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Buch Klemperer CC - verlag- · PDF file10 Liebe Leserinnen und Leser, das Blöde an Lehrbüchern ist, dass man ihren Wert erst dann entdeckt, wenn die Prüfung vor-bei ist. Am deutlichsten

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Inhalt

Vorwort zur 3. Auflage ...........................................................................................................................9Geleitwort zur 3. Auflage von Eckart von Hirschhausen ................................................................... 10Vorwort zur 2. Auflage .........................................................................................................................15Vorwort zur 1. Auflage ......................................................................................................................... 16Geleitwort zur 1. Auflage von Rolf Rosenbrock ................................................................................. 17

Kapitel 1 Public Health .......................................................................................................................... 181.1 Was ist Public Health? ...............................................................................................................181.2 Die Unsichtbarkeit von Public Health ....................................................................................231.3 Phasen von Public Health ........................................................................................................241.4 Der epidemiologische Übergang – die Verbesserung der Gesundheit im 20. Jahrhundert ...261.5 Soziale Determinanten der Gesundheit ..................................................................................281.6 Internationale Strukturen von Public Health ......................................................................... 321.7 Strukturen von Public Health in Deutschland .......................................................................341.8 New Public Health ...................................................................................................................361.9 Die Ursprünge von Sozialmedizin und Public Health in Deutschland ................................. 37

Kapitel 2 Gesundheit und Krankheit – Definitionen ..............................................................................452.1 Definitionen von Gesundheit und Krank heit ......................................................................... 452.2 Modelle in der Medizin ............................................................................................................472.2.1 Das biomedizinische Modell ...................................................................................................472.2.2 Das Risikofaktorenmodell ........................................................................................................ 502.2.3 Personalisierte Medizin .............................................................................................................552.2.4 Exkurs: Medikalisierung und Disease mongering ................................................................... 562.3 Psychosoziale Modelle für Prävention und Gesundheitsförderung .......................................622.3.1 Psychosoziale Determinanten ..................................................................................................632.3.2 Die Salutogenese .......................................................................................................................692.3.3 Das Empowerment-Konzept ....................................................................................................732.3.4 Ausgewählte Theorien zur Verhaltensänderung ..................................................................... 742.3.5 Capabilities Approach – das Konzept der Verwirklichungschancen .....................................762.3.6 Soziales Kapital .........................................................................................................................782.3.7 Subjektive Theorien von Krankheit und Gesundheit .............................................................812.4 Historische Krankheitsmodelle – Dämonismus und Humoralpathologie ............................822.5 Komplementärmedizin und Alternativmedizin .....................................................................862.5.1 Homöopathie ............................................................................................................................882.5.2 Der Plazeboeffekt...................................................................................................................... 912.6 Klassifikationssysteme von Krank hei ten und Behinderungen ...............................................942.6.1 Die Internationale Klassifikation von Krankheiten (ICD) .....................................................94

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Aus: David Klemperer; Sozialmedizin – Public Health – Gesundheitswissenschaften. 3., überarbeitete Auflage.

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2.6.2 Klassifikation psychischer Störungen ...................................................................................... 952.6.3 Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ...98

Kapitel 3 Wissenschaftlichkeit und evidenzbasierte berufliche Praxis ...................................................... 1013.1 Wissenschaftlichkeit ................................................................................................................ 1013.2 Ursache-Wirkungs-Beziehung .................................................................................................1053.3 Erfahrung und Intuition ......................................................................................................... 1123.4 Psychologische Quellen von Bias ............................................................................................ 1133.5 Interessenkonflikte, Reziprozität und Freundschaft als Quellen für Bias ............................. 1163.6 »Zweifel ist unser Produkt«: Denialism zur Unterdrückung unerwünschten Wissens ....... 1203.7 Wissenschaftliche Gemeinschaften, For schung und Forschungsförderung ..........................1223.8 Evidenzbasierte berufliche Praxis ............................................................................................ 1253.8.1 Einführung ............................................................................................................................... 1253.8.2. Evidenzbasierte Praxis – das Handlungskonzept .................................................................. 1313.8.3 Exkurs: Pioniere einer evidenzbasierten Praxis ......................................................................1373.8.4 Vorbehalte – die Top 4 ............................................................................................................ 1423.8.5 Wissenstransfer – die Kluft zwischen Wissen und Handeln überbrücken............................1433.9 Shared Decision Making .........................................................................................................1453.9.1 Definition ................................................................................................................................ 1453.9.2 Paternalistisches Modell und Konsumentenmodell ............................................................. 1463.9.3 Shared Decision Making als Handlungskonzept ...................................................................1483.9.4 Risikokommunikation ............................................................................................................ 152

Kapitel 4 Epidemiologie und Forschungsmethoden ...............................................................................1574.1 Was ist Epidemiologie? ............................................................................................................ 1574.2 Grundbegriffe .......................................................................................................................... 1614.3 Epidemiologische Daten- und Studientypen ........................................................................ 1694.3.1 Irrtümer in der Medizin und ihre Vermeidung durch fairen Vergleich .............................. 1704.3.2 Die randomisierte kontrollierte Studie ...................................................................................1744.3.3 Die Kohortenstudie .................................................................................................................1784.3.4 Die Fall-Kontroll-Studie........................................................................................................... 1814.3.5 Fallberichte und Fallserien ......................................................................................................1834.4 Qualitative Forschungsmethoden ........................................................................................... 1854.5 Gesundheitsberichterstattung .................................................................................................187

Kapitel 5 Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention .................................................................. 1915.1 Grundbegriffe ......................................................................................................................... 1915.1.1 Modelle der Krankheitsprävention ........................................................................................ 1925.1.2 Methoden in der Prävention ..................................................................................................1935.1.3 Gesundheitsförderung ............................................................................................................ 1965.1.4 Das Präventionsparadox ..........................................................................................................1985.1.5 Grenzen der Verhaltens prä ven tion – die Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit ...2005.2 Praxis von Prävention und Gesundheitsförderung ...............................................................202

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5.2.1 Planung, Durchführung und Evaluation am Beispiel der HIV/AIDS-Prävention ...............2035.2.2 Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung ........................................................2085.2.3 Tabak- und Alkoholprävention ..............................................................................................2095.3 Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland ....................................................... 2105.3.1 Das Präventionsgesetz 2015 ..................................................................................................... 2105.3.2 Akteure .....................................................................................................................................2125.4 Krankheitsfrüherkennung ...................................................................................................... 216

Kapitel 6 Soziale Ungleichheiten der Gesundheit .................................................................................2266.1 Sozioökonomischer Status und Gesundheit .........................................................................2266.2 Soziale Ungleichheiten der Gesundheit in Deutschland ......................................................2296.3 Gesellschaftliche Ursachen von Gesundheit – Gleichheit und Ungleichheit...................... 2336.3.1 Ausgewählte empirische Ergebnisse ...................................................................................... 2356.3.2 Einkommensungleichheit und Gesundheit .......................................................................... 2386.4 Public Health-Strategien zur Min de rung sozialer Ungleichheiten der Gesundheit ........... 2416.5 Ausgewählte Reports .............................................................................................................. 245

Kapitel 7 Gesundheitssystem und Gesundheitspolitik ...........................................................................2487.1 Gesundheitssysteme und Gesundheitsversorgung ................................................................2487.2 Formen von Gesundheitssystemen ........................................................................................2487.3 Das deutsche Gesundheitssystem – historischer Hintergrund und Überblick ................... 2507.4 Finanzierung des Gesundheitswesens.................................................................................... 2597.5 Die gesetzliche Krankenversicherung ....................................................................................2637.6 Private Krankenversicherung .................................................................................................2847.7 Ambulante medizinische Versorgung ..................................................................................2897.8 Stationäre Krankenversorgung ................................................................................................3017.9 Ambulante und stationäre pflege rische Versorgung .............................................................. 3117.10 Arzneimittelversorgung ...........................................................................................................3177.11 Rehabilitation ......................................................................................................................... 3307.12 Gesundheitsbezogene Selbsthilfe ............................................................................................3357.13 Öffentlicher Gesundheitsdienst .............................................................................................3407.14 Qualität der Gesundheitsversorgung ..................................................................................... 343

Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................................... 350Literatur ............................................................................................................................................. 352Sachwortverzeichnis .......................................................................................................................... 374Namensverzeichnis ........................................................................................................................... 378Über den Autor ................................................................................................................................. 379

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Hinweise:

Website zum Buch: http://www.sozmad.de

Blog zum Unterricht Gesundheitswissenschaften/Public Health/Sozialmedizin:

http://sozmad.blogspot.de

Das Literaturverzeichnis mit aktiven Hyperlinks ist auf www.sozmad.de abrufbar.

Zahlen und Statistiken veralten schnell. Die Tabellen in diesem Buch, die der Gesundheits-

berichterstattung des Bundes entstammen, sind mit einem Link versehen, der zu den jeweils

aktuellen Daten führt.

Die Sprache in diesem Buch ist nicht geschlechtergerecht. Bei der männlichen Form ist – soweit

inhaltlich passend – immer auch die weibliche gemeint.

Die Hyperlinks wurden zuletzt im Juni 2015 geprüft.

Redaktionsschluss war der 1. Jui 2015

Definition Vertiefung Merksatz Auf den Punkt gebracht

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Aus: David Klemperer; Sozialmedizin – Public Health – Gesundheitswissenschaften. 3., überarbeitete Auflage.

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Vorwort zur 3. Auflage

Die 3. Auflage berücksichtigt die bis Juni 2015

verabschiedeten bzw. geplanten Gesetze zur Prä-

vention sowie zur ambulanten und stationären

Versorgung und zur Pflege. Die Literatur sowie

die Zahlen und Daten wurden auf den Stand

Juni 2015 gebracht. Die Inhalte wurden leicht

überarbeitet. Die Gliederung wurde verändert

und sollte jetzt schlüssiger sein.

Von Leserinnen und Lesern zurecht ange-

mahnte Abschnitte zu weiteren Themen wie

Gender-Gesundheit, Weltgesundheit, Arbeits-

losigkeit und Gesundheit sowie Gesundheits-

system der DDR sind noch nicht fertig, werden

aber nach und nach auf der Website zum Buch

(www.sozmad.de) veröffentlicht und später in

eine hoffentlich erforderliche 4. Auflage integ-

riert. Auf dieser Website ist auch der Blog zum

Buch bzw. Unterricht zu finden, der sparsam

mit Neuigkeiten zu Themen von Public Health,

Gesundheitswissenschaften und Sozialmedizin

gefüttert wird.

Für inhaltliche Unterstützung bedanke ich

mich bei Bernard Braun, Ursula Helms, Michael

Klemperer, Joseph Kuhn, Annette Meussling-

Sentpali, Christa Mohr, Hartmut Reiners,

Bernt-Peter Robra, Jörg Schaaber und Wolf-

gang Thiel sowie erneut bei den Unterstüt-

zerinnen und Unterstützern der Vorauflagen.

Bei meinen Studentinnen und Studenten,

insbesondere bei Stefanie Fuchs, bedanke

ich mich für wertvolle Hinweise zur Verbes-

serung der Verständlichkeit.

Als ich Eckart von Hirschhausen vor Jah-

ren in der Harald-Schmidt-Show zum ersten

Mal sah, war ich beeindruckt, wie er – ganz

nebenbei – die Prinzipien der evidenzba-

sierten Medizin einem Millionenpublikum

näher brachte. Er verfolgt die Ziele dieses

Lehrbuchs mit anderen Mitteln, war mein

Gedanke. So lag es nahe, ihn um ein Ge-

leitwort zur 3. Auflage zu bitten. Aus dem

Geleitwort ist mehr ein Manifest für eine

soziale, am Patienten orientierte evidenzba-

sierte Medizin und eine Warnung vor den

Gefahren einer ökonomischen Orientierung

der Gesundheitsversorgung geworden. Mein

Tipp: Seite umblättern und lesen!

D. K.

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Liebe Leserinnen und Leser,

das Blöde an Lehrbüchern ist, dass man ihren

Wert erst dann entdeckt, wenn die Prüfung vor-

bei ist. Am deutlichsten ist mir dieser Zeitver-

zug beim Fach Sozialmedizin klar geworden. Es

hat über 20 Jahre gebraucht. Im Studium hab

ich das Fach als Pflicht in den ersten Semestern

abgehakt und die entsprechenden Multiple-

Choice-Fragen irgendwie beantwortet bekom-

men. Heute entdecke ich neu, wie wichtig

»public health« und die sozialen Fragen in der

Medizin sind, und fange freiwillig an, Lehrbü-

cher dazu zu lesen. Und jetzt darf ich sogar ein

Geleitwort zu dieser dritten Auflage schreiben,

weil ich den Autor auf dem Kongress »Armut

und Gesundheit« kennen und schätzen gelernt

habe.

Die großen Herausforderungen liegen nicht

auf Zell- sondern auf Gesellschaftsebene. Wis-

senschaftsvermittlung hat sich lange darauf

konzentriert, das was Wissenschaftler heraus-

gefunden haben, verständlich zu machen. Die

großen Fragen der Zukunft entscheiden sich

aber leider nicht im Labor sondern im prallen

Leben. Und Patienten wollen andere Dinge wis-

sen, als das was Forscher interessiert. Wie der

Editor des British Medical Journals Tim Weber

auf der Tagung des »Netzwerks Evidenz basierte

Medizin« vortrug, landet von 25.000 veröffent-

lichten Fachartikeln genau ein einziger in der

medizinischen Praxis. Angesichts solcher Zah-

len braucht es dringend eine Umschichtung

der Forschungsmittel hin zu Fragestellungen,

die näher dran sind an der Versorgung und den

großen therapeutischen Herausforderungen:

Diabetes, Herz-Kreislauf, Übergewicht, Rücken,

Depression. Alles Erkrankungen die sich zu wei-

ten Teilen verhindern lassen und die nicht an-

steckend sind. Außer durch schlechte Vorbilder.

Gesundheit folgt der Bildung. Dazu braucht es

keine weiteren Studien. Aber wie erreicht man

unterprivilegierte Kinder so früh und so wirk-

sam, dass sie gesund bleiben? Die Konzepte

dazu gibt es, zahlreiche Projekte haben gezeigt,

dass es punktuell geht. Aber wer hat ein echtes

Interesse an Prävention? Gute Bücher wie dieses

werden nicht müde, auch in die andere Rich-

tung zu schauen und die patientenrelevanten

und sozialen Fragen in den Elfenbeinturm zu

tragen.

Meine erste Stelle als Arzt war in der Kin-

derneurologie und Psychiatrie. Dort war ich

oft mit meinem Latein am Ende, obwohl ich so

viele tolle lateinische Fachausdrücke gelernt hat-

te. Denn die Probleme, mit denen die Familien

dort zu kämpfen hatten, ließen sich selten mit

einer Diagnose oder einem Medikament behe-

ben, sondern brauchten viele Veränderungen im

alltäglichen Leben. Ich wollte weiter lernen und

studierte noch Journalismus. Sechs Jahre lang

hatte ich trainiert, mich unverständlich auszu-

drücken, und nun sollte ich plötzlich die Dinge

so sagen, dass sie jeder Leser oder Fernsehzu-

schauer versteht. Aus dieser professionellen Ver-

Geleitwort zur 3. Auflage von Eckart von Hirschhausen

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wirrtheit machte ich einen neuen Beruf, den es

bisher noch nicht gab. Medizinischer Kabaret-

tist. Ich wollte testen, ob man den Zeigefinger

nicht besser statt zum Drohen und Kitzeln ver-

wenden kann, um Menschen anders über Ge-

sundheit nachdenken zu lassen. Und mich wun-

derte tatsächlich, warum so wenig von dem, was

man weiß, angewendet wird. Nur ein Beispiel:

Bluthochdruck ist Killer Nummer Eins. Angst

haben wir vor Krebs, sterben tun wir sehr viel

häufiger an Herz-Kreislauf-Krankheiten. Ist Blut-

druck schwer zu diagnostizieren? Nein. Fehlen

wirksame Mittel für die Behandlung? Nein. Wa-

rum wissen dann die Hälfte der Leute, die Blut-

hochdruck haben nichts von ihrer Erkrankung?

Und warum werden diejenigen die es wissen,

auch zu weniger als der Hälfte nach den besten

Leitlinien behandelt? Selbst wenn jemand schon

einen Herzinfarkt und teure Operationen hatte,

bleiben Risikofaktoren bei mehr als der Hälfte

der Patienten bestehen. Das ist so absurd, und

noch viel schlimmer finde ich, dass es so we-

nige Leute gibt, die sich darüber aufregen und

forschen, wie man das besser machen könnte.

Diese »Non-Compliance« (das Nichteinhalten

von ärztlichen Ratschlägen) betrachtet der Arzt

als Trotz, der Patient als Selbsterhaltungstrieb.

Tabletten im Werte von geschätzt 20 Milliarden

Euro landen so jedes Jahr im Müll. Hier in dem

Buch gibt es viele Ideen, was man mit diesem

Geld besseres für die Gesundheit von Vielen tun

könnte.

Neulich durfte ich einen Vortrag vor Herzchi-

rurgen halten. In der Vorbereitung wurde mir

das Dilemma der modernen Medizin so klar

wie selten. Es gibt gute Studien, die zeigen, dass

bei Schmerzen in der Brust eine Umstellung in

der Lebensweise zu mehr Bewegung langfristig

mehr bringt als einen Stent zu implantieren,

eine Art Maschendrahtzaun für die Gefäßwand.

Das ist die Theorie. In der Praxis bringt es aber

mehr, zu operieren als zu überzeugen, zu üben

und zu begleiten. Wenn ich einen Bypass ope-

riere, bin ich ein Held und verdiene viel Geld.

Wenn ich heute in einer Schule Jugendlichen

beibringe, nicht zu rauchen, so dass er später nie

einen Bypass braucht, bin ich kein Held, verdie-

ne kaum Geld und habe aber in der Bilanz die-

sem jungen Menschen den größeren Dienst und

mehr beschwerdefreie Lebensjahr geschenkt als

jeder kurative Arzt.

Woher kommt das Wort für die größte eu-

ropäische Klinik, die Charité? Man könnte

meinen von Shareholder Value. Irrtum. Chari-

té kommt von Caritas, der Nächstenliebe. Sich

um kranke Menschen zu kümmern, war ur-

sprünglich im christlichen Abendland ein Akt

der Barmherzigkeit. Ein Patient ist in erster Li-

nie kein Kunde, sondern ein leidender Mensch.

Und die wichtigste Frage sollte auch nicht sein,

wie mache ich mit dem 20% Rendite, sondern:

Wie kann ich dem helfen? Und wenn wir so viel

reden über die Bedrohung der Werte des Abend-

landes: Nächstenliebe, Solidarität und Gerech-

tigkeit sind Werte, für die wir wirklich auf die

Straße gehen sollten.

Schon vor 2000 Jahren sagte ein Heiler: »Das

Wichtigste sind Glaube, Liebe und Hoffnung.«

Drei Entwicklungen machen mir Mut: Patien-

ten werden selbstbewusster und lassen nicht

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mehr alles mit sich machen. Die Ärzteschaft

kapiert langsam selber, dass weniger mehr sein

kann. Und die Heilkraft des Humors wird nicht

mehr nur belächelt sondern ernsthaft klinisch

untersucht. Der Reihe nach.

Trend Patientenautonomie und gemeinsam

entscheiden

Das Internet sollte Wissen demokratisieren

und die Verbreitung der Vernunft erleichtern.

Dachte man. Leider hat sich dieser aufkläreri-

sche Gedanke ins Gegenteil verkehrt. Das Netz

ist ein Eldorado für Verschwörungstheoretiker,

Außenseitermeinungen und fundamentalen

Unsinn – mit einem Wort: »Bullshit«. In vielen

Lebensbereichen greift eine Haltung um sich,

die keinen Unterschied mehr macht, ob und

welche Beweise für eine Behauptung herhal-

ten. Jeder kann alles herausposaunen, und eine

absurde These ist immer interessanter als ihre

mühsame Widerlegung. Der britische Arzt An-

drew Wakefield veröffentlichte 1998 eine Studie,

die an 12 Kindern einen Zusammenhang zwi-

schen Masernimpfung und Autismus postulier-

te. Fragt man heute Menschen auf der Straße,

haben viele davon gehört. Aber wer hat davon

gehört, dass 2010 diese Arbeit als Fälschung ent-

larvt, Wakefield die Zulassung entzogen und

an über 500.000 Kindern bewiesen wurde, dass

es keinerlei Zusammenhang gibt? Der Skandal

ist spannend, die Widerrufung nicht. Es bleibt

ein diffuser Makel an einer der wichtigsten und

segenreichsten Präventionsmaßnahmen, die es

überhaupt gibt, mit der Folge, dass Kinder an ei-

ner Infektion sterben, die seit 50 Jahren mit zwei

kleinen Piksern Geschichte sein könnte. Corne-

lia Betsch untersucht an der Universität Erfurt,

was passiert, wenn besorgte Eltern im Netz zum

Thema Impfen herumsuchen und wie sie nach

10 Minuten jede Menge kritischer Informatio-

nen zusammen gegoogelt haben, ohne einord-

nen zu können, was davon stimmt.

Deshalb ist eine der großen Aufgaben für Pu-

blic Health auch Public Understanding!

Die Internetseiten, die in staatlichem Auf-

trag evidenzbasiert und verständlich sind wie

gesundheitsinformation.de oder die Seiten der

Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklä-

rung, sind in der Bevölkerung nicht ausreichend

bekannt. Erst recht nicht in bildungsfernen

Schichten. So wie man Medikamente auf ihre

Wirksamkeit testet, so kann man auch Texte

und Seiten testen, und sollte das auch tun.

Was dringend eingerichtet werden sollte: eine

Eckart v. Hirschhausen und David Klemperer (rechts, mit Heiligenschein)

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Suchmaschine zu Gesundheitsfragen, die gezielt

geprüfte und brauchbare Informationen zusam-

menträgt. In skandinavischen Ländern gibt es

staatlich finanzierte Gesundheitsseiten, die so-

wohl inhaltlich wie in der Darstellung vorbild-

lich sind. In Deutschland braucht es noch den

politischen Willen und Geld, damit eine Platt-

form oder »Suchmaschine der Vernunft«, die

erste Adresse und Anlaufstelle in Gesundheits-

fragen werden kann.

Ein Grundwissen über sich und seinen Körper

gehört in die Schule, genauso wie ein kritischer

Umgang mit Ratschlägen und Behandlungs-

empfehlungen. Jeder kann sich angewöhnen,

vor größeren Entscheidungen und Eingriffen

einfache Fragen zu stellen,

Medizin sollte im 21. Jahrhundert keine Ge-

heimwissenschaft mehr sein, denn der Fort-

schritt gehört uns allen. Jeder hat das Recht,

dass jemand verständlich mit ihm spricht. Fra-

gen Sie nach, wenn Sie etwas nicht verstehen.

1. »Was ist der Nutzen (manchen muss man

erklären, der Nutzen für den Patienten)?«

2. »Was ist der mögliche Schaden?«

3. »Wo ist der Beweis?«

4. »Würden Sie als Arzt das an sich selbst oder

an Ihrem Angehörigen machen lassen?«

5. »Was kann passieren, wenn wir abwarten

und wir gemeinsam die weitere Entwick-

lung verfolgen?«

Viele Dinge gehen von alleine weg bzw. wer-

den auch nicht besser, nur weil man daran he-

rumdoktert. Unübertrefflich in der Arztsatire

»House of God« formuliert: »The art of medici-

ne is to do as much nothing as possible!« – Die

Kunst der Medizin besteht darin, so viel nix zu

tun wie möglich. Auf gut Deutsch: Vieles wird

getan, weil es bezahlt wird, nicht weil es für den

Patienten das Beste ist. Oft ist es besser, abzu-

warten und nicht zu operieren bzw. ohne ein-

deutigen Grund Antibiotika zu nehmen. Die

subversivste Frage lautet daher immer wieder:

»Was passiert, wenn ich nichts tue?«

Zweiter Trend: Überversorgung ist als Pro-

blem erkannt

Durch das Fallpauschalensystem ist kein Geld

gespart worden, aber viele unnötige Leistungen

explodierten. So hat in den Letzten Jahren jeder

der nicht bei drei auf dem Baum war ein neues

Knie oder eine neue Hüfte eingehämmert be-

kommen, und der Beweis, dass er die brauchte,

war durch die Tatsache erbracht, dass er nicht bei

drei auf dem Baum war. Offenbar schwer bewe-

gungseingeschränkt. Aus den USA kommt lang-

sam auch in den deutschen Fachgesellschaften

ein Prozess in Gang mit dem Titel »Choosing

wisely« was mit »Gemeinsam klug entscheiden«

übersetzt wird. Auch wenn große ökonomische

Interessen dagegen stehen, findet langsam ein

Umdenken statt, bei Patienten wie auch auf

Ärzteseite. Und das Bewusstsein wächst, dass

die Medizin ohne die soziale Dimension mit zu

Denken, keine Chance hat. Denn: die größte

Herausforderung ist nicht Wissen, sondern Han-

deln und Verhalten zu verändern. Fakt ist, dass

es noch nie so viele Artikel, Bücher, Hefte und

Werbespots gab wie heute, die einem erklären,

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was gesund ist, wo beim Essen was drin ist und

wie man abnimmt. Und Fakt Nummer 2: noch

nie gab es in Deutschland so viele Übergewich-

tige. Wir sind eins der reichsten Länder Europas

und gleichzeitig nicht besonders gut dran oder

drauf. Irgendwas läuft richtig falsch.

Dritter Trend: Lachen ist die beste Medizin!

Oft werde ich gefragt, darf man sich überhaupt

über so etwas Ernstes wie die Medizin lustig

machen? Man darf nicht nur, man muss! Denn

George Bernhard Shaw hat schon verraten: »Das

Leben hört nicht auf, komisch zu sein, wenn

Menschen sterben – ebenso wenig wie es auf-

hört, ernst zu sein, wenn man lacht!« Ein Kind

lacht 400-mal am Tag, ein Erwachsener 20-mal,

ein Toter gar nicht. Ohne viel von Statistik zu

verstehen: Die Tendenz ist eindeutig. Wer lacht,

hat mehr vom Leben. Man kann Humor aber

nicht als Tablette einnehmen, nur als Haltung.

Es wäre als Medikament gar nicht zugelassen:

zu viele Nebenwirkungen. Weniger Herzin-

farkte, weniger Stress und noch dazu ein gutes

Schmerzmittel. Ich schlage einen kleine Selbst-

versuch vor: Hauen Sie sich zweimal mit dem

Hammer auf den eigenen Daumen. Einmal al-

leine – und dann nochmal in Gesellschaft. Bist

du allein, tut es lange weh. Mit jemandem in

der Nähe musst du lachen, und der Schmerz

lässt nach. Und deshalb sollten Menschen mit

Schmerzen und anderen Problemen immer an-

dere Menschen und etwas zu Lachen haben. Da-

für setzt sich meine Stiftung HUMOR HILFT

HEILEN ein. Wir bringen Clowns in Kranken-

häuser, schulen Pfl egekräfte und forschen in

mehreren Projekten, wie man die Heilkraft von

Zuwendung, herzlichem Kontakt und Selbst-

fürsorge noch besser einsetzen kann. Wen es

interessiert fi ndet auf www.hirschhausen.com

oder www.humor-hilft-heilen.com mehr dazu.

Aber jetzt haben Sie ja erst einmal eine ganze

neue Welt, ein echtes Abenteuer vor sich. Im

festen Glauben, dass Lachen die beste Medizin

ist, wünsche ich Ihnen immer wieder Haha-

und Aha-Erlebnisse mit diesem Buch und freue

mich, wenn ich Sie einmal live sehen kann, z. B.

bei meinem Bühnenprogramm.

Ihnen und dem Gesundheitswesen:

Gute Besserung!

Ihr

Dr. Eckart von Hirschhausen (Jg. 1967) studierte

Medizin und Wissenschaftsjournalismus. Seine Spe-

zialität: medizinische Inhalte auf humorvolle Art

zu vermitteln und mit nachhaltigen Botschaften

zu verbinden. Aktuell tourt er mit seinem Livepro-

gramm »Wunderheiler – Magie und Medizin – Wie

sich das Unerklärliche erklärt«. Hinter den Kulissen

engagiert sich Eckart von Hirschhausen mit seiner

Stiftung HUMOR HILFT HEILEN für heilsame

Stimmung im Krankenhaus, Forschungs- und Schul-

projekte und hat einen Lehrauftrag für Sprache der

Medizin.

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Aus: David Klemperer; Sozialmedizin – Public Health – Gesundheitswissenschaften. 3., überarbeitete Auflage.

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Für die 2. Auflage wurde das gesamte Buch auf

den neuesten Stand gebracht, der Text wurde

vollständig überarbeitet, einige neue Themen

und viele neue Aspekte wurden aufgenommen.

Der Titel wurde um den Begriff Gesundheits-

wissenschaften erweitert, weil die Inhalte weit-

gehend auch dieser Disziplin zuzuordnen sind.

Dieses Buch richtet sich – wie bisher – an

alle, die eine Ausbildung in einem Gesundheits-

oder Sozialberuf durchlaufen (einschließlich

der Medizin), zusätzlich aber auch an alle, die

beruflich oder im Freiwilligenengagement mit

Gesundheit und Krankheit befasst sind und sich

Systemkompetenz aneignen wollen, wie Patien-

tenvertreter in der Selbstverwaltung, Kranken-

kassenmitarbeiter, Mitglieder und Mitarbeiter

der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe und Jour-

nalisten.

Viele Personen haben mir Rückmeldungen

zur 1. Auflage gegeben – bei allen bedanke ich

mich herzlich! Beim Erarbeiten der 2. Auflage

haben mich zahlreiche Kollegen und Freunde

aus Public Health, Medizin, Pflege, Selbsthilfe,

Politik und Journalismus durch die Kommen-

tierung von Vorversionen einzelner Kapitel oder

Abschnitte unterstützt, ebenso Studenten und

Familienmitglieder. Viele Gedanken und Argu-

mente im Buch stammen von diesen Unterstüt-

zern, denen ich von Herzen danke: Rupert Bren-

ninger, Christian Deppe, Ulrike Faber, Günter

Fröhlich, Gerd Glaeske, Matthias Gruhl, Clau-

dia Gürkov, Sonja Haug, Daniela Hierhammer,

Jürgen Kasper, Jonas Klemperer, Michael Klem-

perer, Esther Klemperer, Lukas Klemperer, Ans-

gar Klimke, Franz Knieps, Christoph Knödler,

Thomas Krause, Joseph Kuhn, Anke Lahr, Tho-

mas Lampert, Gabriele Meyer, Christa Mohr,

Hartmut Reiners, Bernt-Peter Robra, Johannes

Rodenbücher, Peter Sawicki, Corinna Schaefer,

Doris Schiemann, Wolfgang Thiel, Dorothea

Thünken-Klemperer, Daniela Wald, Christian

Weymayr, Manfred Wildner, Jürgen Windeler,

Klaudia Winkler, Holger Wormer und Hajo

Zeeb.

Mein ganz besonderer Dank gilt Joseph Kuhn

und Katrin Birkenstock, die den gesamten Text

gelesen und kritisch kommentiert haben.

Auch wenn er sich diesmal nicht beteiligen

konnte, möchte ich ausdrücklich die Verdiens-

te von Bernard Braun bei der Erarbeitung der 1.

Auflage erwähnen.

André Kahane hat erneut wunderbare Arbeit

bei der Gestaltung geleistet. Kitty Kahane danke

ich sehr für die Illustrationen.

Trotz aller Unterstützung und aller Bemühun-

gen wird es mir nicht gelungen sein, inhaltliche

Fehler ganz zu vermeiden. Für entsprechende

Hinweise und für Verbesserungsvorschläge bin

ich dankbar (david.klemperer@hs-regensburg.

de).

Ich widme dieses Buch erneut meinen Lieben:

Esther, Jonas, Lukas und Dorothea.

Vorwort zur 2. Auflage

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Aus: David Klemperer; Sozialmedizin – Public Health – Gesundheitswissenschaften. 3., überarbeitete Auflage.

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Vorwort zur 1. Auflage

Dieses Buch richtet sich an alle Personen, die

eine Ausbildung für einen Gesundheitsberuf

durchlaufen oder bereits im Gesundheitswesen

arbeiten. Gesundheit und Krankheit verste-

hen, bedeutet zum einen, sich mit den Theori-

en auseinanderzusetzen, die dem Denken und

Handeln zugrunde liegen. Zum anderen geht

es darum, die Strukturen und Funktionsweisen

des Gesundheitssystems und seiner Teilsysteme

zu verstehen. Dieses Verstehen zu erleichtern, ist

das Anliegen dieses Buches.

Dabei folgt es dem Prinzip »less is more«. Je-

des Kapitel ist in sich geschlossen und in dem

Sinne umfassend, dass die Aspekte behandelt

werden, die für das Verstehen wesentlich sind.

Vollständigkeit kann dieses Buch nicht bieten,

genauso wenig wie auch umfangreichere Wer-

ke über Sozialmedizin und Public-Health. Eher

geht es darum, Lust auf mehr zu machen und zu

Vertiefung und Eigenstudium anzuregen.

Für diese Zwecke wurden, wann immer mög-

lich, Originalquellen verlinkt. Der Leser kann

damit nicht nur nachprüfen, ob die Aussagen

im Buch mit der Originalquelle übereinstim-

men. Er kann auch über den bequemen Zugriff

seiner Neugier ungezügelt nachgehen und sich

nach der Schneeballmethode tief in Themen

ein arbeiten.

Auf der biologischen Ebene entspricht nach-

haltiges Lernen der Bildung von Synapsen – der

Lernende stellt neue Verbindungen zwischen

Nervenzellen her (Abbildung 0.1). Dieser bio-

logische Vorgang funktioniert nur durch wie-

derholte Aktivierung der für die Speicherung

zuständigen Nervenzellverbände. Das Gegen-

konzept dazu ist das »Bulimie-Lernen«, also die

Strategie, kurz vor der Prüfung Stoff in großen

Mengen ins Kurzzeitgedächtnis zu pressen, ihn

in der Prüfung von sich zu geben und danach

schnell wieder zu vergessen (Abbildung 0.2).

Diese Art zu lernen ist ineffektiv, jeder Art von

Schule und Universität unwürdig und nicht zu-

letzt eine Verschwendung von Lebenszeit.

Dieses Buch soll dagegen als »Lernbuch« die

nachhaltige Aneignung von Wissen ermögli-

chen und zwar ein Wissen, das den Lernenden

darin unterstützt zu fragen, zu verstehen, zu

analysieren, zu kritisieren, zu verändern, Prob-

leme zu erkennen und sie zu lösen. Die Website

zum Buch (www.sozmad.de) bietet eine Samm-

lung zusätzlicher Mate rialien.

Abbildung 0.1 Nervenzellen im Gehirn – die Synapsen bil-den Sie!

Abbildung 0.2 Wellenförmiges Lernen über zwei Semester

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Gesundheit und Krankheit verstehen: Noch vor

wenigen Jahrzehnten – und manchmal noch bis

heute – wurde dies als Auf gabe allein der Me-

dizin gesehen. Was gut und was schlecht ist für

die Gesundheit wissen und bestimmen dann die

Ärzte autonom. Die Gesundheitspolitik hat das

Geld für die Summe der individuellen Behand-

lungsfälle zu beschaffen. Die Versicherten haben

ihren Beitrag zu zahlen und als Patienten den

Anweisungen Folge zu leisten. Forschung und

Lehre entsprechen den Interessen und Bedürfnis-

sen der Ärzte in Klinik und Praxis. Dieses Modell

hat sich als nicht zukunftsfähig erwiesen: es ist

blind gegenüber den Ursachen sozial bedingter

Ungleichheit von Gesundheitschancen, es ver-

nachlässigt systematisch die Potenziale der Prä-

vention, es führt auch nicht zur besten Qualität

in der Krankenversorgung – und es ist deshalb

auch teuer. Deshalb wird weltweit wissenschaft-

lich und praktisch an einem Perspektivenwechsel

gearbeitet. Die Einbettung in die – klinische und

soziale – Epidemiologie sowie in die Methoden

und Instrumente zur Bestimmung und Verbes-

serung von Wirkung und Nutzen macht die

Medizin natürlich nicht überflüssig, sondern sie

zeichnet für alle mit der Gesundheit befassten

Wissenschaften (und dann auch für die Praxis)

eine Entwicklung in Richtung auf zielgenauen

Einsatz von Ressourcen, kompetenzgerechte Ar-

beitsteilung und mehr Selbstbestimmung für

Bürger und Patienten vor. Diese Entwicklung

hatte bereits vor circa hundert Jahren auch hier-

zulande erfolgreich begonnen. Der Faschismus

in Deutschland und seine gesellschaftlichen Fol-

gen führten dann aber zu einer Unterbrechung

von mehr als einem halben Jahrhundert. Erst seit

Beginn der 1990er Jahre gibt es deshalb auch in

Deutschland (wieder) das akademische Fach »Pu-

blic-Health«, d. h. Theorie und Praxis der bevöl-

kerungsbezogenen Förderung und Sicherung der

Gesundheit. In erstaunlich kurzer Zeit konnte

der wissenschaftliche Rückstand gegenüber an-

deren Ländern weitgehend aufgeholt werden, hat

sich eine rege Diskussion und Entwicklung mit

vielen offenen Fragen und Kontroversen, aber

auch mit Beständen gesicherten Wissens entwi-

ckelt. Das vorliegende Lehr- und Lernbuch ist ein

guter Beleg und zugleich ein Meilenstein dieser

Entwicklung: sein spezifischer Fokus liegt auf der

Frage der Kriterien, der Messung und der Verbes-

serung der Wirksamkeit nicht-medizinischer und

medizinischer Interventionen zum Erhalt und

zur Wiedererlangung von Gesundheit. Dabei

werden Wissensbestände in einer sehr systemati-

schen Weise zusammengeführt, die erst seit weni-

gen Jahren verfügbar sind und sich weiter entwi-

ckeln werden. Wer Gesundheit und Krankheit in

dieser transdisziplinären Weise verstehen gelernt

hat, kann an dieser spannenden Entwicklung

teilnehmen und gewinnt zugleich eine solide

Grundlage für eine wissensbasierte Berufspraxis.

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Berlin, im Dezember 2009

Geleitwort zur 1. Auflage von Rolf Rosenbrock

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1. Public Health18

Kapitel 1 Public Health1.1 Was ist Public Health?

»Leben, einzeln und frei wie ein Baum, und brüderlich wie ein Wald, das ist meine Sehnsucht.« (Hikmet o.J)»… denn die medizinische Wissenschaft ist in ih-rem innersten Kern und Wesen eine sociale Wissen-schaft.« (Neumann 1847 S. 64 f.)

Die Medizin verbinden wir mit Bildern, wie z.B. einer Ärztin in weißem Kittel mit einem Stetho-skop oder Chirurgen in grüner Operationsklei-dung. Entsprechende Bilder von Public Health sind weniger verbreitet. An das Bild des türki-schen Dichters Nazim Hikmet anknüpfend, sorgt sich die klinische Medizin um die Gesund-heit des Baumes bzw. um seine Heilung von Krankheit. Ziel ist die bestmögliche Gesundheit jedes einzelnen Baumes. In diesem Bild bleibend sorgt sich Public Health um die Gesundheit des Waldes. Dafür gilt es, die Faktoren zu bestim-men und zu beeinflussen, die den Waldzustand bzw. die Waldgesundheit beeinflussen, wie z.B. die Qualität von Luft, Wasser und Boden, das Klima und Schadorganismen (BMEL 2015). Bezogen auf die Menschen befasst sich Public Health mit den Faktoren, welche den Gesund-heitszustand einer Bevölkerung bzw. von Bevöl-kerungsgruppen beeinflussen. Dabei handelt es sich in erster Linie um soziale Faktoren, die sog. sozialen Determinanten der Gesundheit. Wenn die Lebenserwartung in 2 Stadtbezirken, die nur 9 Meilen voneinander entfernt liegen, sich um 29 Jahre unterscheidet (S. 236 f.), liegt es nahe, Unterschiede der Lebensbedingungen ins Auge zu fassen so wie es nahe liegt, Unterschiede z.B. des Bodens zu untersuchen, wenn Teile des Wal-des nicht gedeihen.

Die Perspektiven von Public Health und Me-dizin unterscheiden sich, sind aber letztlich auf dasselbe Ziel gerichtet: Möglichst vielen Men-

schen soll es ermöglicht werden, ein Leben nach ihren Vorstellungen in möglichst guter Gesund-heit zu führen.

Public Health bezieht vielfältige, insbeson-dere soziale Bedingungen ein, die für die Ver-hinderung von Krankheit und den Erhalt der Gesundheit einer Bevölkerung oder bedeutsam sind.

Die Individualmedizin hat zum Ziel, dem akut oder chronisch Kranken mithilfe von Diag-nostik und Therapie bestmöglich zu helfen. Die ärztliche Berufsordnung hebt in § 1 hervor, dass Ärztinnen und Ärzte der Gesundheit des ein-zelnen Menschen und der Bevölkerung dienen. Der weit überwiegende Teil der Ärzte ist indi-vidualmedizinisch tätig. Ein Grundverständnis der Aufgaben, Methoden und Ergebnisse von Public Health ist jedoch für jeden im Gesund-heits- und Sozialwesen Tätigen notwendig und darüber hinaus auch für alle Bürger, die gesunde Lebensbedingungen (mit)gestalten wollen

Auf den Punkt gebrachtPublic Health und Medizin sind 2 Disziplinen mit unterschiedlichen aber sich ergänzenden Sichtweisen auf die Gesundheit. Die klinische Medizin fokus-siert auf die biologischen, im Organismus liegenden Ursachen der Krankheit individueller Patienten. Public Health befasst sich mit den Ursachen der Be-völkerungsgesundheit, die in erster Linie auf den so-zialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Bedingungen beruht.

Dazu 4 Beispiele1. Die Individualmedizin setzt Arzneimit-

tel ein, um Gefährdete vor der Malaria zu schützen und Erkrankte zu behandeln. Um 1900 hat General Gorgas in Panama die Ma-laria und das Gelbfieber zurückgedrängt, indem er die Drainierung von Sumpfge-bieten veranlasst hat, also mit einer Public Health-Intervention (Gorgas 1915).

2. Die Individualmedizin bietet dem an AIDS

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1. Public Health 19

Erkrankten eine medikamentöse Behand-lung, die zu einer deutlich verlängerten Überlebenszeit beiträgt. Public Health hin-gegen befasst sich mit Strategien zur Min-derung von Neuinfektionen. Die deutsche HIV/AIDS-Kampagne (S. 206 ff.) hat durch bevölkerungsweite Lernprozesse eine im in-ternationalen Vergleich niedrige HIV-Neu-infektionsrate erreicht.

3. Ärzte verschreiben Frauen empfängnisver-hütende Arzneimittel und tragen damit zur Senkung des Anteils nicht geplanter Schwangerschaften bei. Public Health be-fasst sich z.B. mit der Zahl der Teenager-Schwangerschaften, ihren Ursachen und mit den Möglichkeiten, diese zu vermin-dern.

4. Der Arzt fragt und untersucht, warum ein Patient Bluthochdruck hat. Public Health fragt und untersucht, warum die Verteilung der Blutdruckwerte bei englischen Staatsbe-diensteten in einem höheren Bereich liegt als bei kenianischen Nomaden (Abbildung 1.1). Public Health – wörtlich mit »öffentliche

Gesundheit« übersetzt – ist auf den ersten Blick öffentlich kaum sichtbar oder spürbar. Individualmedizin ist mit einem weißen Kit-tel, einem Stethoskop oder einem Skalpell leicht zu versinnbildlichen (Abbildung 1.2).

Anders ist es mit Public Health. Dies hat da-mit zu tun, dass die Erfolge von Public Health, selbst wenn sie spektakulär sind, von der breiten Öffentlichkeit nicht oder kaum zur Kenntnis genommen oder für selbstverständlich erach-tet werden. Spektakulär ist beispielsweise die Verbesserung der Lebenserwartung in den ent-

Abbildung 1.1 Verteilung der systolischen Blutdruckwerte bei Männern im mittleren Lebensalter in 2 Populationen. Quelle: Rose 1985, © Oxford University Press

Abbildung 1.2 Welches Bild fällt Ihnen zu Medizin ein? Zu Public Health? Hier zwei Angebote: links Ärztin mit Stethoskop, mit Zuversicht und Entschlossenheit im Blick, rechts Drainage von Sümpfen zur Bekämpfung von Malaria und Gelbfieber in Panama um 1900. Quelle re.: Gorgas 1915, S. 8

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1. Public Health20

wickelten Ländern innerhalb der letzten 150 Jah-re, wie sie in Abbildung 1.3 als Verlagerung des Sterbezeitpunktes im Vergleich von 2 Gruppen von jeweils 10.000 Frauen für England und Wales dargestellt ist. Wesentlichen Anteil daran hat der Schutz vor Krankheitserregern aus der unmit-telbaren Umwelt durch Beseitigung von Abfall und Abwässern und Bereitstellung von sauberem Trinkwasser (siehe unten). Auch die Ergebnisse der HIV/AIDS-Prävention in Deutschland kön-nen als spektakulär bezeichnet werden.

Auf den Punkt gebrachtDie Individualmedizin befasst sich eher mit un-mittelbaren Kausalfaktoren – beim Herzinfarkt z.B. mit Übergewicht, Bluthochdruck und Bewe-gungsmangel. Public Health hingegen bezieht die Verteilung dieser Risikofaktoren innerhalb einer Gesellschaft, die Veränderungen im Zeitverlauf, die zugrunde liegenden Ursachen sowie die daraus ableitbaren Präventionsstrategien ein. Die Erfor-schung der tieferliegenden sozialen Ursachen für

die personennahen Ursachen (Risikofaktoren) und individuellen Verhaltensweisen ist eines der An-liegen von Public Health. Ein wichtiger Ausgangs-punkt können Unterschiede zwischen Gruppen in-nerhalb einer Bevölkerung sein. Die Erfassung und Erklärung dieser Gruppenunterschiede stellen einen entscheidend wichtigen Ansatz für die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen dar. Gründe für Unter-schiede in der Gesundheit finden sich häufig in den Lebensbedingungen der Menschen, in ihrer sozialen und ökologischen Umwelt. Zum »größeren Bild« von Gesundheit zählen Bildung, Arbeit, Einkommen, Wohnen, soziale Normen wie auch die Beschaffen-heit von Wasser, Boden und Luft.

Die personennahen, proximalen Kausalfak-toren können Unterschiede zwischen Populati-onen zumeist nicht erklären. Dafür hier einige Beispiele.

Teenage-GeburtenIm Jahr 2002 brachten in Nigeria 233 von 1000 weiblichen Teenagern (Altersgruppe 15 bis 19

Land Geburten�pro 1.000 15-19-Jährige

Niger 253Kongo 230Angola 229Honduras 103Nigeria 103Äthiopien 100Mikronesien 53USA 53Pakistan 50United Kingdom 20Malta 12Deutschland 11Japan 4Südkorea 3Nordkorea 2

Abbildung 1.4 Geburten pro Tausend Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren im Jahr 2002. Ausgewählte Länder. Quelle: UNFPA 2003, S. 70 ff.

Abbildung 1.3 Anzahl der Todesfälle über die verschie-denen Altersgruppen entsprechend der Mortalitätsraten von 1871–1880 bzw. 1977–1979 bezogen auf jeweils 10.000 Frauen (England und Wales). Quelle: Doll 1983, © British Medical Journal Publishing

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