEmma ZunzDas Haus des AsterionDer andere TodDeutsches RequiemAverroes auf der SucheDer ZahirDie Inschrift des GottesAbenjacn der Bojar, gestorben in seinem LabyrinthDie zwei Knige und die zwei LabyrintheDie WartezeitDer Mann auf der SchwelleDas AlephDer FremdkrperEpilog

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    Der Unsterbliche

    Salomon saith: There is no new thing upon the earth. So thatPlaton had an imagination that all knowledge was butremembrance; so Salomon gives his sentence that all novelty is

    but oblivion.

    Francis Bacon: Essays LVIII

    In London bot in den ersten Junitagen des Jahres 1929 der AntiquarJoseph Cartaphilus aus Smyrna der Prinzessin von Lucinge die sechsBnde in Kleinquart (1715 - 1720) der Ilias von Pope an. DiePrinzessin erwarb sie; als sie sie entgegennahm, wechselte sie ein

    paar Worte mit ihm. Er war, sagte sie, ein ausgemergeltererdfahler Mann mit grauen Augen und grauem Bart und seltsamverwaschenen Gesichtszgen. Er erging sich flieend und ohne sich

    dessen bewut zu werden in mehrerlei Sprachen; binnen wenigerMinuten wechselte er vom Franzsischen ins Englische und vomEnglischen in eine rtselhafte Verschmelzung von Spanisch ausSaloniki und Portugiesisch aus Macao ber. Im Oktober erfuhr diePrinzessin von einem Passagier auf dem "Zeus", da Cartaphilus aufder Rckfahrt nach Smyrna auf See gestorben war und da man ihnauf der Insel Ios beigesetzt hatte. Im letzten Band der Ilias fandsie nachstehendes Manuskript.

    Das Original ist in Englisch abgefat und enthlt eine Flle vonLatinismen. Die abgedruckte Fassung ist wortgetreu.

    I

    Soweit ich mich erinnere, begannen meine Leiden in einem Garten inThebe Hekatmpylos zur Zeit, als Diokletian Kaiser war. Ich hatte

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    in den jngstvergangenen gyptischen Kriegen (ohne Ruhm zu ernten)Dienst getan, ich war Tribun einer Legion, die in Berenike

    jenseits des Roten Meeres in Quartier lag; das Fieber und dieMagie rieben viele Mnner auf, deren hoher Sinn nach dem Schwert

    verlangte. Die Mauretanier wurden besiegt; der Boden, der einstdie aufsssigen Stdte trug, wurde auf immer den plutonischenGottheiten geweiht; Alexandria, das niedergeworfen wurde, erflehtevergebens das Erbarmen des Csaren; noch war kein Jahr vergangen,da brachten die Legionen den Triumph nach Hause, indessen mirnicht einmal beschieden war, das Antlitz des Mars zu schauen. Daich hierauf verzichten mute, schmerzte mich, und vielleicht wardies die Ursache, weshalb ich mich aufmachte und durch furchtbare

    und verworrene Wsten zog, die verborgene Stadt der Unsterblichenzu entdecken.

    Meine Leiden begannen, so erzhlte ich, in einem Garten in Theben.Die ganze Nacht ber schlief ich nicht, weil ich mich in meinemHerzen mit etwas herumschlug. Kurz vor Tagesanbruch stand ich auf;meine Sklaven schliefen; der Mond war von der gleichen Farbe wiedie unendliche Sandwste. Ein abgehetzter und blutbefleckter

    Reiter kam von Osten her. Ein paar Schritte vor mir glitt er vomPferd. Mit schwacher, unersttlicher Stimme fragte er mich auflateinisch nach dem Namen des Flusses, der die Mauern der Stadt

    besplt. Ich antwortete ihm, es sei der Aigyptos, den dieRegenflle speisen. Ein anderer Flu ist es, dem ich nachjage,erwiderte er traurig, dem verborgenen Flu, der die Menschen vomTode reinigt. Dunkles Blut quoll ihm aus der Brust. Er sagte zumir, seine Heimat sei ein Gebirge am anderen Ufer des Ganges, und

    in jenem Gebirge sei die Sage verbreitet, da, wenn jemand immerzugegen Abend gehe, bis dorthin, wo die Welt zu Ende ist, er an denFlu kommen werde, dessen Wasser Unsterblichkeit verleihen. Erfgte hinzu, am uersten Ufersaum erhebe sich die Stadt derUnsterblichen, reichgeschmckt mit Bastionen, Amphitheatern undTempeln. Noch vor der Morgenrte starb er. Ich aber beschlo, dieStadt und ihren Flu aufzufinden. Gefangene der Mauretanier

    besttigten unter der Folter des Henkers den Bericht des Reisigen;

    einer erinnerte an die elysischen Fluren am uersten Ende derWelt, wo das Leben der Menschen von whrender Dauer ist; ein

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    anderer an die Hhen, wo der Paktolus entspringt, deren Bewohnerhundert Jahre alt werden. In Rom besprach ich mich mitPhilosophen, die der Anschauung waren, da die Verlngerung desMenschenlebens eine Verlngerung seiner Todesmarter und die

    Vervielfltigung der Zahl seiner Tode sei. Ich wei nicht, ob ichje an die Stadt der Unsterblichen geglaubt habe; damals fand ichwohl mein Gengen in der Aufgabe, sie zu suchen. Flavius,Prokonsul von Getula, berlie mir fr das Unternehmen zweihundertSoldaten. Auerdem warb ich Sldner, die sich als wegkundigausgaben und spterhin die ersten waren, die desertierten.

    Die spteren Ereignisse haben die Erinnerung an unsere ersten

    Reisetage bis zur Unentwirrbarkeit entstellt. Wir brachen vonArsinoe auf und hielten Einzug in die Glutwste. Wir durchquertendas Land der Troglodyten, die sich von Schlangen ernhren und desUmganges mit dem Wort ermangeln; das der Garamanten, bei denen dieFrauen Gemeinbesitz sind und die sich von Lwen ernhren; das derAugilen, die als einziger Gottheit dem Tartarus huldigen. Wirschleppten uns durch andere Wsten, deren Sand schwarz ist und woder Reisende die Nachtstunden ausntzen mu, weil die Tageshitze

    unertrglich ist. Von weitem erkannte ich den Berg, der dem Ozeanden Namen gab; an seinen Hngen gedeiht die Euphorbie, die Gifteunschdlich macht; in seinen Hhlen hausen die Satyrn, einhalbtierisches Landvolk, das zur Ausschweifung neigt. Da diese

    barbarischen Weltgegenden, wo die Erde Ungeheuer gebiert, in ihremScho eine berhmte Stadt bergen sollten, dnkte uns allenunbegreiflich. Wir setzten unseren Zug fort, da es schimpflichgewesen wre, den Rckzug anzutreten. Ein paar unvorsichtige

    lieen im Schlaf den Mond auf ihr Gesicht scheinen; das Fieberverbrannte sie; aus dem verdorbenen Wasser der Zisternen trankensich andere Wahnsinn und Tod. Dann fingen die Desertionen an;nicht lange danach kam es zu Aufstnden. Um sie zu unterdrcken,scheute ich nicht vor der Anwendung von Strenge zurck. Ichverfuhr rechtmig, doch verriet mir ein Zenturio, da dieAufsssigen (aus Rache fr den Kreuzestod eines der Ihren) mirnach dem Leben trachteten. Ich floh aus dem Lager, von ein paar

    Soldaten, die mir treu geblieben waren, begleitet. In der Wsteverlor ich sie in Sandwirbeln und weitverbreiteter Nacht. Ein

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    kretischer Pfeil ritzte mich. Tagelang irrte ich umher, ohneWasser zu finden, oder war es nur ein einziger Tag, den die Sonne,der Durst und die Durstangst vervielfachten? Ich berlie den Wegder Willkr meines Pferdes. Im Morgengrauen zhnte sich die Ferne

    mit Pyramiden und Trmen. Mich folterte bis zur Unertrglichkeitder Traum von einem engen und glitzernden Labyrinth; imMittelpunkt war ein Krug; fast berhrten ihn meine Hnde, meineAugen sahen ihn, aber so verschlungen und verzwickt waren dieBogenlinien, da ich wute, eher wrde ich sterben als ihnerreichen.

    II

    Als ich mich endlich aus den Schlingen dieses Alptraums befreite,fand ich mich, an den Hnden gefesselt, in eine lngliche Nischeaus Stein geworfen, die, nicht grer als ein Grabstollen,notdrftig in den Steilhang des Berges geschrft war. Die Seiten

    waren feucht und wohl eher von der Zeit als von Kunstfleigeglttet. Ich fhlte in der Brust ein schmerzendes Pochen,fhlte, da ich vor Durst verbrannte. Ich streckte den Kopf ausder Hhle und schrie mit schwacher Stimme. Am Fu des Bergeszerstrhnte sich geruschlos ein trber Wasserlauf, der vonAbfllen und Sand stockte; am anderen Ufer erstrahlte (im letztenoder ersten Sonnenlicht) sichtbar die Stadt der Unsterblichen. Ichsah Mauern, Bogen, Giebelfelder und Platzgevierte; der Grundsockel

    war eine felsige Hochflche. An die hundert unregelmigverteilter Nischen gleich meiner furchten den Hang und das Tal. ImSand gab es Brunnenlcher von geringer Tiefe; diesen elendenLchern (wie auch den Nischen) enttauchten grauhutige,

    bartstruppige nackte Mnner. Ich meinte sie wiederzuerkennen: siegehrten dem tierischen Stamm der Troglodyten an, die an den Uferndes Arabischen Golfs und in den Hhlen thiopiens ihr Unwesentreiben; ich war nicht verwundert, da sie sprachlos waren und von

    Schlangen lebten.

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    Die Geiel des Durstes machte mich tollkhn. Ich berlegte mir,da mich etwas dreiig Fu vom Ufersand trennten; mitgeschlossenen Augen, die Hnde auf dem Rcken gefesselt, strzteich mich hinunter. Ich tauchte das blutende Gesicht in das dunkle

    Wasser. Ich trank wie das Vieh an der Trnke. Bevor ich abermalsin Schlaf und Fiebertrume verviel, sagte ich sonderbarerweise ein

    paar griechische Worte vor mich hin: Die begterten Teukrer vonZeleia, die das schwarze Wasser des Aisepos trinken.

    Ich wei nicht, wie viele Tage und Nchte ber mich hingingen. VonSchmerzen geplagt, ohnmchtig, in den Schutz der Hhlenzurckzufinden, nackt auf dem unbekannten Sand, lie ich Mond und

    Sonne mit meinem widerwrtigen Geschick spielen. Die Troglodyten,barbarische Kindermenschen, halfen mir nicht zu berleben noch zusterben. Umsonst flehte ich sie an, sie sollten ein Ende mit mirmachen. Eines Tages zerschnitt ich mit der scharfen Kante einesKiesels meine Fesseln. Und wieder eines Tages stand ich auf und

    brachte es fertig -- ich, Marcus Flaminius Rufus, Militrtribuneiner der rmischen Legionen --, meine erste Ration ekelerregendenSchlangenfleischs zu erbetteln oder zu stehlen.

    Das Verlangen, die Unsterblichen zu sehen, die bermenschlicheStadt mit Hnden zu fassen, brachte mich fast um den Schlaf. DieTroglodyten aber, wie wenn sie mein Vorhaben durchschauten,schliefen gleichfalls nicht; zuerst schlo ich daraus, da siemich bewachten; spter, das ich sie mit meiner Unrast angesteckthtte, wie Hunde sich anstecken knnen. Um das barbarische Dorfhinter mir zu lassen, whlte ich die belebteste Stunde des Tages,

    den hereinbrechenden Abend, wenn fast alle Mnner aus Ritzen undBrunnenlchern hervortauchen und den Blick nach Sonnenuntergangrichten, ohne mich zu sehen. Ich betete mit lauter Stimme, nichtso sehr um die Gunst der Gtter herabzuflehen, als um die Hordemit artikulierten Worten einzuschchtern. Ich durchquerte das vonSandbnken verstopfte Flubett. Verstrt folgten mir zwei oderdrei Mnner. Sie waren, wie die anderen ihrer Art, vonverkmmertem Wuchs; sie flten nicht Furcht, sondern Widerwillen

    ein. Ich mute ein paar unregelmige Vertiefungen umgehen, dienur Steinbrche zu sein schienen. Geblendet von der Gre der

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    Stadt hatte ich sie nahe gewhnt. Gegen Mitternacht betrat ich denvon Gtterbildern gezhnten Schatten ihrer dunklen Mauern aufgelben Sand. Etwas wie ein heiliger Schrecken lie meine Schrittestocken. So sehr verabscheut der Mensch das Nieerblickte und die

    Wste, da ich froh war zu bemerken, da einer der Troglodyten mirbis zum Schlu gefolgt war. Ich schlo die Augen und wartete (ohnezu Schlafen) auf den Anbruch des Tages.

    Ich habe gesagt, da die Stadt auf eine felsige Hochflchegegrndet war. Die Hochflche, die einer Steilkste glich, warnicht minder schroff als die Mauern. Vergebens schritt ich sie ab;der schwarze Grundsockel wies nicht die kleinste Unregelmigkeit

    auf; die immer gleichen Mauern schienen kein einziges Torzuzulassen. Die Hitze des Tages lie mich in einer Hhle Schutzsuchen; am Grunde war ein Brunnen, im Brunnen eine Treppe, diesich in der unteren Finsternis verlor. Ich stieg hinab: durch einChaos verschmutzter Gnge gelangte ich in ein weitereskreisfrmiges Gemach, das kaum zu erkennen war. Diesesunterirdische Gela hatte neun Tren; acht davon waren Eingngeeines Labyrinths, das trgerisch in dasselbe Gemach wieder

    einmndete; die neunte fhrte (durch ein anderes Labyrinth) in einzweites kreisfrmiges Gemach gleich dem ersten. Ich wei nicht diegenaue Zahl der Gemcher; mein Migeschick und meine Angstvervielfachten sie. Die Stille war feindselig und nahezu lautlos;in diesem tiefen Netzwerk aus Stein war nichts zu vernehmen auereinem unterirdischem Wind, dessen Ursache ich nicht herausfand;lautlos versickerten in den Spalten Fden eisenhaltigen Wassers.Schrecklicherweise gewhnte ich mich an diese ungewisse Welt; ich

    hielt es fr unglaubhaft, da es anderes geben knne alsunterirdische Gelae mit neun Tren und weite Gnge, die sichgabelten. Ich wei nicht, wie lange ich so unter der Erdedahinwandern mute; ich wei nur noch, da ich einmal, vondemselben Heimweh erfat, die abstoende Barbarensiedlung mitmeiner in Reben gebetteten Heimatstadt verwechselte.

    Am Ende eines Ganges versperrte mir unvermutet eine Mauer den Weg:

    ein fernes Licht sank herein. Ich hob die geblendeten Augen;schwindelnd in hchster Hhe sah ich ein kreisfrmiges Stck

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    Himmel von solcher Blue, da es mir purpurn htte scheinenknnen. Metallene Stufen kletterten die Mauer hinan. Ich war zumUmfallen mde, doch stieg ich hinauf; nur von Zeit zu Zeit hieltich inne, um vor Glckseligkeit zu schluchzen. Ich unterschied

    Sulenkapitelle und Rundstbe, dreieckige Giebelfelder, wirrenPrunk von Granit und Marmor. So war mir beschieden, aus der

    blinden Region schwarzer, gewundener Labyrinthe zu der strahlendenStadt emporzusteigen.

    Heraus kam ich auf etwas wie einen kleinen Platz, besser gesagt,in einem Innenhof. Eingefat war er in einem einzigen Gebude, dasunregelmig in der Form und von unterschiedlicher Hhe war; zu

    diesem ungleichartigen Gebude gehrten die verschiedenerleiKuppeln und Sulen. Mehr noch als irgendeine Besonderheit diesesunglaublichen Gebudes bestrzte mich seine uralte Bildung; ichfhlte, da es frher als die Menschen, frher als die Erde war.Dieses deutlich erkennbare Alter (mochte es auch die Augenirgendwie erschrecken) schien mir mit dem Schaffen unsterblicherArbeiter in Einklang zu stehen. Zuerst verstohlen, danngleichgltig, schlielich verzweifelt irrte ich ber Treppen und

    gepflasterte Hfe dieses unentwirrbaren Palastes. (Spter erststellte ich fest, da Breite und Hhe der Stufen ungleichmigwaren, worin ich die Erklrung fr die sonderbare Mdigkeit, diesie mir bereiteten, fand.) Dieser Palast ist ein Bauwerk derGtter, dachte ich zunchst. Ich durchforschte seine unbewohntenGemcher und verbesserte mich: Die Gtter, die ihn gebaut haben,sind tot. Ich achtete auf seine Eigenheiten und sagte: Die Gtter,die ihn gebaut haben, waren wahnsinnig. Das sagte ich, wie ich

    mich genau erinnerte, mit einem unbegreiflichen Aufbegehren, dasfast ein Gewissensbi war, mehr mit einem geistigen Schauder alseinem Furchtempfinden. Zu dem Eindruck von unvordenklichem Altergesellten sich andere: der Eindruck von Schrankenlosigkeit, vonSchroffheit, von vertrackter Sinnlosigkeit. Ich hatte einLabyrinth durchwandert, aber die gleiende Stadt der Unsterblichenngstigte mich und flte mir Widerwillen ein. Ein Labyrinth istein Haus, das die Menschen irrefhren soll; seine Bauweise, die in

    Symmetrien schwelgt, ist auf diesen Zweck hingeordnet; in demPalast, den ich erforschte, war die Bauart zwecklos. Immer wieder

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    stie man auf blinde Gnge, auf unerreichbar hoch angebrachteFenster, auf prunkvolle Tren, hinter denen sich eine Zelle oderein Verlies auftaten, auf unwahrscheinliche Treppen, die mitStufen und Gelnder umgedreht nach unten hingen. Andere, die

    seitlich vor einer Riesenmauer in der Luft schwebten, endeten ohneirgendwohin zu fhren, nach zwei drei Windungen im oberen Schattender Kuppeln. Ich wei nicht, ob alle Beispiele, die ich aufgezhlthabe, buchstblich zutreffen; ich wei nur, da sie jahrelangmeine Alptrume verseucht haben; ich kann nicht mehr sagen, obdiese oder jene Einzelheit von der Wirklichkeit abgenommen istoder von den Schreckbildern, die mich bei Nacht um den Verstand

    brachten. Diese Stadt (dachte ich) ist so furchtbar, da ihr

    bloes Dasein und Bestehen, sei es auch in der Tiefe einerabgeschiedenen Wste, die Vergangenheit und die Zukunft inMitleidenschaft zieht und in gewisser Weise die Gestirne

    beeintrchtigt. Solange sie dauert, kann es auf Erden keinerleiGedeihen oder Glck geben. Ich will sie nicht beschreiben; einKauderwelsch zusammenhangsloser Worte, ein Tiger- oderStierkrper, an dem miteinander vermhlt und in gehssigerZwietracht Zhne, Organe und Kpfe ungeheuerlich durcheinander

    wimmeln, wren (vielleicht) annhernde Vergleiche.

    Ich erinnere mich nicht mehr der Etappen meines Rckzugs durch dieverstaubten und feuchten Unterweltsadern. Ich wei nur noch, dadie Angst mich nicht loslie, mich knnte beim Verlassen desLabyrinths abermals die heillose Stadt der Unsterblichen umringen.Sonst kann ich mich an nichts mehr erinnern. Dieses Vergessen, daich heute nicht mehr berwinden kann, war vielleicht willensmig;

    vielleicht waren die Umstnde meines Entkommens zu unliebsam, daich an einem Tag, der nicht minder dem Vergessen angehrt, mirgeschworen habe, sie zu vergessen.

    III

    Wer die Schilderung meiner Leiden bis hierher aufmerksam gelesen

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    hat, wird sich erinnern, da ein Mann von der Horde wie etwa einHund, der mir nachgetrottet wre, mich bis in den unregelmigenSchatten der Mauern verfolgt hatte. Als ich aus dem letztenunterirdischen Gang heraustrat, traf ich ihn am Ausgang der Hhle.

    Er lag ausgestreckt im Sand, in den er Zeichen grub und wiederauswischte, gleich den Buchstabenzeilen, die man im Traumerblickt, die man nahe daran ist zu verstehen und die sogleichzerflieen. Zunchst dachte ich, es handle sich um eine

    barbarische Schrift; dann sah ich ein, da es sinnlos ist, sicheinzubilden, Menschen, die es nicht zu Worten gebracht haben,knnten es zur Schrift bringen. Auch war keine der Formen eineranderen gleich, was die Mglichkeit, es handle sich um

    sinnbildliche Zeichen, ausschlo oder beseitigte. Der Mannzeichnete sie auf, betrachtete und verbesserte sie. Pltzlich, alssei er des Spiels mde, wischte er sie mit der Handflche und demUnterarm aus. Er blickte mich an, schien mich nichtwiederzuerkennen. Und doch -- so gro war die Erleichterung, diemich berflutete (oder so gro und schrecklich war meineEinsamkeit), da mir der Gedanke kam, dieser ungehobelteTroglodyte, der mir von der Schwelle der Hhle aus entgegensah,

    habe auf mich gewartet. Die Sonne erhitzte die Ebene; als wir denRckweg zum Dorf antraten, war der Sand unter den Fenglhendhei. Der Troglodyte ging vor mir her; an diesem Abend nahmich mir vor, ihm ein paar Worte beizubringen, sie ihn vielleichtnachsprechen zu lassen. Hund und Pferd (erwog ich) leisten daseine; viele Vgel, so die Nachtigall der Caesaren, das andere.Mochte der Verstand eines Menschen auch noch so plump sein:vernunftlose Geschpfe wrde er auf jeden Fall bertreffen.

    Die Demut und das Elend des Troglodyten lieen in meinemGedchtnis das Bild des Argos erstehen: so hie der altersschwacheHund des Odysseus. Darum nannte ich ihn Argos und versuchte, ihmden Namen einzuprgen. Ich scheiterte von einem zum anderen Mal.Vernnftiges Zureden, Strenge, Beharrlichekit: alles war umsonst.Reglos, mit stumpfen Augen, schien er die Laute, die ich ihmeinzuprgen versuchte, nicht aufzunehmen. Obwohl nur ein paar

    Schritte von ihm entfernt, schien er weit weg zu sein. Im Sandausgestreckt wie eine kleine verwitterte Sphinx aus Lavagestein,

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    lie er die Himmel ber sich kreisen, von der Frh- bis zurAbenddmmerung. Ich hielt es fr ausgeschlossen, da er meinVorhaben nicht begreifen sollte. Ich dachte an die Sage, die beiden thiopiern umgeht, da die Affen wohlweislich nicht sprechen,

    damit man sie nicht zur Arbeit anhlt, und schrieb das Schweigendes Argos Mitrauen oder Furcht zu. Diese Vorstellung brachte michauf andere, die noch ausschweifender waren. Ich dachte, Argos undich gehrten verschiedenartigen Welten an; ich dachte, unsereWahrnehmungen seien zwar die gleichen, doch fge Argos sie aufandere Weise zusammen und bilde aus ihnen andere Gegenstnde; ichdachte, es gebe fr ihn vielleicht keine Gegenstnde, sondern nurein schwindelerregendes und fortwhrendes Zusammenspiel

    blitzschneller Eindrcke. Ich dachte an eine Welt ohne Gedchtnis,ohne Zeit; ich erwog die Mglichkeit einer Sprache, dieSubstantive nicht kennt, einer Sprache aus unpersnlichen Verbenoder nicht deklinierbaren Beiwrtern. So starben die Tage dahinund mit den Tagen die Jahre; aber etwas dem Glck hnlichesgeschah eines Morgens. Es regnete, mit hinhaltender Wucht.

    Die Nchte in der Wste knnen kalt sein; diese jedoch war

    brennend wie Feuer gewesen. Mir trumte, ein Flu in Thessalien,dessen Fluten ich einen goldenen Fisch zurckgegeben hatte, seigekommen mich freizukaufen; ber den roten Sand und das schwarzeGerll hrte ich ihn nahen; die Frische der Luft und dasgeschftige Trommeln des Regens weckten mich auf. Ich lief nackthinaus, ihn zu empfangen. Die Nacht ging ihrem Ende zu; unter dengelben Wolken berlie sich die Horde, nicht minder selig als ich,den belebenden Wassergssen in einer Art Rausch. Sie glichen alle

    gottbesessenen Korybanten. Argos, die Augen zur Himmelswlbungaufgehoben, sthnte, Sturzbche rannen ber sein Gesicht; nichtnur von Wasser (wie ich spter erfuhr), sondern von Trnen. Argos,rief ich ihm zu, Argos.

    Da hob er an, mit sanftmtigem Staunen, als fnde er etwas wieder,was verloren und lange vergessen war, die Worte zu stammeln:Argos, der auf den Mist geworfene Hund des Odysseus. Und dann,

    jedoch ohne mich anzusehen: Dieser auf den Mist geworfene Hund.

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    Mit der Wirklichkeit finden wir uns leicht ab, vielleicht weil wireinsehen, da nichts wirklich ist. Ich fragte ihn, was er denn vonder Odyssee wisse. Er hatte Mhe mit dem Griechischen; ich mutemeine Frage wiederholen.

    Sehr wenig, sagte er. Weniger als der rmste Rhapsode. Es mgenelfhundert Jahre vergangen sein, seit ich sie ersann.

    IV

    Alles wurde mir klar an diesem Tage. Die Troglodyten waren dieUnsterblichen; der im Sand versickernde Wasserlauf war der Flu,den der Reiter gesucht hatte. Was die Stadt anging, deren Ruhm biszum Ganges gedrungen war, so mochten neun Jahrhunderte seit demTage vergangen sein, an dem die Unsterblichen sie geschleifthatten. Aus den berresten der Trmmer erbauten sie an derselbenStelle die unsinnige Stadt, die ich durchstreift hatte: als eine

    Art Parodie oder Kehrseite, aber auch als Heiligtum dervernunftlosen Gottheiten, die mit der Welt ihr Spiel treiben undvon denen wir nichts wissen, auer da sie nicht dem Menschengleichen. Diese Grndung war das letzte Zeichen, zu dem dieUnsterblichen sich herablieen; sie bezeichneten eine Stufe, aufder sie, zu der Einsicht gelangt, alles Tun sei eitel, im Denkenzu leben beschlossen, das heit in der reinen Spekulation. Sieerrichteten den Bau, vergaen ihn und whlten als Behausung die

    Hhlen. Versunken wurden sie die physische Welt nicht mehr gewahr.

    Von diesen Geschehnissen erzhlte Homer wie einem Kinde. Ererzhlte mir auch von seinem Alter und der letzten Reise, die erantrat, wie Odysseus von dem Vorsatz getrieben, zu den Menschen zukommen, die nicht wissen, was das Meer ist, die kein gesalzenesFleisch essen und nicht wissen, was ein Ruder ist. Ein Jahrhundertwohnte er in der Stadt der Unsterblichen. Als man sie abri, riet

    er zur Grndung der anderen. Das braucht uns nicht zu berraschen;geht doch die Rede, da er, nachdem er den Kampf um Ilion besungen

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    hatte, den Krieg der Frsche und Ratten besang. Er war gleichsamein Gott, der den Kosmos und hernach das Chaos erschaffen hatte.

    Unsterblich zu sein ist nichts Besonderes; vom Menschen abgesehen

    sind es alle Geschpfe, da sie den Tod nicht kennen; dasGttliche, das Schreckliche, das Unbegreifliche ist das Wissen umdie eigene Unsterblichkeit. Ich habe festgestellt, da trotz derReligionen diese berzeugung uerst selten ist. Juden, Christenund Muselmanen bekennen sich zwar zur Unsterblichkeit; indessen

    beweist die Verehrung, die sie dem ersten Jahrhundert zollen, dasie nur an dieses eine glauben, insofern sie die Zahl allerbrigen bestimmungsgem ihm zum Lohn oder zur Strafe vorbehalten.

    Sinnvoller erscheint mir das Rad gewisser Religionen Hindostans:in diesem Rad, das weder Anfang noch Ende hat, ist jedes LebenAuswirkung des vorangehenden und erzeugt aus sich das folgende,aber keines bestimmt das Ganze ... Belehrt durch jahrhundertelangebung hatte die Gemeinschaft der Unsterblichen die Vollendung derDuldsamkeit, ja der Nichtachtung erlangt. Sie wute, da innerhalbeines unendlichen Zeitraums jedem Menschen alles widerfhrt.Aufgrund seiner vergangenen oder knftigen Tugenden ist jeder

    Mensch Glubiger alles Guten, aber auch jeglicher Abtrnnigkeitwegen seiner Ruchlosigkeiten in der Vergangenheit oder derZukunft. So wie bei Glckspielen die geraden und ungeraden Ziffernzum Ausgleich tendieren, so heben einander Geist und Torheit aufoder berichtigen sich gegenseitig, und vielleicht ist das

    buerlich derbe Gedicht vom Cid das erforderliche Gegengewichteines einzigen Epithetons der Eklogen oder einer Wortfgung vonHeraklit. Der flchtigste Gedanke gehorcht einem unsichtbaren Plan

    und kann eine geheime Form krnen oder stiften. Ich wei vonsolchen, die Bses taten, damit es sich in den knftigenJahrhunderten als das Gute herausstellen sollte, wenn es sichnicht schon in den vergangenen als das Gute herausgestellt hatte.So betrachtet, sind alle unsere Handlungen richtig, doch sind sieauch gleichgltig. Es gibt weder sittliche noch intellektuelleVerdienste. Homer dichtete die Odyssee; postuliert man einenunendlichen Zeitraum und eine Unendlichkeit von Umstnden und

    Abwandlungen, so erscheint es undenkbar, da nicht wenigstenseinmal auch die Odyssee htte gedichtet werden sollen. Niemand ist

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    jemand, ein einziger Unsterblicher ist die ganze Menschheit. WieCornelius Agrippa bin ich Gott, bin Heros, bin Philosoph, binDmon und bin Welt, womit auf umstndliche Art gesagt ist, da ichnicht bin.

    Die Anschauung von der Welt als einem System abgewogenerKompensierungen hat weitgehend auf die Unsterblichen Einflugebt. Zunchst einmal hat sie ihr Gefhlsleben gegen das Mitleidgefeit. Ich habe die alten Steinbrche erwhnt, die am Gestade desanderen Ufers klafften; ein Mann strzte in den tiefsten ab; erkonnte weder jammern noch sterben, doch verbrannte er vor Durst;

    bevor sie ihm einen Strick zuwarfen, vergingen siebenzig Jahre.

    Ebensowenig kmmerte sie das eigene Geschick. Der Leib war fr sieein unterwrfiges Haustier, mit dem Almosen von ein paar StundenSchlaf, einem Schluck Wasser und einem Fetzen Fleisch. Man solluns deswegen nicht Asketen schelten. Kein Genu ist so vielseitigwie das Denken, und ihm huldigten wir. Manchmal gab uns einauergewhnlicher Anreiz der physikalischen Welt zurck. So zumBeispiel an jenem Morgen das elementare Lustgefhl des Regens.Diese Einschnitte waren jedoch hchst selten; alle Unsterblichen

    hatten die Fhigkeit, sich vollkommen still zu verhalten; icherinnere mich an einen, den ich nie aufrecht stehen sah; ein Vogelnistete an seiner Brust.

    Unter den Folgestzen der Lehre, da es in der Welt kein Dinggibt, das nicht durch ein anderes aufgewogen wird, befindet sicheiner, der theoretisch sehr wenig zu besagen hat, aber fr uns zumAnla wurde, da wir uns gegen Ende oder zu Beginn des 10.

    Jahrhunderts ber die Erdoberflche verstreuten. Er lautetfolgendermaen: Es gibt einen Flu, dessen Wasser Unsterblichkeitverleihen; folglich mu es in einer anderen Gegend dieser Welteinen Flu geben, dessen Wasser sie aufheben. Die Zahl der Flsseist nicht unendlich; ein unsterblicher Wanderer, der die Weltdurchstreift, mu eines Tages zu Ende kommen, weil er von allengetrunken hat. Wir beschlossen, diesen Flu zu entdecken.

    Der Tod (oder die Anspielung auf ihn) macht die Menschen prezisund pathetisch. Das Bewegende an ihnen ist ihr gespenstischer

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    Zustand; jede Handlung, die sie ausfhren, kann die letzte sein;es gibt kein Gesicht, das nicht zu zerflieen bestimmt ist wie dasGesicht in einem Traum. Alles hat bei den Sterblichen den Wert desUnwiederbringlichen und des Gefhrdeten. Bei den Unsterblichen

    dagegen ist jede Handlung (und jeder Gedanke) das Echo vonanderen, die ihr in der Vergangenheit ohne ersichtlichen Grundvorangingen, oder zuverlssige Verheiung anderer, die sie in derZukunft bis zum Taumel wiederholen werden. Es gibt kein Ding, dasnicht gleichsam verirrt ist zwischen unermdlichen Spiegeln.

    Nichts kann nur ein einziges Mal geschehen, nichts ist prezis,gebrechlich. Das Elegische, das Ernstbetonte, das Zeremonise hatkeine Macht ber die Unsterblichen. Homer und ich: wir trennten

    uns vor den Toren von Tanger; ich glaube, wir sagten uns nichtLebwohl.

    V

    Ich durchzog neue Knigtmer, neue Reiche. Im Oktober des Jahres1066 stand ich auf der Brcke von Stamford, ich wei nicht mehr,ob in den Reihen Harolds, der ungesumt seine Bestimmung fand,oder in den Reihen jenes unseligen Harald Hardrada, der sechs Fuenglischen Bodens eroberte oder ein bichen mehr. Im siebtenJahrhundert der Hegira verfertigte ich in der Vorstadt von Bulakin sorgsamer Schnschrift in einer Sprache, die ich vergessenhabe, einem Alphabet, das mir unbekannt ist, eine Abschrift der

    sieben Reisen Sindbads des Seefahrers und der Geschichte derMessingstadt. In einem Hof des Kerkers von Samarkand habe ich sehrviel Schach gespielt; in Bikanir habe ich Astrologie getrieben undebenso in Bhmen. Im Jahr 1638 war ich in Koloszvar und danach inLeipzig. In Aberdeen, im Jahr 1718, subskribierte ich auf diesechs Bnde der Ilias von Pope; ich wei, da ich sie mitEntzcken immer wieder las. Gegen 1728 errterte ich den Ursprungdieser Dichtung mit einem Professor der Rhetorik, der sich, glaube

    ich, Giambattista nannte; seine Argumente fand ich unwiderleglich.Am 4. Oktober 1921 mute die "Patna", auf der ich nach Bombay

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    fuhr, in einem Hafen an der Kste Eritreas vor Anker gehen [1].Ich ging an Land, andere sehr weit zurckliegende Morgenstundenfielen mir ein, auch sie im Angesicht des roten Meeres verbracht,als ich rmischer Tribun war und das Fieber und die Magie und die

    Unttigkeit die Soldaten aufrieben. In der Umgebung erblickte ichein Rinnsal klaren Wassers; aus alter Gewohnheit kostete ichdavon. Als ich den Hang erklomm, ritzte mir ein dorniger Strauchden Handrcken. Der ungewohnte Schmerz dnkte mich sehr lebendig.Unglubig, stumm, glckselig schaute ich auf die Bildung eineszgernden Tropfens Blut. Jetzt bin ich wieder allen Menschengleich. In dieser Nacht schlief ich bis zum Morgengrauen.

    *

    ... Ich habe, nachdem ein Jahr vergangen ist, diese Seitendurchgesehen. Da sie wahrheitsgem sind, steht fr mich auerZweifel, doch meine ich in den ersten Kapiteln und auch ingewissen Abstzen der anderen eine Unstimmigkeit zu gewahren.Schuld daran ist vielleicht das mibruchliche Anfhren von

    Nebenumstnden, ein Darstellungsverfahren, das ich den Dichtern

    abgesehen habe und das alles mit Falschheit ansteckt, insofernzwar die Tatsachen mit einer Flle von Einzelzgen aufwarten,nicht aber die Erinnerung an sie ... Doch glaube ich auf einenversteckteren Grund gestoen zu sein. Ich will ihn aufschreiben,mag man mich ruhig einen Phantasten nennen.

    Die Geschichte, die ich erzhlt habe, macht deshalb einenunwirklichen Eindruck, weil sich die Erlebnisse zweier

    verschiedener Menschen vermengen. Im ersten Kapitel fragt derReiter nach dem Namen des Flusses, der die Mauern von Theben

    besplt; Flaminius Rufus, der weiter oben der Stadt den BeinamenHekatmpylos gegeben hat, sagt, der Flu sei der Aigyptos; wederdie eine noch die andere Benennung pat zu ihm, wohl aber zuHomer, der in der Ilias ausdrcklich von Thebe Hekatmpylosspricht und der in der Odyssee sowohl Proteus als auch Odysseusvom Nil nie anders als vom Aigyptos sprechen lt. Im zweiten

    Kapitel uert der Rmer, als er von dem unsterblichen Wassertrinkt, ein paar Worte auf griechisch; diese Worte sind homerisch;

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    man kann sie gegen Schlu des berhmten Schiffskatalogs nachlesen.Spter, in dem schwindelerregendem Palast, spricht er von einem"Aufbegehren, das fast ein Gewissensbi war"; auch dieserAusspruch findet sich bei Homer, der diesen Schauder vorausgefhlt

    hat. Diese Anomalien geben mir zu denken; andere sthetischer Artbrachten mich der Wahrheit auf die Spur. Das letzte Kapitel birgtsie. Da heit es, da ich auf der Brcke von Stamford als Soldatkmpfte, da ich in Bulak die Reisen Sindbads des Seefahrersabschrieb, und da ich in Aberdeen auf die englische Ilias vonPope subskribierte. Unter anderem ist zu lesen: In Bikanir triebich Astrologie und ebenso in Bhmen. Keines dieser Zeugnisse istfalsch; bezeichnend ist die Tatsache, da gerade sie

    herausgegriffen wurden. Das erste scheint einem Kriegsmannanzustehen; doch wird man in der Folge gewahr, da der Erzhlerdem Kriegerischen keine Aufmerksamkeit schenkt, wohl aber dem Losder Menschen. Die folgenden sind noch eigentmlicher: ein dunklerVernunfttrieb ntigte mich, sie zu registrieren. Ich whlte sie,weil ich wute, da sie pathetisch waren. Dieses Pathos haben sienicht im Munde des Rmers Flaminius Rufus, sondern pathetisch sindsie im Munde Homers; merkwrdig ist, da dieser im 14. Jahrhundert

    die Abenteuer Sindbads, jenes anderen Odysseus, und da er nachAblauf vieler Jahrhunderte in einem nrdlichen Knigreich undeinem barbarischen Idiom die Formen seiner Ilias wiederentdeckt.Was die Redewendung, die den Namen Bikanir in sich aufnimmt,angeht, so ist ersichtlich, da ein homme de lettres siegedrechselt hat, den es (wie den Verfasser des Schiffskatalogs)gelstete, mit klangvollen Namen zu prunken [2].

    Wenn das Ende naht, bleiben von der Erinnerung keine Bilder mehr;es bleiben allein Worte. Es ist nicht verwunderlich, da die Zeitdie irgendwann einmal fr mich reprsentativen Bilder mit jenenzusammengeworfen hat, die Sinnbild des Schicksals meinesBegleiters whrend so vieler Jahrhunderte gewesen sind. Ich binHomer gewesen; nicht lange, so werde ich wie Odysseus Niemandsein; nicht lange, so werde ich alle sein; ich werde tot sein.

    *

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    Nachschrift von 1950: Unter den Beitrgen, zu denen dievorstehendePublikation angeregt hat, erschien der beachtlichste, wenn auchnicht gerade freundlichste, unter dem biblischen Titel: A Coat ofmany Colours (Ein buntscheckiger Rock) in Manchester 1948, und

    zwar aus der tiefschrfenden Feder von Doktor Nahum Cordovero. Erumfat an die hundert Seiten. Der Verfasser spricht von dengriechischen Centones, von den Centonen der mittellateinischenZeit, von Ben Jonson, der seine Zeitgenossen mit Auszgen ausSeneca charakterisierte, von dem Virgilius evangelizans vonAlexander Ross, von den Kunstgriffen George Moores und Eliots und-- ganz zum Schlu -- "von der Erzhlung, die dem Antiquar JosephCartaphilus zugeschrieben wird". Er weist im ersten Kapitel kurze

    Einschbe aus Plinius nach (Historia naturalis V, 8); im zweitenfindet er etwas von Thomas de Quincey (Writings, III, 349), imdritten eine Stelle aus dem Brief Descartes' an den BotschafterPierre Chanut, im vierten einen Ausspruch von Bernhard Shaw (Backto Methusela, V). Aus diesen Einschaltungen oder Diebsthlen ziehter den Schlu, da das Dokument apokryph ist.

    Meiner Ansicht nach ist diese Schlufolgerung unzulssig. Wenn das

    Ende naht, schrieb Cartaphilus, bleiben von der Erinnerung keineBilder mehr; es bleiben allein Worte: Worte, entstellte undverstmmelte Worte, Worte anderer waren das kmmerliche Almosen,da ihm die Stunden und die Tage berlieen.

    Fr Cecilia Ingenieros

    [1] Hier ist eine Tilgung im Manuskript; vielleicht ist der Namedes Hafenortes getilgt worden.

    [2] Ernesto Sbato nimmt an, da es sich bei jenem Giambattista,der mit dem Antiquar Cartaphilus den Ursprung der Ilias errterte,um Giambattista Vico handle. Dieser Italiener vertrat dieAuffassung, Homer sei eine sinnbildliche Figur wie Pluton oderAchilles.

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    Der Tote

    Da ein Mann aus der Vorstadt von Buenos Aires, da einunscheinbarer Geselle, ohne sonst eine Strke als das Vergafftseinin den Mut, in die Reitersteppen an der brasilianischen Grenzegezogen und es zum Hauptmann einer Schmugglerbande gebracht habensoll, erscheint auf den ersten Blick ausgeschlossen. Wer dieserMeinung ist, dem will ich das Schicksal von Benjamn Otloraerzhlen, an den sich im Viertel Balvanera wohl niemand mehrerinnert und der, seiner Bestimmung getreu, im Grenzgebiet von RioGrande do Sul den Tod durch eine Kugel fand. Ich kenne nicht dienheren Einzelheiten seines Abenteuers; sollte ich ber sieaufgeklrt werden, so mu ich diese Seiten richtigstellen underweitern. Fr heute mag dieser Kurzbericht von Nutzen sein.

    Benjan Otlora ist um 1891 neunzehn Jahre alt. Er ist ein Bursche

    mit kmmerlicher Stirn, ehrlichen, hellblickenden Augen, stmmigemBaskenwuchs; ein geglckter Messerstich hat ihm die Augen darbergeffnet, da er ein tapferer Kerl ist; der Tod seinesWidersachers kmmert ihn nicht, ebensowenig die sich unmittelbardaraus ergebende Notwendigkeit, aus der Republik zu flchten. DerObmann der Gemeinde empfiehlt ihn in einem Schreiben an einengewissen Azevedo Bandeira in Uruguay. Otlora geht an Bord, dieberfahrt ist strmisch und peinvoll; am nchsten Tag irrt er

    durch die Straen von Montevideo mit uneingestandener, vielleichtunbewuter Traurigkeit. Azevedo Bandeira trifft er nicht an, umMitternacht wohnt er in einem Packhof am Paso del Molino einemZank zwischen Viehtreibern bei. Ein Messer blitzt auf; Otlorawei nicht, auf welcher Seite das Recht ist; ihn lockt der schiereGeschmack der Gefahr wie andere das Kartenspiel oder die Musik. ImHandgemenge fngt er einen tief angesetzten Messerstich ab, denein Peon einem Manne mit dunklem Seidenglanzhut und Poncho

    versetzt. Und zwar ist, wie sich spter herausstellt, eben dieserAzevedo Bandeira. (Otlora, als er es erfhrt, zerreist das

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    Schreiben, da er lieber alles sich selber verdanken will.) Azevedomacht trotz seines stattlichen Aussehens den Eindruck, als sei erauf eine nicht nher zu erklrende Art nachgemacht; in seinemGesicht, das immer beraus nahe ist, sind der Jude, der Neger, der

    Indio; in seinem Krperbau der Affe und der Tiger; die Narbe, diedas Gesicht durchquert, ist ein zustzlicher Schmuck wie derdrahtige schwarze Schnurrbart.

    Ist das Vortuschung oder Trug des Alkohols? Der Zank endet sorasch, wie er ausgebrochen ist. Otlora trinkt mit denViehtreibern und begleitet sie zu einem Rummelplatz und dann zueinem groen Haus in der Altstadt, als die Sonne schon hoch steht.

    Im letzten Hof aus gestampfter Erde breiten die Mnner ihr Zeugzum Schlafen aus. Insgeheim vergleicht Otlora diese Nacht mit dervorangegangenen; jetzt hat er schon festen Boden unter den Fen,Freunde zur Seite. Allerdings wurmt es ihn, da er Buenos Airesnicht zum Staunen bringt. Er schlft bis Mittag, als derBauernknecht ihn weckt, der Bandeira in der Trunkenheitangegriffen hat. (Otlora wei noch, da dieser Mann am Trubel derdurchzechten Nacht teilgenommen hat und da Bandeira ihn zu seiner

    Rechten niedersitzen lie und zum Weintrinken aufforderte.) DerMann sagt zu ihm, der Patron lasse ihn rufen. In einer Art Bro,das auf den Flur hinausgeht (noch nie hat Otlora einen Flur mitSeitentren gesehen) erwartet ihn Azevedo Bandeira in Gesellschafteiner hellhutigen hochmtigen Frau mit gefrbtem Haar. Bandeiramustert ihn abwgend, bietet ihm ein Glas Zuckerrohrschnaps an,wiederholt, er sei, scheint's ein beherzter Kerl, schlgt ihm vor,mit den anderen als Herdentreiber in den Norden zu gehen. Otlora

    schlgt ein; gegen Morgen sind sie unterwegs, in RichtungTacuaremb.

    Jetzt beginnt fr Otlora ein ganz anderes Leben, ein Leben vollweitgespannter Morgenhimmel, Tagereisen voll Pferdegeruch. DiesesLeben ist fr ihn neu, manchmal auch grausam, aber es ist schon inseinem Blut, denn so wie die Mnner anderer Vlker dem Meerhuldigen und es im Gefhl haben, so verlangen wir (auch der Mann,

    der diese Sinnzeichen verwebt) nach der unerschpflichenGrasebene, die unter Hufschlag erdrhnt. Otlora ist in den

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    Vierteln der Wagner und Schiffszimmerleute aufgewachsen; vorJahresfrist ist er ein Gaucho. Er lernt mit dem Pferd umgehen, dieHerde einzingeln, Vieh schlachten, das bndigende Lasso und dieniederfllende Eisenbola schwingen, dem Schlaf, den Unwettern,

    Frost und Sonnenglut trotzen, mit Pfiff und heiserem Schreianfeuern. nur einmal whrend dieser ganzen Lehrzeit sieht erAzevedo Bandeira, doch hat er ihn sehr gegenwrtig, denn ein MannBandeiras zu sein, heit so viel, wie angesehen und gefrchtet zusein; auch sagen die Gauchos vor jedem Wagestck, da es Bandeiranoch besser mache. Einer ist der Ansicht, Bandeiras Geburtsortliege auf der anderen Seite des Cuareim, in Rio Grande do Sul;dies mte ihn eigentlich herabsetzen, aber es bereichert ihn auf

    dunkle Art um ppige Waldungen, um Smpfe, um unentwirrbare undnahezu endlose Entfernungen. Allmhlich wird Otlora klar, daBandeira vielerlei Geschfte betreibt und da sein Hauptgeschftder Schmuggel ist. Solange man Viehtreiber ist, gehrt man demdienenden Stande an; Otlora nimmt sich vor, zum Schmuggleraufzusteigen. Zwei seiner Kameraden sollen eines Nachts ber dieGrenze gehen und ein paar Lieferungen Schnaps besorgen; Otlorafngt mit dem einen Streit an, verwundet ihn und tritt seine

    Stelle an. Der Ehrgeiz treibt ihn, aber auch ein dumpfesTreuegefhl. Soll der Mann (denkt er) endlich einsehen, da ichmehr wert bin als alle seine Ostmnner zusammen.

    Ein weiteres Jahr vergeht, ehe Otlora nach Montevideozurckkehrt. Sie streifen durch die Straen der Stadt (die Otlorasehr gro vorkommt); sie gelangen zum Haus des Patrons; die Mnner

    breiten im letzten Hof ihr Zeug aus; die Tage vergehen, und

    Otlora hat Bandeira nicht gesehen. Furchtsam wird davon geredet,er sei krank; ein Dunkelhutiger bringt ihm gewhnlich dieWrmevorrichtung und den Mate in seinen Schlafraum. Eines

    Nachmittags tragen sie dieses Geschft Otlora auf. Der fhlt sichunbestimmt gedemtigt und ist es doch zufrieden.

    Der Schlafraum ist unverputzt und dunkel. Ein Balkon ist da, dernach Sonnenuntergang liegt, ein breiter Tisch mit einem blitzenden

    Durcheinander von Mnzen, Zaumzeug, Patronengurten, Feuer- undStichwaffen; weit hinten ist ein Spiegel, dessen Scheibe fast

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    erblindet ist. Bandeira liegt flach auf dem Rcken; er schlft undsthnt im Schlaf; ein letzter greller Sonnenstrahl umreit seineGestalt; das mchtige weie Bett scheint sie zu schmlern und zuverschatten. Otlora bemerkt das graue Haar, die Ermdung, die

    Schlaffheit, die Faltenrisse der Jahre. Es emprt ihn, da dieserAlte ber sie herrscht. Er denkt, ein Sto reichte hin, und erwre erledigt. In diesem Augenblick sieht er im Spiegel, da

    jemand eingetreten ist. Es ist die rothaarige Frau; sie ist halbangezogen und barfu und mustert ihn mit kalter Neugier. Bandeirarichtet sich auf; whrend er von landwirtschaftlichen Dingenspricht und ein Glas Mate nach dem anderen herunterstrzt, spielenseine Finger mit den Flechten der Frau. Schlielich verabschiedet

    er Otlora.

    Tage danach erhalten sie die Weisung, in den Norden zu gehen. Sieerreichen ein verlorenes Gehft, das im Einerlei der endlosenGrassteppe liegt. Weder Bume noch ein Bach heitern es auf; dieerste und die letzte Sonne treffen es mit ihrem Strahl. SteinerneGehege sind da fr das Vieh, das schmutzig und bresthaft ist. ElSuspiro nennt sich dieses armselige Anwesen.

    Otlora kommt im Kreise der Knechte zu Ohren, da Bandeira innicht ferner Zeit von Montevideo her eintreffen wird. Er fragt,warum; einer erklrt, es gebe da einen auswrtigen Halbgaucho, dersich auf das Kommando spitze. Otlora begreift, da es ein Scherzsein soll, aber es schmeichelt ihm, da ein solcher Scherz bereitsgemacht werden kann. Dann bringt er heraus, da Bandeira sich miteinem der politischen Anfhrer verfeindet hat und da der ihm die

    Untersttzung entzogen hat. Diese Nachricht pat ihm.

    Schwere Waffen kommen in Kisten; ein Krug und ein Waschbecken ausSilber kommen, fr das Schlafgemach der Frau; es kommen gewirkteDamastvorhnge; eines Morgens kommt von den Hgeln einschwarzschattiger Reiter mit dichtem Bart und Poncho. Er heitUlpiano Surez und ist der "capanga" oder Hintermann von AzevedoBandeira. Er spricht sehr wenig und mit brasilianischem Akzent.

    Otlora wei nicht, ob er seine Zurckhaltung als Feindseligkeit,Nichtachtung oder bloe Ungeschliffenheit deuten soll. Das eine

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    wei er jedoch, da er fr den Plan, den er ausheckt, seineFreundschaft gewinnen mu.

    Dann tritt in das Schicksal von Benjamn Otlora ein gefleckter

    Rotschimmel ein, den Azevedo Bandeira aus dem Sden kommen ltund der in silberbeschlagenem Zaumzeug und einer mit Tigerfellgesumten Satteldecke prangt. Dieses groartige Pferd ist einSymbol der Herrschergewalt des Patrons, und deshalb gelstet denBurschen nach ihm, den alsbald mit rachschtiger Lust auch nachder Frau mit dem schimmernden Haar gelstet. Die Frau, dasZaumzeug und der Hengst sind die Attribute eines Mannes, den er zuvernichten trachtet.

    An diesem Punkt wird die Geschichte verwickelter undtiefgrndiger. Azevedo Bandeira versteht sich auf die Kunstzunehmender Einschchterung, auf die satanische Geschicklichkeit,den Partner stufenweise zu demtigen, indem er Ernst und Spamiteinander verquickt. Otlora beschliet, diese zweischneidigeMethode bei der harten Aufgabe, die er sich vornimmt, anzuwenden.Er beschliet, Azevedo Bandeira langsam von seinem Platz zu

    verdrngen. In Tagen gemeinsam durchstandener Gefahr gewinnt erSurez als Freund. Er vertraut ihm seinen Plan an; Surezverspricht ihm seinen Beistand. Vielerlei Dinge geschehen dann,von denen ich nur ein paar wenige wei. Otlora gehorcht Bandeiranicht; er vergit, verndert, verkehrt seine Befehle; dasUniversum scheint mit ihm im Bunde zu stehen und beschleunigt dieEreignisse. Eines Mittags kommt es im freien Feld von Tacuarembzu einer Schieerei mit Mnnern vom Rio Grande; Otlora setzt sich

    eigenmchtig an die Stelle Bandeiras und fhrt die Ostmnner an.Eine Kugel durchbohrt seine Schulter, doch an diesem Abend reitetOtlora auf dem Fuchshengst des Fhrers nach Suspiro, und andiesem Abend beflecken ein paar Tropfen von seinem Blut dasTigerfell, und in dieser Nacht schlft er bei der Frau mit demleuchtenden Haar. Andere Versionen des Vorfalls berichten dieTatsachen in umgekehrter Reihenfolge und stellen in Abrede, dasie an ein demselben Tage stattgefunden htten.

    Gleichwohl ist Bandeira dem Namen nach immer noch der Anfhrer. Er

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    gibt Befehle, die nicht ausgefhrt werden; Benjamn Otloravergreift sich nicht an ihm, aus einem Gemisch von Routine undErbarmen.

    Der letzte Auftritt der Geschichte steht in Zusammenhang mit denUnruhen in der letzten Nacht des Jahres 1894. In dieser Nachtessen die Mnner in Suspiro frisch geschlachtetes Fleisch undtrinken einen aufrhrerischen Alkohol; einer zupft ein Lied, dassich durch endlose Strophen qult. Am Kopfende der Tafel huftOtlora betrunken Hochgefhl auf Hochgefhl, Jubelrausch aufJubelrausch. Dieser Turm aus Taumel ist Sinnbild seinesunabwendbaren Geschicks. Bandeira, unter den Schreiern in

    Schweigen gehllt, lt die lrmende Nacht verrinnen. Als diezwlf Schlge der Glocke ertnen, steht er auf wie einer, der sicheiner Verpflichtung ersinnt. Er steht auf und klopft sachte an dieTr der Frau. Diese ffnet sogleich, als htte sie auf den Rufergewartet. Halb angezogen und barfu tritt sie heraus. Mit einerStimme, die weibisch und gezogen klingt, befiehlt ihr der Fhrer:

    "Da du und der aus Puerto euch so gernhabt, gib ihm hier auf der

    Stelle vor aller Augen einen Ku."

    Er setzt ein rohes Schimpfwort hinzu. Die Frau will sich struben,doch zwei Mnner haben sie bei den Armen gepackt und schleudernsie auf Otlora. Trnenberstrmt kt sie ihm das Gesicht und dieBrust. Ulpiano Surez hlt den Revolver umspannt. Otlora

    begreift, vor dem Sterben, da sie von Anfang an das Los ber ihngeworfen haben, da er zum Tode verurteilt war und da sie ihm die

    Liebe, den Befehl und den Triumph gegnnt haben, weil er fr siebereits tot, weil er fr Bandeira bereits ein Toter war.

    Surez gibt fast verchtlich Feuer.

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    Die Theologen

    Der Garten zerstampft, die Kelche und Altre entweiht: so drangendie Hunnen zu Ro in die Klosterbibliothek ein und zerfetzten dieunbegreifbaren Bcher, verlsterten und verbrannten sie,vielleicht aus Furcht, in ihren Lettern versteckten sichBlasphemien auf ihren Gott, der ein eisernes Krummschwert war.Palimpseste und Codices loderten auf; jedoch im Herzen desScheiterhaufens, unter der Asche, erhielt sich fast unversehrt das12. Buch der "Civitas Dei", welches erzhlt, da Platon in Athenlehrte, da am Ende der Jahrhunderte alle Dinge in ihren vorigenZustand wieder einkehren werden und er in Athen vor derselbenZuhrerschaft abermals diese Lehre vortragen wird. Der Text, dendie Flammen verschonten, geno besondere Verehrung, und dieMenschen dieser entlegenen Provinz, die ihn lasen und wiederlasen,vergaen ganz, da der Autor diese Lehre erlutert hatte, um sie

    besser widerlegen zu knnen. Ein Jahrhundert danach erfuhrAurelian, Koadjutor von Aquileja, da am Ufer der Donau die jngst

    aufgeschlossene Sekte der "Monotonoi" (auch "annulares" genannt)sich zu der Lehre bekannte, da die Geschichte ein Zirkel ist undda nichts ist, was nicht gewesen ist und sein wird. In den Bergenhatten das Rad und die Schlange das Kreuz verdrngt. Alle standenin Furcht, doch fanden alle Trost in dem Gercht, da Johannes vonPannonien, der sich mit einem Traktat ber das siebente AttributGottes hervorgetan hatte, im Begriffe war, mit einer derartscheulichen Ketzerei den Kampf aufzunehmen.

    Aurelian bedauerte diese Nachrichten, vor allem die letzte. Erwute, da in theologischen Fragen keine Neuerung gefahrlos ist;dann bedachte er bei sich, da die These von einer kreisfrmigenZeit viel zu ausgefallen, viel zu bestrzend sei, um die Gefahrgro werden zu lassen. (Zu frchten sind Ketzereien, die sich indie Orthodoxie einschleichen knnen.) Empfindlicher schmerzte ihndie Einmischung -- der Einbruch -- Johannes' von Pannonien. Vor

    zwei Jahren hatte er mit seinem wortreichen De septima affectioneDei sive de aeternitate einen Gegenstand an sich gerissen, der

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    speziell Aurelian anging; jetzt schickte er sich an, als htte erdas Problem der Zeit gepachtet, womglich mitProkrustes-Argumenten, mit Gegengiften, die mehr zu frchten seinmochten als die Schlange selbst, den "annulares" den Kopf

    zurechtzusetzen ... In dieser Nacht bltterte Aurelian in demfrhen Dialog Plutarchs ber das Aufhren der Orakel; unterParagraph 29 fand er einen spttischen Seitenhieb auf die Stoiker,die fr einen unendlichen Zyklus von Welten eintreten, mitunendlich vielen Sonnen, Monden, Apollos, Dianen und Poseidonen.Der Fund dnkte ihn ein glckliches Vorzeichen; er beschlo,Johannes von Pannonien zuvorzukommen und die Ketzer vom Rade zuwiederlegen.

    Mancher sucht die Liebe einer Frau, um sie zu vergessen, um nichtmehr an sie denken zu mssen; hnlich wollte Aurelian den Johannesvon Pannonien berwinden, um von dem Groll, den dieser ihmeinflte, zu genesen, nicht um ihm Schaden zuzufgen. Abgekhltdurch schiere Arbeit, durch das Schmieden von Syllogismen undInjurien, ber den nego, den autem und den nequaquam gelang esihm, seinen Groll zu vergessen. Er knpfte weitschweifige und

    nahezu unentwirrbare Satzperioden, gespickt mit Aussprchen, indenen die Schlampigkeit und der Schnitzer Formen der Nichtachtungzu sein schienen. Aus dem Miklang machte er ein Werkzeug. Ermutmate, da Johannes von Pannonien die "annulares" mit

    prophetischer Wucht zerschmettern wrde; um nicht in seine Kerbezu hauen, entschied er sich fr die Form spttischer Rge.Augustin hatte geschrieben, da Jesus der gerade Weg ist, der unsaus dem kreisfrmigen Labyrinth, in dem die Gottlosen umherirren,

    errettet; Aurelian, um Handgreiflichkeiten bemht, verglich siemit Ixionen, mit der Leber des Prometheus, mit Sisyphus, mit jenemthebanischen Knig, der zwei Sonnen am Himmel sah, mit demStottern, mit Papageien, mit Spiegeln, mit Echos, mit Eseln in derTretmhle und mit gehrnten Syllogismen. (Die Fabeln der Heidenlebten, zu Redeschmuck herabgesunken, fort.) Wie alle, die imBesitz einer Bibliothek sind, fhlte sich Aurelian schuldig, daer sie nicht bis zum letzten Buchstaben kannte; diese Kontroverse

    erlaubte ihm, mit einer ganzen Reihe von Bchern, die ihn derLssigkeit zu zeihen schienen, aufzurumen. So konnte er einen

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    Passus aus dem Werk De principiis des Origines anfhren, in demabgestritten wird, da Judas Ischariot den Herrn abermalsverkaufen und Paulus in Jerusalem abermals dem Martyrium Stephans

    beiwohnen wird, sowie einen anderen aus Ciceros Academica priora,

    wo dieser sich ber Leute lustig macht, die davon schwafeln, daim Augenblick, da er sich mit Lucullus unterhlt, andere Luculliund andere Cicerones in unendlicher Zahl haargenau dasselbe inunendlich gleichgearteten Welten sagen. Auch zog er gegen dieMonotonoi mit dem Text Plutarchs vom Leder und legte den Fingerauf das rgernis, da diesem, einem Gtzenanbeter, das "lumennaturale" hher stehe als ihnen das Wort Gottes. Neun Tage

    beanspruchte ihn diese Arbeit; am zehnten wurde ihm eine Abschrift

    der Widerlegung Johannes' von Pannonien zugeschickt.

    Sie war fast lcherlich knapp; Aurelian blickte auf sie mitVerachtung, dann mit Furcht. Der erste Teil war eine Glosse berdie Schluversikel im neunten Kapitel des Briefs an die Hebrer,wo gesagt wird, da Jesus nicht seit Anbeginn der Welt viele Malegeopfert wurde, sondern heute und immerdar im Ablauf derJahrhunderte. Im zweiten Teil fhrte er das Gebot der Bibel ber

    das leere "Plappern der Heiden" an (Matth. 6, 7) und jene Stelleim siebenten Buch des Plinius, wo bedacht wird, da es in demausgedehnten Weltganzen nicht zwei Gesichter gibt, die einandervllig gleich sind. Johannes von Pannonien erklrte, da esebensowenig zwei Seelen gebe und da der elendeste Snder kostbarsei wie das Blut, das Jesus Christus fr ihn vergossen habe. DieTat eines einzigen Menschen (behauptete er) wiegt mehr als dieneun konzentrischen Himmelssphren, und davon zu schwrmen, da er

    verlorengehen und wiederkommen knne, sei aufgelegter Frevel. DieZeit schafft nicht neu, was wir verlieren; die Ewigkeit bewahrt esfr die Glorie auf, aber auf fr das Hllenfeuer. Der Traktat warkristallklar, allumfassend; es war, als htte ihn nicht eine

    bestimmte Person abgefat, sondern jeder Mensch oder vielleichtalle Menschen.

    Aurelian empfand eine fast krperliche Demtigung. Zuerst wollte

    er seine eigene Arbeit vernichten oder in andere Form bringen;dann vermochte ihn seine grollende Rechtlichkeit dazu, sie ohne

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    Abnderung eines Buchstabens nach Rom zu schicken. Als Monatespter das Konzil von Pergamon zusammentrat, war der mit derAnfechtung der Irrtmer der Monotonoi betraute Theologe (wievorauszusehen) Johannes von Pannonien; seine gebildete und

    mavolle Widerlegung reichte hin, da Euphorbos, derKetzeranfhrer, zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde.Dies ist geschehen und wird abermals geschehen, sagte Euphorbos.Ihr zndet keinen Scheiterhaufen an, ihr legt Feuer an einLabyrinth. Wenn alle Flammen, in denen ich gewesen bin, hiervereinigt wren, vermchte die Erde sie nicht zu fassen, wrden anihnen die Engel erblinden. Dann schrie er auf, weil die Flammenihn erfaten.

    Das Rad sank nieder vor dem Kreuz [1], doch Aurelian und Johannessetzten ihre geheime Fehde fort. Beide Taten Dienst im gleichenHeer, trachteten nach der gleichen Auszeichnung, fhrten Krieggegen den gleichen Feind; doch schrieb Aurelian kein Wort, dasnicht uneingestandenermaen darauf berechnet war, Johannes zuberwinden. Sein Kummer trat nicht nach auen; wenn mich die reichgespickten Indices nicht tuschen, kommt in den zahlreichen in der

    Patrologia von Migne gehorteten Bnden von Aurelian der Name des"anderen" nicht ein einziges Mal vor. (Von den Werken des Johannesvon Pannonien sind nicht mehr als zwanzig Worte auf uns gekommen.)Beide mibilligten die Anathemata des zweiten Konzils vonKonstantinopel, beide verfolgten die Arianer, die die ewigeZeugung des Sohnes leugneten, beide vertraten also die rechtmigeLehre, die Topographica christiana des Cosmas, welche lehrt, dadie Erde viereckig ist wie die Bundeslade der Hebrer.

    Unseligerweise brach an den vier Ecken der Welt eine neueungestme Ketzerbewegung aus. Aus gypten oder Asien kommend (weildie Zeugnisse voneinander abweichen und Bousset die Grnde vonHarnack nicht gelten lassen will), verbreitete sie sich wie durchAnsteckung in den stlichen Provinzen und errichtete Heiligtmerin Mazedonien, in Karthago und in Trier. Sie schien allenthalbenzu sein, es ging die Rede, man habe in der Dizese Britannien dieKruzifixe umgedreht und habe in Csarea das Bild des Herrn durch

    einen Spiegel ersetzt. Spiegel und Obolus waren die Embleme derneuen Schismatiker.

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    Die Geschichte kennt sie unter vielen Namen (speculares,abismales, Kainiten); jedoch am gelufigsten ist histriones(Gaukler), ein Name, den Aurelian ihnen anhngte und den sie sich

    tollkhn zueigneten. In Phrygien hie man sie simulacres(Idolanbeter), desgleichen in Dardanien. Johannes Damascenus

    bezeichnet sie als formae; es gebhrt sich anzumerken, da Erfjorddie Stelle zurckgewiesen hat. Von ihren ausschweifendenLebensgewohnheiten berichten die Darsteller der Ketzergeschichteausnahmslos mit betroffenem Staunen. Viele Histrionen bekanntensich zur Askese; mache verstmmelten sich, wie Origines; anderehausten unter der Erde, in den Kloaken, wieder andere rissen sich

    die Augen aus; es gab welche (die Nebukadnezars von Nitrien), die"wie die Rinder von Gras lebten und deren Haut sich mit Adlerflaum

    bedeckte". Von der Kasteiung und der Hrte gegen sich selbstgingen sie hufig zum Verbrechen ber; manche Gemeinden duldetenden Raub; andere den Mord; wieder andere die Sodomie, dieBlutschande und die Vertierung. Alle waren Lsterer; und zwarverfluchten sie nicht nur den christlichen Gott, sondern auch diegeheimen Gottheiten ihres eigenen Pantheons. Sie verfertigten

    heilige Schriften, die zum Leidwesen der Gelehrten verlorengegangen sind. Sir Thomas Browne schrieb um das Jahr 1658: "DieZeit hat die vermessenen Evangelien der Histrionen in Nichtsaufgelst, nicht aber die Beschimpfungen, mit denen man ihreGottlosigkeit gegeielt hat." Erfjord hat die Vermutung geuert,diese "Beschimpfungen" (die sich in einem griechischen Codexerhalten haben) seien eben das Evangelium. Das ist unbegreiflich ,solange wir nicht die Kosmologie der Histrionen kennen.

    In den hermeneutischen Schriften steht geschrieben, da das wasunten ist, dem gleicht, was oben ist, und da das, was oben ist,dem gleicht, was unten ist; in dem Zohar, da die untere Welt derWiderschein der oberen ist. Die Histrionen grndeten ihre Lehreauf eine Verdrehung dieses Gedankens. Sie beriefen sich aufMatthus 6, 12 ("Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergebenunseren Schuldigern") und auf 11, 12 ("Das Himmelreich leidet

    Gewalt"), um zu beweisen, da die Erde auf den Himmel Einflu hat;und sie beriefen sich auf den Ersten Korintherbrief 13, 12 ("Wir

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    sehen heute durch einen Spiegel, in Dunkelheit"), um zu beweisen,da alles, was wir sehen, falsch ist. Vielleicht hatten sie,angesteckt von den Monotonoi, die Vorstellung, da jeder Menschaus zwei Menschen besteht und da der eigentliche der andere ist,

    der im Himmel wohnt. Auch hatten sie die Vorstellung, da unsereHandlungen einen Umkehrreflex aussenden, so da, wenn wirschlafen, der andere wacht, wenn wir Unzucht treiben, der anderekeusch ist, wenn wir rauben, der andere freigebig ist. Im Todewerden wir uns mit ihm vereinigen und er sein. (Ein Widerhalldieser Lehren hat sich bis auf Bloy gehalten.) Andere Histrionenvertraten die Anschauung, da die Welt untergehen werde, wenn sichdie Zahl ihrer Mglichkeiten erschpft habe; da es Wiederholungen

    nicht geben kann, mu der Gerechte die schndlichsten Tatenausschalten (indem er sie begeht), damit diese nicht alsMglichkeit die Zukunft beflecken und um die Herankunft desReiches Christi zu beschleunigen. Dieser Artikel wurde von anderenSekten abgelehnt, die vielmehr fr die Auffassung eintraten, dasich die Weltgeschichte in jedem Menschen vollenden mu. Diemeisten -- wie Pythagoras -- werden viele Leiber durchwandernmssen, bevor sie ihre Befreiung erlangen; manche, die Proteker,

    sind "am Endziel eines einzigen Erdenlebens Lwen, sind Drachen,sind Eber, sind Wasser und sind Baum". Demosthenes berichtet vonder Reinigung durch Schlamm, der im Verlauf der orphischenMysterien die Einweihungszglinge unterworfen wurden; dieProteker suchten auf analoge Art die Reinigung durch das Bse.Sie vertraten mit Karpokrates die Ansicht, da niemand demGefngnis entrinnen wird, ehe er nicht den letzten Obolusentrichtet hat (Lukas 12, 59), und pflegten dem Buwilligen jenen

    anderen Vers entgegenzuhalten: "Ich bin gekommen, da sie dasLeben und volle Genge haben" (Johannes 10, 10). Auch sagten sie,da kein beltter zu sein von satanischem Hochmut zeuge ...Zahlreiche und voneinander abweichende Mythologien setzten dieHistrionen in Umlauf; die einen predigten die Askese, die anderendie Ausschweifung, alle die Verwirrung. Theopompos, Histrion vonBerenike, leugnete die Fabeln insgesamt; er sagte, jeder Menschsei ein Organ, das die Gottheit aussendet, um die Welt zu

    empfinden.

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    Die Ketzer in der Dizese Aurelians gehrten jener Sekte an, diebehauptete, da die Zeit keine Wiederholungen duldet, nicht aberjener anderen, die behauptete, da jede Handlung ihren Widerscheinim Himmel hat. Dies war ein seltener Umstand; in seinem Bericht an

    die rmischen Behrden erwhnte ihn Aurelian. Der Prlat, indessen Hnde der Bericht gelangen sollte, war Beichtvater derKaiserin; jedermann wute, da dieses anspruchsvolle Amt ihm diegeheimen Wonnen der spekulativen Theologie versagte. Sein Sekretr-- ursprnglich Mitarbeiter des Johannes von Pannonien, jetzt mitihm verfeindet -- stand im Ruf eines beflissenen Aufsprersketzerischer Anschauungen. Aurelian fgte dem Bericht eineDarstellung der histrionischen Ketzerei hinzu, wie diese sich in

    den Sektengemeinden von Genua und Aquileja breitmachte. Er setzteeine Anzahl Paragraphen auf; als er die lsterliche These, da eskeine zwei einander gleichen Augenblicke gebe, niederschreibenwollte, stockte seine Feder. Er fand nicht die schlagendeFormulierung; die Mahnung der neuen Lehre ("Willst du schaun, wasmenschliche Augen nicht schauten? -- Sieh den Mond an. -- Willstdu hren, was die Ohren nicht vernahmen? -- Hre den Ruf desVogels. -- Willst du berhren, was Hnde nicht berhrten? --

    Berhre die Erde. Wahrlich, ich sage dir, da Gott sich anschickt,die Welt zu erschaffen") dnkten ihn allzu geziert undmetaphorisch, um angefhrt zu werden. Pltzlich trat ihm ein Gebetvon zwanzig Worten vor die Seele. Er schrieb es genuvoll hin;gleich darauf beunruhigte ihn der Verdacht, da es von einemanderen sei; am folgenden Tag fiel ihm ein, da er es vor vielenJahren in dem von Johannes von Pannonien verfaten Adversusannulares gelesen hatte. Er schlug die Stelle nach; da stand es.

    Unsicherheit marterte ihn. Die Worte verndern oder unterdrckenhie soviel wie den Ausdruck abschwchen; sie stehen lassen hieeinen Mann plagiieren, den er verabscheute; die Quelle angeben wargleichbedeutend mit einer Denunzierung. Er flehte um gttlichenBeistand. Gegen Anbruch der zweiten Dmmerung sagte ihm seinSchutzengel eine mittlere Lsung ein. Aurelian behielt die Worte

    bei, leitete sie jedoch mit folgender Bemerkung ein: Was heute dieKetzerhupter herausklffen, um den Glauben zu verwirren, das hat

    in diesem Jahrhundert ein hochgelahrter Mann nicht so sehr inschuldiger Absicht als leichtfertigerweise behauptet. Daraufhin

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    trat das Gefrchtete, das Erwartete, das Unvermeidliche ein.Aurelian mute sich darber erklren, wer dieser Mann sei;Johannes von Pannonien wurde wegen Verbreitung ketzerischerAnschauungen unter Anklage gestellt.

    Vier Monate spter lud ein Grobschmied vom Aventin, verblendetdurch die histrionischen Irrlehren, seinem kleinen Sohn eine groeEisenkugel auf die Schultern, damit sein Doppelgnger fliegensollte. Das Kind starb; das allgemeine Entsetzen ber dieverbrecherische Tat zwang die Richter Johannes' zuunverbrchlicher Strenge. Dieser verstand sich zu keinem Widerruf;er wiederholte, da seine Behauptungen leugnen soviel heie wie in

    den pestilenzialischen Irrtum der Monotonoi verfallen. Er begriffnicht (wollte nicht begreifen), da er mit Erwhnung der Monotonoiauf bereits Vergangenes die Rede brachte. Mit ein weniggreisenhaftem Starrsinn zitierte er die glnzendsten Satzperiodenaus seinen alten Streitschriften; die Richter wollten nicht einmalanhren, was sie ehedem zu Begeisterung hingerissen hatte. Anstattauf seine Reinigung von dem winzigsten Schandfleck vonHistrionismus bedacht zu sein, versteifte er sich auf den Beweis,

    da die Behauptung, deren man ihn anklagte, streng orthodox sei.Er lie sich mit den Mnnern, von deren Spruch sein Schicksalabhing, auf Diskussionen ein und beging den ungeschicktestenFehler, indem er geistvoll und ironisch mit ihnen verfuhr. Am 26.Oktober, im Anschlu an ein Streitgesprch, das drei Tage und drei

    Nchte gewhrt hatte, verurteilte man ihn zum Tode auf demScheiterhaufen.

    Aurelian war Zeuge der Hinrichtung, weil sein Fernbleiben einemSchuldbekenntnis gleichgekommen wre. Die Martersttte war einHgel, auf dessen grner Kuppe ein Pfahl tief in den Boden gerammtwar, umgeben von einer groen Anzahl Reisigbndel. EinGerichtsdiener verlas den Urteilsspruch. Unter der Mittagssonnelag Johannes von Pannonien, das Gesicht im Staub, tierischeHeultne ausstoend. Er scharrte die Erde auf; die Henker jedochrissen ihn weg, entkleideten ihn und schnrten ihn schlielich an

    den Pfahl. Aufs Haupt setzten sie ihm eine mit Schwefel getrnkteStrohkrone; an seine Seite ein Exemplar des pestilenzialischen

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    Adversus annulares. Es hatte in der vergangenen Nacht geregnet;das Holz wollte nicht brennen. Johannes von Pannonien betete aufgriechisch, darauf in einer unbekannten Sprache. Die Flammengarbenwaren nahe daran, ber ihm zusammenzuschlagen, als Aurelian die

    Augen zu heben wagte. Die glhenden Schwaden hielten inne;Aurelian sah zum ersten- und letztenmal das Antlitz des Verhaten.Es erinnerte ihn an jemanden, doch konnte er nicht genau sagen, anwen. Dann verging es in den Flammen; dann schrie es auf, und eswar als schriee eine Feuersbrunst.

    Plutarch berliefert, da Caesar den Tod des Pompejus beweinte;Aurelian beweinte nicht den des Johannes. Vielmehr hatte er das

    Gefhl eines Menschen, der von einer unheilbaren Krankheit, dieschon zu einem Teil seines Wesens geworden ist, genest. InMazedonien, in Aquileja, in Ephesus lie er die Jahre ber sichhingehen. Er suchte die bedrngten Grenzmarken des Imperiums auf,die trben Sumpfgebiete, die selbstversunkenen Wsten, damit dieEinsamkeit ihn sein Schicksal zu verstehen helfe. In einer ZelleMauretaniens, in der lwenschwangeren Nacht, durchdachte derabermals die verwickelte Anklage gegen Johannes von Pannonien und

    rechtfertigte vor sich zum x-ten Male den Urteilsspruch. Mehr Mhekostete es ihn, seine gewundene Anzeige zu rechtfertigen. InRussadir hielt er die unzeitgeme Predigt: "Licht der Lichter,aufgegangen im Fleisch eines Abtrnnigen". In Hibernia, in einerder Htten eines waldumschlossenen Klosters, berraschte ihn eines

    Nachts gegen Morgengrauen das Gerusch des Regens. Eine Nacht inRom fiel ihm ein, whrend der ihn auch dieses winzige Geruschberrascht hatte. In der Mittagsstunde setzte ein Blitz die Bume

    in Brand, und Aurelian konnte sterben, wie Johannes gestorben war.

    Der Schlu der Geschichte lt sich nur metaphorisch wiedergeben,da er im Reich der Himmel spielt, wo es keine Zeit gibt.Vielleicht mte man sagen, da Aurelian sich mit Gott unterhielt,und da Er, der sich fr Glaubensdifferenzen so weniginteressiert, ihn fr Johannes von Pannonien hielt. Das hiee

    jedoch dem gttlichen Geist eine Verwechslung ansinnen. Richtiger

    ist, wenn wir sagen, da Aurelian im Paradies zu der Einsicht kam,da in den Augen der unerforschlichen Gottheit er und Johannes von

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    Pannonien (der Orthodoxe und der Ketzer, der Hassende und derGehate, der Klger und das Opfer) ein und dieselbe Persondarstellten.

    [1] In dem Runenkreuz leben die beiden verfeindeten Emblemeineinander verschlungen gemeinsam fort.

    Geschichte vom Krieger und der Gefangenen

    Auf Seite 278 des Buches La Poesia (Bari, 1942) erzhlt Croce nachdem lateinischen Text des Geschichtsschreibers Paulus Diaconusknapp zusammengefat das Geschick des Droctulft und fhrt seineGrabinschrift an; beide gingen mir seltsam nahe, doch begriff icherst spter, warum. Dieser Droctulft war ein langobardischer

    Krieger, der bei der Belagerung von Ravenna die Seinen im Stichlie und in Verteidigung der Stadt, die er vorher angegriffenhatte, den Tod fand. Die Ravennaten setzten ihn in einem Tempel

    bei und verfaten eine Grabinschrift, die als Zeugnis ihrerDankbarkeit ("contempsit caros, dum nos amat ille, parentes") demauffallenden Widerspruch zwischen dem grimmigen Aussehen desBarbaren und seiner Gte und Herzenseinfalt Rechnung trug.

    Terribilis visu facies, sed mente benigna,Longaque robusto pectore barba fuit [1]

    So lautet die Geschichte vom Schicksal Droctulfts, des Barbaren,der als Verteidiger Roms, starb, oder vielmehr, so lautet dasBruchstck seiner Geschichte, das Paulus Diaconus der Nachwelt zuerhalten vermochte. Ich wei nicht einmal, in welcher Zeit sievorfiel, ob um die Mitte des 6. Jahrhunderts, als die Langobarden

    die Fluren Italiens verheerten, ob im 8. Jahrhundert, vor dem FallRavennas. Nehmen wir (da es hier ja um keine historische

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    Abhandlung geht) das erste an.

    Stellen wir uns Droctulft sub specie aeternitatis vor, nicht denEinzelmenschen Droctulft, der ohne Zweifel einzigartig und

    unergrndlich war (alle Einzelmenschen sind es), sondern denGattungstyp, zu dem ihm wie viele andere die berlieferung, an derVergelichkeit und Gedchtnis gleichermaen bilden, gemacht hat.Durch eine unberschaubare Wald- und Sumpflandschaft zogen dieKriege ihn nach Italien, von den Ufern der Donau oder der Elbeher, und am Ende wute er nicht einmal, da es nach Sden ging, amEnde wute er nicht einmal, da er gegen den rmischen Namenfocht. Vielleicht bekannte er sich zu den Arianern, die

    behaupteten, die Glorie des Sohnes sei nur ein Widerschein derGlorie des Vaters; doch ist wohl eher anzunehmen, da er demGlauben an die Erde, Hertha, huldigte, deren Bild auf einem mitKhen bespannten Wagen verhllt von Htte zu Htte zog, oder daer an die Gtter des Krieges und des Donners glaubte, roheBildwerke aus Holz, die in Webzeug gekleidet und mit Mnzen undArmspangen behngt waren. Er kam aus den undurchdringlichenWldern von Eber und Ur; er war weihutig, beherzt, harmlosen

    Gemts, grausam, treu seinem Herzog und seiner Sippe, nicht demUniversum. Die Kriege lotsen ihn nach Ravenna, und hier erblickter etwas, das er noch nie erblickt oder nie in Flle erblickt hat.Er sieht den Tag, die Zypressen, den Marmor. Er sieht ein Gefge,das vielfach ohne Verworrenheit ist; er sieht eine Stadt, einenOrganismus aus Standbildern, Tempeln, Grten, Wohnhusern,Stiegen, Steinvasen, Sulenknufen, ebenmigen undaufgeschlossenen Rumen. Keines dieser Gebilde (ich tusche mich

    nicht) empfindet er als schn; eher wirken sie auf ihn wie heuteauf uns eine komplizierte technische Anlage, deren Zweck uns nichteinleuchtet, deren Plan uns jedoch eine unsterblicheVerstandeskraft erahnen lt. Vielleicht braucht er nur eineneinzigen Bogen zu sehen, mit einer unverstndlichen Inschrift inewigen rmischen Lettern. Jhlings blendet und erneuert ihn dieseOffenbarung: die Stadt. Er wei, da er in ihr nur ein Hund seinwird oder ein Kind, und da er nicht einmal den Anfang finden

    wird, sie zu begreifen, aber er wei auch, da sie mehr wert istals seine Gtter, mehr wert als die gelobte Treue und als alle

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    Smpfe Deutschlands. Droctulft lt seine Leute im Stich undkmpft fr Ravenna. Er findet den Tod, und in seinen Denksteingrbt man Worte, die er nicht verstanden htte:

    Contempsit caros, dum nos amat ille, parentesHunc patriam reputans esse, Ravenna, suam.

    Er war kein Verrter (Verrtern weiht man keine piettvollenGrabinschriften), er war ein Erleuchteter, ein Bekehrter. Ein paarGenerationen spter taten es die Langobarden ihm, den sie alsberlufer beschuldigten, nach; sie wurden Italiener, Lombarden,und es mag einer aus seinem Blut gewesen sein -- Aldiger --, der

    jene zu zeugen vermochte, die den Alighieri zeugten ... VielerleiVermutungen lassen sich an Droctulfts tat knpfen; meine ist diesparsamste, wenn sie nicht als Tatsache wahr ist, wird sie es alsSymbol sein.

    Als ich in Croces Buch die Geschichte vom Krieger las, bewegte siemich sonderbar stark; und es war mir dabei, als fiele mir hier inanderer Gestalt etwas zu, das mein gewesen war. Beilufig dachte

    ich an die mongolischen Reiterhorden, die aus China einunermeliches Weidegebiet machen wollten und die dann in denStdten alt wurden, nach deren Zerstrung es sie gelstet hatte;dies war jedoch nicht die Erinnerung, die ich suchte. Zuletztstie ich auf sie; es war eine Geschichte, die ich einst vonmeiner Gromutter englischer Abkunft gehrt habe.

    Im Jahre 1872 war mein Grovater Kommandant der Nord- und

    Westgrenze Buenos Aires und der Sdgrenze Santa F. DieKommandantur befand sich in Junn; darber hinaus erstreckte sichmit Zwischenabstnden von zwanzig bis fnfundzwanzig Kilometerndie Kette der Forts; noch weiter hinaus lag das, was sich damalsdie Pampa oder Tierra Adentro nannte. Meine Gromutter uertesich gelegentlich kopfschttelnd oder belustigt ber ihrSchicksal, das sie als Englnderin in diesen letzten Winkel derErde verbannt hatte; man sagte zu ihr, sie sei nicht die einzige,

    und machte sie Monate spter auf eine junge indianische Frauaufmerksam, die langsam die Plaza berquerte. Sie war bekleidet

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    mit zwei rotgefrbten Umhngen und ging barfu; ihre Haarstrhnenwaren blond. Ein Soldat richtete ihr aus, hier sei noch eineEnglnderin, die mit ihr sprechen wolle. Die Frau wareinverstanden; sie betrat die Kommandantur furchtlos, wenn auch

    nicht ohne Argwohn. In ihrem kupferfarbenen Gesicht, bemalt mitschreienden Farben, waren die Augen von jenem abgeblaten Blau,das die Englnder grau nennen. Der Leib war geschmeidig wie dereiner Hindin, die Hnde stark und knochig. Sie kam aus der Einde,aus Tierra Adentro, und alles war ihr zu klein: die Tren, dieWnde, die Mbel.

    Vielleicht fhlten sich die beiden Frauen fr einen Augenblick wie

    Schwestern; beide fern von ihrer Insel und in einem unglaublichenLand. Meine Gromutter stellte die eine oder andere Frage; dieandere gab ihr mhsam Antwort, nach Worten suchend und sie ein

    paarmal wiederholend, gleichsam berrascht von einem frherenGeschmack. Seit fnfzehn Jahren hatte sie wohl ihre Heimatsprachenicht mehr gebraucht, und es viel ihr nicht leicht, siewiederzuerlangen. Sie sagte, da sie aus Yorkshire gebrtig sei,da ihre Eltern nach Buenos Aires ausgewandert seien, da sie sie

    auf einem Gterzug verloren, da die Indianer sie verschleppthtten und da sie heute die Frau eines Huptlings sei, dem siezwei Shne geschenkt htte, und da er ein tapferer Mann sei. Dasalles sagte sie in einem derben Englisch, das mit Amerikanisch undPampa durchsetzt war; ihre Schilderung lie auf ein halbtierischesDasein schlieen; Zelte aus Pferdehaut, Feuersttten aus Mist,Festmhler, bei denen halb angekohltes Fleisch oder roheEingeweide verschlungen wurden, verschwiegene Streifzge bei

    Morgengrauen, berflle auf Viehgehege, Kriegsgeschrei undPlnderung, Kmpfe, von nackten Reitern zusammengetriebene Herden,Vielweiberei, Gestank und Zauberei. In diese Barbarei war eineEnglnderin abgesunken. Von Mitleid und Entrstung getrieben,drang meine Gromutter in sie, nicht wieder dorthin zu gehen. Sieschwor ihr Beistand zu, beteuerte, da sie ihre Kinder freikaufenwrde. Die andere gab ihr zur Antwort, sie sei glcklich, undkehrte in derselben Nacht in die Einde zurck. Francisco Borges

    sollte wenig spter, im Laufe der Revolution 74, sterben;vielleicht hat erst da meine Gromutter in der anderen Frau, die

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    ja auch dieser unbarmherzige Kontinent an sich gerissen undumgeformt hatte, ein monstrses Spiegelbild ihres eigenenSchicksals erblickt.

    In all den Jahren pflegte die Indianerin die Schenken von Junnoder von Fuerte Lavalle zur Besorgnis von Trdelware und"Feuerwasser" aufzusuchen; seit dem Gesprch mit meiner Gromuttererschien sie nicht mehr. Und doch sahen die beiden einander einzweites Mal. Meine Gromutter war auf die Jagd gegangen; auf einemRancho nahe bei den Smpfen schnitt ein Mann einem Schaf die Kehledurch. Wie eine Traumerscheinung ritt die Indianerin zu Pferdevorbei. Sie warf sich zu Boden und trank das dampfende Blut. Ich

    wei nicht, ob sie schon nicht mehr anders konnte, oder ob sie esaus Trotz und als Zeichen tat.

    Dreizehnhundert Jahre und das Meer liegen zwischen dem Schicksalder Gefangenen und dem Schicksal Droctulfts. Beide sind heutegleichermaen unwiederbringlich. Die Gestalt des Barbaren, der dieSache Ravennas krt, die Gestalt der europischen Frau, die sichfr die Wildnis entscheidet, mgen antagonistisch erscheinen. Und

    doch hat beide ein verborgener Drang mit fortgerissen, ein Drang,tiefer als die Vernunft, und beide haben sie diesem Drang, den sienicht htten rechtfertigen knnen, nachgegeben. Vielleicht sind

    beide Geschichten, die ich erzhlt habe, eine einzige Geschichte.Schauseite und Kehrseite dieser Mnze sind fr Gott dasselbe.

    [1] Auch Gibbon (Decline and fall, XLV) fhrt die Verse an.

    Biographie von Tadeo Isidoro Cruz (1829 - 1874)

    I'm looking for the face I hadBefore the world was made.

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    Yeats: The winding stair

    Am sechsten Februar 1829 machten die Freischrler, die, vonLavalle geschlagen, von Sden heraufmarschierten, um sich denDivisionen von Lopez anzuschlieen, Rast auf einer Estancia, deren

    Namen sie nicht kannten, drei oder vier Meilen von Pergaminoentfernt; gegen Morgen hatte einer der Mnner einen hartnckigenAlptraum. Im Halbdunkel der Stallung weckte das wirre Gebrll dieFrau, die bei ihm schlief, auf. Niemand wei, was ihm trumte,denn am nchsten Tag, gegen vier Uhr, wurden die Freischrler von

    Suarez' Reiterei zersprengt, und die Verfolgung erstreckte sichber neun Meilen bis zu den schon sumpfigen Grasbden, und derMann verendete in einem Bewsserungsgraben, den Schdel gespaltenvon einem Sbel aus den Kriegen zwischen Peru und Bolivien. DieFrau hie Isidora Cruz; der Sohn, den sie bekam, erhielt den NamenTadeo Isidoro.

    Ich habe nicht vor, seine Geschichte noch einmal zu erzhlen. Von

    den Tagen und Nchten, aus denen sie sich zusammensetzt,interessiert mich nur eine Nacht; was das brige betrifft, sowerde ich nur das zum Verstndnis dieser Nacht Unentbehrliche

    berichten. Das Abenteuer steht in einem berhmten Buch, das heitin einem Buch, dessen Inhalt alles fr alle sein kann (I. Kor. 9,22), denn es befhigt zu fast unerschpflichen Wiederholungen,Versionen und Perversionen. Wer auch immer sich zu der Geschichtevon Tadeo Isidoro geuert hat -- und es sind viele gewesen --,

    hat den Einflu der "Llanura" auf die Bildung seines Wesenshervorgehoben; aber Gauchos seiner Art lebten und starben auch anden waldigen Ufern des Paran und in den Felsgebirgen im Osten.Soviel steht fest, da er sein Leben in einer Welt eintnigerBarbarei verbrachte. Als er im Jahr 1874 an den schwarzen Blatternstarb, hatte er noch nie weder einen Berg noch eine Gasflamme nocheine Mhle gesehen. Ebensowenig eine Stadt. Im Jahr 1849 war er inBuenos Aires mit einer Truppe, die Francisco Xavier Acevedo

    aufgestellt hatte; die Soldaten drangen in die Stadt ein, um denBefestigungsgrtel zu subern; Cruz setzte mitrauisch keinen Fu

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    aus einem Gasthaus in der Nachbarschaft der Viehgehege. Dortverbrachte er viele Tage, in sich gekehrt, am Boden nchtigend,Mate trinkend, am Morgen aufstehend und sich im Gebet sammelnd. Er

    begriff (ber alle Worte, ja selbst ber das Verstehen hinaus),

    da mit ihm die Stadt nichts zu tun hatte. Einer der Peone machtesich in der Trunkenheit ber ihn lustig. Cruz gab ihm keineAntwort, aber in den Nchten des Rckmarschs setzte ihm der andereweiter mit spitzigen Redensarten zu; da erst streckte Cruz (dervorher keinen Groll, ja nicht einmal Mivergngen verraten hatte)ihn mit einem Dolchsto nieder. Auf der Flucht mute er sich ineiner Lagune verstecken; Nchte darauf belehrte ihn der Schreieines "chja", da die Polizei ihn eingekreist hatte. Er erprobte

    sein Messer an einem Strauch; um nicht zu Fu behindert zu sein,legte er die Sporen ab. Er wollte lieber kmpfen als sich ergeben.Er wurde verwundet, am Unterarm, an der Schulter, an der linkenHand; er verwundete die Tapfersten unter seinen Angreifern schwer;als ihm das Blut durch die Finger rann, kmpfte er mutiger denn

    je; gegen Morgen, als er von Blutverlust schwindlig war,entwaffneten sie ihn. Das Heer bte damals eine strafendeGerichtsfunktion aus; Cruz wurde in ein kleines Fort an der

    Nordgrenze abkommandiert. Als gemeiner Soldat nahm er an denBrgerkriegen teil; manchmal stritt er fr seine Heimatprovinz,manchmal dagegen. Am 23. Januar 1856 war er in den Lagunen vonCardoso einer von den dreiig Weien, die unter dem Befehl desObersergeanten Eusebio Laprida den Kampf mit zweihundert Indianernaufnahmen. Bei diesem Gefecht empfing er eine Lanzenwunde.

    In seiner dunklen und tapferen Geschichte klafften zahlreiche

    Lcken. Wir wissen, da er um 1868 wieder in Pergamino war;Ehemann oder Junggeselle, war er Vater eines Kindes, Herr ber einStck Land. 1869 wurde er zum Sergeanten der Landpolizei ernannt.Er hatte die Vergangenheit ins Reine gebracht; in dieser Zeitmute er sich fr Glcklich halten, obwohl er es im Grunde nichtwar. (Auf ihn wartete in der Zukunft verborgen, eine hellsichtige

    Nacht aller Nchte; die Nacht, in der er am Ende sein eigenesGesicht erblickte, die Nacht, in der er am Ende seinen eigenen

    Namen hrte. Recht verstanden erschpft diese Nacht seineGeschichte, oder -- besser gesagt -- ein Augenblick, eine Tat

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    dieser Nacht, denn die Taten sind unser Sinnbild.) JedesSchicksal, wie weitlufig und verschlungen es auch sein mag,

    besteht in Wirklichkeit in einem einzigen Augenblick; demAugenblick, in dem der Mensch fr immer wei, wer er ist. Es wird

    erzhlt, da Alexander von Mazedonien seine eiserne Zukunft in dersagenhaften Geschichte des Achilles gespiegelt sah; Karl XII. vonSchweden in der Geschichte Alexanders. Tadeo Isidoro Cruz, dernicht lesen konnte, wurde diese Erkenntnis nicht in einem Buchoffenbart; er sah sich selbst in einem Gefecht und einem Manne.Die Sache spielte sich folgendermaen ab:

    In den letzten Junitagen des Jahres 1870 erhielt er den Befehl,

    einen beltter auszuheben, der der Gerichtsbarkeit zwei Todeschuldig war. Dieser man war ein Deserteur der Streitkrfte, diean der Sdgrenze der Oberst Benito Machado befehligte; im Rauschhatte er in einem Freudenhaus einen Farbigen gettet; in einemanderen Rausch einen Parteignger von Rojas; der Steckbrief

    besagte auerdem, da er von der Lagune Colorado her unterwegssei. An derselben Stelle hatten sich vor vierzig Jahren dieFreischrler zu jenem Unglckszug gesammelt, der ihre Gebeine den

    Vgeln und Hunden preisgegeben hatte; von dorther kam Manuel Mesa,der auf der Plaza de la Victoria hingerichtet wurde, indessen mandie Trommel rhrte, damit man seinen Zorn nicht hren sollte; vondort der Unbekannte, der Cruz zeugte und in einem Wassergrabenverendete, den Schdel gespalten von einem Sbel aus denSchlachten zwischen Peru und Brasilien. Cruz hatte diesen Namenvergessen; mit leiser, aber unerklrlicher Beunruhigung erkannteer ihn wieder ... Der Verbrecher, von den Soldaten gehetzt, wob zu

    Pferd ein Riesenlabyrinth aus Hin- und Rckwegen; diese stelltenihn trotzdem in der Nacht des 12. Juli. Er hatte sich in einSumpffeld geflchtet. Die Dunkelheit war fast undurchdringlich;Cruz und seine Leute schlichen behutsam und zu Fu auf dasGestruch zu, in dessen schauernder Tiefe der versteckte Mannlauerte oder schlief. Ein "chja" schrie: Tadeo Isidoro hatte dasGefhl, als htte er diesen Augenblick schon einmal erlebt. DerVerbrecher trat aus seinem Schlupfwinkel hervor, bereit, mit ihnen

    zu kmpfen. Cruz sah ihn in seiner Furchtbarkeit: die wucherndeHaarmhne und der graue Bart schienen sein Gesicht aufzuzehren.

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    Ein notorischer Grund verbietet mir die Schilderung des Kampfes.Genug: der Deserteur verwundete und ttete mehrere Mnner vonCruz. Dieser, wie er da im Dunkeln kmpfte (wie sein Leib imDunkeln kmpfte), fing an zu begreifen. Er begriff, da ein

    Schicksal nicht besser ist als das andere, aber da der Mensch zudem, was er in sich trgt, stehen mu. Er begriff, da ihn dieAchselschnre und die Uniform schon behinderten. Er begriff seineinnere Bestimmung eines Wolfs, nicht eines Herdenhundes; er

    begriff, da der andere er selber war. ber der ungeheuren Llanuratagte der Morgen; Cruz schleuderte das Kppi zu Boden, schrie, erwillige nicht in das Verbrechen ein, da ein Tapferer umgebrachtwerde, und stellte sich zum Kampf gegen die Soldaten an die Seite

    des Deserteurs Martin Fierro.

    Emma Zunz

    Am 14. Januar 1922 fand Emma Zunz, als sie von der TextilfabrikTarbuch und Loewenthal heimkam, im hintersten Flur einen inBrasilien aufgegebenen Brief, aus dem sie erfuhr, da ihr Vatergestorben war. Auf den ersten Blick lie sie sich durch die Markeund den Umschlag tuschen; dann erschreckte sie die unbekannteSchrift. Neun oder zehn hingeworfene Zeilen mhten sich, das Blattzu fllen; Emma las, Herr Maier habe versehentlich eine zu Starke

    Dosis Veronal eingenommen und sei am dritten dieses [Monats?] imKrankenhaus von Bag verschieden. Unterzeichnet war dieseMitteilung von einem Pensionsgefhrten ihres Vaters, einemgewissen Fein oder Fai aus Rio Grande, der nicht wissen konnte,da er sich an die Tochter des Verstorbenen wandte.

    Emma lie das Briefblatt fallen. Das erste, was sie empfand, wareine belkeit im Leib und in den Knien; dann ein Gefhl von

    blanker Schuld, von Unwirklichkeit, von Klte, von Furcht; dannwnschte sie, es wre schon morgen. Im selben Augenblick begriff

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    sie, da dieser Wunsch nutzlos war, weil das einzige, was sich inder Welt ereignet hatte, der Tod ihres Vaters war, und da er sichendlos weiter ereignen wrde. Sie hob das Blatt auf und ging inihr Zimmer. Verstohlen barg sie es in einer Schublade, als htte

    sie bereits irgendwie Kenntnis von den knftigen Vorgngen. Siehatte vielleicht schon angefangen, sie in Gedanken zu streifen,war schon, die sie knftig sein wrde.

    In der zunehmenden Dunkelheit beweinte Emma Zunz bis in die sptenNachtstunden den Selbstmord Manuel Maiers, der in den altenglcklichen Tagen Emanuel Zunz gewesen war. Sie erinnerte sich anSommeraufenthalte