Upload
kathrin
View
215
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
VI Fazit
1 Der NF
Narratologisch betrachtet unterscheidet sich der NF der Pharsalia in seinen
grundsätzlichen Eigenschaften nicht von den Erzählern anderer Epen. Seine
Subjektivität und seine Position als ‚Zuschauer‘ der Handlung sind als gene-
relle Merkmale von Erzählern zu betrachten. Es handelt sich um einen externen,
tendenziell allwissenden NF, der einen Sprechzeitpunkt nach der Handlung
einnimmt. Wiederholt thematisiert der NF seine Funktion und die Aktivität des
Erzählens. Er neigt dazu, sich selbst bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben,
bleibt dabei aber immer ein abstraktes Konzept und wird nicht zur Figur der
Handlung. Auch eine Durchbrechung der Erzählebenen, beispielsweise mittels
Interaktion mit Figuren, findet an keiner Stelle des Epos statt. Die Art seiner Prä-
sentation – Wertungen, Kommentare, Reflexionen, Prolepsen u. ä. – ermöglicht
es dem Adressaten des NF, dem NeFe, sich in der chaotischen, entstellten Welt
des Bürgerkriegs zu orientieren. Vor allem bei dramatischen Höhepunkten der
Handlung macht sich seine dominante Stimme bemerkbar. Sein Adressat, der
NeFe, hat keine andere Wahl, als sich seinem Urteil anzuschließen.
2 Charakterfokalisation
Caesar beansprucht ca. 26 Prozent des komplexen Erzählertextes der Pharsalia
für sich. Mit ca. 21 Prozent steht Pompeius an zweiter Stelle, wohingegen Cato als
Fokalisator für die Statistik kaum Gewicht hat. Die bedeutende Rolle der Solda-
ten im Epos zeigt sich auch darin, dass dieser anonymen Gruppe immerhin ca.
15 Prozent des komplexen Erzählertextes zufallen.
Anhand von expliziten und impliziten Fokalisationsmarkern ist es möglich,
komplexen Erzählertext von einfachem zu unterscheiden und den jeweiligen
Fokalisatoren zuzuweisen. Gerade bei impliziter Charakterfokalisation bleibt
dabei jedoch immer ein gewisser Interpretationsspielraum. Charakterfokalisa-
tion in der Pharsalia erfüllt unterschiedliche Funktionen, wobei sie vor allem der
Orientierung des NeFe dient. Dies stimmt mit der Beobachtung überein, dass der
NF auch andere narrative Mittel (s. o.) bevorzugt verwendet, um den NeFe mög-
lichst umfassend zu informieren. Durch Eingriffe in die Charakterfokalisation
sorgt der NF dafür, dass die Gedanken und Gefühle eines Charakters, sollten sie
missverständlich sein, vom NeFe auf eine bestimmte Weise interpretiert werden.
Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated | 10.248.254.158
Download Date | 9/14/14 8:08 PM
224 Fazit
Obwohl das Epos mit etwa neun Prozent komplexem Erzählertext fast doppelt
so viel Charakterfokalisation enthält wie Homers Ilias, wird auf eine differenzierte
Charakterisierung der Personen weitgehend verzichtet. So wird Caesar zwar am
häufigsten von allen Figuren zum Fokalisator, die Charakterfokalisation zeichnet
ihn jedoch ausschließlich als Mann, dessen Gedanken und Gefühle nicht mit den
moralischen Normen des NF übereinstimmen und der deswegen zu verurteilen
ist. Differenzierter wird Charakterfokalisation im Fall des Pompeius verwendet:
Der NeFe kann miterleben, wie sich die Sicht des Feldherrn auf die Welt und sich
selbst nach seiner Niederlage wandelt.
Durch die große Anzahl unterschiedlicher Charakterfokalisatoren wird deut-
lich, dass die negativen Auswirkungen des Bürgerkriegs die gesamte Welt betref-
fen. Der NF präsentiert eine komplexe fiktive Welt, über die er den Überblick
bewahrt, auch, was Ereignisse vor und nach der Handlung des Epos betrifft. Den
Charakteren fehlt dieser Überblick. Einige nehmen die fiktive Welt ‚fehlerhaft‘⁸⁷⁸
oder unvollständig⁸⁷⁹ wahr, andere schätzen das, was sie sehen und erleben,
korrekt⁸⁸⁰ ein.⁸⁸¹ Doch alle bleiben auf ihren jeweiligen Horizont beschränkt.⁸⁸²
878 So verstehen Scaevas Kameraden nicht, dass Scaeva kein Musterbeispiel für virtus ist,
vgl. III. 3. 3.
879 Beispielsweise zeigt die Verwendung der Begriffe socer und gener im Text, dass für Pom-
peius und Caesar ihr verwandtschaftliches Verhältnis keine Bedeutung mehr hat (vgl. III. 3. 3.).
880 D. h. entweder übereinstimmend mit den Fakten der fabula oder mit den Maßstäben des
Erzählers.
881 Einige Beispiele wurden bereits genannt: Für den alten Mann, der den Marius-Sulla-Konflikt
miterlebt hat, formen sich seine Erlebnisse im Rückblick zu einer erschreckenden Vision, die
einige Überschneidungen mit Aussagen des NF über den aktuellen Bürgerkrieg aufweist (vgl.
V. 2. 1.). Caesar ist überzeugt davon, dass Fortuna auf seiner Seite steht (vgl. III. 4. 1.), was der
NF bestätigt. Cornelia bemerkt aus der Ferne ein Feuer am ägyptischen Strand und geht trotz
mangelnder Beweise korrekt davon aus, dass es sich um Pompeius’ Totenfeuer handelt (vgl. IV.
2. 1.). Als Cato seine Gedenkrede auf Pompeius hält, zeigt sich, dass er die kommende politische
Entwicklung vorausahnt (vgl. V. 1. 3.).
882 Schmitt 1995, S. 165 f., S. 188 f. und Radicke 2004, S. 468 erkennen in einigen Figurenreden
Bezüge zur Gegenwart Lucans, so beschreibe z. B. Catos Rede in 9, 204 – 207 das Prinzipat. Es ist
dabei aber zu beachten, dass solche Anspielungen nur aus der Perspektive des Autors oder des
tatsächlichen (römischen) Lesers erfasst werden können. Für die Figuren stellen zukünftige Er-
eignisse – nicht in der fiktiven Welt und erst recht nicht in der realen – keine Fakten dar, und sie
sprechen über nichts, was sie in ihrer jeweiligen Situation nicht wissen oder vermuten können.
Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated | 10.248.254.158
Download Date | 9/14/14 8:08 PM
Erzähler- und Charakterfokalisation: Gesamtergebnis 225
3 Charakterfokalisation innerhalb direkter Rede
Wenn Figuren zu sekundären Erzählern werden, bedienen sie sich ähnlicher nar-
rativer Mittel wie der NF. Sie erweisen sich insgesamt jedoch wegen ihres – im
Vergleich zum tendenziell allwissenden NF – begrenzten Horizonts als weniger
verlässliche oder sogar kritische Informationsquellen. Charakterfokalisation in
direkter Rede dient ihnen vor allem dazu, etwas wiederzugeben, was sie selbst
zuvor gesehen haben – in der Pharsalia handelt es sich dabei meist um Entsetz-
liches –, um andere Figuren von ihrem Standpunkt zu überzeugen oder um ihren
Emotionen Ausdruck zu verleihen.
4 Erzähler- und Charakterfokalisation: Gesamtergebnis
Mit ca. acht Prozent komplexem Erzählertext und 32 Prozent direkter Rede erhal-
ten 41 Prozent der Pharsalia noch einmal eine zusätzliche Brechung durch Subjek-
tivität von Charakteren.⁸⁸³ Dieser hohe Anteil an Figurensubjektivität wird jedoch
durch den NF wieder ausgeglichen, der stets eine eindeutige Position vertritt, was
wie zu bewerten ist, und das bevorzugt an den Stellen, an denen Subjektivität
der Figuren erkennbar ist (Charakterfokalisation, direkte Rede). Die Perspektive
der Charaktere tritt zugunsten der Perspektive des NF zurück. Die hohe Anzahl
der unterschiedlichen Fokalisatoren und der (im Vergleich zur Ilias) relativ große
Prozentsatz an komplexem Erzählertext trägt daher nur theoretisch dazu bei,
einen vielfältigen Blick auf den Bürgerkrieg zu ermöglichen. Praktisch ist die Prä-
sentation von Figurenwahrnehmung von der Subjektivität des NF durchsetzt und
dient entweder der Untermauerung oder der Kontrastierung der Perspektive, die
er vertritt. Die Aussagen des NF erhalten somit die höchste Relevanz.
Ein Merkmal von Charakterfokalisation ist, dass sie zur Gesamtbedeutung
des Textes beiträgt. Dies lässt sich bei Lucan durchaus feststellen, allerdings
nicht in dem Maß wie z. B. in Vergils Aeneis, wie der Vergleich zwischen beiden
Epen verdeutlicht haben sollte.
883 Vgl. de Jong 2004, S. 149, S. 226: In Homers Ilias trifft das etwa für die Hälfte des Textes zu,
da der Anteil direkter Rede mit 45 Prozent höher liegt als in Lucans Pharsalia.
Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated | 10.248.254.158
Download Date | 9/14/14 8:08 PM
Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated | 10.248.254.158
Download Date | 9/14/14 8:08 PM