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Carola Marion Menzel: Girl on Fire - Lehrer sind auch nur Menschen

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Carola Marion Menzel: Girl on Fire - Lehrer sind auch nur Menschen Erscheinungstermin Winter 2016/17 Taschenbuch, ca. 210 Seiten, 12,20 Euro Papierfresserchens MTM-Verlag

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:www.papierfresserchen.de

© 2017 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbROberer Schrannenplatz 2, D- 88131 Lindau

Telefon: 08382/[email protected] Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2017

Lektorat: Melanie WittmannHerstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.deTitelbild: © Natalia80 / Adobe Stock-Foto lizensiert

© adidesigner23Druck: Bookpress / Polen

ISBN: 978-3-86196-681-4– Taschenbuch

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Girl on Fire

Lehrer sind auch nur Menschen

Carola Marion Menzel

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Für Mama und Carina

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Es gibt ja Leute, die sagen, Zeiten würden sich ändern. Leute, die erzählen, Menschen würden sich ändern. Reifer werden. Endlich begreifen, was es heißt zu leben.

Ich weiß nicht recht, was ich von diesen Aussagen halten soll. Klar, es gibt Menschen, denen begegnet man nach zwanzig Jahren auf der Straße und erkennt sie nicht wieder, weil sie völlig anders aussehen. Als Lehrerin weiß ich das. Da begegne ich jungen Er-wachsenen, die mich grüßen und ich kann sie erst später irgend-einer Klasse zuordnen, die ich mal unterrichtet habe.

Ich will nicht sagen, dass ich Rafael auf der Straße erkennen würde, obwohl ich zehn Jahre lang mit ihm zur Schule gegangen bin. Klar, er sieht älter aus, genau wie Matze. Aber dass sie an sich reifer geworden sind? Im Kopf? Nee, da glaub ich eher, sie sind irgendwie hängen geblieben. In der sechsten Klasse, als dieser ganze Mist begann. Obwohl ... ich will es mal nicht Mist nennen, es hatte durchaus seine Vorteile.

Ich stand an einen Baum gelehnt und starrte auf mein Pausen-brot. Wirklich Appetit hatte ich nicht, ich hasste diese Kälte und ich hasste den Schnee. Lustlos ließ ich meinen Blick umherschwei-fen und mummelte mich fester in meine Winterjacke ein. Meine Nase lief und meine Ohren fühlten sich taub an. Hätte ich doch nur an meine Mütze gedacht. Aber die vergaß ich grundsätzlich auf meinem Tisch, wenn ich mein Pausenbrot auspackte. Vielleicht sollte ich sie in Zukunft einfach vorher aufsetzen.

Mein Blick glitt über den weißen Schulhof, an den kleineren Cliquen der Oberstuflerinnen vorbei und blieb schließlich an dem Kreis aus Schülern hängen, der sich wenige Meter von mir ent-fernt gebildet hatte. Ich verdrehte die Augen, als ich das Klatschen und die Anfeuerungsrufe der anderen aus meiner Klasse hörte. Wie immer. Langsam nervte das gewaltig.

Für Mama und Carina

Prolog

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Ich war so gut wie die Einzige, die nicht bei diesen regelmäßigen Schlägereien von Rafael und Steven zusah, und ich begriff auch nicht, was daran so toll sein sollte. Erstens ergab das Ganze für mich keinen Sinn und zweitens wusste man schon von vornehe-rein, wer gewinnen würde, weil es nämlich immer gleich ausging. Steven stand am Ende als Sieger da, während Rafael von seinem besten Freund Matze aufgemuntert werden musste. Dabei verstand ich nicht einmal, warum. Ich wusste, dass Rafael es konnte, aber ich fragte mich, warum er es nie zeigte. Vielleicht hatte Steven ihn schon zu arg eingeschüchtert und er hatte das Selbstbewusstsein verloren. Irgendwie nahmen beide die ganze Sache ein bisschen zu ernst. Ich wusste schon gar nicht mehr, warum sie überhaupt damit begonnen hatten.

Steven und Rafael waren Rivalen, seit sie in eine Klasse gekom-men waren. Und krasse Gegensätze. Steven war beliebt und mit so gut wie jedem befreundet, während Rafael einzig und allein Matze blieb, um sich vor den regelmäßigen Mobbingattacken der anderen zu schützen. Armer Kerl.

Ich seufzte und biss in mein Brot. Dann sah ich zu dem Lehrer, der sich langsam dem Kreis der johlenden Schüler näherte. Irritiert hob ich den Kopf. Eigentlich hatten die Lehrer es schon längst auf-gegeben, die beiden Idioten voneinander zu trennen, weil sie genau wussten, in der nächsten Pause würde sowieso wieder alles von vor-ne anfangen. Aber jetzt? Das war das erste Mal, dass einen Lehrer etwas an der Sache zu stören schien.

Ich kaute langsam auf meinem Brot herum und plötzlich hatte ich das ungute Gefühl, dass irgendetwas passiert sein musste, denn die schreienden Schüler waren auf einmal verstummt. Mein Blick huschte über den Schulhof. Die anderen Cliquen schienen nichts mitbekommen zu haben – aber sie hatten sich noch nie mit den Schlägereien der Unterstufler auseinandergesetzt, also war es für sie auch nichts Besonderes, wenn mal etwas nicht so war wie immer.

Der Lehrer trat auf den Kreis zu und sofort bildete sich eine Gas-se aus Schülern, durch die er in die Mitte der Ansammlung ge-langen konnte.

Ich beeilte mich, durch den Schnee ebenfalls hinüberzustapfen, und reckte den Kopf, um zu sehen, was passiert war.

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Steven lag auf dem Boden und presste sich eine Hand vor den Mund, Rafael stand neben ihm und starrte ihn an. Ich verzog das Gesicht, als Steven die Hand vom Mund nahm und sich mit dem Handschuh das Blut, das ihm übers Kinn lief, abwischte. Rote Tropfen färbten den zusammengetretenen Schnee unter ihm.

Der Lehrer blieb Rafael gegenüber stehen und streckte eine Hand nach Steven aus. „Komm hoch“, meinte er trocken und zog ihn auf die Beine.

Um mich herum machte sich unruhiges Gemurmel breit. Ich konnte es selbst nicht ganz verstehen. Hatte Rafael Steven wirklich besiegt? Hatte er ihm gezeigt, was er draufhatte? Ein leises Lächeln huschte über mein Gesicht. Na endlich.

Ich starrte Steven an. Was würde er jetzt tun? Kaum stand er, riss er sich von der Hand des Lehrers los, als wäre

die etwas Giftiges, dann packte er Rafael am Arm und beugte sich zu ihm vor. Er sprach gedämpft, aber ich konnte genau verstehen, was er flüsterte, weil das Gemurmel augenblicklich verstummt war. „Vergiss es“, zischte er und fuhr sich mit der Zunge über die bluti-gen Lippen. „Wenn du glaubst, jetzt hättest du mich besiegt, hast du dich geschnitten.“

Rafael erwiderte seinen Blick nicht, seine Augen suchten ner-vös den Boden ab. Mensch, kein Wunder, dass Steven ihn derart verspottete. Er sollte echt mal lernen, was es hieß zu zeigen, dass man stark war. Und zwar nicht, indem man eine Schlägerei gewann, sondern indem man Selbstbewusstsein zeigte.

Am liebsten hätte ich etwas gesagt, aber ich hielt den Mund, denn Steven fuhr fort, während sich ein verträumtes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. „Weißt du was? In zwanzig Jahren wer-de ich berühmt sein. In zwanzig Jahren werde ich in Hollywood zu den einflussreichsten Menschen gehören und verheiratet sein“, dem letzten Satz verlieh er extra Nachdruck, „mit einem Bondgirl.“ Er warf dem irritierten Lehrer einen kurzen Blick zu, dann ließ er Ra-fael los und spuckte ihm blutigen Speichel vor die Füße. „Ich wette, das hast du nicht bis zu deinem dreißigsten Weihnachten geschafft, Feigling.“ Mit diesen Worten drehte er sich um, schob sich an den umstehenden Schülern vorbei und verschwand aus dem Schultor, ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen.

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Ich starrte ihm hinterher. Wir alle starrten ihm hinterher. In den Gesichtern der anderen konnte ich unterschiedliche Regungen se-hen. Überraschung. Irritation.

Ich selbst wusste nicht genau, was ich von diesem Abgang halten sollte. Diese Ansprache, ob es jetzt eine Wette oder sonst was gewe-sen sein sollte, war seltsam gewesen, aber der Einzige, der hier ein Feigling war, war auf jeden Fall Steven.

Diese Tatsache bestätigte sich dadurch, dass wir Steven an jenem Tag das letzte Mal gesehen hatten. Er war abgetaucht und wir hat-ten ewig keine Ahnung davon, wo er sein könnte.

Na ja, wenigstens das wissen wir jetzt. Ach, du meine Güte, das wird jetzt wohl ein bisschen länger, bis

ich das alles zusammengefasst habe. Und nur zum Verständnis: Es dauert eine Weile, bis ich endlich drankomme, Rafael und Matze haben eine ganze Menge Sachen verbockt, bevor sie mich ins Boot geholt haben. Das musste ich mir von den beiden erzählen lassen. Sorry, wenn ich trotzdem ab und zu meinen Senf dazugebe, und entschuldigt mich, wenn ich irgendetwas vergesse. Und falls ihr als vernünftige Menschen irgendeinen Witz oder eine Anspielung auf einen der Bond-Filme nicht versteht, ich habe sie nummeriert, da-mit ihr sie hinten im James-Bond-Register nachlesen könnt. J

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18 Jahre später

An das Christkind stand in lilafarbenen Buchstaben auf dem Um-schlag, dann die enge Schrift mithilfe eines Fineliners. Vermutlich war die Adresse im Nachhinein von der Mutter dazugeschrieben worden.

Rafael seufzte und schüttelte den Kopf. Wie konnten Eltern ih-ren Kindern nur immer und immer wieder glaubhaft versichern, man könnte an das Christkind schreiben? Es stand doch jedes Jahr in den vorgedruckten Antwortbriefen ein und dasselbe drin. Dass denen das noch nie aufgefallen war. Oder waren kleine Kinder so vergesslich, dass sie nach einem Jahr schon nicht mehr wussten, was das Christkind zurückgeschrieben hatte?

Rafael tippte die Adresse in den Computer ein, ließ den Brief ungeöffnet in die Kiste neben sich fallen und griff nach dem Stapel auf der anderen Seite. Doch er fasste ins Leere, hob den Kopf und bemerkte, dass er offenbar mit dem Stapel durch war. Kurz lehnte er sich zurück und ließ seinen Blick durch die Halle schweifen. Graue Tische, graue Bänke, wohin er sah.

Schon ein trostloser Job, wenn man bedachte, dass sich kleine Kinder den Himmel golden und auf Wolken vorstellten. Wenn man ihnen das sagen würde, wären sie zeit ihres Lebens enttäuscht. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche.

Rafaels Blick wanderte über die Bänke. Engel gab es hier jeden-falls nicht. Angenervte, gelangweilte Kollegen, das war alles, was er entdeckte. Einzig und allein die Tatsache, dass sie Nikolausmützen und eigentlich weiße Kunstbärte tragen mussten, machte diese Sze-ne vielleicht ein bisschen weihnachtlich. Rafael selbst trug den Bart nicht und damit war er nicht der Einzige, fast keiner tat sich dieses andauernde Fusseln-aus-dem-Mund-Ziehen an.

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Noch einmal schaute er sich um. Hauptsächlich irgendwelche sozial schwachen Menschen, die um die Weihnachtszeit herum ei-nen Job suchten, um sich etwas für die Geschenke dazuzuverdienen. Rafael erinnerte sich nur vage daran, wie Matze ihn dazu überredet hatte, das hier zu machen. Er hätte auch sehr gut davon leben kön-nen, bei seiner Schwester im Blumenladen auszuhelfen. Geld war noch nie Rafaels Sache gewesen, aber Matze hatte darauf beharrt, er solle ihm bei der Arbeit Gesellschaft leisten – wovon man eigentlich nicht sprechen konnte, die beiden waren schon relativ früh an zwei verschiedene Ecken der Fabrikhalle gesetzt worden.

„Wie in der Schule“, dachte Rafael und schüttelte den Kopf. Da war man auch immer neben die gesetzt worden, neben denen man am wenigsten sitzen wollte. Unwillkürlich musterte er Egon, der plump neben ihm auf seinem Hocker thronte und Adressen abtippte. Er hatte schon so verbraucht ausgesehen, als Rafael ihn kennengelernt hatte. Und immer war der Infusionsständer mit ir-gendeiner milchigen Flüssigkeit dabei. Das kam davon, wenn man alle Viertelstunde eine rauchen gehen musste.

Egon schien Rafaels Blick zu bemerken, denn er schaute ihn trä-ge an, und Rafael setzte sich schnell wieder aufrecht hin. Er starrte auf seinen Monitor, drückte auf Speichern und Übernehmen und lehnte sich wieder zurück. Jetzt mussten die neuen Adressen ein-gespeichert sein und im Keller gerade auf die Umschläge gedruckt werden. Also von wegen Himmel und Engel mit goldenen Schreib-federn. Alles vollautomatisch.

Rafael gähnte und schaute auf die große Uhr, die über dem Aus-gang hing ‒ Viertel vor neun. Immer noch fünfzehn Minuten, dann hatte er endlich Feierabend. Er blickte abermals zu Egon und nahm schnell einen Brief von dessen Stapel. Wozu hier rumsitzen und sich langweilen? Er drehte den Brief in seiner Hand und schaute sich verstohlen um. Brieföffner bekam man hier aus Prinzip nicht, sodass man gar nicht erst in Versuchung geriet, die Post zu öffnen und damit Zeit zu vertrödeln.

„Alter, meinst du, da kann man zurückschreiben?“ Eine Hand landete auf Rafaels Schulter und Matze stellte eine grüne Kaffee-tasse vor ihm auf den Tisch. Wer auch sonst.

„Kündige dich nächstes Mal vielleicht an“, gab Rafael zurück

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und drehte sich zu seinem Kumpel um. Matze grinste und hielt ihm einen Brief hin. „Was ist das?“

„Ich frag mich gerade, ob ich darauf zurückschreiben soll.“ „Und was ist das jetzt?“ Matze fuhr sich durch die kurzen blonden Haare, dann faltete er

den Brief auseinander und las mit gedämpfter Stimme vor. „Hallo Daniel Craig1, ich bin fünfzehn Jahre alt und habe neulich zum ersten Mal einen James-Bond-Film mit dir gesehen. Bla, bla, bla ... deshalb wollte ich dich fragen, ob ich ein Autogramm von dir haben darf. Ich würde mich sehr freuen ...“ Er sah seinen Freund fragend an. „Das ist jetzt schon der dritte von der Sorte, den ich gekriegt hab.“

„Wie oft noch.“ Rafael deutete auf die Kiste zu seinen Füßen. „Wenn du dich dabei erwischen lässt, wie du die Dinger aufmachst, fliegst du.“

Matze runzelte die Stirn, dann zuckte er mit den Schultern und stopfte den Zettel in seine Jackentasche.

„Was willst du jetzt damit machen?“, fragte Rafael irritiert. „Dem Armen kann man ja vielleicht zurückschreiben“, meinte

Matze und zog sich den Hocker von Egon heran, der eben aufge-standen war, um nach draußen zum Rauchen zu gehen. Rafael war froh, dass er sich wenigstens abgewöhnt hatte, die Glimmstängel hier drin anzustecken.

„Du willst dem antworten?“, fragte Rafael spöttisch seinen Freund, der sich gerade Egons Computer zuwendete.

„Was hat denn der hier so drauf?“, murmelte er und schloss das aktuelle Programm.

So ein Spanner, oder? Aber unter uns ... wenn ich am PC meiner Schwester sitze, klicke ich mich auch ab und zu mal durch ihre Mails. Aber nur um sicherzugehen, dass sie keinen Mist baut, okay? Und bitte nicht weitersagen ...

Rafael stützte den Kopf in beide Hände. „Auch schon in Weihnachtsstimmung?“, fragte Matze sarkastisch

und klickte mit Egons Maus herum. „Aber hallo“, gab Rafael mürrisch zurück. Schon seitdem er

wusste, dass es Weihnachten gab, fragte er sich, warum eigentlich so ein Hype darum gemacht wurde. Matze allerdings war ein stol-

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zer Weihnachtsfan und um Heiligabend herum immer am besten drauf.

„Wir haben grade ’nen Tannenbaum geliefert bekommen“, meinte er, den Blick auf den fremden Computer gerichtet.

„Was heißt wir?“ „Na, wir eben. Die Firma. Wird gerade in der Eingangshalle auf-

gestellt.“ „Wenn sie meinen“, gab Rafael zurück und richtete sich wieder

auf. „Ich hab noch nicht mal zu Hause einen.“„Sind ja auch noch zwei Wochen bis Weihnachten“, stellte sein

Freund fest, dann grinste er. „Ich hab ihn schon vor drei Tagen ge-kauft.“ Typisch Matze.

„Ich werde auch an Heiligabend keinen Baum haben“, gab Ra-fael zurück.

Matze schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich fang besser nicht an, mit dir darüber zu diskutieren.“

Rafael warf einen Blick zur Tür. „Und darüber besser auch nicht“, musste er unwillkürlich denken, denn genau in dem Mo-ment wurde die Tür schwungvoll aufgestoßen und Madeleine be-trat die Halle. Sie sah aus wie immer. Schwarzer Blazer, schwarzer Rock, schwarze Brille, weiße Bluse. Sie stellte genau das dar, was Rafael sich in seiner Jugend immer unter Chefin vorgestellt hatte. Gut, vielleicht war sie ein bisschen jünger. Kaum hatte sie die Halle betreten, wurde es still und die Arbeiter drehten sich schwerfällig auf ihren Hockern herum.

Rafael stieß Matze an. „Maddie im Anmarsch“, zischte er und sofort schnellte der Blick seines Freundes nach vorne.

„Wo?“ Seine Pupillen weiteten sich, als er Madeleine erblickte, und plötzlich umspielte ein verträumtes Lächeln seine Lippen.

„Fehlt nur noch der sehnsuchtsvolle Seufzer“, dachte Rafael. Offensichtlicher konnte man die Chefin gar nicht anschmachten. Doch inzwischen gab Rafael sich keine Mühe mehr, Matze in seine Schranken zu weisen. Er hörte ohnehin nicht auf ihn und Made-leine schien sowieso nicht das geringste Interesse an seinem Freund zu haben. Seit sie letztes Jahr die Firma übernommen hatte, kam Matze immer pünktlich und anfangs hatte er es sich noch nicht mal ausreden lassen, ihr in der Chefetage morgens einen Kaffee vorbei-

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zubringen. Wenigstens hatte er sich das abgewöhnt. Aber Rafael kapierte bis heute nicht, was Matze an Madeleine eigentlich so atemberaubend fand. Vielleicht, dass ihr Ausschnitt von Tag zu Tag tiefer zu werden schien. Rafael schüttelte den Kopf. Matze fiel echt auf jede rein.

„Ich wäre über Ihre Aufmerksamkeit sehr dankbar“, herrschte Madeleine zwei Arbeiter an, die sich noch nicht die Mühe gemacht hatten, sich zu ihr umzudrehen. Hastig wandten sie ihre Blicke nach vorne. Madeleine räusperte sich. „Ich werde in zwei Tagen verreisen und hoffe, dass das hier so lange auch ohne mich läuft“, schrie sie.

Warum musste sie immer schreien? Rafael verstand das nicht. Die Halle war zwar groß, aber es dröhnte schon schrecklich, wenn nur mal ein Stuhl umfiel. Vielleicht hatte sie früher in irgendeiner Maschinenbaufirma gearbeitet, in der man sein eigenes Wort nicht verstand, wenn man es sich nicht zur Angewohnheit machte he-rumzuschreien.

Matze zog ein langes Gesicht, als Madeleine hinzufügte, sie werde bis Weihnachten nicht mehr wiederkommen. Nach Weihnachten war die Saison vorüber, dann würde die Halle ein Jahr lang leer ste-hen, an Konzertveranstalter vermietet oder für irgendwelche Aus-stellungen benutzt werden. In dieser Zeit musste Rafael immer um sein Geld kämpfen, aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt.

Als Madeleine hinausstolzierte und die Türen hinter ihr zufielen, stand er auf. „Ich muss los“, meinte er und zog die Nikolausmütze von seinem Kopf.

Matze starrte ihn einige Sekunden an, bevor er begriff, dass es schon neun Uhr war, und erhob sich ebenfalls. „Warte auf mich, ich hab dir was Dringendes zu sagen.“ Er zwinkerte seinem Freund zu und eilte zu seinem Platz, um seinen Kram zusammenzupacken.

Rafael schaute ihm irritiert hinterher. Wenn Matze etwas Drin-gendes zu sagen hatte, war es meist nicht halb so dringend, wie es sich anhörte. Nun ja, eigentlich hatte Matze nie etwas ernsthaft Drin-gendes zu verkünden. Manchmal wäre es sogar besser, er würde sich vornehmen, einen Tag lang zu schweigen, dann würde er sich nicht immer und überall blamieren. Rafael knüllte langsam die Mütze in seiner Hand zusammen und nahm seinen Bart von der Arbeitsflä-che. Den sollte er sich vielleicht ankleben, bevor er in der Eingangs-

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halle den ganzen höheren Tieren begegnete. Umständlich befestigte er die Watte an seinem Gesicht und erntete dafür ein spöttisches Grinsen von Matze, der eben von seinem Platz zurückkam.

„Du willst das Teil nicht ernsthaft tragen, oder? Macht das ir-gendjemand?“

„Ich hab keine Lust, meinen guten Eindruck zu versauen“, ent-schuldigte Rafael sich, „du hast das sowieso schon mehrfach ge-schafft, also brauchst du ihn dir auch nicht umzubinden.“

Matze warf ihm einen beleidigten Blick zu. „Maddie will mich, das weiß ich genau. Sie ist nur zu schüchtern, um mich anzuspre-chen. So.“ Er öffnete seinen Rucksack und holte ein Tablet heraus.

„Maddie und schüchtern“, lachte Rafael auf. Matze war echt blind. Wenn jemand nicht schüchtern war, dann

war das Maddie. Aber gut, sollte er es glauben. „Gehen wir.“

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In der Eingangshalle wurde tatsächlich gerade ein Weihnachts-baum aufgestellt. Die Leitern, auf denen die blau belatzhosten Ar-beiter herumkletterten, sahen allerdings nicht sehr stabil aus.

„Wenn da einer runterfällt, lach ich“, meinte Matze, als hätte er Rafaels Gedanken gelesen. Während die beiden Freunde die Halle durchquerten, schaltete er das Tablet an.

„Wasch willscht du mit dem Tablet?“, nuschelte Rafael durch die Watte des Klebebarts hindurch.

Matze starrte ihn verständnislos an. „Was sagst du?“„Wasch willscht du mit dem Tablet, Mann?“„Was? Nimm doch mal das Mistding ab, ich versteh dich nicht.“ Rafael riss sich gleichgültig den Klebebart vom Gesicht, der sich

daraufhin in zwei Hälften auflöste. Egal. Er stopfte die Watteklum-pen in den nächsten Mülleimer. Wenn er mit Matze zusammen gesehen wurde, war der gute Eindruck sowieso dahin. „Was du mit dem verdammten Tablet willst.“

„Ach so.“ Matze grinste verschmitzt. Er zog die Augenbrauen zu-sammen, fuhr über den Touchscreen, dann hellte sich seine Miene auf. Er hielt Rafael das Gerät hin. „Lies mal.“

Achtung, Leute, jetzt kommt’s. Jetzt fängt all das an, was mir heute noch wie gestern vorkommt.

Rafael stöhnte und nahm Matze das Tablet aus der Hand. Auf dem Bildschirm war im Hintergrund ein bläulich-silbernes Feuer zu erkennen, davor stand in schwarzen Druckbuchstaben:

Girl on Fire. Auch nach Spectre ist ein weiterer 007-Streifen mit Superstar Daniel Craig geplant.

Irritiert ließ Rafael das Tablet sinken. Was sollte das denn jetzt? „Was hab ich jetzt davon? Willst du mich ins Kino schleppen, oder

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wie? Ich hab noch nie in meinem Leben einen James-Bond-Film gesehen und ich weiß auch nicht, ob der mir gefallen würde. Frag doch Maddie.“

„Meine Fresse.“ Matze blieb stehen und nahm Rafael das Tab-let aus der Hand. „Lies doch mal weiter.“ Er räusperte sich, dann schaute er sich kurz um und las mit gedämpfter Stimme vor.

Rafael verstand nicht ganz, warum er jetzt so ein Geheimnis aus dem Artikel machen musste, aber er unterbrach seinen Freund nicht. Er wusste zu dem Zeitpunkt ja auch noch nicht, was auf ihn zukommen würde.

„Gemma Arterton2, Halle Berry3, Eva Green4, bla, bla, bla, sie alle waren schon dabei. Als Bondgirl standen sie ihrem tapferen Helden sexy und verführerisch zur Seite. Und nun fiebert wieder die ganze Welt mit: Wer wird die Neue, die Leinwandschönheit, die die männlichen Bondfans mit ihrem Sexappeal und Talent in ihren Bann ziehen wird? Wer hat die größeren Chancen? Jungstars oder alte Hasen? Und die Besonderheit“, Matze schaute Rafael trium-phierend an, ehe er fortfuhr, „das Casting wird live an Weihnachten aus Las Vegas von drei amerikanischen und zwei deutschen TV-Sendern übertragen. Das wohl spannendste und hübscheste Fern-sehevent des Jahres, das Sie sich, auch wenn Sie kein 007-Fan sind, auf keinen Fall entgehen lassen sollten.“ Erwartungsvoll hob Matze seinen Blick und schaute Rafael an.

Der hob die Schultern. „Warum musstest du mir das jetzt vor-lesen?“ Er verstand nicht, was Matze ihm damit sagen wollte. Und warum musste es ausgerechnet jetzt sein? „Hör mal, ich hab echt Besseres zu tun als ...“ Er wurde von einem ohrenbetäubenden Krachen unterbrochen, dem mehrere Schreie folgten. Rafael fuhr zusammen und drehte sich erschrocken um.

Neben dem Tannenbaum hatte sich eine große Traube aus blauen Latzhosen gebildet. Verdammt, was war denn da passiert? Alarmiert schaute Rafael Matze an, der jedoch nur in lautes Gelächter aus-brach.

„Ha, ich hab’s gewusst“, prustete er los, schlug Rafael auf den Rü-cken und ließ fast das Tablet fallen. „Ich hab’s doch gesagt, Mann!“

Rafael schüttelte irritiert Matzes Hand von seiner Schulter und sein Blick wanderte nach oben zum Tannenbaum. Shit, da war

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wirklich einer abgestürzt. Erschrocken schaute er sich um und sah prompt Madeleine aus ihrer Bürotür stolpern. „Gott sei Dank, jetzt hört Matze wenigstens zu lachen auf“, dachte er erleichtert und wollte zu Madeleine eilen, aber sein Freund hatte sich wieder ge-fangen und schob sich zwischen die beiden. Oje ...

„Hey, warten Sie.“ Madeleine blieb genervt stehen und schaute Matze an.

Rafael verzog das Gesicht. Wenn das mal nicht in die Hose gehen würde.

Matze grinste verlegen, dann meinte er eifrig: „Ich kann Ihnen genau erklären, wie es zu dem Unfall kam.“ Er senkte die Stimme, um einen Schock vorzutäuschen. „Es war so schlimm, der arme Mann. Mir stehen jetzt noch die Tränen in den Augen.“

Rafael schüttelte den Kopf und entfernte sich einen Schritt von seinem Freund und Madeleine. Sollte er sich alleine blamieren. Oh Mann, und das tat er wirklich. Rafael hörte mit halbem Ohr zu, was Matze von sich gab, als er Maddie die Hände auf die Schultern legte. Rafael schüttelte resigniert den Kopf. „Verdammt, nimm die Finger von ihr!“

Dafür wäre ich eigentlich auch, aber leider war ich nicht dabei.„Wenn Sie wollen, können wir einen Termin ausmachen, uns

treffen und ich schildere Ihnen die ganze Situation.“ Rafael starrte Madeleine an. Was würde sie jetzt sagen? Ja? Nein?

Eigentlich würde er es Matze gönnen, aber so wie er sich anstellte, wäre es eher verwunderlich, wenn sie anbeißen würde. Immerhin, es war das erste Mal, dass Matze überhaupt mit Madeleine sprach. Das Vorstellungsgespräch hatte ihr Manager übernommen.

Madeleine zog die Augenbrauen hoch. Rafael warf einen Blick zu der Traube aus Arbeitern. Einer hatte sich hingekniet und schien dem Gestürzten gut zuzureden.

„Zwecks Versicherung und so“, legte Matze noch einen drauf. Madeleine legte den Kopf schief und für einen Moment schien es

in ihrem Gehirn zu arbeiten. Dann warf sie einen Blick auf Matzes Hände.

Rafael biss sich auf die Lippe. „Kommt davon, wenn man immer Körperkontakt sucht“, dachte er.

Madeleine deutete mit einem Kopfnicken auf Matzes Haare.