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Charles de Rochedownload.e-bookshelf.de/...G-0003913539-0002396427.pdf · Der Begriff des Gedichteten bei Benjamin und Heidegger – Gedicht und Gedichte- ... – Lektüre von Ein

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Charles de Roche

Monadologie des Gedichts

Benjamin, Heidegger, Celan

Wilhelm Fink

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Umschlagabbildung:Gottfried Wilhelm Leibniz:

Monadologie, Anfang der Handschrift (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Monadologie)

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung

einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht

§§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2013 Wilhelm Fink Verlag, München(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fi nk.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book-ISBN 978-3-8467-5379-8ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5379-2

INHALT

SIGLENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

EINLEITUNG: MONADOLOGIE DES GEDICHTS

I SUBSTANZ UND STRUKTUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Zwei Thesen zur Einheit des Gedichts: gattungstheoretisch und problemgeschicht-lich (17) – Poetizität als Repräsentation des Genus; der Strukturbegriff als gene-tisch-generische Regel; mikrokosmische und makrokosmische Totalität des poeti-schen Textes; die Lyrik als Poesie der Poesie (17 ff.) – Poetische Struktur und Mona-de: die „Einheit von Substantialität und Strukturalität“ (19) – Leibniz kein Struktu-ralist: die Differenz von Monade und Phänomen als Grund seines Systems; einfache und zusammengesetzte Substanz, das „entrer dans les composés“ der Monade (19) – appetitus und perceptio als notwendige Prädikate der Monade; die Repräsentation der Monade als Artikulation der Phänomene (20) – die Dynamik des monadologi-schen Systems als Reziprozität der Repräsentation und Übermass des Artikulieren-den übers Artikulierte (21) – Differenz zwischen monadologischem und struktura-listischem System: die Unintegrierbarkeit des artikulierenden Grundes; autopoieti-sche versus autothetische Einheit des Systems (22) – die Aktualität der Monadologie in den poetologischen Entwürfen Benjamins, Heideggers und Celans (23).

II STIMME DES GEDICHTS ODER LYRIK UND POESIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Der metaphysische Einsatz der Lyriktheorie des 19. und 20. Jahrhunderts: die Sub-stanz des Gedichts als lyrische Stimme (24) – Hegels Theorie der Lyrik: das Gedicht als stimmend-bestimmte Repräsentation des Subjekts (24) – die Exposition des ly-rischen Ich bei Margarete Susman: antihegelscher Impuls und idealistische Begriff-lichkeit (25) – Kritik der zeitgenössischen Lyriktheorie am Beispiel von Müller-Zettelmann „Lyrik und Metalyrik“: das lyrische Ich als Grenze des Fiktionsbegriffs (26 ff.) – die Einsicht in den nicht-subjektiven Charakter des lyrischen Ich als Re-präsentant der Totalität des poetischen Sprechakts bei Susman (28) – die Doppel-deutigkeit des lyrischen Ich als Demarkationslinie zwischen Lyrik und Poesie (29) – Svenbros „Anthropologie de la lecture en grèce ancienne“ und der historische Ursprung des lyrischen Genus in Griechenland: Sapphos Fragment 31 als Beispiel (30) – das griechische Schriftmodell: die Stimme des Lesers als Reproduktion des

6 INHALT

kleos des Autors (30) – die Grabinschriften als objets parlants und die Frage nach der Schriftlichkeit der Poesie (31) – Svenbros „lecture allégorique“ von Sapphos Ge-dicht (32) – Kritik von Svenbros Lektüre: das Gedicht als Fiktion des Leseakts und als ihre Autodestruktion; Alteration des Sprecher-Ich und Fremdheitserfahrung des Du; kleos und kore; Genese der Lyrik und Geburt der Poesie (33 ff.).

III ZUREICHENDER GRUND . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Baumgartens Meditationes philosophicae de nonnullis ad poemata pertinentibus als Versuch einer Poetik auf dem Grund von Leibniz’ Logik und Erkenntnistheorie; ihr Verhältnis zur Frage nach einer monadologischen Poetik (37) – deutliche und ver-worrene, klare und dunkle Erkenntnis nach Leibniz; Baumgartens Defi nition der Poesie als „oratio sensitiva perfecta“ (37) – extensive und intensive Einheit des poe-tischen Diskurses; das „Thema“ des Gedichts als Erscheinung seines principium ra-tionis suffi cientis (39) – der zureichende Grund in Leibniz’ „Monadologie“: ein logi-sches oder ontologisches Prinzip?; vérités de raison und vérités de fait; der zureichen-de Grund in den Tatsachenwahrheiten als Demarkationslinie von Logik und Onto-logie; der zureichende Grund als Selbstdarstellung und autopoiesis des Systems (39 ff.) – Baumgartens Postulat des „Themas“ als Erscheinung des zureichenden Grundes und die Unmöglichkeit der Distinktion zwischen noeta und aistheta oder Philosophie und Poesie (41) – die Vollkommenheit der Poesie als Unabschliessbar-keit ihrer Artikulation; der Widerstreit zwischen der progressiven Enthüllung des Dargestellten und der infi niten Detaillierung der Darstellung (42 f.).

BENJAMIN

NAME IDEE MONADE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

„Die Idee ist Monade“ als Klimax von Benjamins Philosophie der Kunst; Ideenlehre, Sprachtheorie und Monadologie in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ zum „Ur-sprung des deutschen Trauerspiels“; die Sprachlichkeit der Idee und der verschwiegene Sonderstatus der Poesie (47) – „Vorgegebenheit“ der Ideen als Gegenstand der Philo-sophie, Darstellung als Methode, Unterschied von Wahrheit und Erkenntnis, Idee und Monade als „Repräsentation der Phänomene in deren objektiver Interpretation“, Sprachtheorie und Systembegriff (48 ff.) – „Rettung der Phänomene“ als „Zuordnung dinglicher Elemente“ im Begriff (50) – die Medialität des „Elements“ in Ideenlehre und Sprachtheorie und der Doppelsinn des Elementbegriffs (50 ff.) – der Name als Element (52 ff.) – das Problem des Elements als Widerstreit von teillosem Einfachem und einfachem Teil in der „Monadologie“ (54 ff.) – materielles Atom, mathematischer Punkt und „point metaphysique“ im Systeme nouveau (56) – die notwendigen Prädi-kate der Monade und der Status der einfachen Substanz als artikulierender (57) – Ent-sprechung von monadischer Artikulation und Theorie des Namens bei Benjamin (58) – Konsequenzen der Prädikate der Monade für den Artikulationsprozess (58 ff.) – Kontinuität und Diskontinuität in Monadologie, Ideenlehre und Sprachtheorie (61) – Ursprung, Legitimität und Echtheit; Anamnesis und „Urvernehmen“ (62 ff.) – Ur-sprung als monadologische Struktur; Ursprung und apperceptio (65 f.).

7INHALT

MONADE NATUR GESCHICHTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

Forscher, Künstler und Philosoph in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ (68) – die Frage nach dem Verhältnis von Kunstwerk und „geschichtlichem Leben“; der Be-griff der Naturgeschichte (69) – Briefwechsel mit Rang über die Ideen; die „An-schauung des Leibniz“ als Korrektiv von Rangs Ideenlehre (69) – Kritik der Kunst-werke als „Darstellung der Ideen … als Monaden“ (70 ff.) – „Vor- und Nachge-schichte“ als monadologisches Prädikat (72) – „Rettung der Phänomene“ und Na-turgeschichte; Naturgeschichte, Philosophie und Poesie (73) – Trauerspielvorrede und späte Geschichtstheorie; „Sättigung“, „Aufzehrung“ und „Sprengung“ des ge-schichtlichen Kontinuums (74) – kritischer Augenblick und „Jetzt der Erkennbar-keit“ (75 ff.) – „Vor- und Nachgeschichte“ als monadologische prolepsis (77) – Ver-hältnis von Tod und Sterblichkeit in der apperceptio (77 ff.) – der „historische Ma-terialist“ und die Grenze der philosophischen Darstellung (80 ff.).

DAS GEDICHTETE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Benjamins Aufsatz Dichtermuth – Blödigkeit. Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin als Gegenstand einer monadologischen Konstruktion (82 ff.) – Exposition des Ge-dichteten zwischen Ästhetik und Poetologie: das Form-Stoff-Schema und die „Wahrheit der Dichtung“; Gedichtetes und Gedicht als Aufgabe und Lösung; Ge-dichtetes als „Erzeugnis und Gegenstand“ der Kritik (83 ff.) – das Gedichtete als „Grenzbestimmung“ von „Leben und Gedicht“ (87 ff.) – mythische Ästhetik und „Gegeneinanderstreben der Elemente“ (89) – das „Identitätsgesetz“ (90) – „Be-stimmbarkeit“ des Gedichteten (91 ff.) – das Gedichtete als Krisis von aisthesis und phainesthai (93) – die Sprengung der Einheit von thesis und poiesis des Textes in der Lektüre (94) – das Element des Lesens; der letzte und der erste Grund der Lesbar-keit (94) – Gedichtetes und Monade: das „geistig-anschauliche System“, System als Indifferenz von Substanz und Struktur, extensive und intensive Totalität, Apperzep-tion des Grundes als Krisis der Perzeption (95) – der Doppelsinn des „Identitätsge-setzes“; Legitimität und Legalität der Poesie; die „Gesetztheit des Gesanges“ (96 ff.) – die „Wahrheit der Lage“ und das Ornament im Teppich (99 ff.) – Verwandtschaft und Bekanntsein von Dichter und Lebendigen (103 f.) – das „einsam Wild“ und „der Fürsten Chor, nach Arten“ als intensive und extensive Gestalt des Gedichteten (105) – „die Wende der Zeit“ als Krisis der Selbstzuwendung, Schlaf und Tod als Ausdruck der Gestalt, Verdoppelung und „Versachlichung“, Identität von Gestalt und Gestaltlosem (106 ff.) – hybris als autothesis im und „Geschik“ als autopoiesis des Gedichteten (109 ff.) – der „Muth des Dichters“ als „Blödigkeit“ und die Gefahr des Todes der dichterischen „Welt“ (111 ff.) – „mit Gefahr gesättigt“: früher und später Benjamin (115)

8 INHALT

HEIDEGGER

DAS GEDICHTETE II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Der Begriff des Gedichteten bei Benjamin und Heidegger – Gedicht und Gedichte-tes: die Geschichtlichkeit ihres Bezugs (119 f.)

DER GANG DES GEDICHTS UND DER DRANG DER MONADE . . . . . . . . . . . . . . . 122

„Rein“ Gesprochenes, „Un“gesprochenes in Heideggers Trakl-Essays (122) – das „eine Gedicht“ und die „einzelnen Dichtungen“ (122) – ihr Verhältnis als „anfan-gende Vollendung“ des Sprechens; Poetizität als Selbsttranszendenz (123) – die Ein-heit des Gedichts als monadologische Relation (124) – Heideggers Auseinanderset-zung mit Leibniz: die Marburger Vorlesung von 1928 (125) – Leibniz’ „Kraft“ und Heideggers „Drang“ (126) – vis activa und Selbstvoraussetzung des Selbst (126) – der Drang und die Einheit des Mannigfaltigen (127 ff.) – die Grenze der Monade und das Problem des Anderen: der „point de vue“ (130 ff.) – das Problem der Mo-nade im Verhältnis von Auslegung und Ausgelegtem: das Tendieren der Auslegung (133) – Textualität und Selbsttranszendenz (134 ff.)

ORT, RHYTHMUS, STIMMUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Der „Ort des Gedichts“ als monadologische Bestimmung; „Ortschaft“ und Punk-tualität (137 ff.) – die Vorlesung „Grundbegriffe der Metaphysik“ von 1929/30: die „Stimmung“ der Langeweile als „Schwingen“ zwischen einer „Weite“ und einer „Spitze“; der „Augenblick des wesentlichen Handelns“ und die Selbstermächtigung des Daseins; Versagen und Ansagen (139 ff.) – der Ort des Gedichts und die Woge des Sagens: Heideggers Bestimmung des poetischen Rhythmus (143 ff.) – „Erörte-rung“ und „Erläuterung“ als rhythmischer Vollzug der Interpretation; „Dichten“ und „Denken“ (145) – die Erfahrung des Einen als rhythmische Erfahrung in Leib-niz’ Nouveaux essais sur l’entendement humain: der Wellenschlag und die „petites perceptions“ (146 ff.)

DIE SPRACHE IM UNTER-SCHIED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Die Sprache: „reines“ Sprechen der Dichtung als Kategorie einer Theorie der Spra-che als Rhythmus (149) – „reines“ Sprechen und monadologische Differenz (150) – Lektüre von Ein Winterabend: der Austrag von Welt in der Sprache (150 ff.); der Unter-Schied und das „Geläut der Stille“ (152) – die Mass-nahme der Sprache und das Problem ihres Zeichenstatus (153 ff.) – Trakls „Schwelle“ als Schwelle der Sprachauffassungen in Heideggers Deutung (156) – Schmerz, Versteinern, Indiffe-renz (156 ff.) – „reines Sprechen“ als Dichtung und Rhythmus des Schmerzes (159 ff.)

9INHALT

MOTIVIK DES FREMDEN, POETIK DES UNTERGANGS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

Motiv und Methode in Die Sprache im Gedicht (162) – der Gang der Lektüre als „Untergang“ in die „Abgeschiedenheit“ (163) – Motiv der Fremdheit und Fremd-heit des Motivs (164 ff.) – der Untergang des Fremden als Autonomie zum Tode oder autopoiesis der Sterblichkeit (167) – Einmaligkeit als monadische Substanz des „einen Gedichts“ (168 ff.) – „Tier“ und „Wild“ (170) – zoon logon echon und „nicht festgestelltes Tier“ (171 ff.) – „Weltarmut“ und „Benommenheit“ des Tieres in der Vorlesung von 1929/30 (173 ff.) – das „schauende Gedenken“ und der Blick in den Spiegel der Wahrheit (176) – das Telos des Untergangs und die Zäsur des „Abend-Landes“ (178 ff.)

CELAN

CELAN UND DIE „MONADOLOGIE“: ELEMENTE EINER MONADOLOGISCHEN POETIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Die „Monadologie“-Lektüre im Kontext der Vorarbeiten zu Celans „Meridian“-Rede (183) – Elemente einer monadologischen Poetik (184 ff.) – Poetik und Onto-logie; die „Seelenmonade Mensch“ im Dankbrief zur Preisverleihung; Celans Ein-spruch gegen Leibniz und das Problem der Sterblichkeit in der „Meridian“-Rede (186 ff.)

GEDICHT UND PERSON . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

Die Notiz 321 als Skizze des poetologischen Problemzusammenhangs (188) – die Frage nach „Grenze und Einheit der Person“; Prozess und Textualität; Setzung und Besetzbarkeit des Du; die Position des „Todes“ (188 ff.) – die Fundierung der poe-tologischen Problematik in den Notizen zur „Monadologie“ (191 ff.)

PERSON UND SUBJEKT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Personare als „Durchscheinen“ und „Miterscheinen“ und als „Mitgegebensein“ der Person im Gedicht (194 ff.) – das Problem des subjectum: der Fehl des zureichenden Grundes für Mensch und Gedicht (196 ff.) – das principium rationis suffi cientis und die Unterscheidung von vérités de raison und vérités de fait in der „Monadologie“ (198) – die petites perceptions als Ort ihrer Koinzidenz und der Selbstbezug des Schreibprozesses in der „Monadologie“ (198 ff.)

10 INHALT

METRUM, RHYTHMUS UND AKZENT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Das Verhältnis von Metrum und Rhythmus in den „Meridian“-Notizen (202) – Schelers Rhythmus-Defi nition: die „Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig for-dern“ (203) – die Differenzierung von rhythmischer und metrischer Artikulation als Zeitgestalt und Zeitgestalt (203 ff.) – das „Gedicht im Gedicht“ und der Akzent als tmesis der Gestalt (205 ff.) – das Problem der „Richtung“ in Celans Poetik; die Frage nach dem „Willen“ und „Wissen“ des Gedichts und ihre Aporien (207 ff.) – appetitus und perceptio als monadologisches Pendant der Dualität von Rhythmus und Metrum (209) – das Problem der intentionalen Einheit der monadischen Arti-kulation in der „Monadologie“ als Theodizeeproblem (210 ff.) – die Einheit der poetischen Artikulation als Auseinandersetzung von autothesis und autopoiesis des Gedichts (213 ff.).

DIE AN-ORGANISCHE FORM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Das „Sprachgitter“: der Text als graphische Partitur seiner Artikulation; Flächigkeit und Räumlichkeit; die Lektüre als „Interlinearversion“ (215 ff.) – der Kristall als Idealform der „Autarkie“ des Gedichts (217) – die Koinzidenz der Quellen in der Notiz 201: Lukács, Scheler, Freud, Hölderlin; ihre Fundierung in der „Monadolo-gie“ (217) – Lukács’ „Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik“ als monadologi-sche Kunsttheorie; die Theorie des autarken Kunstwerks als absoluter autothesis und ihre Aporien (218) – Personalität und Selbstbewegung des Kunstwerks bei Lukács und Celan; der Automat als Modell der autarcheia und die Unableitbarkeit der Perzeptionen in der „Monadologie“ (221 ff.) – Schelers „Stellung des Menschen im Kosmos“: die Hierarchie der Seinsordnungen Anorganisch, Organisch, Menschlich (224) – Rhythmus und Wiederholungstrieb im Animalischen (225) – Geist, Wille und Person (228 ff.) – die Machtlosigkeit des Geistes und die „Kraftzentren“ des Anorganischen (230 ff.) – „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ und „Jenseits des Lustprinzips“: die „Formen“ der Kultur als Mimesis ans Anorganische; Form-trieb und Todestrieb in Celans Notiz 204/05 (232 ff.).

SPRACHE, STERBLICHKEIT ODER DIE KRISIS DES AN-ORGANISCHEN . . . . . . . . . . 234

Hölderlins „Grund zum Empedokles“: Aorgisch und Organisch oder „Natur“ und „Kunst“; ihre „harmonische Entgegensetzung“ als Mimesis ohne Modell (234 ff.) – der „Tod des Einzelnen“ als „Mitte“ und die prolepsis des Aorgischen (236 ff.) – Hölderlin und Freud: das Verhältnis von Aorgischem und Todestrieb als Entschei-dung über Tod und Sterblichkeit in Celans Poetik (238 ff.) – zwei Formen des An-organischen: Kristall und Stein (241) – Mimesis zwischen Stein und Gedicht als prolepsis des Anorganischen auf die Sprache (241 ff.) – Die Hierarchie der Seinsfor-men und das Verhältnis von petites perceptions, apperceptio und perceptio in Leibniz’ „Monadologie“ (244) – die Erinnerung als Kontinuum der Perzeptionen und die Unterbrechung des Kontinuums in der apperceptio als Erwachen aus Schlaf und Tod (245 ff.).

11INHALT

DIE PERSONALE SPRACHE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

Celans Poetik der Sterblichkeit und die Sterblichkeit der Perzeption in der appercep-tio; das Gedicht als apperzipierendes Wesen (252) – Zeit als Gegenstand poetischer Mimesis; Aktualität versus Aktualisierbarkeit (253) – Anschauung und Nennung des Du als Modi der apperceptio (254) – die Zession des Ich an die Dinge als anti-metaphorische Übertragung (255) – das subjectum des Gedichts als Identität von Ich und Du (256) – die Aktualisierung des Textes als Krisis der poetischen Relation von Person und Sprache (257) – Synonymie und Unaufhebbarkeit des Gegenüber; das Gedicht als raison d’être der Sprache (258).

LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

SIGLENVERZEICHNIS

LG Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. C.J. Gerhardt, Ber-lin: Weidmannsche Buchhandlung, 1875-1890.

PS Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, hg. und übersetzt Hans Heinz Holz und Wolf von Engelhardt, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996.

WL Margarete Susman, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Stuttgart: Strecker&Schröder, 1910.

PH Jesper Svenbro, Phrasikleia. Anthropologie de la lecture en grèce ancienne, Paris: Editions de la découverte, 1988.

MP Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poemata pertinentibus/Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, hg. und übersetzt Heinz Paetzold, Hamburg: Felix Meiner, 1983.

UT Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften Bd. I/1, hg. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1974.

GB Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, hg. Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995-2000.

PW Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften Bd. V, hg. Rolf Tie-demann, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1982.

DB Walter Benjamin, Dichtermuth – Blödigkeit. Zwei Gedichte von Friedrich Hölder-lin, in: Gesammelte Schriften Bd. II/1, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schwep-penhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977.

US Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen: Neske, 1959.

WM Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt/Main: Klostermann, 1967.

GM Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik Welt – Endlichkeit – Einsam-keit, Gesamtausgabe Bd. 29/30, hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/Main: Klostermann, 1983.

14 SIGLENVERZEICHNIS

DM Paul Celan, Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien, hg. Bernhard Bö-schenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1999.

BP Paul Celan, La Bibliothèque philosophique/Die philosophische Bibliothek. Catalogue raisonné des annotations établi par Alexandra Richter, Patrik Alac et Bertrand Badiou, Paris: Editions Rue d’Ulm, 2004.

SO Georg Lukács, Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik, in: Frühe Schriften zur Ästhetik II/Heidelberger Ästhetik, Werke Bd. 17, hg. György Markus und Frank Benseler, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1974.

SK Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn: Bouvier, 1988.

GE Friedrich Hölderlin, Grund zum Empedokles, in: Sämtliche Werke Historisch-Kriti-sche Ausgabe Bd. 13, hg. D.E. Sattler, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1985.

EINLEITUNG: MONADOLOGIE DES GEDICHTS

I SUBSTANZ UND STRUKTUR

What is your substance, whereof are you made?Shakespeare, Sonett 53

Im Vorwort meiner 1999 erschienenen Monographie Friedrich Hölderlin: Patmos. Das scheidende Erscheinen des Gedichts habe ich versucht, die methodologischen Be-dingungen des Unternehmens dieser Studie, ein einzelnes, aber in mehreren Fas-sungen und problematischer Textgestalt überliefertes Gedicht zu interpretieren, ei-ner Prüfung zu unterziehen. „Die methodische Möglichkeit“ der Interpretation als „Monographie eines einzelnen Gedichts“, heisst es da, „beruht [...] auf zwei Prä-missen. [...] Es handelt sich um die Gewissheit, dass der Gegenstand der Studie ein Gedicht, und um die Gewissheit, dass er ein Gedicht sei; anders formuliert, um das Wissen um die poetische Verfasstheit des Gegenstandes, die seinen Status als Ge-genstand der Monographie, und um das Wissen um seine Einheit oder monadische Verfasstheit, die seinen Status als Gegenstand der Monographie bestimmt. Der tra-ditionelle Umgang mit diesen Prämissen“, heisst es weiter, „besteht darin, die eine durch die andere determiniert zu haben. Das monos, die Einheit des Gedichts, be-ruht in der poiesis, der Hervorbringung als intentionale Einheit durch den Autor, und die Eigenschaften [...] der Poesie [...] werden als Elemente, oder Atome, aufge-fasst, deren Relationen untereinander [...] die Struktur der poetischen Monade konstituieren.“1

In diesen Sätzen sind keimhaft zwei Thesen angelegt, deren Entfaltung und Dis-kussion das vorliegende Buch gewidmet ist. Die erste These betrifft den Status der Theorie des poetischen Textes als Theorie einer literarischen Gattung. Denn wenn, wie oben postuliert, im poetischen Text Textualität – als Bestimmung der Singula-rität des einzelnen Textes – und Poetizität – als Bestimmung der gattungstypischen Eigenschaften – durch einander determiniert sind, so folgt daraus, dass die Theorie der lyrischen Gattung nicht nur die einer literarischen Gattung unter anderen, son-dern zugleich die der methodischen und sachlichen Möglichkeit einer als Gattungs-theorie verfassten Theorie der Literatur überhaupt sein muss. Die zweite These be-trifft, wie in der Terminologie der zitierten Stelle angedeutet, die problemgeschicht-

1 Charles de Roche, Friedrich Hölderlin: Patmos. Das scheidende Erscheinen des Gedichts, München: Fink 1999, S. 13 f. 

18 EINLEITUNG: MONADOLOGIE DES GEDICHTS

liche Herkunft der Identitätsproblematik des poetischen Textes im Spannungsfeld von Singularität und Allgemeinheit aus der Monadologie des Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Beide Thesen sollen im folgenden vorwegnehmend kurz er-läutert werden.

Es leuchtet ein, dass jede Theorie einer literarischen Gattung ihren kritischen Prüfstein am Verhältnis der Gattungsbestimmungen zum einzelnen Text findet, der sie repräsentieren soll. Muss der Theorie einerseits daran gelegen sein, den Text als exemplarischen Vertreter der Gattungsbestimmungen aufzuweisen, so hat sie doch in diesem Aufweis die unreduzierbare Singularität des Textes zu respektieren. Dies nicht nur um dieser selbst, sondern gerade um jener Reziprozität, jener wech-selseitigen Repräsentation von Einzelnem und Ganzem, Individuum und Klasse willen, in der die methodische Möglichkeit einer Gattungstheorie gründet. Die Singularität des einzelnen Textes als Repräsentanten des Genres darf weder durch einen unreduzierbaren Rest bestimmt sein, der sich den genrespezifischen Bestim-mungen als solcher entzieht, noch aber auch durch das Ensemble dieser Bestim-mungen als einer dem Text durch ein Abstraktionsverfahren äusserlich applizierten Totalität. Vielmehr muss sich durch die Repräsentation des Genres schlechthin der Begriff jener Singularität, jener exemplarischen Einzelnheit des Einzelfalls konstitu-ieren, die diesen unmittelbar als Repräsentanten der Gattung, im Fall der lyrischen Gattung also als einzelnen poetischen Text erweist. Das entscheidende Ereignis in der Theorie der lyrischen Gattung im 20. Jahrhundert, die Etablierung der poetischen Struktur als zentraler Kategorie der Bestimmung lyrischer Texte durch Formalis-mus und Strukturalismus, bezeichnet in dieser Perspektive die Entdeckung des lyri-schen Genres als Idealfall einer generischen Beziehung zwischen Individuum und Klasse, Einzelfall und Regel überhaupt. Denn „poetische Struktur“ bedeutet in der Sicht der genannten Schulen die Regel der Selbsthervorbringung – oder, in einer Be-grifflichkeit, die von ihrem Ursprung her den Begriff der Poesie schon mitimpli-ziert, die autothesis der autopoiesis – des poetischen Textes, durch die er sich zugleich in seiner Singularität als Text und in seiner Poetizität als Repräsentant des lyrischen Genres konstituiert.

Die Identität von Textualität und Poetizität in seiner Struktur zeichnet aber den Ort des einzelnen Gedichtes im Verhältnis zur Gattung zu dem eines Übergangsmo-ments in einem Kontinuum von Repräsentationen, zum Ort einer notwendigen Selbsttransgression und -transzendenz aus. Denn die strukturale Beschreibung des poetischen Textes, wie in den genannten Schulen und mutatis mutandis auch in den formanalytisch ausgerichteten Strömungen von Phänomenologie, Hermeneu-tik und New Criticism praktiziert, erweist nicht nur das einzelne Gedicht, makro-kosmisch, als individuellen Repräsentanten der Totalität des lyrischen Genres, son-dern in eins damit, mikrokosmisch, die poetische Struktur als repräsentative Totali-tät ihrer individuellen Momente. Das Repräsentationsverhältnis von Text und Gattung spiegelt sich – und konstituiert sich allererst in der Spiegelung – durch ein analoges Repräsentationsverhältnis, jenes von Ganzem und Einzelnem, Detail und Konzeption innerhalb des singulären poetischen Textes, durch das sich wiederum dessen Identität, als Einheit von Textualität und Poetizität, erst konstituiert. Zu

19I SUBSTANZ UND STRUKTUR

diesen beiden für die Theorie des lyrischen Gedichts im 20. Jahrhundert grundle-genden Repräsentationsverhältnissen tritt schliesslich ein drittes, das insofern das erste ist, als sich in ihm der semantische Grund für die Etablierung der beiden ande-ren manifestiert. Er liegt in der Ambivalenz des Begriffs der Poesie selbst zutage, der traditionell auf das lyrische Genre einerseits, auf die Totalität des Literarischen an-dererseits bezogen werden kann. Der naheliegende Schluss, die Ambivalenz ihrer-seits als Repräsentationsverhältnis, das poetische Genre als exemplarisch für die Totalität des Poetischen und die Totalität als Genre des Genres aufzufassen, ist be-zeichnenderweise erst durch Formalismus und Strukturalismus gezogen worden, während die Stellung des privilegierten Genres im 19. Jahrhundert anderen Gat-tungen vorbehalten war.2 Die Privilegierung des lyrischen Genres setzt die Einsicht in die Repräsentationsstruktur des Gedichts voraus: Die lyrische Gattung ist in die-ser Sicht die Poesie der Poesie, weil der lyrische Text der Repräsentant des poeti-schen Textes, weil Textualität und Poetizität in ihm durch ihre wechselseitige Re-präsentation restlos determiniert und damit formal identisch sind. Ihre formale Identität im lyrischen Text situiert diesen wie einen Brennspiegel im perspektivi-schen Zentrum jenes Kontinuums von Repräsentationen, das innerhalb der Theo-rie der Literatur als Gattungstheorie die Kontinuität von Einzelnem und Ganzem als Text und Gattung, Detail und Gesamtform des Textes, Gattung und Totalität der Gattungen sichert.

Die Situierung des poetischen Textes im gedanklichen Rahmen einer Korres-pondenz von Einzelnem und Ganzem innerhalb eines Kontinuums von Repräsen-tationen weist seine Theorie, implizit oder explizit, der Sache nach aber notwendig, als eine monadologische aus. Indem Leibniz’ ontologischer Entwurf der Monadolo-gie die Welt als ebensolches Repräsentationskontinuum vorstellt, denkt er sie, wie ein Kommentar formuliert, als „Einheit von Substantialität und Strukturalität“3 und schafft damit die unhintergehbare historische Matrix für alle späteren Mani-festationen strukturalen Denkens in verschiedensten Wissensgebieten. Dement-sprechend bleibt das Leibnizsche Denken der Monadologie als Vermittlung von Einzelnem und Ganzem in der wechselseitigen Repräsentation auch da noch mass-gebendes Modell für die strukturale Theorie des poetischen Textes, wo das histori-sche Bewusstsein dieser Dependenz verschwunden ist.

Dies besagt aber nicht, dass Leibniz ein Strukturalist avant la lettre war. Denn die zitierte Charakteristik der „Einheit“ des monadologischen Denkens lässt offen, ob das Einigende der Einheit von der Struktur – als Struktur der Substanz – oder von der Substanz – als Substanz der Struktur – her zu denken sei. Leibniz’ Ent-scheidung dieser Frage ist nicht nur in sich kategorisch; in ihr fällt die differentia specifica seines strukturalen Denkens der Monadologie zum strukturalistischen mit

2 Nämlich in der Poetik der deutschen Frühromantik dem Roman, in jener des deutschen Idealis-mus, bei Hegel und Schelling, der Tragödie.

3 Hans Heinz Holz, Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt/Main und New York: Campus Verlag 1992, S. 116. Zur strukturalistischen Leibniz-Rezeption vgl. grundlegend Gilles Deleuze, Le pli: Leibniz et le baroque, Paris: Minuit 1988.

20 EINLEITUNG: MONADOLOGIE DES GEDICHTS

dem Grund der Strukturalität seines Systems, den der Titel „Monade“ nennt, selbst zusammen. Das führt in konziser Form der Eingang der späten, von den Herausge-bern „Monadologie“ betitelten Systemdarstellung von 1714 vor Augen:

La Monade, dont nous parlerons icy, n’est autre chose, qu’une substance simple, qui entre dans les composés; simple, c’est à dire, sans parties.4

Die Monade, von der wir hier sprechen werden, ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die in die zusammengesetzten eingeht; einfach, das heisst ohne Teile.5

Die Monade als einfache Substanz ohne Teile kann nicht, sei es auch fundierender, Teil eines aus Teilen Zusammengesetzten, mithin auch nicht, sei es auch fundieren-des, Element der Strukturalität der Struktur sein. Dennoch ist sie der Grund von deren Möglichkeit, weil die Einheit der Struktur als Einheit von Teilen in der un-teilbaren Einheit der monadischen Substanz beruht. Das Verhältnis beider, das die Wendung „qui entre dans…“ umschreibt, ist so die Aktualisierung eines kategoria-len Sprungs: des Ursprungs des Zusammengesetzten, das als selbstidentische zähl- und wiederholbare Einheit andere Einheiten in sich enthält und in anderen enthal-ten sein kann, aus dem ursprünglichen Einfachen, das keiner numerischen oder phänomenalen Bestimmung unterworfen sein kann, weil es jeder als deren irreduzi-ble Einheit schon vorausliegt. Das „entrer dans…“ der einfachen Substanz ‚ins‘ Zusammengesetzte ist so als materielle Emanation nicht hinreichend zu begreifen: ihr muss eine notwendige Beziehung zur Einheit des Zusammengesetzten eignen. Diese Beziehung macht die Einheit des monadologischen Systems als von monadi-scher Substanz und phänomenaler Struktur aus: den Repräsentationscharakter der Monade. Seine Modalitäten bestimmen jene beiden notwendigen Prädikate der Monade, die Leibniz als Streben, appetitus, und als Vorstellen, perceptio, bezeichnet. Die komplexe und schwierige Beziehung dieser Begriffe zu ihren neuzeitlich-sub-jekttheoretischen Pendants als intentio und als Perzeption eines wahrnehmenden Subjekts ist an dieser Stelle nicht zu erörtern.6 Dagegen ist auf einen anderen Sach-verhalt hinzuweisen, der für den in der vorliegenden Studie entfalteten Zusam-menhang von Monadologie und Poetik von schlechthin grundlegender Bedeutung ist. Die Bestimmung der notwendigen Beziehung von Monade und Phänomen als Repräsentationsverhältnis einerseits, durch appetitus und perceptio andererseits er-laubt die nähere Bezeichnung dessen, was die Monadologie als „entrer dans les com-

4 Gottfried Wilhelm Leibniz, Les principes de la philosophie ou la Monadologie, in: Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz, hg. C.J. Gerhardt, Bd. 6. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1885, S. 607-624. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe mit Bandangabe im Lauftext unter der Sigle LG.

5 Deutsche Übersetzung nach G.W. Leibniz, Philosophische Schriften, Bd.  1/Kleine Schriften zur Metaphysik, hg. und üb. Hans Heinz Holz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 439. Alle weite-ren Zitate aus dieser Ausgabe mit Bandangabe im Lauftext unter der Sigle PS. 

6 Vgl. dazu weiter unten die Diskussion von Heideggers Interpretation der Monade als „Drang“ in der Leibniz-Vorlesung von 1928 („Der Gang des Gedichts und der Drang der Monade“, S. 125 ff.).

21I SUBSTANZ UND STRUKTUR

posés“ der einfachen Substanz umschreibt, in einer von Leibniz nicht verwendeten Terminologie: als Artikulationsbeziehung. Die Monade als strebend-wahrnehmende einfache Substanz ist das Artikulierende der zusammengesetzten Substanz, die sie als ihr Artikuliertes repräsentiert.7

Die in der obigen Formulierung implizierte Reziprozität von Monade und Phä-nomen als Artikulierendem und Artikuliertem in der wechselseitigen Repräsentati-on erlaubt zugleich, von jenem Doppelcharakter der Strukturalität des Leibniz-schen Systems Rechenschaft abzulegen, in dem nicht am wenigsten seine Anzie-hung für den Strukturalismus beruht: seinem Charakter als zugleich in sich endliche und gesättigte, aber an sich unendliche, weil über jeden möglichen Grad der Sätti-gung hinausstrebende Konfiguration.8 Diesem Doppelcharakter korrespondiert nämlich jener der Reziprozität in der monadisch-phänomenalen Repräsentation selber. Die artikulierte zusammengesetzte Substanz kann die artikulierende einfa-che nicht repräsentieren, ohne im Zug der Repräsentation ihre Identität als artiku-lierte preiszugeben und an der artikulierenden teilzunehmen. Es ist diese Teilnah-

7 In der Herstellung der Beziehung zwischen der Monade als artikulierender poietischer Substanz und dem poetischen Text als ihrem strukturell-phänomenalen Artikulierten als Grundlage einer monadologischen Poetik berührt sich der vorliegende Versuch mit einer anderen, nach dem vor-läufigen Abschluss des Manuskripts erschienenen Studie in englischer Sprache: Daniel Tiffany, Infidel Poetics: Riddles, Nightlife, Substance, Chicago and London: The University of Chicago Press 2009. Tiffanys Interesse richtet sich allerdings nur indirekt auf eine monadologische Be-stimmung des Poetischen schlechthin, nämlich über den postulierten Zusammenhang zwischen der Monadologie und der Leibnizschen Lehre von der cognitio obscura, die ihrerseits zur Basis ei-ner „universal poetics of obscurity, according to which the world becomes a demimonde within the camera obscura of the monad“ (S. 99) ausgelegt wird. Zu einer kritischen Diskussion dieser These fehlt hier der Raum; vgl. aber meine Überlegungen zum Verhältnis von cognitio confusa – nicht obscura –, zureichendem Grund im Sinn der Monadologie und poetischem Diskurs in Baumgartens Dissertation in Teil III dieser Einleitung unten S. 37 ff. – Zur methodischen Diffe-renz zwischen Tiffanys Studie und der vorliegenden bleibt anzumerken, dass in dieser auf den in jener vorgenommenen Versuch einer Argumentation über die Verbindung der Monadologie mit der Sprachphilosophie von Leibniz (vgl. dazu das Kapitel „Lyric Monadologies“, S. 98-136) ver-zichtet wird. Gegenstand der vorliegenden Studie ist nicht der Zusammenhang zwischen der Mo-nadologie und dem sprachtheoretischen Denken von Leibniz, sondern die Rezeption der Mona-dologie im sprachtheoretisch bestimmten poetologischen Denken dreier Autoren des 20. Jahr-hunderts.

8 Die avanciertesten Modelle des Strukturalismus teilen durchaus die Leibnizsche Utopie vom Sy-stem als perpetuum mobile, als unerschöpflicher energeia eines in jedem seiner Momente selbsti-dentisch gegebenen ergon. Vgl. dazu die folgende repräsentative Passage: „Ein weiteres Grund-merkmal der Struktur ist ihr energetischer und dynamischer Charakter. Die Energetik der Struk-tur beruht darauf, dass jedes der Elemente in der gemeinsamen Einheit eine bestimmte Funktion hat, die es in das strukturelle Ganze eingliedert, die es an das Ganze bindet; die Dynamik des strukturellen Ganzen ist dadurch gegeben, dass diese einzelnen Funktionen und ihre gegenseiti-gen Beziehungen wegen ihres energetischen Charakters ständigen Veränderungen unterworfen sind. Die Struktur als Ganzes befindet sich daher in einer unaufhörlichen Bewegung, im Gegen-satz zu einer summativen Ganzheit, die durch eine Veränderung zerstört wird.“ Jan Mukarovsky, Kapitel aus der Poetik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967, S. 11.

22 EINLEITUNG: MONADOLOGIE DES GEDICHTS

me – Teilnahme unter dem Gesichtspunkt des Artikulierenden, Teilnahme unter dem des Artikulierten –, die, unter dem Blickwinkel der Repräsentation als Artiku-lation, das „entrer dans les composés“ der einfachen Substanz bezeichnet. Ge-schieht so im Zug der Artikulation eine Art von chiastischem Austausch der Prädi-kate von Artikulierendem und Artikuliertem – die unteilbare einfache Substanz nimmt darin an der Teilbarkeit der zusammengesetzten Teil, so wie diese an der Unteilbarkeit jener –, so ist offenkundig, dass dieser Austausch sich in keiner arti-kulierten phänomenalen Gestalt vollenden und stabilisieren kann, ohne dass die das System in seiner prinzipiellen Unendlichkeit artikulierende Dynamik kolla-biert. Der Austausch der Prädikate von Artikulierendem und Artikuliertem, in dem sich ihre Identität im Gleichgewicht von artikulierendem appetitus und percep-tio des Artikulierten herzustellen scheint, ist nur im Zug einer Bewegung möglich, die diesen Schein voraussetzt, als vorausgesetzten aber immer schon transzendiert hat. Diese Bewegung, in Leibnizschen Begriffen ein irreduzibles Übermass des ap-petitus als des Strebens der Monade nach der Totalität des Repräsentationszusam-menhangs über die perceptio eines jeden der repräsentierten Momente, systemtheo-retisch der Grund der an sich Unendlichkeit des in sich endlichen Systems, ist sprachtheoretisch als irreduzibles Übermass der aktualen Zeitlichkeit des artikulie-renden Aktes über jede in diesem Akt repräsentierte Präsenz der artikulierten Zei-chen und des artikulierten Sinns zu bestimmen.

Genau in diesem Sachverhalt liegt aber dann die irreduzible Differenz zwischen der Strukturalität des monadologischen Systems und der strukturalistischen Be-stimmung des Gedichts als Aktualisierung einer autothetisch-autopoietischen Re-gel beschlossen. Das Gedicht als monadologische Struktur wäre die Aktualisierung als autopoiesis eines artikulierenden Grundes, der die thesis der zu artikulierenden Momente zwar ermöglicht und vollzieht, in ihnen als artikulierten aber unaufheb-bar bleibt. Erscheint aufgrund der Voraussetzung einer Regelpoetik die Aktualisie-rung dieses Grundes notwendig als Abweichung vom regelgemäss Vorausgesetzten – die sich ex post zur regelgemäss notwendigen Abweichung bestimmen lässt –,9 so präzisiert die monadologische Perspektive die Abweichung zur Voraussetzung einer jeden regulären Identität: zur Artikulation als „entrer dans les composés“ der arti-

9 Die Weiterentwicklung der strukturalistischen Poetik führt denn auch, bei Jurji M. Lotman, kon-sequenterweise zu einer Abweichungspoetik, ohne dass der Anspruch auf Einheit von autothesis und autopoiesis des Systems aufgegeben würde, die hier als ökonomische Selbstregulierung seines Energiehaushalts durch das dynamische System verstanden wird – ohne zu bedenken, dass es das grundsätzlich systemtranszendente irreduzible Übermass seiner Artikulation ist, das die Dynamik des Systems als eines artikulierten ermöglicht. Wenn als Bedingung der poetischen Struktur ein Gleichgewicht von „Systembildung“ und „Systemverletzung“ gefordert wird, in dem das „Leben des künstlerischen Textes“ liegen soll, so wird verschwiegen, dass es gerade nicht in einer prästabi-lierten Symmetrie beider Tendenzen – die zur Entropie des Systems, gleichsam zu seinem Tod, führen würde – fundiert sein kann, sondern allein in der unaufhebbaren Priorität des Potentiellen bzw. Artikulierenden vor dem Aktuellen bzw. Artikulierten, wie sie in der Abweichung als „Ver-letzung“ manifest wird. Vgl. Jurji M. Lotman, Die Struktur des literarischen Textes, München: Fink 1970, S. 423.

23I SUBSTANZ UND STRUKTUR

kulierenden Substanz. Die Abweichung bleibt dann aber, obwohl innerhalb des dy-namischen Systems als Abfolge von Zuständen und ihrer Verschiebungen rekupe-rierbar, Index eines unaufhebbaren Hiatus, einer unaufhebbaren Heterogenität je-des artikulierten Zustands des Systems gegenüber der Aktualität seiner Artikulation. Jeder artikulierte Zustand des Systems, aber auch jede Regel seiner Produktion, aus der er genetisch herzuleiten wäre, bleibt nachträglich gegenüber dem in der Aktualität der Artikulation implizierten Vor des artikulierenden Grundes. Die poiesis des artikulie-renden Grundes im Gedicht ist monadologisch nicht als Erfüllung, sondern, im Doppelsinn des Wortes, als Absolution seiner autothetisch vorausgesetzten Struktur zu denken. Die ontische Einheit von Substanz und Struktur im Gedicht ist nicht Ausdruck ihrer ontologischen Identität, sondern ihrer ontologischen Differenz, die im Artikulierten die Form der Indifferenz von Artikulierendem und Artikuliertem annimmt, ohne aufzuhören, im Zur-Sprache-Kommen der vorsprachlichen Sub-stanz des Gedichts die Differenz, die sie ist, zu artikulieren. Die autopoiesis der Poe-sie in einer monadologischen Theorie des Gedichts ist, über die thesis des Gedichts als artikulierter Struktur hinaus, die poiesis seiner artikulierenden Substanz als Zur-Sprache-Kommen des poetischen Gegenstands, in dem sich, was in der Sprache artiku-lierter aussersprachlicher Gegenstand schien, zum vorsprachlichen Beweggrund, oder Motiv, seiner Artikulation präzisiert.

Die Aufmerksamkeit auf diese – hier erst vorwegnehmend skizzierten – Sachver-halte stellt ins Zentrum des vorliegenden Buches die Leibniz-Rezeption in den po-etologischen Versuchen dreier Autoren des 20. Jahrhunderts, die, ausserhalb der Grundströmungen der akademischen Literaturwissenschaft stehend, den Rekurs auf Leibniz mit einer radikalen und originären Konzeption des poetischen Textes verbinden: Walter Benjamin, Martin Heidegger und Paul Celan. In den beiden folgenden Teilen der Einleitung wird die Diskussion ihrer Texte, die den Hauptteil des Buches bildet, durch zwei Skizzen zu lyriktheoretischen Fragestellungen vorbe-reitet und ergänzt. Sie suchen die Konturen dessen, was sich in der theoretischen und textanalytischen Arbeit dieses Buches als Monadologie des Gedichts abzeichnet, der Diskussion eines zentralen Topos der traditionellen Lyriktheorie, jenes der lyri-schen Stimme, einerseits, des wohl einzigen Textes der Tradition, der eine Poetik konsequent auf der Grundlage der Leibnizschen Philosophie zu entwickeln ver-sucht, Baumgartens Meditationes philosophicae de nonnullis ad poemata pertinenti-bus, andererseits einzutragen.

II STIMME DES GEDICHTS ODER LYRIK UND POESIE

Die literaturwissenschaftliche – insbesondere germanistische und anglistische – Ly-riktheorie des 20. Jahrhunderts kann über weite Strecken als der Versuch beschrie-ben werden, die analytisch-technischen und terminologischen Errungenschaften des Formalismus und Strukturalismus zu rezipieren, ohne dessen Prämissen und Konsequenzen für die Theorie der Poesie übernehmen zu müssen. Die radikal au-tothetisch-autopoietische Auffassung des Gedichts, wie sie sich aus der strukturalis-tischen Identifikation von Substanz und Struktur, Poetizität und Textualität des poetischen Textes ergibt, liquidiert die Frage nach einer eigenständigen vorsprachli-chen Substanz des Gedichts, die dessen Identität als die seines poetischen Gegen-stands, oder Motivs, ausprägen würde. Während die Frage in dieser Form auch konventionelleren Theorien der Lyrik bis heute als obsolet gilt – von drei gewichti-gen Ausnahmen handelt der Hauptteil dieses Buchs –, kehrt die vom Strukturalis-mus ausgesparte Frage nach der Substanz der poetischen Struktur in einer anderen, seit dem späten 19. Jahrhundert kanonisierten Gestalt hartnäckig wieder: als Theo-rie der lyrischen Stimme. Die Auffassung des poetischen – und erst und nur von dieser Auffassung her des näheren als „lyrisch“ bestimmten – Textes als Repräsenta-tion einer sprechenden Stimme dürfte, explizit oder implizit, den kleinsten gemeinsa-men Nenner einer überwältigenden Mehrheit theoretischer Konzeptionen der Ly-rik vom späten 19. bis ins 21. Jahrhundert bilden. Sie alle stehen damit in der un-mittelbaren oder – häufiger – mittelbaren Nachfolge jenes Textes, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts diese Auffassung des Gedichts philosophisch inauguriert: den der lyrischen Poesie gewidmeten Passagen der Vorlesungen zur Ästhetik Hegels. Die beiden Schritte, durch die Hegel den generischen Status der lyrischen Poesie defi-niert, bleiben denn auch, durch alle Verwandlungen des philosophischen und Dif-ferenzierungen des poetologischen Kontextes hindurch, kanonisch. Das Gedicht ist stimmliche Repräsentation des Sprechaktes eines Sprechenden, der wiederum stimmliche Repräsentation der Subjektivität des Sprechenden ist. Die Einheit des Gedichts ist bestimmte Stimmung:

Als den eigentlichen Einheitspunkt des lyrischen Gedichts müssen wir deshalb das subjektive Innere ansehen. [...] Um den zusammenhaltenden Mittelpunkt des lyri-schen Kunstwerks abgeben zu können, muss deshalb das Subjekt einerseits zur kon-kreten Bestimmtheit der Stimmung oder Situation fortgeschritten sein, andererseits sich mit dieser Besonderung seiner als mit sich selber zusammenschliessen, so dass es sich in derselben empfi ndet und vorstellt. Dadurch allein wird es dann zu einer in sich

25II STIMME DES GEDICHTS ODER LYRIK UND POESIE

begrenzten subjektiven Totalität und spricht nur das aus, was aus dieser Bestimmtheit hervorgeht und mit ihr in Zusammenhang steht.10

Durch diese doppelte Repräsentation beantwortet Hegel in eins die Frage nach der formalen wie der inhaltlichen, der generischen wie der genetischen, der textuellen wie der poietischen Einheit des Gedichts: beantwortet sie, indem er sie als autothe-tisch-autopoietische Einheit ihrer Bestimmungen in der Selbstrepräsentation des Subjekts als Stimme bestimmt. Das Gedicht erscheint in dieser Definition als ein ausgezeich-neter – wenn nicht der ausgezeichnete – Ort der autothesis und autopoiesis, der Selbstempfängnis und Selbstverwirklichung dessen, was seither als Phonozentris-mus beschrieben worden ist: des Zusammenschlusses von Phänomenalität und Sub-jektivität in der (Repräsentation der) Stimme.11 Im autothetisch-autopoietischen Charakter seiner Definition wie in der Tatsache, dass beide die Frage nach einer vor-sprachlichen gegenständlichen Identität des Gedichts liquidieren, zeichnet sich aber eine überraschende Komplizität der Hegelschen Konzeption mit der mit ihr schein-bar so unvereinbaren des Formalismus und Strukturalismus ab; eine Komplizität, welche die häufigen Versuche zu ihrer Verbindung in lyriktheoretischen Konzeptio-nen des 20. Jahrhunderts plausibel machen kann. Die autothesis-autopoiesis der lyri-schen Stimme stellt in der Theorie der Lyrik das notwendige Komplement zur autothesis-autopoiesis der poetischen Struktur dar: die kanonische Interpretation des in der The-orie des klassischen Strukturalismus ausgesparten artikulierenden Grundes der poetischen Struktur. Eine Kritik dieser Interpretation – auch wenn sie im vorliegen-den Rahmen nur punktuell und exemplarisch möglich ist – ist deshalb unerlässlich, um den Boden für eine andere und weiterreichende Interpretation jenes Grundes zu bereiten, wie sie das Anliegen des vorliegenden Buches darstellt.

Was die Lyriktheorie des 20. Jahrhunderts der Hegelschen Bestimmung der Ein-heit des Gedichts als subjektiver Stimme hinzufügt, ist im wesentlichen deren ter-minologische Fixierung durch das erstmals von Margarete Susman so genannte, als Terminus trotz häufiger Diskussionen um seinen Status bis heute allgemein geläu-fige „lyrische Ich“. Es entbehrt nicht der rezeptionsgeschichtlichen Ironie, dass die Einführung dieses Terminus in Susmans Studie Das Wesen der modernen deutschen Lyrik von 1910 sich einem anti-subjektivistischen, anti-Hegelschen Impuls ver-dankt. Das machen die einleitenden Sätze des betreffenden Abschnitts deutlich:

Die Blüte der modernen Lyrik, isoliert betrachtet, strömt einen so starken Duft der individuellen Seele aus, dass ihre Wurzel und ihr Keim und damit ihr innerstes Gerüst darüber vergessen wurden. Nur so lässt sich die eigentümliche Tatsache erklären, dass

10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke, Bd. 15, hg. Eva Molden-hauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 443 f.

11 Vgl. Jacques Derrida, La voix et le phénomène, Paris: Presses Universitaires de France 1972.

26 EINLEITUNG: MONADOLOGIE DES GEDICHTS

selbst die Ästhetik so lange die Lyrik als ein persönliches, ja subjektives Gebilde be-trachten, dass sie das in ihr redende Ich für das persönliche des Dichters halten konn-te.12

Die Verkehrung dieses Impulses in sein Gegenteil beginnt freilich nicht erst in der Rezeptionsgeschichte, sondern schon innerhalb der Argumentation von Susmans Text. Dies im wesentlichen aus zwei Gründen: Susmans Kritik an der subjektivisti-schen Prägung der Lyriktheorie lässt die zugrundeliegende philosophische Auffas-sung von Subjektivität nicht nur unangetastet, sondern benutzt da, wo sie positiv zu argumentieren sucht, ihre Kategorien selbst. Und wo der Text seine entscheiden-de Einsicht in den sprachlichen Charakter des „lyrischen Ich“ exponiert, bleibt diese in einer entscheidenden Hinsicht unbestimmt: ob das lyrische Ich als „Form“ oder als „Ausdruck“, als fiktionaler Repräsentant oder als substantielle Repräsentation des empirischen Autor-Ich zu betrachten sei. Während die erste dieser beiden Ar-gumentationslücken im Lauf der Karriere von Susmans Terminus nicht nur unge-schlossen, sondern auch undiskutiert bleibt, bildet die zweite den Brennpunkt der literaturtheoretischen Diskussion um das „lyrische Ich“. Gegenüber einer Position wie derjenigen von Käte Hamburger13, die ausdrücklich die substantielle Identität von lyrischem und empirischem Ich im Zug der Repräsentation eines fundieren-den „Erlebnisses“ postuliert, wird heute der Akzent vermehrt auf die konstitutive Rolle des lyrischen Ich für den fiktionalen Charakter des lyrischen Textes gesetzt. Repräsentativ für diese Position ist die 2000 erschienene Studie Lyrik und Metaly-rik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung von Eva Müller-Zettelmann.14 Sie lehnt sich für die Beschreibung der rhetorischen Struktur des Gedichts an Ben-venistes Unterscheidung von Äusserungsakt (énonciation) und Äusserungsinhalt (énoncé) an. Aus ihr gewinnt Müller-Zettelmann eine typologische Unterschei-dung zweier Gedichtformen, von denen die erste „unvermittelt“, die zweite „ver-mittelt“ heisst.15 Kriterium dieser Unterscheidung ist die Frage, ob die zeitliche Si-tuierung der textimmanenten Fiktion mit der im lyrischen Ich gesetzten Aktualität des lyrischen Sprechakts übereinstimmt oder – als erinnertes oder in die Zukunft projiziertes Geschehen – von ihr abweicht. Im zweiten Fall entsteht eine Struktur, die im wesentlichen mit derjenigen von einem Ich-Erzähler referierter narrativer fiktionaler Texte identisch ist, im ersten dagegen reproduziert sich, wie es scheint, der klassische lyriktheoretische Topos der Identität, als Gleichzeitigkeit in der men-talen Repräsentation, von Sprechersubjekt und Äusserungsinhalt im lyrischen Ich.

Nicht nur der subjektivitätskritische Impuls der Erfinderin des lyrischen Ich, auch der ihrer späten Nachfolgerin und Kritikerin verfängt sich damit in der in-

12 Margarete Susman, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Stuttgart: Strecker & Schröder 1910, S. 15 f. Weitere Zitate aus diesem Band im Lauftext unter der Sigle WL.

13 Vgl. Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Frankfurt/Main: Ullstein 1980. 14 Eva Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung

anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst, Heidelberg: Universitäts-verlag C. Winter 2000.

15 L.c., S. 66 ff.

27II STIMME DES GEDICHTS ODER LYRIK UND POESIE

konsequenten Handhabung seiner theoretischen Prämissen. Müller-Zettelmanns Akzent auf der grundsätzlichen Fiktionalität aller, auch der generisch als Lyrik kate-gorisierten, literarischen Texte widerstreitet ihrem pragmatischen Einteilungsvor-schlag, der einen wesentlichen Teil dieser Texte von dieser Bestimmung ausnimmt. Der Grund für diesen Widerspruch liegt auf der Hand: am Paradigma der konsti-tutiven Funktion des lyrischen Ich für die poetische Fiktion müsste deutlich wer-den, dass der Inbegriff dessen, was in literaturtheoretischen Zusammenhängen „Fiktionalität“ heisst, nichts anderes als die autothesis-autopoiesis des sprechenden Subjekts als sprechender Stimme des Textes ist. Der theoretischen Referenz, auf die sich, mit fragwürdigem Recht, Müller-Zettelmanns Konzeption beruft – die Theo-rie der Selbstreferenz der Personalpronomina, oder „shifter“ in Jakobsons Termi-nus, bei Benveniste16 – hätten sich mehr als nur Hinweise auf diesen Sachverhalt entnehmen lassen. Dazu hätte aber die Differenz von „énonciation“ und „énoncé“ nicht zu der von Vermittlung und Unmittelbarkeit – beides innerhalb der fiktiona-len temporalen Konzeption des Gedichts, also in Wahrheit nur als Gradstufen fik-tional-referentieller Vermitteltheit – ausgelegt werden dürfen. Zwar trifft es zu, dass das lyrische Ich im Sinn Benvenistes und Jakobsons die sprachliche Form der Selbstreferenz der sprechenden Instanz im Gedicht ist. Aber diese Referenz ist nicht nur selbst fiktional, sondern betrifft den entscheidenden autothetisch-autopoieti-schen Akt der Selbstsetzung des lyrischen Textes als fiktionaler Entität, will sagen als Repräsentation einer ausserhalb dieser Entität anfänglich gegebenen Stimme. Die Setzung aber spaltet die intendierte Einheit des Gesetzten: in eine sprechende und eine repräsentierte Stimme, in einen aktualen und einen fiktionalen Sprechakt, in Sprechen und Gesprochenes dieses Aktes. Den Zusammenschluss dieser Pole zur selbstidentischen und -präsenten Gegenwart des autothetisch-autopoietischen lyri-schen Sprechakts hält jene unintegrierbare zeitliche Differenz auf, die nun nicht mehr innerhalb der fiktionalen temporalen Konstitution von Redeakt und Rede-inhalten im Gedicht, sondern zwischen der fiktionalen und der aktualen Gegenwart des poetischen Sprechakts aufgeht. Es ist jene Differenz, die, in Weiterführung und Radikalisierung der Benvenisteschen Unterscheidung von „énonciation“ und „énoncé“, Gustave Guillaume als die unaufhebbare zwischen artikulierendem „temps opératif“ und artikuliertem „temps opéré“ – sei dies auch das grammatische Präsens – in der Aktualität des Sprechakts beschrieben hat.17

Steht damit der Terminus „énonciation“ in konsequenter Anwendung für die Zeit der Artikulation, und für diese allein, so ist klar, dass auch, und gerade, das lyri-sche Ich, insofern es eine sprachlich artikulierte Instanz innerhalb des fiktionalen poe-

16 Vgl.  Roman Jakobson, Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb, in: Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, hg. Eugenio Coseriu, München: Fink 1974, S. 35-54.

17 Vgl.  Gustave Guillaume, Temps et Verbe. Théorie des aspects, des modes et des temps, suivi de L’architectonique du temps dans les langues classiques, Paris: Champion 1970. Zur literaturtheoreti-schen Relevanz von Guillaumes Konzeption vgl. Charles de Roche, Literaturgeschichte der Un-schuld. Das Motiv der Unschuld und die Grenzen des fiktionalen Textes, München: Fink 2006, S. 34-37.