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Brief einer Unbekannten Stefan Zweig

Brief einer Unbekannten - WordPress.commmf3literaturprojekt.files.wordpress.com › 2008 › 05 › brief_einer_unbekannten...Roheit. Der Mann war ein Trunkenbold und schlug seine

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  • Brief einer Unbekannten

    Stefan Zweig

  • Als der bekannte Romanschristeller R. frühmorgensvon dreitägigem erfrischendem Ausflug ins Gebirgewieder nach Wien zurückkehrte und am Bahnhof eineZeitung kaue, wurde er, kaum daß er das Datumüberflog, erinnernd gewahr, daß heute sein Geburts-tag sei. Der einundvierzigste, besann er sich rasch,und diese Feststellung tat ihm nicht wohl und nichtweh. Flüchtig überblätterte er die knisternden Seitender Zeitung und fuhr mit einem Mietautomobil inseine Wohnung. Der Diener meldete aus der Zeitseiner Abwesenheit zwei Besuche sowie einige Tele-phonanrufe und überbrachte auf einem Tablett dieangesammelte Post. Lässig sah er den Einlauf an, rißein paar Kuverts auf, die ihn durch ihre Absenderinteressierten; einen Brief, der fremde Schrizügetrug und zu umfangreich schien, schob er zunächstbeiseite. Inzwischen war der Tee aufgetragen worden,bequem lehnte er sich in den Fauteuil, durchblättertenoch einmal die Zeitung und einige Drucksachen;dann zündete er sich eine Zigarre an und griff nunnach dem zurückgelegten Briefe.Es waren etwa zwei Dutzend hastig geschriebeneSeiten in fremder, unruhiger Frauenschri, ein Manu-skript eher als ein Brief. Unwillkürlich betastete ernoch einmal das Kuvert, ob nicht darin ein Begleit-schreiben vergessen geblieben wäre. Aber der Um-schlag war leer und trug so wenig wie die Blätter

  • selbst eine Absenderadresse oder eine Unterschri.Seltsam, dachte er, und nahm das Schreiben wiederzur Hand. »Dir, der Du mich nie gekannt«, stand obenals Anruf, als Überschri. Verwundert hielt er inne:galt das ihm, galt das einem erträumten Menschen?Seine Neugier war plötzlich wach. Und er begann zulesen:

    Mein Kind ist gestern gestorben – drei Tage und dreiNächte habe ich mit dem Tode um dies kleine, zarteLeben gerungen, vierzig Stunden bin ich, während dieGrippe seinen armen, heißen Leib in Fieber schüttelte,an seinem Bette gesessen. Ich habe Kühles um seineglühende Stirn getan, ich habe seine unruhigen, klei-nen Hände gehalten Tag und Nacht. Am drittenAbend bin ich zusammengebrochen. Meine Augenkonnten nicht mehr, sie fielen zu, ohne daß ich eswußte. Drei Stunden oder vier war ich auf dem hartenSessel eingeschlafen, und indes hat der Tod ihn ge-nommen. Nun liegt er dort, der süße arme Knabe, inseinem schmalen Kinderbett, ganz so wie er starb; nurdie Augen hat man ihm geschlossen, seine klugen,dunkeln Augen, die Hände über dem weißen Hemdhat man ihm gefaltet, und vier Kerzen brennen hochan den vier Enden des Bettes. Ich wage nicht hinzuse-hen, ich wage nicht mich zu rühren, denn wenn sieflackern, die Kerzen, huschen Schatten über sein Ge-sicht und den verschlossenen Mund, und es ist dannso, als regten sich seine Züge, und ich könnte meinen,er sei nicht tot, er würde wieder erwachen und mitseiner hellen Stimme etwas Kindlich-Zärtliches zu

  • mir sagen. Aber ich weiß es, er ist tot, ich will nichthinsehen mehr, um nicht noch einmal zu hoffen, nichtnoch einmal enttäuscht zu sein. Ich weiß es, ich weißes, mein Kind ist gestern gestorben – jetzt habe ichnur Dich mehr auf der Welt, nur Dich, der Du vonmir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst odermit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, derDu mich nie gekannt und den ich immer geliebt.Ich habe die füne Kerze genommen und hier zu demTisch gestellt, auf dem ich an Dich schreibe. Denn ichkann nicht allein sein mit meinem toten Kinde, ohnemir die Seele auszuschreien, und zu wem sollte ichsprechen in dieser entsetzlichen Stunde, wenn nicht zuDir, der Du mir alles warst und alles bist! Vielleichtkann ich nicht ganz deutlich zu Dir sprechen, viel-leicht verstehst Du mich nicht – mein Kopf ist ja ganzdumpf, es zuckt und hämmert mir an den Schläfen,meine Glieder tun so weh. Ich glaube, ich habe Fieber,vielleicht auch schon die Grippe, die jetzt von Tür zuTür schleicht, und das wäre gut, denn dann ginge ichmit meinem Kinde und müßte nichts tun wider mich.Manchmal wirds mir ganz dunkel vor den Augen,vielleicht kann ich diesen Brief nicht einmal zu Endeschreiben – aber ich will alle Kra zusammentun, umeinmal, nur dieses eine Mal zu Dir zu sprechen, Dumein Geliebter, der Du mich nie erkannt.Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum erstenmalalles sagen; mein ganzes Leben sollst Du wissen, dasimmer das Deine gewesen und um das Du nie ge-wußt. Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen,wenn ich tot bin, wenn Du mir nicht mehr Antwort

  • geben mußt, wenn das, was mir die Glieder jetzt sokalt und heiß schüttelt, wirklich das Ende ist. Muß ichweiterleben, so zerreiße ich diesen Brief und werdeweiter schweigen, wie ich immer schwieg. Hältst Duihn aber in Händen, so weißt Du, daß hier eine ToteDir ihr Leben erzählt, ihr Leben, das das Deine warvon ihrer ersten bis zu ihrer letzten wachen Stunde.Fürchte Dich nicht vor meinen Worten; eine Tote willnichts mehr, sie will nicht Liebe und nicht Mitleid undnicht Tröstung. Nur dies eine will ich von Dir, daßDu mir alles glaubst, was mein zu Dir hinflüchtenderSchmerz Dir verrät. Glaube mir alles, nur dies einebitte ich Dich: man lügt nicht in der Sterbestundeeines einzigen Kindes.Mein ganzes Leben will ich Dir verraten, dies Leben,das wahrha erst begann mit dem Tage, da ich Dichkannte. Vorher war bloß etwas Trübes und Verwor-renes, in das mein Erinnern nie mehr hinabtauchte,irgendein Keller von verstaubten, spinnverwebten,dumpfen Dingen und Menschen, von denen meinHerz nichts mehr weiß. Als Du kamst, war ich drei-zehn Jahre und wohnte im selben Hause, wo Du jetztwohnst, in demselben Hause, wo Du diesen Brief,meinen letzten Hauch Leben, in Händen hältst, ichwohnte auf demselben Gange, gerade der Tür DeinerWohnung gegenüber. Du erinnerst Dich gewiß nichtmehr an uns, an die ärmliche Rechnungsratswitwe(sie ging immer in Trauer) und das halbwüchsige,magere Kind – wir waren ja ganz still, gleichsamhinabgetaucht in unsere kleinbürgerliche Dürigkeit

    – Du hast vielleicht nie unseren Namen gehört, denn

  • wir hatten kein Schild auf unserer Wohnungstür, undniemand kam, niemand fragte nach uns. Es ist ja auchschon so lange her, fünfzehn, sechzehn Jahre, nein, Duweißt es gewiß nicht mehr, mein Geliebter, ich aber,oh, ich erinnere mich leidenschalich an jede Einzel-heit, ich weiß noch wie heute den Tag, nein, dieStunde, da ich zum erstenmal von Dir hörte, Dichzum erstenmal sah, und wie sollte ichs auch nicht,denn damals begann ja die Welt für mich. Dulde,Geliebter, daß ich Dir alles, alles von Anfang erzähle,werde, ich bitte Dich, die eine Viertelstunde von mirzu hören nicht müde, die ich ein Leben lang Dich zulieben nicht müde geworden bin.Ehe Du in unser Haus einzogst, wohnten hinter Dei-ner Tür häßliche, böse, streitsüchtige Leute. Arm wiesie waren, haßten sie am meisten die nachbarlicheArmut, die unsere, weil sie nichts gemein habenwollte mit ihrer herabgekommenen, proletarischenRoheit. Der Mann war ein Trunkenbold und schlugseine Frau; o wachten wir auf in der Nacht vomGetöse fallender Stühle und zerklirrter Teller, einmallief sie, blutig geschlagen, mit zerfetzten Haaren aufdie Treppe, und hinter ihr grölte der Betrunkene, bisdie Leute aus den Türen kamen und ihn mit derPolizei bedrohten. Meine Mutter hatte von Anfang anjeden Verkehr mit ihnen vermieden und verbot mir,zu den Kindern zu sprechen, die sich dafür bei jederGelegenheit an mir rächten. Wenn sie mich auf derStraße trafen, riefen sie schmutzige Worte hinter mirher und schlugen mich einmal so mit harten Schnee-ballen, daß mir das Blut von der Stirne lief. Das ganze

  • Haus haßte mit einem gemeinsamen Instinkt dieseMenschen, und als plötzlich einmal etwas geschehenwar – ich glaube, der Mann wurde wegen einesDiebstahls eingesperrt – und sie mit ihrem Kramausziehen mußten, atmeten wir alle auf. Ein paar Tagehing der Vermietungszettel am Haustore, dann wurdeer heruntergenommen, und durch den Hausmeisterverbreitete es sich rasch, ein Schristeller, ein einzel-ner, ruhiger Herr, habe die Wohnung genommen.Damals hörte ich zum erstenmal Deinen Namen.Nach ein paar Tagen schon kamen Maler, Anstreicher,Zimmerputzer, Tapezierer, die Wohnung nach ihrenschmierigen Vorbesitzern reinzufegen, es wurde ge-hämmert, geklop, geputzt und gekratzt, aber dieMutter war nur zufrieden damit, sie sagte, jetzt werdeendlich die unsaubere Wirtscha drüben ein Ende ha-ben. Dich selbst bekam ich, auch während der Über-siedlung, noch nicht zu Gesicht: alle diese Arbeitenüberwachte Dein Diener, dieser kleine, ernste, grau-haarige Herrschasdiener, der alles mit einer leisen,sachlichen Art von oben herab dirigierte. Er impo-nierte uns allen sehr, erstens, weil in unserem Vorstadt-haus ein Herrschasdiener etwas ganz Neuartiges war,und dann, weil er zu allen so ungemein höflich war,ohne sich deshalb mit den Dienstboten auf eine Stufezu stellen und in kameradschaliche Gespräche einzu-lassen. Meine Mutter grüßte er vom ersten Tage an re-spektvoll als eine Dame, sogar zu mir Fratzen war erimmer zutraulich und ernst. Wenn er Deinen Namennannte, so geschah das immer mit einer gewissen Ehr-furcht, mit einem besonderen Respekt – man sah

  • gleich, daß er Dir weit über das Maß des gewohntenDienens anhing. Und wie habe ich ihn dafür geliebt,den guten alten Johann, obwohl ich ihn beneidete, daßer immer um Dich sein dure und Dir dienen.Ich erzähle Dir all das, Du Geliebter, all diese kleinen,fast lächerlichen Dinge, damit Du verstehst, wie Duvon Anfang an schon eine solche Macht gewinnenkonntest über das scheue, verschüchterte Kind, dasich war. Noch ehe du selbst in mein Leben getreten,war schon ein Nimbus um Dich, eine Sphäre vonReichtum, Sonderbarkeit und Geheimnis – wir alle indem kleinen Vorstadthaus (Menschen, die ein engesLeben haben, sind ja immer neugierig auf alles Neuevor ihren Türen) warteten schon ungeduldig auf Dei-nen Einzug. Und diese Neugier nach Dir, wie stei-gerte sie sich erst bei mir, als ich eines Nachmittagsvon der Schule nach Hause kam und der Möbelwagenvor dem Hause stand. Das meiste, die schwerenStücke, hatten die Träger schon hinauefördert, nuntrug man einzeln kleinere Sachen hinauf; ich blieb ander Tür stehen, um alles bestaunen zu können, dennalle Deine Dinge waren so seltsam anders, wie ich sienie gesehen; es gab da indische Götzen, italienischeSkulpturen, ganz grelle, große Bilder, und dann zumSchluß kamen Bücher, so viele und so schöne, wie iches nie für möglich gehalten. An der Tür wurden siealle aufgeschichtet, dort übernahm sie der Diener undschlug mit Stock und Wedel vorsichtig den Staub ausjedem einzelnen. Ich schlich neugierig um den immerwachsenden Stoß herum, der Diener wies mich nichtweg, aber er ermutigte mich auch nicht; so wagte ich

  • keines anzurühren, obwohl ich das weiche Leder vonmanchen gern befühlt hätte. Nur die Titel sah ichscheu von der Seite an: es waren französische, engli-sche darunter und manche in Sprachen, die ich nichtverstand. Ich glaube, ich hätte sie stundenlang alleangesehen: da rief mich die Mutter hinein.Den ganzen Abend dann mußte ich an Dich denken;noch ehe ich Dich kannte. Ich besaß selbst nur einDutzend billige, in zerschlissene Pappe gebundeneBücher, die ich über alles liebte und immer wieder las.Und nun bedrängte mich dies, wie der Mensch seinmüßte, der all diese vielen herrlichen Bücher besaßund gelesen hatte, der alle diese Sprachen wußte, derso reich war und so gelehrt zugleich. Eine Art überir-discher Ehrfurcht verband sich mir mit der Idee dieservielen Bücher. Ich suchte Dich mir im Bilde vorzu-stellen: Du warst ein alter Mann mit einer Brille undeinem weißen langen Bart, ähnlich wie unser Geogra-phieprofessor, nur viel gütiger, schöner und milder –ich weiß nicht, warum ich damals schon gewiß war,Du müßtest schön sein, wo ich noch an Dich wieeinen alten Mann dachte. Damals in jener Nacht undnoch ohne Dich zu kennen, habe ich das erstemal vonDir geträumt.Am nächsten Tage zogst Du ein, aber trotz allenSpähens konnte ich Dich nicht zu Gesicht bekommen

    – das steigerte nur meine Neugier. Endlich, am drittenTage, sah ich Dich, und wie erschütternd war dieÜberraschung für mich, daß Du so anders warst, soganz ohne Beziehung zu dem kindlichen Gottvater-bilde. Einen bebrillten gütigen Greis hatte ich mir

  • geträumt, und da kamst Du – Du, ganz so, wie Dunoch heute bist, Du Unwandelbarer, an dem die Jahrelässig abgleiten! Du trugst eine hellbraune, entzük-kende Sportdreß und liefst in Deiner unvergleichlichleichten knabenhaen Art die Treppe hinauf, immerzwei Stufen auf einmal nehmend. Den Hut trugstDu in der Hand, so sah ich mit einem gar nicht zuschildernden Erstaunen Dein helles, lebendiges Ge-sicht mit dem jungen Haar: wirklich, ich erschrak vorErstaunen, wie jung, wie hübsch, wie federnd-schlankund elegant Du warst. Und ist es nicht seltsam: indieser ersten Sekunde empfand ich ganz deutlich das,was ich und alle andern an Dir als so einzig mit einerArt Überraschung immer wieder empfinden: daß Duirgendein zwiefacher Mensch bist, ein heißer, leichtle-biger, ganz dem Spiel und dem Abenteuer hingegebe-ner Junge, und gleichzeitig in Deiner Kunst ein uner-bittlich ernster, pflichtbewußter, unendlich belesenerund gebildeter Mann. Unbewußt empfand ich, wasdann jeder bei Dir spürte, daß Du ein Doppellebenführst, ein Leben mit einer hellen, der Welt offenzugekehrten Fläche, und einer ganz dunkeln, die Dunur allein kennst – diese tiefste Zweiheit, das Geheim-nis Deiner Existenz, sie fühlte ich, die Dreizehnjäh-rige, magisch angezogen, mit meinem ersten Blick.Verstehst Du nun schon, Geliebter, was für ein Wun-der, was für eine verlockende Rätselhaigkeit Du fürmich, das Kind, sein mußtest! Einen Menschen, vordem man Ehrfurcht hatte, weil er Bücher schrieb,weil er berühmt war in jener andern großen Welt,plötzlich als einen jungen, eleganten, knabenha hei-

  • teren, fünfundzwanzigjährigen Mann zu entdecken!Muß ich Dir noch sagen, daß von diesem Tage an inunserem Hause, in meiner ganzen armen Kinderweltmich nichts interessierte als Du, daß ich mit demganzen Starrsinn, der ganzen bohrenden Beharrlich-keit einer Dreizehnjährigen nur mehr um Dein Leben,um Deine Existenz herumging. Ich beobachtete Dich,ich beobachtete Deine Gewohnheiten, beobachtete dieMenschen, die zu Dir kamen, und all das vermehrtenur, statt sie zu mindern, meine Neugier nach Dirselbst, denn die ganze Zwiefältigkeit Deines Wesensdrückte sich in der Verschiedenheit dieser Besucheaus. Da kamen junge Menschen, Kameraden von Dir,mit denen Du lachtest und übermütig warst, abgeris-sene Studenten, und dann wieder Damen, die in Au-tos vorfuhren, einmal der Direktor der Oper, dergroße Dirigent, den ich ehrfürchtig nur am Pulte vonfern gesehen, dann wieder kleine Mädel, die noch indie Handelsschule gingen und verlegen in die Türhineinhuschten, überhaupt viel, sehr viel Frauen. Ichdachte mir nichts Besonderes dabei, auch nicht, als icheines Morgens, wie ich zur Schule ging, eine Dameganz verschleiert von Dir weggehen sah – ich war jaerst dreizehn Jahre alt, und die leidenschaliche Neu-gier, mit der ich Dich umspähte und belauerte, wußteim Kinde noch nicht, daß sie schon Liebe war.Aber ich weiß noch genau, mein Geliebter, den Tagund die Stunde, wann ich ganz und für immer an Dichverloren war. Ich hatte mit einer Schulfreundin einenSpaziergang gemacht, wir standen plaudernd vor demTor. Da kam ein Auto angefahren, hielt an, und schon

  • sprangst Du mit Deiner ungeduldigen, elastischenArt, die mich noch heute an Dir immer hinreißt,vom Trittbrett und wolltest in die Tür. Unwillkürlichzwang es mich, Dir die Tür aufzumachen, und so tratich Dir in den Weg, daß wir fast zusammengerieten.Du sahst mich an mit jenem warmen, weichen, ein-hüllenden Blick, der wie eine Zärtlichkeit war, lächel-test mir – ja, ich kann es nicht anders sagen als:zärtlich zu und sagtest mit einer ganz leisen und fastvertraulichen Stimme: »Danke vielmals, Fräulein.«Das war alles, Geliebter; aber von dieser Sekunde, seitich diesen weichen, zärtlichen Blick gespürt, war ichDir verfallen. Ich habe ja später, habe es bald erfahren,daß Du diesen umfangenden, an Dich ziehenden,diesen umhüllenden und doch zugleich entkleidendenBlick, diesen Blick des gebornen Verführers, jederFrau hingibst, die an Dich strei, jedem Ladenmäd-chen, das Dir verkau, jedem Stubenmädchen, dasDir die Tür öffnet, daß dieser Blick bei Dir gar nichtbewußt ist als Wille und Neigung, sondern daß DeineZärtlichkeit zu Frauen ganz unbewußt Deinen Blickweich und warm werden läßt, wenn er sich ihnenzuwendet. Aber ich, das dreizehnjährige Kind, ahntedas nicht: ich war wie in Feuer getaucht. Ich glaubte,die Zärtlichkeit gelte nur mir, nur mir allein, und indieser einen Sekunde war die Frau in mir, der Halb-wüchsigen, erwacht und war diese Frau Dir für im-mer verfallen.»Wer war das?« fragte meine Freundin. Ich konnte ihrnicht gleich antworten. Es war mir unmöglich, Dei-nen Namen zu nennen: schon in dieser einen, dieser

  • einzigen Sekunde war er mir heilig, war er meinGeheimnis geworden. »Ach, irgendein Herr, der hierim Hause wohnt«, stammelte ich dann ungeschicktheraus. »Aber warum bist du denn so rot geworden,wie er dich angeschaut hat?« spottete die Freundin mitder ganzen Bosheit eines neugierigen Kindes. Undeben weil ich fühlte, daß sie an mein Geheimnisspottend rühre, fuhr mir das Blut noch heißer in dieWangen. Ich wurde grob aus Verlegenheit. »BlödeGans«, sagte ich wild: am liebsten hätte ich sie erdros-selt. Aber sie lachte nur noch lauter und höhnischer,bis ich fühlte, daß mir die Tränen in die Augenschössen vor ohnmächtigem Zorn. Ich ließ sie stehenund lief hinauf.Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt. Ichweiß, Frauen haben Dir, dem Verwöhnten, o diesesWort gesagt. Aber glaube mir, niemand hat Dich sosklavisch, so hündisch, so hingebungsvoll geliebt wiedieses Wesen, das ich war und das ich für Dich immergeblieben bin, denn nichts auf Erden gleicht der unbe-merkten Liebe eines Kindes aus dem Dunkel, weil sieso hoffnungslos, so dienend, so unterwürfig, so lau-ernd und leidenschalich ist, wie niemals die begeh-rende und unbewußt doch fordernde Liebe einer er-wachsenen Frau. Nur einsame Kinder können ganzihre Leidenscha zusammenhalten: die andern zer-schwätzen ihr Gefühl in Geselligkeit, schleifen es ab inVertraulichkeiten, sie haben von Liebe viel gehört undgelesen und wissen, daß sie ein gemeinsames Schick-sal ist. Sie spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sieprahlen damit, wie Knaben mit ihrer ersten Zigarette.

  • Aber ich, ich hatte ja niemand, um mich anzuver-trauen, war von keinem belehrt und gewarnt, warunerfahren und ahnungslos: ich stürzte hinein in meinSchicksal wie in einen Abgrund. Alles, was in mirwuchs und aurach, wußte nur Dich, den Traum vonDir, als Vertrauten: mein Vater war längst gestorben,die Mutter mir fremd in ihrer ewig unheiteren Be-drücktheit und Pensionistenängstlichkeit, die halbver-dorbenen Schulmädchen stießen mich ab, weil sie soleichtfertig mit dem spielten, was mir letzte Leiden-scha war – so warf ich alles, was sich sonst zersplit-tert und verteilt, warf ich mein ganzes zusammenge-preßtes und immer wieder ungeduldig aufquellendesWesen Dir entgegen. Du warst mir – wie soll ich esDir sagen? jeder einzelne Vergleich ist zu gering – Duwarst eben alles, mein ganzes Leben. Alles existiertenur insofern, als es Bezug hatte auf Dich, alles inmeiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es mit Dirverbunden war. Du verwandeltest mein ganzes Le-ben. Bisher gleichgültig und mittelmäßig in derSchule, wurde ich plötzlich die Erste, ich las tausendBücher bis tief in die Nacht, weil ich wußte, daß Dudie Bücher liebtest, ich begann, zum Erstaunen mei-ner Mutter, plötzlich mit fast störrischer Beharrlich-keit Klavier zu üben, weil ich glaubte, Du liebtestMusik. Ich putzte und nähte an meinen Kleidern, nurum gefällig und proper vor Dir auszusehen, und daßich an meiner alten Schulschürze (sie war ein zuge-schnittenes Hauskleid meiner Mutter) links einen ein-gesetzten viereckigen Fleck hatte, war mir entsetzlich.Ich fürchtete, Du könntest ihn bemerken und mich

  • verachten; darum drückte ich immer die Schultaschedarauf, wenn ich die Treppe hinauflief, zitternd vorAngst, Du würdest ihn sehen. Aber wie töricht wardas: Du hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen.Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts alsauf Dich warten und Dich belauern. An unserer Türwar ein kleines messingenes Guckloch, durch dessenkreisrunden Ausschnitt man hinüber auf Deine Türsehen konnte. Dieses Guckloch – nein, lächle nicht,Geliebter, noch heute, noch heute schäme ich michjener Stunden nicht! – war mein Auge in die Welthinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer, scheu vor demArgwohn der Mutter, saß ich in jenen Monaten undJahren, ein Buch in der Hand, ganze Nachmittage aufder Lauer, gespannt wie eine Saite und klingend,wenn Deine Gegenwart sie berührte. Ich war immerum Dich, immer in Spannung und Bewegung; aberDu konntest es so wenig fühlen wie die Spannung derUhrfeder, die Du in der Tasche trägst und die gedul-dig im Dunkel Deine Stunden zählt und mißt, DeineWege mit unhörbarem Herzpochen begleitet und aufdie nur einmal in Millionen tickender Sekunden Deinhastiger Blick fällt. Ich wußte alles von Dir, kanntejede Deiner Gewohnheiten, jede Deiner Krawatten,jeden Deiner Anzüge, ich kannte und unterschied baldDeine einzelnen Bekannten und teilte sie in solche, diemir lieb, und solche, die mir widrig waren: vonmeinem dreizehnten bis zu meinem sechzehnten Jahrehabe ich jede Stunde in Dir gelebt. Ach, was fürTorheiten habe ich begangen! Ich küßte die Tür-klinke, die Deine Hand berührt hatte, ich stahl einen

  • Zigarrenstummel, den Du vor dem Eintreten wegge-worfen hattest, und er war mir heilig, weil DeineLippen daran gerührt. Hundertmal lief ich abendsunter irgendeinem Vorwand hinab auf die Gasse, umzu sehen, in welchem Deiner Zimmer Licht brenne,und so Deine Gegenwart, Deine unsichtbare, wissen-der zu fühlen. Und in den Wochen, wo Du verreistwarst – mir stockt immer das Herz vor Angst, wennich den guten Johann Deine gelbe Reisetasche hinab-tragen sah –, in diesen Wochen war mein Leben totund ohne Sinn. Mürrisch, gelangweilt, böse ging ichhemm und mußte nur immer achtgeben, daß dieMutter an meinen verweinten Augen nicht meineVerzweiflung merke.Ich weiß, das sind alles groteske Überschwänge, kin-dische Torheiten, die ich Dir da erzähle. Ich solltemich ihrer schämen, aber ich schäme mich nicht, dennnie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschali-cher als in diesen kindlichen Exzessen. Stundenlang,tagelang könnte ich Dir erzählen, wie ich damals mitDir gelebt, der Du mich kaum von Angesicht kann-test, denn begegnete ich Dir auf der Treppe und gabes kein Ausweichen, so lief ich, aus Furcht vor Dei-nem brennenden Blick, mit gesenktem Kopf an Dirvorbei wie einer, der ins Wasser stürzt, nur daß michdas Feuer nicht versenge. Stundenlang, tagelangkönnte ich Dir von jenen Dir längst entschwundenenJahren erzählen, den ganzen Kalender Deines Lebensaufrollen; aber ich will Dich nicht langweilen, willDich nicht quälen. Nur das schönste Erlebnis meinerKindheit will ich Dir noch anvertrauen, und ich bitte

  • Dich, nicht zu spotten, weil es ein so Geringes ist,denn mir, dem Kinde, war es eine Unendlichkeit. Aneinem Sonntag muß es gewesen sein. Du warst ver-reist, und Dein Diener schleppte die schweren Teppi-che, die er geklop hatte, durch die offene Wohnungs-tür. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem An-fall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, obich ihm nicht helfen könnte. Er war erstaunt, aber ließmich gewähren, und so sah ich – vermöchte ich Dirsdoch nur zu sagen, mit welcher ehrfürchtigen, ja from-men Verehrung! – Deine Wohnung von innen, DeineWelt, den Schreibtisch, an dem Du zu sitzen pflegtestund auf dem in einer blauen Kristallvase ein paar Blu-men standen, Deine Schränke, Deine Bilder, DeineBücher. Nur ein flüchtiger, diebischer Blick war es inDein Leben, denn Johann, der Getreue, hätte mir ge-wiß genaue Betrachtung gewehrt, aber ich sog mit die-sem einen Blick die ganze Atmosphäre ein und hatteNahrung für meine unendlichen Träume von Dir imWachen und Schlaf.Dies, diese rasche Minute, sie war die glücklichstemeiner Kindheit. Sie wollte ich Dir erzählen, damitDu, der Du mich nicht kennst, endlich zu ahnenbeginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Siewollte ich Dir erzählen und jene andere noch, diefürchterlichste Stunde, die jener leider so nachbarlichwar. Ich hatte – ich sagte es Dir ja schon – umDeinetwillen an alles vergessen, ich hatte auf meineMutter nicht acht und kümmerte mich um nieman-den. Ich merkte nicht, daß ein älterer Herr, ein Kauf-mann aus Innsbruck, der mit meiner Mutter entfernt

  • verschwägert war, öer kam und länger blieb, ja, eswar mir nur angenehm, denn er führte Mama manch-mal in das eater, und ich konnte allein bleiben, anDich denken, auf Dich lauern, was ja meine höchste,meine einzige Seligkeit war. Eines Tages nun riefmich die Mutter mit einer gewissen Umständlichkeitin ihr Zimmer; sie hätte ernst mit mir zu sprechen. Ichwurde blaß und hörte mein Herz plötzlich hämmern:sollte sie etwas geahnt, etwas erraten haben? Meinerster Gedanke warst Du, das Geheimnis, das michmit der Welt verband. Aber die Mutter war selbstverlegen, sie küßte mich (was sie sonst nie tat) zärtlichein- und zweimal, sie zog mich auf das Sofa zu sichund begann dann zögernd und verschämt zu erzählen,ihr Verwandter, der Witwer sei, habe ihr einen Hei-ratsantrag gemacht, und sie sei, hauptsächlich ummeinetwillen, entschlossen, ihn anzunehmen. Heißerstieg mir das Blut zum Herzen: nur ein Gedankeantwortete von innen, der Gedanke an Dich. »Aberwir bleiben doch hier?« konnte ich gerade noch stam-meln. »Nein, wir ziehen nach Innsbruck, dort hatFerdinand eine schöne Villa.« Mehr hörte ich nicht.Mir ward schwarz vor den Augen. Später wußte ich,daß ich in Ohnmacht gefallen war; ich sei, hörte ichdie Mutter dem Stiefvater leise erzählen, der hinterder Tür gewartet hatte, plötzlich mit aufgespreiztenHänden zurückgefahren und dann hingestürzt wie einKlumpen Blei. Was dann in den nächsten Tagengeschah, wie ich mich, ein machtloses Kind, wehrtegegen ihren übermächtigen Willen, das kann ich Dirnicht schildern: noch jetzt zittert mir, da ich daran

  • denke, die Hand im Schreiben. Mein wirkliches Ge-heimnis konnte ich nicht verraten, so schien meineGegenwehr bloß Starrsinn, Bosheit und Trotz. Nie-mand sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrücks.Man nutzte die Stunden, da ich in der Schule war, umdie Übersiedlung zu fördern: kam ich dann nachHause, so war immer wieder ein anderes Stück ver-räumt oder verkau. Ich sah, wie die Wohnung unddamit mein Leben verfiel, und einmal, als ich zumMittagessen kam, waren die Möbelpacker dagewesenund hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zim-mern standen die gepackten Koffer und zwei Feldbet-ten für die Mutter und mich: da sollten wir noch eineNacht schlafen, die letzte, und morgen nach Inns-bruck reisen.An diesem letzten Tag fühlte ich mit plötzlicher Ent-schlossenheit, daß ich nicht mehr leben konnte ohneDeine Nähe. Ich wußte keine andere Rettung alsDich. Wie ich mirs dachte und ob ich überhaupt klarin diesen Stunden der Verzweiflung zu denken ver-mochte, das werde ich nie sagen können, aber plötz-lich – die Mutter war fort – stand ich auf im Schul-kleid, wie ich war, und ging hinüber zu Dir. Nein, ichging nicht: es stieß mich mit steifen Beinen, mitzitternden Gelenken magnetisch fort zu Deiner Tür.Ich sagte Dir schon, ich wußte nicht deutlich, was ichwollte: Dir zu Füßen fallen und Dich bitten, mich zubehalten als Magd, als Sklavin, und ich fürchte, Duwirst lächeln über diesen unschuldigen Fanatismuseiner Fünfzehnjährigen, aber – Geliebter, Du würdestnicht mehr lächeln, wüßtest Du, wie ich damals drau-

  • ßen im eiskalten Gange stand, starr vor Angst unddoch vorwärts gestoßen von einer unfaßbaren Macht,und wie ich den Arm, den zitternden, mir gewisser-maßen vom Leib losriß, daß er sich hob und – es warein Kampf durch die Ewigkeit entsetzlicher Sekunden

    – den Finger auf den Knopf der Türklingel drückte.Noch heute gellts mir im Ohr, dies schrille Klingel-zeichen, und dann die Stille danach, wo mir das Herzstillstand, wo mein ganzes Blut anhielt und nurlauschte, ob Du kämest.Aber du kamst nicht. Niemand kam. Du warst offen-bar fort an jenem Nachmittage und Johann auf Besor-gung; so tappte ich, den toten Ton der Klingel imdröhnenden Ohr, in unsere zerstörte, ausgeräumteWohnung zurück und warf mich erschöp auf einenPlaid, müde von den vier Schritten, als ob ich stun-denlang durch tiefen Schnee gegangen sei. Aber unterdieser Erschöpfung glühte noch unverlöscht die Ent-schlossenheit, Dich zu sehen, Dich zu sprechen, ehesie mich wegrissen. Es war, ich schwöre es Dir, keinsinnlicher Gedanke dabei, ich war noch unwissend,eben weil ich an nichts dachte als an Dich: nur sehenwollte ich Dich, einmal noch sehen, mich anklam-mern an Dich. Die ganze Nacht, die ganze lange,entsetzliche Nacht habe ich dann, Geliebter, auf Dichgewartet. Kaum daß die Mutter sich in ihr Bett gelegthatte und eingeschlafen war, schlich ich in das Vor-zimmer hinaus, um zu horchen, wann Du nach Hausekämest. Die ganze Nacht habe ich gewartet, und eswar eine eisige Januarnacht. Ich war müde, meineGlieder schmerzten mich, und es war kein Sessel

  • mehr, mich hinzusetzen: so legte ich mich flach aufden kalten Boden, über den der Zug von der Türhinstrich. Nur in meinem dünnen Kleide lag ich aufdem schmerzenden kalten Boden, denn ich nahmkeine Decke; ich wollte es nicht warm haben, ausFurcht, einzuschlafen und Deinen Schritt zu überhö-ren. Es tat weh, meine Füße preßte ich im Krampfezusammen, meine Arme zitterten: ich mußte immerwieder aufstehen, so kalt war es im entsetzlichenDunkel. Aber ich wartete, wartete, wartete auf Dichwie auf mein Schicksal.Endlich – es muß schon zwei oder drei Uhr morgensgewesen sein – hörte ich unten das Haustor aufsperrenund dann Schritte die Treppe hinauf. Wie abgesprun-gen war die Kälte von mir, heiß überflogs mich, leisemachte ich die Tür auf, um Dir entgegenzustürzen,Dir zu Füßen zu fallen… Ach, ich weiß ja nicht, wasein törichtes Kind damals getan hätte. Die Schrittekamen näher, Kerzenlicht flackte herauf. Zitterndhielt ich die Klinke. Warst Du es, der da kam?Ja, Du warst es, Geliebter – aber Du warst nicht allein.Ich hörte ein leises, kitzliches Lachen, irgendein strei-fendes seidenes Kleid und leise Deine Stimme – Dukamst mit einer Frau nach Hause …Wie ich diese Nacht überleben konnte, weiß ich nicht.Am nächsten Morgen, um acht Uhr, schleppten siemich nach Innsbruck; ich hatte keine Kra mehr,mich zu wehren.

    Mein Kind ist gestern nacht gestorben – nun werdeich wieder allein sein, wenn ich wirklich weiterleben

  • muß. Morgen werden sie kommen, fremde, schwar-ze, ungeschlachte Männer, und einen Sarg bringen,werden es hineinlegen, mein armes, mein einzigesKind. Vielleicht kommen auch Freunde und bringenKränze, aber was sind Blumen auf einem Sarg? Siewerden mich trösten und mir irgendwelche Wortesagen, Worte, Worte; aber was können sie mir helfen?Ich weiß, ich muß dann doch wieder allein sein. Undes gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter denMenschen. Damals habe ich es erfahren, damals injenen unendlichen zwei Jahren in Innsbruck, jenenJahren von meinem sechzehnten bis zu meinem acht-zehnten, wo ich wie eine Gefangene, eine Verstoßenezwischen meiner Familie lebte. Der Stiefvater, einsehr ruhiger, wortkarger Mann, war gut zu mir,meine Mutter schien, wie um ein unbewußtes Un-recht zu sühnen, allen meinen Wünschen bereit, jungeMenschen bemühten sich um mich, aber ich stieß siealle in einem leidenschalichen Trotz zurück. Ichwollte nicht glücklich, nicht zufrieden leben abseitsvon Dir, ich grub mich selbst in eine finstere Welt vonSelbstqual und Einsamkeit. Die neuen, bunten Klei-der, die sie mir kauen, zog ich nicht an, ich weigertemich, in Konzerte, in eater zu gehen oder Ausflügein heiterer Gesellscha mitzumachen. Kaum daß ichje die Gasse betrat: würdest Du es glauben, Geliebter,daß ich von dieser kleinen Stadt, in der ich zwei Jahregelebt, keine zehn Straßen kenne? Ich trauerte und ichwollte trauern, ich berauschte mich an jeder Entbeh-rung, die ich mir zu der Deines Anblicks noch auf-erlegte. Und dann: ich wollte mich nicht ablenken

  • lassen von meiner Leidenscha, nur in Dir zu leben.Ich saß allein zu Hause, stundenlang, tagelang, und tatnichts, als an Dich zu denken, immer wieder, immerwieder die hundert kleinen Erinnerungen an Dich,jede Begegnung, jedes Warten, mir zu erneuern, mirdiese kleinen Episoden vorzuspielen wie im eater.Und darum, weil ich jede der Sekunden von einst mirunzählige Male wiederholte, ist auch meine ganzeKindheit mir in so brennender Erinnerung geblieben,daß ich jede Minute jener vergangenen Jahre so heißund springend fühle, als wäre sie gestern durch meinBlut gefahren.Nur in Dir habe ich damals gelebt. Ich kaue mir alleDeine Bücher; wenn Dein Name in der Zeitungstand, war es ein festlicher Tag. Willst Du es glauben,daß ich jede Zeile aus Deinen Büchern auswendigkann, so o habe ich sie gelesen? Würde mich einernachts aus dem Schlaf aufwecken und eine losgeris-sene Zeile aus ihnen mir vorsprechen, ich könnte sieheute noch, heute noch nach dreizehn Jahren, weiter-sprechen wie im Traum: so war jedes Wort von Dirmir Evangelium und Gebet. Die ganze Welt, sie exi-stierte nur in Beziehung auf Dich: ich las in denWiener Zeitungen die Konzerte, die Premieren nach,nur mit dem Gedanken, welche Dich davon interes-sieren möchten, und wenn es Abend wurde, begleiteteich Dich von ferne: jetzt tritt er in den Saal, jetzt setzter sich nieder. Tausendmal träumte ich das, weil ichDich ein einziges Mal in einem Konzert gesehen.Aber wozu all dies erzählen, diesen rasenden, gegensich selbst wütenden, diesen so tragischen hoffnungs-

  • losen Fanatismus eines verlassenen Kindes, wozu eseinem erzählen, der es nie geahnt, der es nie gewußt?Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ichwurde siebzehn, wurde achtzehn Jahre – die jungenLeute begannen sich auf der Straße nach mir umzu-blicken, doch sie erbitterten mich nur. Denn Liebeoder auch nur ein Spiel mit Liebe im Gedanken anjemanden andern als an Dich, das war mir so uner-findlich, so unausdenklich fremd, ja die Versuchungschon wäre mir als ein Verbrechen erschienen. MeineLeidenscha zu Dir blieb dieselbe, nur daß sie andersward mit meinem Körper, mit meinen wacheren Sin-nen, glühender, körperlicher, frauenhaer. Und wasdas Kind in seinem dumpfen unbelehrten Willen, dasKind, das damals die Klingel Deiner Türe zog, nichtahnen konnte, das war jetzt mein einziger Gedanke:mich Dir zu schenken, mich Dir hinzugeben.Die Menschen um mich vermeinten mich scheu,nannten mich schüchtern (ich hatte mein Geheimnisverbissen hinter den Zähnen). Aber in mir wuchs eineiserner Wille. Mein ganzes Denken und Trachtenwar in eine Richtung gespannt: zurück nach Wien,zurück zu Dir. Und ich erzwang meinen Willen, sounsinnig, so unbegreiflich er den andern scheinenmochte. Mein Stiefvater war vermögend, er betrach-tete mich als sein eigenes Kind. Aber ich drang inerbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein Geldselbst verdienen, und erreichte es endlich, daß ich inWien zu einem Verwandten als Angestellte eines gro-ßen Konfektionsgeschäes kam.Muß ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als

  • ich an einem nebligen Herbstabend – endlich! endlich!– in Wien ankam? Ich ließ die Koffer an der Bahn,stürzte mich in eine Straßenbahn – wie langsam schiensie mir zu fahren, jede Haltestelle erbitterte mich –und lief vor das Haus. Deine Fenster waren erleuchtet,mein ganzes Herz klang. Nun erst lebte die Stadt, diemich so fremd, so sinnlos umbraust hatte, nun erstlebte ich wieder, da ich Dich nahe ahnte, Dich, mei-nen ewigen Traum. Ich ahnte ja nicht, daß ich inWirklichkeit Deinem Bewußtsein ebenso ferne warhinter Tälern, Bergen und Flüssen als nun, da nur diedünne leuchtende Glasscheibe Deines Fensters zwi-schen Dir war und meinem aufstrahlenden Blick. Ichsah nur empor und empor: da war Licht, da war dasHaus, da warst Du, da war meine Welt. Zwei Jahrehatte ich von dieser Stunde geträumt, nun war sie mirgeschenkt. Ich stand den langen, weichen, verhange-nen Abend vor Deinen Fenstern, bis das Licht erlosch.Dann suchte ich erst mein Heim.Jeden Abend stand ich dann so vor Deinem Haus. Bissechs Uhr hatte ich Dienst im Geschä, harten, an-strengenden Dienst, aber er war mir lieb, denn dieseUnruhe ließ mich die eigene nicht so schmerzhafühlen. Und geradewegs, sobald die eisernen Rollbal-ken hinter mir niederdröhnten, lief ich zu dem gelieb-ten Ziel. Nur Dich einmal sehen, nur einmal Dirbegegnen, das war mein einziger Wille, nur wiedereinmal mit dem Blick Dein Gesicht umfassen dürfenvon ferne. Etwa nach einer Woche geschahs dannendlich, daß ich Dir begegnete, und zwar gerade ineinem Augenblick, wo ichs nicht vermutete: während

  • ich eben hinauf zu Deinen Fenstern spähte, kamst Duquer über die Straße. Und plötzlich war ich wiederdas Kind, das dreizehnjährige, ich fühlte, wie das Blutmir in die Wangen schoß; unwillkürlich, wider mei-nen innersten Drang, der sich sehnte, Deine Augen zufühlen, senkte ich den Kopf und lief blitzschnell wiegehetzt an Dir vorbei. Nachher schämte ich michdieser schulmädelhaen scheuen Flucht, denn jetztwar mein Wille mir doch klar: ich wollte Dir jabegegnen, ich suchte Dich, ich wollte von Dir erkanntsein nach all den sehnsüchtig verdämmerten Jahren,wollte von Dir beachtet, wollte von Dir geliebtsein.Aber Du bemerktest mich lange nicht, obzwar ichjeden Abend, auch bei Schneegestöber und in demscharfen, schneidenden Wiener Wind in Deiner Gassestand. O wartete ich stundenlang vergebens, ogingst Du dann endlich vom Hause in Begleitung vonBekannten fort, zweimal sah ich Dich auch mitFrauen, und nun empfand ich mein Erwachsensein,empfand das Neue, Andere meines Gefühls zu Dir andem plötzlichen Herzzucken, das mir quer die Seelezerriß, als ich eine fremde Frau so sicher Arm in Armmit Dir hingehen sah. Ich war nicht überrascht, ichkannte ja diese Deine ewigen Besucherinnen aus mei-nen Kindertagen schon, aber jetzt tat es mir miteinmal irgendwie körperlich weh, etwas spannte sichin mir, gleichzeitig feindlich und mitverlangend ge-gen diese offensichtliche, diese fleischliche Vertraut-heit mit einer andern. Einen Tag blieb ich, kindlichstolz wie ich war und vielleicht jetzt noch geblieben

  • bin, von Deinem Hause weg: aber wie entsetzlich wardieser leere Abend des Trotzes und der Auflehnung.Am nächsten Abend stand ich schon wieder demütigvor Deinem Hause wartend, wartend, wie ich meinganzes Schicksal lang vor Deinem verschlossenen Le-ben gestanden bin.Und endlich, an einem Abend bemerktest Du mich.Ich hatte Dich schon von ferne kommen sehen undstrae meinen Willen zusammen, Dir nicht auszu-weichen. Der Zufall wollte, daß durch einen abzula-denden Wagen die Straße verengert war und Du ganzan mir vorbei mußtest. Unwillkürlich streie michDein zerstreuter Blick, um sofort, kaum daß er derAufmerksamkeit des meinen begegnete – wie er-schrak die Erinnerung in mir! –, jener Dein Frauen-blick, jener zärtliche, hüllende und gleichzeitig enthül-lende, jener umfangende und schon fassende Blick zuwerden, der mich, das Kind, zum erstenmal zur Frau,zur Liebenden erweckt. Ein, zwei Sekunden lang hieltdieser Blick so den meinen, der sich nicht wegreißenkonnte und wollte – dann warst Du an mir vorbei.Mir schlug das Herz: unwillkürlich mußte ich meinenSchritt verlangsamen, und wie ich aus einer nicht zubezwingenden Neugier mich umwandte, sah ich, daßDu stehengeblieben warst und mir nachsahst. Und ander Art, wie Du neugierig interessiert mich beobach-tetest, wußte ich sofort: Du erkanntest mich nicht.Du erkanntest mich nicht, damals nicht, nie, nie hastDu mich erkannt. Wie soll ich Dir, Geliebter, dieEnttäuschung jener Sekunde schildern – damals wares ja das erstemal, daß ichs erlitt, dies Schicksal, von

  • Dir nicht erkannt zu sein, das ich ein Leben durchlebthabe, und mit dem ich sterbe; unerkannt, immer nochunerkannt von Dir. Wie soll ich sie Dir schildern,diese Enttäuschung! Denn sieh, in diesen zwei Jahrenin Innsbruck, wo ich jede Stunde an Dich dachte undnichts tat, als mir unsere erste Wiederbegegnung inWien auszudenken, da hatte ich die wildesten Mög-lichkeiten neben den seligsten, je nach dem Zustandmeiner Laune, ausgeträumt. Alles war, wenn ich sosagen darf, durchgeträumt; ich hatte mir in finsternMomenten vorgestellt, Du würdest mich zurücksto-ßen, würdest mich verachten, weil ich zu gering, zuhäßlich, zu aufdringlich sei. Alle Formen Deiner Miß-gunst, Deiner Kälte, Deiner Gleichgültigkeit, sie allehatte ich durchgewandelt in leidenschalichen Visio-nen – aber dies, dies eine hatte ich in keiner finsternRegung des Gemüts, nicht im äußersten Bewußtseinmeiner Minderwertigkeit in Betracht zu ziehen ge-wagt, dies Entsetzlichste: daß Du überhaupt von mei-ner Existenz nichts bemerkt hattest. Heute versteheich es ja – ach, Du hast michs verstehen gelehrt! –, daßdas Gesicht eines Mädchens, einer Frau etwas unge-mein Wandelhaes sein muß für einen Mann, weil esmeist nur Spiegel ist, bald einer Leidenscha, baldeiner Kindlichkeit, bald eines Müdeseins, und so leichtverfließt wie ein Bildnis im Spiegel, daß also einMann leichter das Antlitz einer Frau verlieren kann,weil das Alter darin durchwandelt mit Schatten undLicht, weil die Kleidung es von einemmal zum andernanders rahmt. Die Resignierten, sie sind ja erst diewahren Wissenden. Aber ich, das Mädchen von da-

  • mals, ich konnte Deine Vergeßlichkeit noch nichtfassen, denn irgendwie war aus meiner maßlosen,unauörlichen Beschäigung mit Dir der Wahn inmich gefahren, auch Du müßtest meiner o gedenkenund auf mich warten; wie hätte ich auch nur atmenkönnen mit der Gewißheit, ich sei Dir nichts, nierühre ein Erinnern an mich Dich leise an! Und diesErwachen vor Deinem Blick, der mir zeigte, daßnichts in Dir mich mehr kannte, kein SpinnfadenErinnerung von Deinem Leben hinreiche zu meinem,das war ein erster Sturz hinab in die Wirklichkeit, eineerste Ahnung meines Schicksals.Du erkanntest mich nicht damals. Und als zwei Tagespäter Dein Blick mit einer gewissen Vertrautheit beierneuter Begegnung mich umfing, da erkanntest Dumich wiederum nicht als die, die Dich geliebt unddie Du erweckt, sondern bloß als das hübsche acht-zehnjährige Mädchen, das Dir vor zwei Tagen ander gleichen Stelle entgegengetreten. Du sahst michfreundlich überrascht an, ein leichtes Lächeln um-spielte Deinen Mund. Wieder gingst Du an mir vorbeiund wieder den Schritt sofort verlangsamend: ichzitterte, ich jauchzte, ich betete, Du würdest michansprechen. Ich fühlte, daß ich zum erstenmal fürDich lebendig war: auch ich verlangsamte den Schritt,ich wich Dir nicht aus. Und plötzlich spürte ich Dichhinter mir, ohne mich umzuwenden, ich wußte, nunwürde ich zum erstenmal Deine geliebte Stimme anmich gerichtet hören. Wie eine Lähmung war dieErwartung in mir, schon fürchtete ich stehenbleibenzu müssen, so hämmerte mir das Herz – da tratest Du

  • an meine Seite. Du sprachst mich an mit Deinerleichten heitern Art, als wären wir lange befreundet –ach, Du ahntest mich ja nicht, nie hast Du etwas vonmeinem Leben geahnt! – so zauberha unbefangensprachst Du mich an, daß ich Dir sogar zu antwortenvermochte. Wir gingen zusammen die ganze Gasseentlang. Dann fragtest Du mich, ob wir gemeinsamspeisen wollten. Ich sagte ja. Was hätte ich Dir gewagtzu verneinen?Wir speisten zusammen in einem kleinen Restaurant –weißt Du noch, wo es war? Ach nein, Du unterschei-dest es gewiß nicht mehr von andern solchen Aben-den, denn wer war ich Dir? Eine unter Hunderten, einAbenteuer in einer ewig fortgeknüpen Kette. Wassollte Dich auch an mich erinnern: ich sprach jawenig, weil es mir so unendlich beglückend war,Dich nahe zu haben, Dich zu mir sprechen zu hören.Keinen Augenblick davon wollte ich durch eineFrage, durch ein törichtes Wort vergeuden. Nie werdeich Dir von dieser Stunde dankbar vergessen, wie vollDu meine leidenschaliche Ehrfurcht erfülltest, wiezart, wie leicht, wie taktvoll Du warst, ganz ohneZudringlichkeit, ganz ohne jene eiligen karessantenZärtlichkeiten, und vom ersten Augenblick von einerso sicheren freundschalichen Vertrautheit, daß Dumich auch gewonnen hättest, wäre ich nicht schonlangst mit meinem ganzen Willen und Wesen Deingewesen. Ach, Du weißt ja nicht, ein wie UngeheuresDu erfülltest, indem Du mir fünf Jahre kindischerErwartung nicht enttäuschtest!Es wurde spät, wir brachen auf. An der Tür des

  • Restaurants fragtest Du mich, ob ich eilig wäre odernoch Zeit hätte. Wie hätte ichs verschweigen können,daß ich Dir bereit sei! Ich sagte, ich hätte noch Zeit,Dann fragtest Du, ein leises Zögern rasch übersprin-gend, ob ich nicht noch ein wenig zu Dir kommenwollte, um zu plaudern. »Gerne«, sagte ich ganz ausder Selbstverständlichkeit meines Fühlens heraus undmerkte sofort, daß Du von der Raschheit meinerZusage irgendwie peinlich oder freudig berührtwarst, jedenfalls aber sichtlich überrascht. Heute ver-stehe ich ja dies Dein Erstaunen; ich weiß, es ist beiFrauen üblich, auch wenn das Verlangen nach Hin-gabe in einer brennend ist, diese Bereitscha zu ver-leugnen, ein Erschrecken vorzutäuschen oder eineEntrüstung, die durch eindringliche Bitte, durch Lü-gen, Schwüre und Versprechen erst beschwichtigtsein will. Ich weiß, daß vielleicht nur die Professionel-len der Liebe, die Dirnen, eine solche Einladung miteiner so vollen freudigen Zustimmung beantworten,oder ganz naive, ganz halbwüchsige Kinder. In miraber war es – und wie konntest Du das ahnen – nurder wortgewordene Wille, die geballt vorbrechendeSehnsucht von tausend einzelnen Tagen. Jedenfallsaber: Du warst frappiert, ich begann Dich zu interes-sieren. Ich spürte, daß Du, während wir gingen, vonder Seite her während des Gespräches mich irgendwieerstaunt mustertest. Dein Gefühl, Dein in allemMenschlichen so magisch sicheres Gefühl wittertehier sogleich ein Ungewöhnliches, ein Geheimnis indiesem hübschen zutunlichen Mädchen. Der Neugie-rige in Dir war wach, und ich merkte, aus der umkrei-

  • senden, spürenden Art der Fragen, wie Du nach demGeheimnis tasten wolltest. Aber ich wich Dir aus: ichwollte lieber töricht erscheinen als Dir mein Geheim-nis verraten.Wir gingen zu Dir hinauf. Verzeih, Geliebter, wennich Dir sage, daß Du es nicht verstehen kannst, wasdieser Gang, diese Treppe für mich waren, welcherTaumel, welche Verwirrung, welch ein rasendes, quä-lendes, fast tödliches Glück. Jetzt noch kann ich kaumohne Tränen daran denken, und ich habe keine mehr.Aber fühl es nur aus, daß jeder Gegenstand dortgleichsam durchdrungen war von meiner Leiden-scha, jeder ein Symbol meiner Kindheit, meinerSehnsucht: das Tor, vor dem ich tausende Male aufDich gewartet, die Treppe, von der ich immer DeinenSchritt erhorcht und wo ich Dich zum erstenmalgesehen, das Guckloch, aus dem ich mir die Seelegespäht, der Türvorleger vor Deiner Tür, auf dem icheinmal gekniet, das Knacken des Schlüssels, bei demich immer aufgesprungen von meiner Lauer. Dieganze Kindheit, meine ganze Leidenscha, da nistetesie ja in diesen paar Metern Raum, hier war meinganzes Leben, und jetzt fiel es nieder auf mich wie einSturm, da alles, alles sich erfüllte und ich mit Dir ging,ich mit Dir, in Deinem, in unserem Hause. Bedenke-es klingt ja banal, aber ich weiß es nicht anders zusagen –, daß bis zu Deiner Tür alles Wirklichkeit,dumpfe tägliche Welt ein Leben lang gewesen war,und dort das Zauberreich des Kindes begann, AladinsReich, bedenke, daß ich tausendmal mit brennendenAugen auf diese Tür gestarrt, die ich jetzt taumelnd

  • durchschritt, und Du wirst ahnen – aber nur ahnen,niemals ganz wissen, mein Geliebter! –, was diesestürzende Minute von meinem Leben wegtrug.Ich blieb damals die ganze Nacht bei Dir. Du hast esnicht geahnt, daß vordem noch nie ein Mann michberührt, noch keiner meinen Körper gefühlt odergesehen. Aber wie konntest Du es auch ahnen, Ge-liebter, denn ich bot Dir ja keinen Widerstand, ichunterdrückte jedes Zögern der Scham, nur damit Dunicht das Geheimnis meiner Liebe zu Dir erratenkönntest, das Dich gewiß erschreckt hätte – denn Duliebst ja nur das Leichte, das Spielende, das Gewicht-lose, Du hast Angst, in ein Schicksal einzugreifen.Verschwenden willst Du Dich, Du, an alle, an dieWelt, und willst kein Opfer. Wenn ich Dir jetzt sage,Geliebter, daß ich mich jungfräulich Dir gab, so fleheich Dich an: mißversteh mich nicht! Ich klage Dich janicht an, Du hast mich nicht gelockt, nicht belogen,nicht verführt – ich, ich selbst drängte zu Dir, warfmich an Deine Brust, warf mich in mein Schicksal.Nie, nie werde ich Dich anklagen, nein, nur immerDir danken, denn wie reich, wie funkelnd von Lust,wie schwebend von Seligkeit war für mich dieseNacht. Wenn ich die Augen auat im Dunkeln undDich fühlte an meiner Seite, wunderte ich mich, daßnicht die Sterne über mir waren, so sehr fühlte ichHimmel – nein, ich habe niemals bereut, mein Gelieb-ter, niemals um dieser Stunde willen. Ich weiß noch:als Du schliefst, als ich Deinen Atem hörte, DeinenKörper fühlte und mich selbst Dir so nah, da habe ichim Dunkeln geweint vor Glück.

  • Am Morgen drängte ich frühzeitig schon fort. Ichmußte in das Geschä und wollte auch gehen, ehe derDiener käme: er sollte mich nicht sehen. Als ichangezogen vor Dir stand, nahmst Du mich in denArm, sahst mich lange an; war es ein Erinnern, dunkelund fern, das in Dir wogte, oder schien ich Dir nurschön, beglückt, wie ich war? Dann küßtest du michauf den Mund. Ich machte mich leise los und wolltegehen. Da fragtest Du: »Willst Du nicht ein paarBlumen mitnehmen?« Ich sagte ja. Du nahmst vierweiße Rosen aus der blauen Kristallvase am Schreib-tisch (ach, ich kannte sie von jenem einzigen diebi-schen Kindheitsblick) und gabst sie mir. Tagelanghabe ich sie noch geküßt.Wir hatten zuvor einen andern Abend verabredet. Ichkam, und wieder war es wunderbar. Noch eine dritteNacht hast Du mir geschenkt. Dann sagtest Du, Dumüßtest verreisen – oh, wie haßte ich diese Reisen vonmeiner Kindheit her! – und versprachst mir, michsofort nach Deiner Rückkehr zu verständigen. Ich gabDir eine Poste restante-Adresse – meinen Namenwollte ich Dir nicht sagen. Ich hütete mein Geheim-nis. Wieder gabst Du mir ein paar Rosen zum Ab-schied – zum Abschied.Jeden Tag während zweier Monate fragte ich … abernein, wozu diese Höllenqual der Erwartung, der Ver-zweiflung Dir schildern. Ich klage Dich nicht an, ichliebe Dich als den, der Du bist, heiß und vergeßlich,hingebend und untreu, ich liebe Dich so, nur so, wieDu immer gewesen und wie Du jetzt noch bist. Duwarst längst zurück, ich sah es an Deinen erleuchteten

  • Fenstern, und hast mir nicht geschrieben. Keine Zeilehabe ich von Dir in meinen letzten Stunden, keineZeile von Dir, dem ich mein Leben gegeben. Ich habegewartet, ich habe gewartet wie eine Verzweifelte.Aber Du hast mich nicht gerufen, keine Zeile hast Dumir geschrieben … keine Zeile …

    Mein Kind ist gestern gestorben – es war auch DeinKind. Es war auch Dein Kind, Geliebter, das Kindeiner jener drei Nächte, ich schwöre es Dir, und manlügt nicht im Schatten des Todes. Es war unser Kind,ich schwöre es Dir, denn kein Mann hat mich berührtvon jenen Stunden, da ich mich Dir hingegeben, biszu jenen andern, da es aus meinem Leib gerungenwurde. Ich war mir heilig durch Deine Berührung:wie hätte ich es vermocht, mich zu teilen an Dich, dermir alles gewesen, und an andere, die an meinemLeben nur leise anstreien? Es war unser Kind, Ge-liebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deinersorglosen, verschwenderischen, fast unbewußtenZärtlichkeit, unser Kind, unser Sohn, unser einzigesKind. Aber Du fragst nun – vielleicht erschreckt,vielleicht bloß erstaunt –, Du fragst nun, mein Gelieb-ter, warum ich dies Kind Dir alle diese langen Jahreverschwiegen und erst heute von ihm spreche, da eshier im Dunkel schlafend, für immer schlafend liegt,schon bereit fortzugehen und nie mehr wiederzukeh-ren, nie mehr! Doch wie hätte ich es Dir sagen kön-nen? Nie hättest Du mir, der Fremden, der allzuBereitwilligen dreier Nächte, die sich ohne Wider-stand, ja begehrend, Dir aufgetan, nie hättest Du ihr,

  • der Namenlosen einer flüchtigen Begegnung, ge-glaubt, daß sie Dir die Treue hielt, Dir, dem Untreuen

    – nie ohne Mißtrauen dies Kind als das Deine erkannt!Nie hättest Du, selbst wenn mein Wort Dir Wahr-scheinlichkeit geboten, den heimlichen Verdacht ab-tun können, ich versuchte, Dir, dem Begüterten, dasKind fremder Stunde unterzuschieben. Du hättestmich beargwöhnt, ein Schatten wäre geblieben, einfliegender, scheuer Schatten von Mißtrauen zwischenDir und mir. Das wollte ich nicht. Und dann, ich kenneDich; ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dichkennst, ich weiß, es wäre Dir, der Du das Sorglose, dasLeichte, das Spielende liebst in der Liebe, peinlich ge-wesen, plötzlich Vater, plötzlich verantwortlich zusein für ein Schicksal. Du hättest Dich, Du, der Du nurin Freiheit atmen kannst, Dich irgendwie verbundengefühlt mit mir. Du hättest mich – ja, ich weiß es, daßDu es getan hättest, wider Deinen eigenen wachenWillen –, Du hättest mich gehaßt für dieses Verbun-densein. Vielleicht nur stundenlang, vielleicht nurflüchtige Minuten lang wäre ich Dir lästig gewesen,wäre ich Dir verhaßt worden – ich aber wollte in mei-nem Stolze, Du solltest an mich ein Leben lang ohneSorge denken. Lieber wollte ich alles auf mich nehmenals Dir eine Last werden, und einzig die sein unter allenDeinen Frauen, an die Du immer mit Liebe, mit Dank-barkeit denkst. Aber freilich, Du hast nie an mich ge-dacht, du hast mich vergessen.Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ichklage Dich nicht an. Verzeih mirs, wenn mir manch-mal ein Tropfen Bitternis in die Feder fließt, verzeih

  • mirs – mein Kind, unser Kind liegt ja da tot unter denflackernden Kerzen; ich habe zu Gott die Fäuste ge-ballt und ihn Mörder genannt, meine Sinne sind trübund verwirrt. Verzeih mir die Klage, verzeihe sie mir!Ich weiß ja, daß Du gut bist und hilfreich im tiefstenHerzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten,der Dich bittet. Aber Deine Güte ist so sonderbar, sieist eine, die offen liegt für jeden, daß er nehmen kann,soviel seine Hände fassen, sie ist groß, unendlich groß,Deine Güte, aber sie ist – verzeih mir – sie ist träge. Siewill gemahnt, will genommen sein. Du hilfst, wennman Dich ru, Dich bittet, hilfst aus Scham, ausSchwäche und nicht aus Freudigkeit. Du hast – laß esDir offen sagen – den Menschen in Notdur undQual nicht lieber als den Bruder im Glück. UndMenschen, die so sind wie Du, selbst die Gütigstenunter ihnen, sie bittet man schwer. Einmal, ich warnoch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an derTür, wie Du einem Bettler, der bei Dir geklingelthatte, etwas gabst. Du gabst ihm rasch und sogar viel,noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm miteiner gewissen Angst und Hast hin, er möchte nurbald wieder fortgehen, es war, als hättest Du Furcht,ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige, scheue,vor der Dankbarkeit flüchtende Art des Helfens habeich nie vergessen. Und deshalb habe ich mich nie anDich gewandt. Gewiß, ich weiß, du hättest mir da-mals zur Seite gestanden auch ohne die Gewißheit, essei Dein Kind, Du hättest mich getröstet, mir Geldgegeben, reichlich Geld, aber immer nur mit dergeheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir weg-

  • zuschieben; ja, ich glaube, Du hättest mich sogarberedet, das Kind vorzeitig abzutun. Und dies fürch-tete ich vor allem – denn was hätte ich nicht getan, soDu es begehrtest, wie hatte ich Dir etwas zu verwei-gern vermocht! Aber dieses Kind war alles für mich,war es doch von Dir, nochmals Du, aber nun nichtmehr Du, der Glückliche, der Sorglose, den ich nichtzu halten vermochte, sondern Du für immer – someinte ich – mir gegeben, verhaet in meinem Leibe,verbunden in meinem Leben. Nun hatte ich Dich jaendlich gefangen, ich konnte Dich, Dein Leben wach-sen spüren in meinen Adern, Dich nähren, Dich trän-ken, Dich liebkosen, Dich küssen, wenn mir die Seeledanach brannte. Siehst du, Geliebter, darum war ichso selig, als ich wußte, daß ich ein Kind von Dir hatte,darum verschwieg ich Dirs: denn nun konntest dumir nicht mehr entfliehen.Freilich, Geliebter, es waren nicht nur so selige Mo-nate, wie ich sie voraus fühlte in meinen Gedanken, eswaren auch Monate voll Grauen und Qual, voll Ekelvor der Niedrigkeit der Menschen. Ich hatte es nichtleicht. In das Geschä konnte ich während der letztenMonate nicht mehr gehen, damit es den Verwandtennicht auffällig werde und sie nicht nach Hause berich-teten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten –so fristete ich mir mit dem Verkauf von dem bißchenSchmuck, den ich hatte, die Zeit bis zur Niederkun.Eine Woche vorher wurden mir aus einem Schrankevon einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestoh-len, so mußte ich in die Gebärklinik. Dort, wo nur dieganz Armen, die Ausgestoßenen und Vergessenen

  • sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Ab-hub des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geborenworden. Es war zum Sterben dort: fremd, fremd,fremd war alles, fremd wir einander, die wir da lagen,einsam und voll Haß eine auf die andere, nur vomElend, von der gleichen Qual in diesen dumpfen, vonChloroform und Blut, von Schrei und Stöhnen voll-gepreßten Saal gestoßen. Was die Armut an Ernie-drigung, an seelischer und körperlicher Schande zuertragen hat, ich habe es dort gelitten an dem Beisam-mensein mit Dirnen und mit Kranken, die aus der Ge-meinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten,an der Zynik der jungen Ärzte, die mit einem ironi-schen Lächeln der Wehrlosen das Bettuch aufstreienund sie mit falscher Wissenschalichkeit antasteten,an der Habsucht der Wärterinnen – oh, dort wird dieScham eines Menschen gekreuzigt mit Blicken undgegeißelt mit Worten. Die Tafel mit deinem Namen,das allein bist dort noch du, denn was im Bette liegt,ist bloß ein zuckendes Stück Fleisch, betastet vonNeugierigen, ein Objekt der Schau und des Studierens

    – ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem Mann,dem zärtlich wartenden, in seinem Hause Kinderschenken, was es heißt, allein, wehrlos, gleichsam amVersuchstisch, ein Kind zu gebären! Und lese ich nochheute in einem Buche das Wort Hölle, so denke ichplötzlich wider meinen bewußten Willen an jenenvollgepfropen, dünstenden, von Seufzer, Gelächterund blutigem Schrei erfüllten Saal, in dem ich gelittenhabe, an dieses Schlachthaus der Scham.Verzeih, verzeih mirs, daß ich davon spreche. Aber

  • nur dieses eine Mal rede ich davon, nie mehr, niemehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen davon,und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmalmußte ichs ausschreien, einmal ausschreien, wie teuerich es erkaue, dies Kind, das meine Seligkeit war unddas nun dort ohne Atem liegt. Ich hatte sie schonvergessen, diese Stunden, längst vergessen im Lä-cheln, in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit;aber jetzt, da es tot ist, wird die Qual wieder lebendig,und ich mußte sie mir von der Seele schreien, dieseseine, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an,nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual.Nicht Dich klage ich an, ich schwöre es Dir, und niehabe ich mich im Zorn erhoben gegen Dich. Selbst inder Stunde, da mein Leib sich krümmte in den We-hen, da mein Körper vor Scham brannte unter dentastenden Blicken der Studenten, selbst in der Se-kunde, da der Schmerz mir die Seele zerriß, habe ichDich nicht angeklagt vor Gott; nie habe ich jeneNächte bereut, nie meine Liebe zu Dir gescholten,immer habe ich Dich geliebt, immer die Stunde ge-segnet, da Du mir begegnet bist. Und müßte ich nocheinmal durch die Hölle jener Stunden und wüßtevordem, was mich erwartet, ich täte es noch einmal,mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!

    Unser Kind ist gestern gestorben – Du hast es niegekannt. Niemals, auch in der flüchtigen Begegnungdes Zufalles, hat dies blühende, kleine Wesen, DeinWesen, im Vorübergehen Deinen Blick gestrei. Ichhielt mich lange verborgen vor Dir, sobald ich dies

  • Kind hatte; meine Sehnsucht nach Dir war wenigerschmerzha geworden, ja ich glaube, ich liebte Dichweniger leidenschalich, zumindest litt ich nicht so anmeiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wolltemich nicht zerteilen zwischen Dir und ihm; so gab ichmich nicht an Dich, den Glücklichen, der an mir vor-beilebte, sondern an dies Kind, das mich brauchte, dasich nähren mußte, das ich küssen konnte und umfan-gen. Ich schien gerettet vor meiner Unruhe nach Dir,meinem Verhängnis, gerettet durch dies Dein anderesDu, das aber wahrha mein war – selten nur mehr,ganz selten drängte mein Gefühl sich demütig heran anDein Haus. Nur eines tat ich: zu Deinem Geburtstagsandte ich Dir immer ein Bündel weiße Rosen, genaudieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unse-rer ersten Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, indiesen elf Jahren Dich gefragt, wer sie sandte? Hast DuDich vielleicht an die erinnert, der Du einst solche Ro-sen geschenkt? Ich weiß es nicht und werde Deine Ant-wort nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzu-reichen, einmal im Jahre die Erinnerung aulühen zulassen an jene Stunde – das war mir genug.Du hast es nie gekannt, unser armes Kind – heuteklage ich mich an, daß ich es Dir verbarg, denn duhättest es geliebt. Nie hast Du ihn gekannt, den armenKnaben, nie ihn lächeln gesehen, wenn er leise dieLider auob und dann mit seinen dunklen klugenAugen – Deinen Augen! – ein helles, frohes Licht warfüber mich, über die ganze Welt. Ach, er war so heiter,so lieb: die ganze Leichtigkeit Deines Wesens war inihm kindlich wiederholt, Deine rasche, bewegte

  • Phantasie in ihm erneuert: stundenlang konnte erverliebt mit Dingen spielen, so wie Du mit demLeben spielst, und dann wieder ernst mit hochgezoge-nen Brauen vor seinen Büchern sitzen. Er wurdeimmer mehr Du; schon begann sich auch in ihm jeneZwiefältigkeit von Ernst und Spiel, die Dir eigen ist,sichtbar zu entfalten, und je ähnlicher er Dir ward,desto mehr liebte ich ihn. Er hat gut gelernt, er plau-derte Französisch wie eine kleine Elster, seine Heewaren die saubersten der Klasse, und wie hübsch warer dabei, wie elegant in seinem schwarzen Samtkleidoder dem weißen Matrosenjäckchen. Immer war er derEleganteste von allen, wohin er auch kam; in Grado amStrande, wenn ich mit ihm ging, blieben die Frauenstehen und streichelten sein langes blondes Haar, aufdem Semmering, wenn er im Schlitten fuhr, wandtensich bewundernd die Leute nach ihm um. Er war sohübsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre insInternat des eresianums kam, trug er seine Uniformund den kleinen Degen wie ein Page aus dem achtzehn-ten Jahrhundert – nun hat er nichts als sein Hemdchenan, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen undeingefalteten Händen.Aber Du fragst mich vielleicht, wie ich das Kind so imLuxus erziehen konnte, wie ich es vermochte, ihmdies helle, dies heitere Leben der obern Welt zu ver-gönnen. Liebster, ich spreche aus dem Dunkel zu Dir;ich habe keine Scham, ich will es Dir sagen, abererschrick nicht, Geliebter – ich habe mich verkau.Ich wurde nicht gerade das, was man ein Mädchenvon der Straße nennt, eine Dirne, aber ich habe mich

  • verkau. Ich hatte reiche Freunde, reiche Geliebte:zuerst suchte ich sie, dann suchten sie mich, denn ichwar – hast Du es je bemerkt? – sehr schön. Jeder, demich mich gab, gewann mich lieb, alle haben mirgedankt, alle an mir gehangen, alle mich geliebt – nurDu nicht, nur Du nicht, mein Geliebter!Verachtest Du mich nun, weil ich Dir es verriet, daßich mich verkau habe? Nein, ich weiß, Du verachtestmich nicht, ich weiß, Du verstehst alles und wirstauch verstehen, daß ich es nur für Dich getan, fürDein anderes Ich, für Dein Kind. Ich hatte einmal injener Stube der Gebärklinik an das Entsetzliche derArmut gerührt, ich wußte, daß in dieser Welt derArme immer der Getretene, der Erniedrigte, das Op-fer ist, und ich wollte nicht, um keinen Preis, daßDein Kind, Dein helles, schönes Kind da tief untenaufwachsen sollte im Abhub, im Dumpfen, im Ge-meinen der Gasse, in der verpesteten Lu eines Hin-terhausraumes. Sein zarter Mund sollte nicht die Spra-che des Rinnsteins kennen, sein weißer Leib nicht diedumpfige, verkrümmte Wäsche der Armut – DeinKind sollte alles haben, allen Reichtum, alle Leichtig-keit der Erde, es sollte wieder aufsteigen zu Dir, inDeine Sphäre des Lebens.Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich michverkau. Es war kein Opfer für mich, denn was mangemeinhin Ehre und Schande nennt, das war mirwesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige,dem mein Leib gehörte, so fühlte ich es als gleichgül-tig, was sonst mit meinem Körper geschah. Die Lieb-kosungen der Männer, selbst ihre innerste Leiden-

  • scha, sie rührten mich im Tiefsten nicht an, obzwarich manche von ihnen sehr achten mußte und meinMitleid mit ihrer unerwiderten Liebe in Erinnerungeigenen Schicksals mich o erschütterte. Alle warensie gut zu mir, die ich kannte, alle haben sie michverwöhnt, alle achteten sie mich. Da war vor allemeiner, ein älterer, verwitweter Reichsgraf, derselbe,der sich die Füße wundstand an den Türen, um dieAufnahme des vaterlosen Kindes, Deines Kindes, imeresianum durchzudrücken – der liebte mich wieeine Tochter. Dreimal, viermal machte er mir denAntrag, mich zu heiraten – ich könnte heute Gräfinsein, Herrin auf einem zauberischen Schloß in Tirol,könnte sorglos sein, denn das Kind hätte einen zärtli-chen Vater gehabt, der es vergötterte, und ich einenstillen, vornehmen, gütigen Mann an meiner Seite –ich habe es nicht getan, so sehr, so o er auch drängte,so sehr ich ihm wehe tat mit meiner Weigerung.Vielleicht war es eine Torheit, denn sonst lebte ichjetzt irgendwo still und geborgen, und dies Kind, dasgeliebte, mit mir, aber – warum soll ich Dir es nichtgestehen – ich wollte mich nicht binden, ich wollteDir frei sein in jeder Stunde. Innen im Tiefsten, imUnbewußten meines Wesens lebte noch immer deralte Kindertraum, Du würdest vielleicht noch einmalmich zu Dir rufen, sei es nur für eine Stunde lang.Und für diese eine mögliche Stunde habe ich allesweggestoßen, nur um Dir frei zu sein für Deinenersten Ruf. Was war mein ganzes Leben seit demErwachen aus der Kindheit denn anders als ein War-ten, ein Warten auf Deinen Willen!

  • Und diese Stunde, sie ist wirklich gekommen. AberDu weißt sie nicht, Du ahnst sie nicht, mein Geliebter!Auch in ihr hast Du mich nicht erkannt – nie, nie, niehast du mich erkannt! Ich war Dir ja schon früher obegegnet, in den eatern, in den Konzerten, imPrater, auf der Straße – jedesmal zuckte mir das Herz,aber Du sahst an mir vorbei: ich war ja äußerlich eineganz andere, aus dem scheuen Kinde war eine Fraugeworden, schön, wie sie sagten, in kostbare Kleidergehüllt, umringt von Verehrern: wie konntest Du inmir jenes schüchterne Mädchen im dämmerigen LichtDeines Schlafraumes vermuten! Manchmal grüßteDich einer der Herren, mit denen ich ging. Du dank-test und sahst auf zu mir: aber Dein Blick war höflicheFremdheit, anerkennend, aber nie erkennend, fremd,entsetzlich fremd. Einmal, ich erinnere mich noch,ward mir dieses Nichterkennen, an das ich fast schongewohnt war, zu brennender Qual: ich saß in einerLoge der Oper mit einem Freunde und Du in derNachbarloge. Die Lichter erloschen bei der Ouver-türe, ich konnte Dein Antlitz nicht mehr sehen, nurDeinen Atem fühlte ich so nah neben mir, wie damalsin jener Nacht, und auf der samtenen Brüstung derAbteilung unserer Logen lag Deine Hand aufgestützt,Deine feine, zarte Hand. Und unendlich überkammich das Verlangen, mich niederzubeugen und diesefremde, diese so geliebte Hand demütig zu küssen,deren zärtliche Umfassung ich einst gefühlt. Ummich wogte aufwühlend die Musik, immer leiden-schalicher wurde das Verlangen, ich mußte michankrampfen, mich gewaltsam aufreißen, so gewalt-

  • sam zog es meine Lippen hin zu Deiner geliebtenHand. Nach dem ersten Akt bat ich meinen Freund,mit mir fortzugehen. Ich ertrug es nicht mehr, Dichso fremd und so nah neben mir zu haben im Dun-kel.Aber die Stunde kam, sie kam noch einmal, ein letztesMal in mein verschüttetes Leben. Fast genau voreinem Jahr ist es gewesen, am Tage nach DeinemGeburtstage. Seltsam: ich hatte alle die Stunden anDich gedacht, denn Deinen Geburtstag, ihn feierte ichimmer wie ein Fest. Ganz frühmorgens schon war ichausgegangen und hatte die weißen Rosen gekau, dieich Dir wie alljährlich senden ließ zur Erinnerung aneine Stunde, die Du vergessen hattest. Nachmittagsfuhr ich mit dem Buben aus, führte ihn zu Demel indie Konditorei und abends ins eater, ich wollte,auch er sollte diesen Tag, ohne seine Bedeutung zuwissen, irgendwie als einen mystischen Feiertag vonJugend her empfinden. Am nächsten Tage war ichdann mit meinem damaligen Freunde, einem jungen,reichen Brünner Fabrikanten, mit dem ich schon seitzwei Jahren zusammenlebte, der mich vergötterte,verwöhnte und mich ebenso heiraten wollte wie dieandern und dem ich mich ebenso scheinbar grundlosverweigerte wie den andern, obwohl er mich und dasKind mit Geschenken überschüttete und selbst lie-benswert war in seiner ein wenig dumpfen, knechti-schen Güte. Wir gingen zusammen in ein Konzert,trafen dort heitere Gesellscha, soupierten in einemRingstraßenrestaurant, und dort, mitten im Lachenund Schwätzen, machte ich den Vorschlag, noch in

  • ein Tanzlokal, in den Tabarin, zu gehen. Mir warendiese Art Lokale mit ihrer systematischen und alkoho-lischen Heiterkeit wie jede »Drahrerei« sonst immerwiderlich, und ich wehrte mich sonst immer gegenderlei Vorschläge, diesmal aber – es war wie eineunergründliche magische Macht in mir, die michplötzlich unbewußt den Vorschlag mitten in die freu-dig zustimmende Erregung der andern werfen ließ –hatte ich plötzlich ein unerklärliches Verlangen, als obdort irgend etwas Besonderes mich erwarte. Ge-wohnt, mir gefällig zu sein, standen alle rasch auf, wirgingen hinüber, tranken Champagner, und in michkam mit einemmal eine ganz rasende, ja fast schmerz-hae Lustigkeit, wie ich sie nie gekannt. Ich trank undtrank, sang die kitschigen Lieder mit und hatte fastden Zwang, zu tanzen oder zujubeln. Aber plötzlich –mir war, als hätte etwas Kaltes oder etwas Glühend-heißes sich mir jäh aufs Herz gelegt – riß es mich auf:am Nachbartisch saßest Du mit einigen Freunden undsahst mich an mit einem bewundernden und begeh-renden Blick, mit jenem Blicke, der mir immer denganzen Leib von innen aufwühlte. Zum erstenmal seitzehn Jahren sahst Du mich wieder an mit der ganzenunbewußt-leidenschalichen Macht Deines Wesens.Ich zitterte. Fast wäre mir das erhobene Glas ausden Händen gefallen. Glücklicherweise merkten dieTischgenossen nicht meine Verwirrung: sie verlorsich in dem Dröhnen von Gelächter und Musik.Immer brennender wurde Dein Blick und tauchtemich ganz in Feuer. Ich wußte nicht: hattest Du michendlich, endlich erkannt, oder begehrtest Du mich

  • neu, als eine andere, als eine Fremde? Das Blut flogmir in die Wangen, zerstreut antwortete ich denTischgenossen: Du mußtest es merken, wie verwirrtich war von Deinem Blick. Unmerklich für die übri-gen machtest Du mit einer Bewegung des Kopfes einZeichen, ich möchte für einen Augenblick hinaus-kommen in den Vorraum. Dann zahltest Du ostenta-tiv, nahmst Abschied von Deinen Kameraden undgingst hinaus, nicht ohne zuvor noch einmal angedeu-tet zu haben, daß Du draußen auf mich warten wür-dest. Ich zitterte wie im Frost, wie im Fieber, ichkonnte nicht mehr Antwort geben, nicht mehr meinaufgejagtes Blut beherrschen. Zufälligerweise beganngerade in diesem Augenblick ein Negerpaar mit knat-ternden Absätzen und schrillen Schreien einen abson-derlichen neuen Tanz: alles starrte ihnen zu, und dieseSekunde nützte ich. Ich stand auf, sagte meinemFreunde, daß ich gleich zurückkäme, und ging Dirnach.Draußen im Vorraum vor der Garderobe standest Du,mich erwartend: Dein Blick ward hell, als ich kam.Lächelnd eiltest Du mir entgegen; ich sah sofort, Duerkanntest mich nicht, erkanntest nicht das Kind voneinst und nicht das Mädchen, noch einmal griffest Dunach mir als einem Neuen, einem Unbekannten. »Ha-ben Sie auch für mich einmal eine Stunde?« fragtestDu vertraulich – ich fühlte an der Sicherheit DeinerArt, Du nahmst mich für eine dieser Frauen, für dieKäufliche eines Abends. »Ja«, sagte ich, dasselbe zit-ternde und doch selbstverständliche einwilligende Ja,das Dir das Mädchen vor mehr als einem Jahrzehnt

  • auf der dämmernden Straße gesagt. »Und wannkönnten wir uns sehen?« fragtest Du. »Wann immerSie wollen«, antwortete ich – vor Dir hatte ich keineScham. Du sahst mich ein wenig verwundert an, mit-derselben mißtrauisch-neugierigen Verwunderung wiedamals, als Dich gleichfalls die Raschheit meines Ein-verständnisses erstaunt hatte. »Könnten Sie jetzt?« frag-test Du, ein wenig zögernd. »Ja«, sagte ich, »gehenwir.«Ich wollte zur Garderobe, meinen Mantel holen.Da fiel mir ein, daß mein Freund den Garderobenzet-tel hatte für unsere gemeinsam abgegebenen Mäntel.Zurückzugehen und ihn verlangen, wäre ohne um-ständliche Begründung nicht möglich gewesen, an-derseits die Stunde mit Dir preisgeben, die seit Jahrenersehnte, dies wollte ich nicht. So habe ich keineSekunde gezögert: ich nahm nur den Schal über dasAbendkleid und ging hinaus in die nebelfeuchteNacht, ohne mich um den Mantel zu kümmern, ohnemich um den guten, zärtlichen Menschen zu küm-mern, von dem ich seit Jahren lebte und den ich vorseinen Freunden zum lächerlichsten Narren ernied-rigte, zu einem, dem seine Geliebte nach Jahren weg-läu auf den ersten Pfiff eines fremden Mannes. Oh,ich war mir ganz der Niedrigkeit, der Undankbarkeit,der Schändlichkeit, die ich gegen einen ehrlichenFreund beging, im Tiefsten bewußt, ich fühlte, daßich lächerlich handelte und mit meinem Wahn einengütigen Menschen für immer tödlich kränkte, fühlte,daß ich mein Leben mitten entzweiriß – aber was warmir Freundscha, was meine Existenz gegen die Un-

  • geduld, wieder einmal Deine Lippen zu fühlen, DeinWort weich gegen mich gesprochen zu hören. Sohabe ich Dich geliebt, nun kann ich es Dir sagen, daalles vorbei ist und vergangen. Und ich glaube, riefestDu mich von meinem Sterbebette, so käme mir plötz-lich die Kra, aufzustehen und mit Dir zu gehen.Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zuDir. Ich hörte wieder Deine Stimme, ich fühlte Deinezärtliche Nähe und war genau so betäubt, so kindisch-selig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr alszehn Jahren, zum erstenmal wieder die Treppe empor

    – nein, nein, ich kann Dirs nicht schildern, wie ichalles immer doppelt fühlte in jenen Sekunden, vergan-gene Zeit und Gegenwart, und in allem und allemimmer nur Dich. In Deinem Zimmer war wenigesanders, ein paar Bilder mehr, und mehr Bücher, daund dort fremde Möbel, aber alles doch grüßte michvertraut. Und am Schreibtisch stand die Vase mit denRosen darin – mit meinen Rosen, die ich Dir tagsvorher zu Deinem Geburtstag geschickt als Erinne-rung an eine, an die Du Dich doch nicht erinnertest,die Du doch nicht erkanntest, selbst jetzt, da sie Dirnahe war, Hand in Hand und Lippe an Lippe. Aberdoch: es tat mir wohl, daß Du die Blumen hegtest: sowar doch ein Hauch meines Wesens, ein Atem meinerLiebe um Dich.Du nahmst mich in Deine Arme. Wieder blieb ich beiDir eine ganze herrliche Nacht. Aber auch im nacktenLeibe erkanntest Du mich nicht. Selig erlitt ich Deinewissenden Zärtlichkeiten und sah, daß Deine Leiden-scha keinen Unterschied macht zwischen einer Ge-

  • liebten und einer Käuflichen, daß Du Dich ganz gibstan Dein Begehren mit der unbedachten verschwende-rischen Fülle Deines Wesens. Du warst so zärtlich undlind zu mir, der vom Nachtlokal Geholten, so vor-nehm und so herzlich-achtungsvoll und doch gleich-zeitig so leidenschalich im Genießen der Frau; wie-der fühlte ich, taumelig vom alten Glück, diese einzigeZweiheit Deines Wesens, die wissende, die geistigeLeidenscha in der sinnlichen, die schon das Kind Dirhörig gemacht. Nie habe ich bei einem Manne in derZärtlichkeit solche Hingabe an den Augenblick ge-kannt, ein solches Ausbrechen und Entgegenleuchtendes tiefsten Wesens – freilich um dann hinzulöschen ineine unendliche, fast unmenschliche Vergeßlichkeit.Aber auch ich vergaß mich selbst: wer war ich nun imDunkel neben Dir? War ichs, das brennende Kind voneinst, war ichs, die Mutter Deines Kindes, war ichs,die Fremde? Ach, es war so vertraut, so erlebt alles,und alles wieder so rauschend neu in dieser leiden-schalichen Nacht. Und ich betete, sie möchte keinEnde nehmen.Aber der Morgen kam, wir standen spät auf, Duludest mich ein, noch mit Dir zu frühstücken. Wirtranken zusammen den Tee, den eine unsichtbar die-nende Hand diskret in dem Speisezimmer bereitge-stellt hatte, und plauderten. Wieder sprachst Du mitder ganzen offenen, herzlichen Vertraulichkeit DeinesWesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten Fra-gen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war.Du fragtest nicht nach meinem Namen, nicht nachmeiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur das

  • Abenteuer, das Namenlose, die heiße Stunde, die imRauch des Vergessens spurlos sich löst. Du erzähltest,daß Du jetzt weit weg reisen wolltest, nach Nord-afrika für zwei oder drei Monate: ich zitterte mitten inmeinem Glück, denn schon hämmerte es mir in denOhren: vorbei, vorbei und vergessen! Am liebstenwäre ich hin zu Deinen Knien gestürzt und hättegeschrien: »Nimm mich mit, damit Du mich endlicherkennst, endlich, endlich nach so vielen Jahren!«Aber ich war ja so scheu, so feige, so sklavisch, soschwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: »Wie schade.«Du sahst mich lächelnd an: »Ist es Dir wirklichleid?«Da faßte es mich wie eine plötzliche Wildheit. Ichstand auf, sah Dich an, lange und fest. Dann sagte ich:»Der Mann, den ich liebte, ist auch immer wegge-reist.« Ich sah Dich an, mitten in den Stern DeinesAuges. »Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!« zitterte,drängte alles in mir. Aber Du lächeltest mir entgegenund sagtest tröstend: »Man kommt ja wieder zurück.«»Ja«, antwortete ich, »man kommt zurück, aber dannhat man vergessen.«Es muß etwas Absonderliches, etwas Leidenschali-ches in der Art gewesen sein, wie ich Dir das sagte.Denn auch Du standest auf und sahst mich an, ver-wundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei denSchultern. »Was gut ist, vergißt sich nicht, Dichwerde ich nicht vergessen«, sagtest Du, und dabeisenkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als wollteer dies Bild sich festprägen. Und wie ich diesen Blickin mich eindringen fühlte, suchend, spürend, mein

  • ganzes Wesen an sich saugend, da glaubte ich endlich,endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er wirdmich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganzeSeele zitterte in dem Gedanken.Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntestmich nicht, nie war ich Dir fremder jemals als indieser Sekunde, denn sonst – sonst hättest Du nie tunkönnen, was Du wenige Minuten später tatest. Duhast mich geküßt, noch einmal leidenschalich ge-küßt. Ich mußte mein Haar, das sich verwirrt hatte,wieder zurechtrichten, und während ich vor demSpiegel stand, da sah ich durch den Spiegel – und ichglaubte hinsinken zu müssen vor Scham und Entset-zen – da sah ich, wie Du in diskreter Art ein paargrößere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie habeichs vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Ge-sicht zu schlagen in dieser Sekunde – mich, die ichDich liebte von Kindheit an, die Mutter Deines Kin-des, mich zahltest Du für diese Nacht! Eine Dirne ausdem Tabarin war ich Dir, nicht mehr – bezahlt, bezahlthast Du mich! Es war nicht genug, von Dir vergessenzu werden, ich mußte noch erniedrigt sein.Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort,rasch fort. Es tat mir zu weh. Ich griff nach meinemHut, er lag auf dem Schreibtisch neben der Vase mitden weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfaßte es michmächtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich esversuchen, Dich zu erinnern. »Möchtest Du mir nichtvon Deinen weißen Rosen eine geben?« »Gern«, sag-test Du und nahmst sie sofort. »Aber sie sind Dir viel-leicht von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich

  • liebt?« sagte ich. »Vielleicht«, sagtest Du, »ich weiß esnicht. Sie sind mir gegeben, und ich weiß nicht vonwem; darum liebe ich sie so.« Ich sah Dich an. »Viel-leicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!«Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. »Erkennemich, erkenne mich endlich!« schrie mein Blick. AberDein Auge lächelte freundlich und unwissend. Duküßtest mich noch einmal. Aber Du erkanntest michnicht.Ich ging rasch zur Tür, denn ich spürte, daß mirTränen in die Augen schössen, und das solltest Dunicht sehen. Im Vorzimmer – so hastig war ich hin-ausgeeilt – stieß ich mit Johann, Deinem Diener, fastzusammen. Scheu und eilfertig sprang er zur Seite, rißdie Haustür auf, um mich hinauszulassen, und da – indieser einen, hörst Du? in dieser einen Sekunde, da ichihn ansah, mit tränenden Augen ansah, den gealtertenMann, da zuckte ihm plötzlich ein Licht in den Blick.In dieser einen Sekunde, hörst Du? in dieser einenSekunde, hat der alte Mann mich erkannt, der michseit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich hätte hinknienkönnen vor ihm für dieses Erkennen und ihm dieHände küssen. So riß ich nur die Banknoten, mitdenen Du mich gegeißelt, rasch aus dem Muff undsteckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mirauf – in dieser Sekunde hat er vielleicht mehr geahntvon mir als Du in Deinem ganzen Leben. Alle, alleMenschen haben mich verwöhnt, alle waren zu mirgütig – nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nurDu, nur Du hast mich nie erkannt!

  • Mein Kind ist gestorben, unser Kind – jetzt habe ichniemanden mehr in der Welt, ihn zu lieben, als Dich.Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich niemals,niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie aneinem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein,der immer geht und weiter geht und mich läßt inewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu hal-ten, Dich, den Flüchtigen, in dem Kinde. Aber es warDein Kind: über Nacht ist es grausam von mir gegan-gen, eine Reise zu tun, es hat mich vergessen undkehrt nie zurück. Ich bin wieder allein, mehr allein alsjemals, nichts habe ich, nichts von Dir – kein Kindmehr, kein Wort, keine Zeile, kein Erinnern, undwenn jemand meinen Namen nennen würde vor Dir,Du hörtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nichtgerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weiter-gehen, da Du von mir gegangen bist? Nein, Geliebter,ich klage nicht wider Dich, ich will Dir nicht meinenJammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fürchtenicht, daß ich Dich weiter bedränge – verzeih mir, ichmußte mir einmal die Seele ausschreien in dieserStunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt. Nurdies eine Mal mußte ich sprechen zu Dir – dann geheich wieder stumm in mein Dunkel zurück, wie ichimmer stumm neben Dir gewesen. Aber du wirstdiesen Schrei nicht hören, solange ich lebe – nur wennich tot bin, empfängst Du dies Vermächtnis von mir,von einer, die Dich mehr geliebt als alle und die Dunie erkannt, von einer, die immer auf Dich gewartetund die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Dumich dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein

  • zum erstenmal, ich werde Dich nicht mehr hören ausmeinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein Zei-chen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du micherkennen, niemals. Es war mein Schicksal im Leben,es sei es auch in meinem Tod. Ich will Dich nichtrufen in meiner letzten Stunde, ich gehe fort, ohne daßDu meinen Namen weißt und mein Antlitz. Ich sterbeleicht, denn Du fühlst es nicht von ferne. Täte es Dirweh, daß ich sterbe, so könnte ich nicht sterben.Ich kann nicht mehr weiter schreiben … mir ist sodumpf im Kopfe … die Glieder tun mir weh, ich habeFieber … ich glaube, ich werde mich gleich hinlegenmüssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist mireinmal das Schicksal gütig, und ich muß es nicht mehrsehen, wenn sie das Kind wegtragen … Ich kann nichtmehr schreiben. Leb wohl, Geliebter, leb wohl, ichdanke Dir … Es war gut, wie es war, trotz alledem …ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir istwohl: ich habe Dir alles gesagt, Du weißt nun, nein,Du ahnst nur, wie sehr ich Dich geliebt, und hast dochvon dieser Liebe keine Last. Ich werde Dir nichtfehlen – das tröstet mich. Nichts wird anders sein inDeinem schönen, hellen Leben … ich tue Dir nichtsmit meinem Tod … das tröstet mich, Du Geliebter.Aber wer … wer wird Dir jetzt immer die weißenRosen senden zu Deinem Geburtstag? Ach, die Vasewird leer sein, der kleine Atem, der kleine Hauch vonmeinem Leben, der einmal im Jahre um Dich wehte,auch er wird verwehen! Geliebter, höre, ich bitte Dich

    … es ist meine erste und letzte Bitte an Dich … tumirs zuliebe, nimm an jedem Geburtstag – es ist ja

  • Tag, wo man an sich denkt – nimm da Rosen und tusie in die Vase. Tu’s, Geliebter, tu es so, wie andereeinmal im Jahre eine Messe lesen lassen für eine liebeVerstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott mehr undwill keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nurDich und will nur in Dir noch weiterleben … ach, nureinen Tag im Jahr, ganz, ganz still nur, wie ich nebenDir gelebt … Ich bitte Dich, tu es, Geliebter … es istmeine erste Bitte an Dich und die letzte … ich dankeDir … ich liebe Dich, ich liebe Dich … lebe wohl …

    Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dannsann er lange nach. Verworren tauchte irgendeinErinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein Mäd-chen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern,undeutlich und verworren, so wie ein Stein flimmertund formlos zittert am Grunde fließenden Wassers.Schatten strömten zu und fort, aber es wurde keinBild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erin-nerte sich doch nicht. Ihm war, als ob er von all diesenGestalten geträumt hätte, o und tief geträumt, aberdoch nur geträumt.Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf demSchreibtisch. Sie war leer, zum erstenmal leer seitJahren an seinem Geburtstag. Er schrak zusammen:ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufge-sprungen, und kalte Zuglu ströme aus anderer Weltin seinen ruhenden Raum. Er spürte einen Tod undspürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf inseiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körper-los und leidenschalich wie an eine ferne Musik.

    Brief einer UnbekanntenInhaltBrief einer UnbekanntenDie Hochzeit von LyonDer Amokläufer