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Charles Wyrsch

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Charles Wyrsch Peinture

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Die Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung «Charles Wyrsch. Peinture» Museum im Bellpark Kriens 22.August bis 24.Oktober 2o1o

Herausgeber: Hilar StadlerAutoren: Jean-Christophe Ammann, Hilar StadlerAnhang: Céline Gaillard, Ralf KellerLektorat: Yasmin Kiss; Joseph Egli, Ralf KellerKonzept und Gestaltung: Hi – Megi Zumstein,

Claudio Barandun Reproduktionen und Lithos: Prolith AG –

digital factory, Schönbühl b. BernDruck und Bindung: DZA Druckerei

zu Altenburg GmbH, Altenburg, Thüringen

Bild Umschlag vorne: Arbeitstisch des Künstlers, 2o1o; Foto: Claudio Barandun, Luzern

Bild Vorsatz: Charles Wyrsch im Atelier, 2oo4 Foto (Ausschnitt): Georg Anderhub, Luzern

Bild Umschlag hinten: Charles Wyrsch Ohne Titel, um 198oTusche auf Papier, 28×34,5 cm

Copyright: © 2o1o Museum im Bellpark Kriens Alle Rechte vorbehalten

Die Textrechte liegen bei den Autoren Die Bildrechte liegen bei Charles Wyrsch

Die Publikation ist ein Projekt des Museum im Bellpark Kriens – www.bellpark.ch

ISBN 978-3-9523729-o-6

Unser Dank geht an folgende Beteiligte:Jean-Christophe Ammann, Frankfurt am MainAgnes Duboux-Wyrsch, VeveyMonika Maria Herzog, LuzernBasil Wyrsch, Aesch b. BirmensdorfChristoph Lichtin, Kunstmuseum LuzernNathalie Unternährer, Nidwaldner Museum, StansIsolde und Karl Bühlmann, LuzernErica Ebinger, LuzernMegi Zumstein, LuzernClaudio Barandun, LuzernYasmin Kiss, ZürichCéline Gaillard, Schänis-RufiJoseph Egli, LuzernRalf Keller, KriensGeorg Anderhub, Luzern

Unser Dank gilt den Leihgebern:Kunstmuseum LuzernNidwaldner Museum, Stans Sammlung Anliker, EmmenbrückeRosmarie und Walter Hohler, LuzernBrigit und Guido Marbach, St. Erhardsowie allen anderen Leihgebern, die nicht genannt sein wollen

Publikation und Ausstellung wurden in dankenswerter Weise unterstützt durch:Kulturförderung Kanton Nidwalden

Kanton Luzern

Gemeinde KriensArtephila StiftungStiftung Charles Wyrsch, KriensZuger Kulturstiftung Landis und Gyr Dr. Georg und Josi Guggenheim-StiftungCasimir Eigensatz StiftungBildhauer Hans von Matt-StiftungSchindler Kulturstiftungwww.kunstverkauf.chBrigit und Guido Marbach, St. ErhardHermann Wyss, EnnetbürgenArt Club Museum & Bellpark Gemeinde Buochs

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Charles Wyrsch Peinture

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5 Charles Wyrsch ist ein Mystiker

Charles Wyrsch malt aus dem Dunklen heraus und ins Dunkel hinein. Die Räume greifen ineinander, verschmelzen. Im Dunkel und durch das Dunkel schimmert Licht, manchmal flimmert es. Das Dunkel kann sich aufhellen. Das Dunkel generiert Bildnisse, Selbst-portraits, weibliche Körper, liegend, Rückenakte und auch Still-leben. Eine Verdunkelung findet nicht statt: Die Nacht gebiert! Es sind keine Albträume. Es sind mystische Erkundungen, die das Begehren in die Selbst befragung einfliessen lassen. Man kann es auch umgekehrt sagen: Die Selbstbefragung schliesst das Begehren ein, bis zum Selbstzweifel, bis zur Todesahnung, bis zum Leid und Schmerz aus christlicher Tradition. Lust, Schmerz, Ekstase und Askese verbinden sich im Schaffen von Charles Wyrsch zu einer glühenden Einheit. Aber er hält Distanz, weil das Wissen darum sie in erlebte Ahnung transformiert. Erlebte Ahnung ist die immer wieder im Werk erfahrene Verkörperung dessen, was da kommt, im Staunen, darüber, was geschieht. Aktive Erwartung dessen, was sich mit mir, dem Maler, ereignet, der ich bin und nicht bin.

Der Dichter Juan Ramón Jiménez (1881– 1958) sagt es so:

« Ich bin nicht ich.Ich bin jener,der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke, den ich oft besuche,und den ich vergesse.Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche, der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,der umherschweift, wo ich nicht bin,der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.»

Es gibt Stillleben, die nur scheinbar als ungegenständliche Gemälde in Erscheinung treten. Manchmal explodieren sie in Licht und Farbe, manchmal implodieren sie, verdichten sich in Spuren von Erinnerung, und manchmal werden sie zur Trinität: Die Dreierform ist alleinige malerische Substanz. Durchbrochene Schwerkraft. Liegende Quader in einer schiefergrauen, namenlosen Landschaft. Erdfarbene Blöcke von breiten Pinselhieben aus Licht mittig ge-trennt und verbunden. Aber dann auch diese drei gläsernen, neben-einander gestellten, gleichsam hingehauchten Formen, als käme das Licht von innen heraus, als müsste sich Parzival entscheiden, welche von diesen drei Formen der Gral sein könnte.

Jean-Christophe Ammann

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7 Narziss sprichtCharles Wyrsch, aufgehoben in der Malerei

Es mag dem Schaffen dieses Gläubigen im Feld der Kunst entsprechen, dass seine Bilder, einmal ans Licht gehoben, die ursprünglichen Absichten des Projekts regelrecht durchkreuzen. Angetreten mit der Vorstellung einer Retrospektive, sollten diese Gemälde im zurückliegenden Raum eines Lebenswerks eingereiht und verortet werden. Wie das Kunsthistoriker halt gerne tun. Nur, die Bilder haben dies nicht zugelassen. Ihre Präsenz – oder soll man sagen: ihre zeitlose Aktualität – behindert die angestrebte Sicherheit einer histo-rischen Distanz. Im Begriff, das Falsche zu tun, mussten wir umdenken. So berichtet das Buch zwar über die ver-schiedenen Stationen seines Lebens und Schaffens – tatsächlich besichtigen wir hier ein Lebenswerk, das über rund siebzig Jahre entstanden ist –, aber statt einer Einordnung unternimmt das Projekt eine Lektüre dieses Werks, dessen Bestandteile his-torisch gleichwertig behandelt werden. So erschei-nen diese Werke wie Grabbeigaben eines gewitzten Pharao, die, indem sie ans Licht gelangen, uns zwingen, über dieses Schaffen wieder neu nach-zudenken. So wurde aus der geplanten Jubiläums-ausstellung ein Projekt über den Künstler Charles Wyrsch und die Aktualität seines Schaffens.

Respekt der Malerei

Jeweils einer von der Familie wird «etwas ande-res», vorzugsweise Pfarrer. Möglicherweise hat diese vor allem in katholischen Gegenden verbrei-tete Gepflogenheit Charles Wyrschs Werdegang zum Künstler begünstigt, obwohl die ländlich-bäuerliche Tradition, in die er 192o hineingeboren wurde, nicht dafür prädestiniert war. Als Richt-punkt eines künstlerischen Werdegangs dient der bekannte Portrait- und Kirchenmaler Johann Melchior Wyrsch (1732–1798), dessen Beispiel Bestandteil des Familienbewusstseins war. Das familiäre Umfeld ist kulturell interessiert und bietet durchaus Möglichkeiten einer Identifi-kation. Vater Karl, der das Malergeschäft in zweiter Generation führt, ist begeisterter Musiker und Dirigent der Musikvereine Buochs und Ennetbür-gen. Charles Wyrsch wächst aufgrund des frühen

Todes seiner Mutter bei den Grosseltern auf; Gross-vater Karl ist Dekorationsmaler, der sein Hand-werk während eines sechsjährigen Aufenthalts in München erlernt hat. Sein Steckenpferd ist die Landschaftsmalerei, die er nach Vorlagen in der Tradition des 19.Jahrhunderts auszuführen pflegt. Alles spielt sich jedoch zuerst in eingeüb- ten Bahnen ab. Charles Wyrsch beginnt im Alter von fünfzehn Jahren, wie dies für den Sohn eines Malermeisters mit eigenem Geschäft zu erwar-ten ist, die Lehre als Flachmaler. Nach dem Lehr-abschluss im väterlichen Betrieb besucht er ab September 1939 die Kunstgewerbeschule Luzern zwecks Fortbildung im Schriftenmalen. Immer fleissiger besucht er Kurse im Figurenzeichnen, etwa beim Lehrer Erich Müller, und zieht endlich eine künstlerische Ausbildung in Betracht.1 Die Ernsthaftigkeit seiner Absichten, die Malerei zum Beruf zu machen, unterstreicht Wyrsch mit dem Wechsel an die École des Beaux-Arts in Genf im Sommer 1943, der damals einzigen eigentli-chen Kunstschule der Schweiz mit akademischem Gepräge. Charles Wyrsch beschreibt die École des Beaux-Arts als eine traditionell ausgerichtete Schule, an der er angehalten wurde, Werke alter Meister, vorab der Renaissance, zu studieren. Seine Arbeiten jener Jahre zeigen die Ein-flüsse der Genfer Kunstschule. Deutlich zu erken-nen ist dies in seinen Landschaften, aber auch im frühen Selbstbildnis von 1944, das ihn als selbst bewussten jungen Künstler zeigt. — Abb. I Auch das in seiner Genfer Zeit gemalte Bild eines Markt-standes, Ohne Titel (1945), zeigt Nähe zur Valeur-Malerei, die an der Genfer Kunstschule unter dem Einfluss von Alexandre Blanchet (1882–1961) gepflegt wurde. Bemerkenswert an diesem klein-formatigen Werk sind die Flächen in Weiss und Grün, die als Farbfelder einen absonderlichen Eigenwert entfalten und als eigenständige Figuren die Komposition beherrschen. — Abb. II Ange-sprochen auf das überraschende Eigenleben der Farbflächen, meint Charles Wyrsch heute, das sei einfach ein sehr schönes Weiss, was als Grund für die Setzung durchaus einleuchtet.2 Drei Jahre bleibt er in Genf und schliesst die Ausbildung mit Auszeichnung ab. 1946 vollzieht er eine Kehrtwende hin zur Moderne. Er geniesst während mehrerer Monate Privatunterricht beim Avantgardisten und ehemaligen Mitglied des Modernen Bundes, Albert Pfister (1884–1978), der ihn mit der Farbintensität der Fauvisten und der deutschen Expressionisten konfrontiert.3 Pfister hält ihn an, Gemälde allein aus den drei Primär-farben Gelb, Rot, Blau unter Verzicht auf Weiss zu erarbeiten. Die Farbe wird dabei unverdünnt aus der Tube – Charles Wyrsch nennt dies «buttrig» –

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8 Der Habitus des Künstlers

Charles Wyrsch debütiert mit einer Serie von Portraits, die er «Barone» nennt. Mit dieser Por-traitserie bezieht er Position. Er äussert sich als Künstler mit eigenständigen Arbeiten. Offen-sichtlich verarbeitet er mit dieser Werkserie seine Pariser Erfahrung. Die Bildnisse der «Barone» entstehen bezüglich Kolorit und kompositorischer Auffassung in Anlehnung an die ausklingende École de Paris, namentlich an Werke von Amedeo Modigliani (1884– 192o) und Juan Gris (1887–1927). — Abb. VI

Es sind Portraits mit kubisch aufgebauten, gelängten Gesichtern, oft versehen mit einer schwarzen Melone. Das Kolorit ist bei aller Zurück- haltung und Kargheit exquisit – immer kehren Tizianrot, Römischer Ocker, Caput mortuum, Schwarz und Weiss wieder – und lässt den Ein-druck des Reichen und Kostbaren entstehen. Es sind Bilder starrer Repräsentation, die einen Zug ins Karikaturistische und Maskenhafte er-halten, was gegenüber dem altmeisterlichen Mal-gestus eine eigenartige Faszination bewirkt.6 Manchen Portraits liest man die Züge des Künst-lers ab, der sein Abbild mit einem vornehmen Habitus ausstaffiert: «Er macht nie einen Hehl daraus, dass er sich selbst gerne im Mittelpunkt aller Dinge sieht.»7 Das sympathisch Hochstaplerische dieser Figur ist gleichsam die Erfindung einer Identität, zwar ironisch hinterlegt – ab und an erkennen wir auch Anlehnungen und Verwandtschaften zur Figur Charlots –, aber doch eine Selbstinszenie-rung des Künstlers als Dandy, die es ihm erlaubt, sich vom kleinbürgerlichen Milieu, aus dem er ursprünglich stammt, zu distanzieren. Der Zu-stand der Figur ist jedoch im Robert Walser’schen Sinn labil. Der Schutz, den ihm die Rolle in der theatralischen Überhöhung bietet, droht immer auch verlustig zu gehen. Er schliesst mit den «Baronen» eine erste Phase der künstlerischen Selbstfindung ab. Sich sel-ber werden, hat Charles Wyrsch diesen Prozess umschrieben.8 Mit dieser Gemäldeserie reüssiert er vor der Luzerner Kunstszene. Erica und Josef Ebinger, Ende der 5oer-Jahre wichtige Anlaufstelle und eigentlicher Drehpunkt der jungen Luzer- ner Szene, werden auf das Schaffen des jungen Künstlers aufmerksam und veranstalten 1957 die erste Einzelausstellung in der Galerie an der Reuss. Bereits 196o folgt die zweite Ausstellung in der Galerie der Ebingers. Peter F. Althaus, der nachma lige Konservator am Kunstmuseum Luzern und Chefredaktor der «Kunst-Nachrich-ten»,9 würdigt das Schaffen des jungen Künstlers

aufgetragen. Das frühe Frauenportrait in Rot, Ohne Titel (um 1946), ist unter dem Einfluss von Pfisters Farblehre entstanden. — Abb. III

Er wechselt danach an die Kunstgewerbe-schule Basel, die unter der Leitung des Konstrukti-visten Walter Bodmer (19o3–1973) damals einen hervorragenden Ruf geniesst. So lernt der junge Wyrsch zwischen 1946 und 1949 neben der farb -intensiven expressionistischen Ausrichtung auch die analytische, konstruktivistische Tendenz der Moderne kennen. Charles Wyrsch bezeichnet Walter Bodmer, der ihm auch den Zugang zur abs-trakten Kunst eröffnet, als einen seiner wich-tigsten Lehrer: «Die Basler Schule war sehr streng, so streng, dass sie mich für eine Weile eigentlich vollkommen niederschmetterte. Nach Basel habe ich den Respekt vor der Malerei gelernt, und der ist geblieben.»4

Seine Ausbildung rundet er von 1949 bis 1952 mit einem Aufenthalt in Paris ab. Er besucht Kurse an der offenen Kunstschule Académie de la Grande Chaumière und lässt sich vom bekannten Kunstlehrer André Lothe unterrichten. Die weni-gen erhalten gebliebenen Arbeiten seiner Ausbil-dungszeit belegen die Einflüsse der unterschiedli-chen Kunstrichtungen, die Charles Wyrsch als Schüler verarbeitet. Das Stück der drei Badenden zeigt die Auseinandersetzung mit dem Schaffen eines Paul Cézanne. — Abb. IV Bis hin zum Malgestus folgt hier der junge Künstler dem Beispiel des französischen Meisters. Bei den Gemälden der Kathedrale Notre-Dame de Paris ist er im Kolorit wieder mehr den Impressionisten, namentlich dem Werk von Claude Monet, verpflichtet. — Abb. V Die Zeichnung, die die Fassadenfläche der Kathe-drale strukturiert, erinnert gleichzeitig an die konstruktivistische Auffassung, die ihm Walter Bodmer vermittelt hat. In dieser Auseinander-setzung mit unterschiedlichen Vorbildern der Kunst fällt auf, dass die neuesten Tendenzen der Zweiten École de Paris, die sich seit 1945 um die Künstler Dubuffet, Soulages, de Staël, Hartung, Poliakoff, Mathieu etabliert, das Schaffen von Charles Wyrsch in jenen Jahren kaum beeinflussen. Wieder zurück in der Schweiz, erhält er 1953 sein erstes Eidgenössisches Kunststipendium zu-gesprochen, das ihm einen fünf Monate dauernden Aufenthalt in Spanien ermöglicht. Angelpunkt dieser Reise ist das Werk von El Greco, das er an unterschiedlichen Stationen im Original studiert.51 Weitere Lehrer an der Kunstgewerbeschule Luzern waren

u. a. Max von Moos und Werner Hartmann.2 Ateliergespräch von Charles Wyrsch und Hilar Stadler, Kriens,

1.6.2o1o.3 Auf den Kunstlehrer aufmerksam gemacht hat ihn

die Künstlerin Gertrud Stiefel.4 Ernst Scagnet, «Luzerner Künstler wie sie leben –

wie sie arbeiten (X) – Charles Wyrsch, Licht und Finsternis», in: Luzerner Neueste Nachrichten, 2o.1.1968.

5 Wie Anm. 2.

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11 Die reine Farbe erhält dabei eine überraschende Eigenständigkeit, als würde Wyrsch sich mit diesen abstrakten Studien auf die Lehre Albert Pfisters besinnen. Immer mehr nimmt er zuerst die Intensität der Farbe zurück. Das Bild Aufsteigender Rhythmus (1965/1966) basiert auf der Reduktion des Kolo-rits auf Braun-, Weiss- und Schwarztöne, ist aber in seiner kompositorischen Bewegtheit mit den früheren Arbeiten verwandt. — Abb. IX Mehr und mehr beruhigt Charles Wyrsch Farbklang und Rhythmus. Auch der Malgestus wird kontrollier-ter, die bildbestimmenden Elemente auf wenige Akzente reduziert, ausgehend von einer symme-trischen Anordnung. Diese Figurationen setzt er vor einen dunklen, sich in eine unbestimmte Tiefe öffnenden Malgrund, vor dem sie zu schweben scheinen, wobei hier der Kontrast Hell-Dunkel in den Vordergrund rückt und den Farbakzent immer nebensächlicher werden lässt. Wyrschs Weg zur Abstraktion führt hin zu einer Verinner-lichung und ist schliesslich ein Weg zurück zu «archetypischen Urvorstellungen hieratisch- symmetrischer Bildstrukturen: deshalb scheinen seine abstrakten Figurationen geradezu zwangs-läufig in die Sphäre sakraler Weihe einzumün-den».13 Beispielhaft kann man dies am Gemälde Allerseelen (1971) festmachen. — Abb. X1o Peter F. Althaus, «Charles Wyrsch», in: Werk, 1o, 1964, S. 376 –378.11 Stanislaus von Moos, «Carlotta Stocker – Charles Wyrsch»,

Kunstmuseum Luzern, in: Werk, 7, 1964, o. S.12 André Rogger, Charles Wyrsch, www.sikart.ch.13 Stanislaus von Moos, «Carlotta Stocker – Charles Wyrsch»,

Kunstmuseum Luzern, in: Werk, 7, 1964, o. S.

Das Kreuz

Mitte der 6oer-Jahre entsteht mit dem Kreuzweg für die Theresienkapelle der Piuskirche in Meggen eines von Charles Wyrschs frühen Hauptwerken, das die Rezeption seines Schaffens als eines religi-ösen nachhaltig prägen wird. Es gelingt ihm in Verbindung mit dem von Franz Füeg entworfenen Schlüsselbau der Nachkriegsmoderne ein bedeu-tendes Beispiel der kirchlichen Kunst der Moderne. Xaver von Moos sieht ihn in seiner Umsetzung gleichwertig neben den «grossen kirchlichen Künst-lern der Gegenwart».14 Das Wandgemälde steht im Kontext mit be-kannten Arbeiten zur kirchlichen Kunst, die in der ersten Hälfte des 2o.Jahrhunderts mit Werken von Matisse, Rouault und anderen eine neue Ak-tualität erhält. Charles Wyrsch sind diese Arbeiten bekannt, er wählt aber für sein Gemälde an der Rückwand der Theresienkapelle einen eigenstän-digen Weg. Er wagt etwas Neues, indem er das Geschehen des Kreuzweges auf einem durchgehen-den, über zwanzig Meter langen Band als ein

in «Werk» und richtet Charles Wyrsch 1964 in einer Doppelpräsentation mit Carlotta Stocker (1921– 1972) die erste Ausstellung im musealen Kontext ein. 6 «Charles Wyrsch. Galerie an der Reuss», in: Werk-Chronik, 12, 1957.7 Eva Roelli, «Besuch im Künstler-Atelier; bei Charles Wyrsch in

Lachen», in: Luzerner Tagblatt, 3.6.1961.8 Wie Anm. 2. 9 Peter F. Althaus ist von 1959 bis 1968 Konservator am

Kunstmuseum Luzern.

«Metaphysische Glut»

Die «Barone» sind als thematische und kompo-sitorische Anlage letztlich ein doch zu rigides Bild-konzept, das den Maler in seiner Entwicklung einzuengen droht. Charles Wyrsch wendet sich in der Folge vermehrt dem Stillleben zu, das er um 196o für sein Schaffen neu entdeckt. Es wird zum eigentlichen Übungsfeld für die Weiterentwick-lung seiner Malerei. Am vielfach variierten Motiv der nebeneinander gereihten Flaschen und Ge-fässe treibt er seine Studien der Proportionen, Volumen und Raumverhältnisse voran.1o Und immer mehr verdichten sich diese Studien zu Bil-dern reiner, gegenständlich nicht mehr bestimm-barer Gegenwart. Und immer mehr wird in diesen Figurationen «die Farbe zum alleinigen Aus-drucksträger und erreicht in ständiger Intensi-vierung schliesslich eine beinah metaphysische Glut und magische Ausstrahlung», wie Stanislaus von Moos in einer Ausstellungsbesprechung von 1964 festhält.11 — Abb. VII

So erlangt Charles Wyrsch eine Freiheit des persönlichen Ausdrucks, die folgerichtig zur Abs-traktion hinführen muss. Diese Entwicklung ist gleichzeitig mit der Modifizierung seiner Mal-weise verbunden. Der leichte, lasierende Malstil seiner Portraitserie, der im Umgang mit der Farbe der Eleganz der École de Paris verpflichtet ist, wird abgelöst durch einen wuchtigen, pastosen Farbauftrag. Das Gemälde Das Begräbnis des Don Carlos (1965/197o) ist ein Beispiel auf dem Weg dieser Entwicklung. — Abb. VIII Charles Wyrsch arbeitet immer mehr mit dem Spachtel und er-reicht dadurch eine neue Maltextur, welche auch auf die Bildanlage Einfluss nimmt. In der Folge entstehen um 1965 pastos gespachtelte Farbfeld-malereien, die sich mit ihren dominierenden, eckigen Formen an den Gemälden von Nicolas de Staël und Serge Poliakoff orientieren.12

Seine ersten Versuche sind freie rhythmi-sche Studien, welche Sinneseindrücke in abstrahie-rende Figurationen umsetzen. Gesehenes und Erlebtes wird in bewegten Bildgestaltungen auf-gelöst. Diese hauptsächlich kleinformatigen Arbeiten sind eigentliche Farbkompositionen, die auf der Leuchtkraft der Primärfarben beruhen.

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14 Neue Gegenständlichkeit

«Charles Wyrsch ist vielleicht der grösste Künstler – um die Klassifizierung zu wagen –, den die Innerschweiz je hervorgebracht hat»,18 ordnet der Kunstkritiker und spätere theoretische Beglei - ter der Innerschweizer Innerlichkeit, Theo Kneu-bühler, das Schaffen von Wyrsch ein. Das 1969 formulierte Versprechen wird sich nicht in der pro-phezeiten Form erfüllen. Die Kunst verändert sich von 1968 bis 1972 radikal, zwischen der bahn-brechenden Ausstellung «When attitudes become form» an der Kunsthalle Bern und der Kasseler documenta 5. Malerische Positionen treten neben konzept- und prozessorientierter Kunst zuneh-mend in den Hintergrund. Wyrschs Reaktion auf diese Entwicklung ist überraschend, aber für seinen Eigensinn wie-derum typisch. Er kehrt ab von der Abstraktion und erfindet sich neu durch die Hinwendung zum Figürlichen. Den Wandel vollzieht er in der Gattung des Portraits, präziser: mit einer Serie von Selbstportraits. Wieder setzt er an bei dieser Form der Selbstbefragung, vergleichbar der Vor-gehensweise bei der Gemäldeserie der «Barone» Ende der 5oer-Jahre. — Abb. XI

Die Besinnung auf das Selbstbildnis kombi-niert er mit einer Hinwendung zu altmeisterlichen Maltugenden. Er kehrt zurück zu Pinsel und Palette und setzt einmal mehr auf die ihm ver-traute Technik der Ölmalerei. Auch dies mag im Kontext der Kunstentwicklung zu Beginn der 7oer-Jahre überraschen. Die Portraits dieser Serie sind äusserst dunkel gehalten. Geheimnisvolle Gesichter, auf beinah abstrakte Zeichen reduziert, bevölkern ausnahms-los düstere Räume. Nur mühsam scheinen sie sich aus dem Dunkel herauszulösen, prekär ist ihr Zustand am Rand der Sichtbarkeit. Als würden diese Gesichter aus der Erinnerung heraufsteigen, als wären sie nicht Teil eines beobachteten Gegen-übers. — Abb. XXVII/XXXVI

Es ist eine referenzielle Malerei, die Wyrsch hier praktiziert. Bezugspunkt dieser Portraits ist diesmal nicht die christliche Ikonografie, son-dern die spanische Schule des 17. Jahrhunderts, namentlich das Werk von Velázquez, das er mit dieser Serie nach einer mehrjährigen Gärungszeit verarbeitet. Eine frühe Begegnung mit dem Werk des spanischen Meisters soll bereits anlässlich der ersten Spanienreise um 1953 stattgefunden haben, von der Charles Wyrsch berichtet, dass ihm die Reduziertheit der Farben in den Bildnissen von El Greco und Velázquez grossen Eindruck gemacht hätte.19 Aktiviert wird die Erinnerung an die spanische Malerei möglicherweise durch

Auf und Ab von Christus’ Leiden darstellt. In seiner Umsetzung verzichtet er auf das anekdo-tische erzählerische Beiwerk und bündelt die Passion auf die «Erfahrung von banger Einsamkeit und trostloser Verlassenheit in einem unbestimm-baren Weltenraum».15 Die Figurationen rhythmisieren die Darstel-lung vom Leidensweg Christi. Trägerin des Inhalts ist jedoch die Farbe, die in dieser Arbeit eine bemerkenswerte Rolle einnimmt. Die Farbakzente strukturieren die Bedeutungsebenen dieser Lei-densgeschichte: «Am Schlusse gibt uns der Maler etwas vom Grossartigsten, das er nur durch das Mittel der farbigen Klänge auszudrücken im-stande war: den Glauben an Auferstehung und Himmelfahrt.»16 Offensichtlich basiert dieser Umgang mit der Farbe auf seinen zeitgleich statt-findenden abstrakten Studien. Charles Wyrsch meint mit der Passion und ebenso mit den wiederkehrenden Darstellungen des Schmerzensmannes nicht allein das Leid Christi. Der Künstler gleicht dieses vorbildliche Leid mit persönlichen Erfahrungen ab. In die Zeit seiner Arbeiten am Kreuzweg fällt der Un-falltod seiner dreijährigen Tochter Caroline. Charles Wyrsch hat, nach eigenen Angaben, dieses schmerzhafte Erlebnis in seinem Wandgemälde für Meggen verarbeitet.17 Er verschränkt also persönliche Leidverar-beitung mit Motiven der christlichen Ikonografie, aus deren Topoi er sich beinahe ausschliesslich auf den Schmerzensmann, auf den Gekreuzigten oder den Ecce homo bezieht. Diese Motive schei-nen seiner Lebensauffassung zu entsprechen. Durch das Einfärben der ikonografischen Vorlage durch Momente des persönlichen Empfindens lädt er die Motive mit neuer Bedeutung auf und gibt ihnen ihre Gültigkeit zurück. Charles Wyrsch überschreitet durch diese Subjektivierung tradierter Bildmuster die in der Ikonografie vorgegebenen Wissensinhalte und erfüllt sie mit neuem Leben. Mit dem schreienden Christus etwa, Schrei (1995/1996/2oo1), entfernt er sich deutlich von einer traditionellen Gottes-darstellung, und wir sehen das Aufbegehren, den Protest eines Menschen unserer Zeit. — Abb. XLIV Im Blick steht für Wyrsch nicht primär die Kate-gorie einer religiösen Kunst. Der Gekreuzigte wird vielmehr zu einer metaphysischen Chiffre, die er – wie das analog für die Selbstportraits und die Aktdarstellungen gilt – in unterschiedli-chen Phasen seines Schaffens malerisch auf ihre Bedeutung befragt.14 Xaver von Moos, «Der Kreuzweg in Meggen von Charles Wyrsch», in: Vaterland, 13.2.1967, o. S.15/16 Ebd. 17 Markus Britschgi, Charles Wyrsch. Werke 1942–1990, Stans 199o, S.3of.

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17 Manchmal sind Kopf und Füsse malerisch kaum ausformuliert, sie sind nur zu erahnen. Er geht dabei nicht von einer festgelegten kompositori-schen Struktur aus, vielmehr formt er den Körper, indem er mehrfach ansetzt und das Erreichte wieder überarbeitet. Verständlich, dass es bei die-ser Arbeitsweise zu unvorhersehbaren Entwick-lungen kommt und die Darstellung das Bildformat überragt, die Figur allenfalls neu zu konturie - ren ist, um ihr Halt zu geben, wie wir dies bei der Liegenden von Der Rücken auf Braun (1973/1995/1996) zu erkennen meinen. — Abb. XIV

Die Malweise wird auf das Motiv ausgerich-tet. Der Maler schaltet die «elementare, physische Anwesenheit», die er den Liegenden zuschreibt, gleich mit der betonten Präsenz der Materialität seiner künstlerischen Mittel. Das Kolorit ist in seiner Reduktion auf ein Hell-Dunkel demjenigen seiner Don-Carlos-Bilder verwandt. Der Duktus erhält neue Bedeutung, wird bewegt und struk-turiert das Motiv. Die Materialität der Farbe bringt den «Körper» der Malerei ins Spiel. Die Präsenz der dargestellten Figur geht schliesslich aus dem Eros der Malerei hervor.2o «Charles Wyrsch», in: Jean-Christophe Ammann/Theo Kneu- bühler (Hrsg.), Rapport der Innerschweiz im Helmhaus Zürich,

Ausstellungskatalog, Helmhaus Zürich, Luzern 1974, o. S.

Protestbilder

Um 198o stösst er mit den «Protestbildern» auf neues Terrain vor. Auslöser dieser Werkserie ist der konkrete Widerstand gegen ein geplantes Bau-vorhaben in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Mit malerischen Mitteln kämpft er gegen die Zerstörung des natürlichen Lebensraums an. Der Protest äussert sich zuerst in einer Serie von Land-schaftsbildern, Veduten der Zerstörung, in denen er die Veränderung des ihn umgebenden Lebens-raums dokumentiert. Charles Wyrsch wird zum engagierten Künstler, der sich mit seiner Malerei – wenn auch vergeblich – gegen das Unabwend-bare zur Wehr setzt. Der Protest ist zwecklos und der Künstler empört, dass ein Bauvorhaben in seiner Wohnge-meinde nicht gestoppt werden kann, auch ist er enttäuscht von den Institutionen, die diese Bauver-schandelung nicht verhindert haben. Mit Schalk erzählt er gerne, wie er danach der Gemeinde Kriens ein Stillleben geschenkt habe. Dargestellt seien auf diesem Stillleben fünf leere Flaschen, die er in direktem Bezug zu den fünf Amtsträgern sieht, welche damals der Gemeinde vorstanden. Ausgehend von diesem persönlichen Erlebnis, äussert sich sein Zorn immer mehr in einer oppo-sitionellen Haltung gegenüber den herrschenden Zuständen, im Speziellen gegenüber der Umwelt-

die Rezeption des Werks von Francis Bacon (19o9– 1992), die anlässlich der Ausstellung im Pariser Grand Palais von 1971 vertieft einsetzt. Bacons Werk ist somit auch mit Wyrschs erwachtem Inte-resse am Figürlichen in Verbindung zu bringen. Wieder schreibt er den unterschiedlichen Selbstportraits Rollen zu, die in ihren wechselnden Identitäten mit historischen Bezügen kokettie-ren. Charles Wyrsch stattet sie mit Attributen aus, welche die Figuren der feudalen Welt des spani-schen Adels zuordnet; die Halskrause im Gemälde Don Carlos de negro (1971– 1973/1983/1986–1988/199o) ist ein Beispiel dafür. — Abb. XLII «Don Carlos» nennt er zuweilen dieses Alter Ego, als das er sich, zugehörig den Bildwelten der spanischen Malerei, inszeniert. Auf bemerkenswerte Art und Weise verschmelzen hier Malgestus und Selbst-inszenierung – als würde er sich durch die Rollen-zuschreibung in die jeweils bevorzugte Maltra di-tion einschreiben. Diese Figuren sind Geschöpfe der Kunst. Das Gedächtnis, aus dessen Erinnerung diese Figuren aufsteigen, ist eigentlich die Malerei. 18 Theo Kneubühler, «Eine neue Form des Visionären», in: Vaterland, 1.12.1969. 19 Wie Anm. 17, S.29.

Körper der Malerei

Parallel zu den Don-Carlos-Bildnissen wendet er sich seit Anfang der 7oer-Jahre vermehrt dem Akt zu. Charles Wyrsch setzt zu einem Werkzyklus an, den er bis in die aktuelle Zeit laufend erwei-tert. In der Auseinandersetzung mit dem weib-lichen Körper erschafft er einen Bildtypus, an dem er immer wieder arbeitet, den er in Varianten immer wieder bestätigt. Eine frühe prototypische Ausformung stellt der Rückenakt mit dem Titel Liegender Akt (1972) dar. — Abb. XXVIII Die weibliche Figur liegt auf dem Bauch. Sie wendet sich vom Betrachter ab. Die Figur hebt sich, vergleichbar den Portraits jener Jahre, vereinsamt von einem tiefschwarzen Grund ab. Wyrsch etabliert mit dem Rückenakt eine Art Schlüsselfigur seines Schaffens, die er folgen-dermassen deutet: «Mit meinen isoliert sich im dunklen Raum befindenden Figuren möchte ich die Einsamkeit des heutigen Menschen in einer rationalistisch denkenden Gesellschaft darstellen. Indem die weibliche Figur in meinen letzten Arbeiten auf dem Bauch liegt, wird sie in ihrer elementaren, physischen Anwesenheit noch stärker auf sich selbst zurückgeworfen.»2o

Wyrsch nimmt nicht den ganzen Menschen in den Blick, er konzentriert sich auf Teile des Körpers, hier auf das Gesäss und die Schenkel. Der Körper ist vom Bildzentrum her gemalt. Er arbei-tet sich vom Rumpf zu den Extremitäten vor.

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21 Die «Protestbilder» markieren einen Wendepunkt im Schaffen von Charles Wyrsch. Indem er Posi-tion bezieht, modifiziert er die künstlerischen Anliegen und wendet sich vorübergehend von den akademischen Themenstellungen ab, innerhalb deren Grenzen sein bisheriges Werk verortet war. Er arbeitet an der Einsetzung einer zeithaltigen Malerei. In diesem Punkt könnte das Beispiel Bacons einmal mehr eine Anregung gewesen sein: nämlich, dass auch auf der Grundlage einer in- ten siven Beschäftigung mit den alten Meistern und unter Einsatz des traditionellen maleri- schen Handwerks für die Gegenwart gültige Werke geschaffen werden können. Das Anliegen einer gegenwärtigen Kunst entwickelt sich aus der Erfah- rung der 8oer-Jahre zu einem wichtigen Aspekt seiner späten Werke. Mit der Verlagerung der Interessen scheint sich entsprechend die Bewertung des bisherigen Schaffens zu verändern. Es fällt auf, dass seit Ende der 7oer- und dann vermehrt seit Anfang der 8oer-Jahre eine Nachbearbeitung seines Werks einsetzt. Charles Wyrsch unterzieht die früheren Arbeiten einer Neubewertung, übermalt die ge-schaffenen Werke und überführt sie in einen Arbeitsprozess, der sich oft über mehrere Jahre hinzieht – als ob sein Werk ebenso der Krise ausgesetzt sein könnte. In jenen Jahren beginnt er, die Arbeitsschritte rückseitig auf den Bildern festzuhalten. Es entsteht eine Art Protokoll der Werkgenese. Offensichtlich sind diese Register des Schaffensprozesses Ausdruck seiner manchmal zweifelnden Suche nach dem «richtigen» Bild. Darüber hinaus begreifen wir diese Neubearbei-tung als eine laufende Aktualisierung seines bisherigen Schaffens. Er setzt seine Bilder mehr-fachen Ver änderungen aus und transferiert sie quasi in den jeweils aktuellen Werkzusammenhang. Insofern lässt sich diese Überarbeitung als eine Art Belebung verstehen – oder soll man sagen: Beatmung seines Werks? Eine Strategie, die man bereits in seiner Beschäftigung mit Vorlagen aus der klassischen Malerei erkennen konnte. 21 Eva Kramis, «Bildbefreiung und Befreiung im Bild», in:

Martin Schwander (Hrsg.), Charles Wyrsch, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Luzern, Luzern 1996, S. 1o.

Malen in der Gegenwart

In den «Protestbildern» formuliert er Anliegen und Kritik explizit mit oft anklagenden, gar pole-mischen Bildfindungen. Seit den 9oer-Jahren wendet er sich unter Beibehaltung der grundlegen-den Fragestellungen den angestammten Moti- ven seines Werks zu, das seit den Anfängen auf der Trias von Portrait, Akt, Stillleben besteht. Er besinnt sich wieder auf das Selbstportrait; davon

zerstörung, der Luftverschmutzung, dem Verkehr. Sein Protest drückt sich in der Folge als eine Kritik an der Gesellschaft aus, die er ab Mitte der 8oer-Jahre vorzugsweise in der Bildgattung des Portraits abhandelt. Die Krise dieser Gesellschaft spiegelt sich zunehmend als Krise des Einzelnen. Charles Wyrsch artikuliert seine Beobachtungen, seine Sorgen und seine Verzweiflung nun fast ausschliesslich in Bildern von Gesichtern. Das Ant-litz wird gleichsam zur Bühne der Krisen- und Problemdarstellungen. Gemälde wie Angst (1981/1982/199o/1995–1997) — Abb. XIX, Aussichten (1973/1974/1976 –198o/1983/1984/199o) — Abb. XXIII, Unglücklich (1997) — Abb. XLVI sind Beispiele der the-matischen Verlagerung. Eine Steigerung auch in der Malweise erhält die Serie mit dem Werk Trauer um den Tod der Geliebten (1983/1985/199o/1991/1994/1995/1997). — Abb. XV In dem kleinformatigen Gemälde mit dem Titel Wahnsinn (1979–198o/ 1983–1985) verzerrt er das Frauengesicht bis zur Unkenntlichkeit, indem er es mit groben Pinsel-strichen übermalt. Die Integrität der Figur wird hinterfragt und droht verloren zu gehen. — Abb. XLVII

Die «Protestbilder» erhalten Anfang der 9oer-Jahre mit den sogenannten «Feindbildern» eine Steigerung. Wyrsch verarbeitet in dieser Gemälde-serie ein negatives Erlebnis im Nachgang seiner retrospektiv angelegten Ausstellung von 199o und formuliert in den Bildern seine Wut gegenüber der verantwortlichen Person, von der er sich getäuscht und ungebührlich vereinnahmt fühlt. Die Gemäldeserie ist schliesslich auch als die Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses zu verstehen, das ihn an den Rand einer persönlichen Krise bringt.21 Diese Bilder, die er als eine Abrech-nung mit einem «Feind», einer konkreten Person, beginnt, hat er bereits wieder in andere Themen-bereiche transformiert. Die Portraits des «Macht-menschen B», wie er seinen Konterpart nennt, betitelt er mit Schöner Wohnen in Kriens (1982/1995) — Abb. LI oder F. P. (1982/1983/1994) — Abb. LII und verschränkt sie mit dem Thema der Verschan-delung seines Lebensraums unter dem Diktat eines spekulativen Bauens, das am Anfang dieser Werkserie steht. Der Malakt wird durch die «Feindbilder» zu einem Vorgang animistischer Beschwörung. Seine Malerei entsteht aus dem Affekt. Er malt, zeich-net, überzeichnet den Kopf des Kontrahenten, traktiert ihn mit Pinselstrichen und verformt ihn zu einem monströsen Gebilde. Mit Säure und Rasierklinge, mit Abdeckband bearbeitet er die Malschicht der Bilder und meint eigentlich den Dargestellten. Das Malen im Furor bringt ihn zu experimentellen Techniken, durch die er auch seine malerischen Mittel erweitert.

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22 Es geht Charles Wyrsch nicht um Interpretation. Seine Bilder sind eine Übersteigerung des Tatsäch-lichen. Sie gehen in der Spiegelung dessen, was am Objekt passiert, weit über die Wirklichkeit hinaus. Und vielleicht bremst er, vergleichbar den Phänomenen, die Samuel Herzog in Bezug auf das Schaffen von Lucien Freud feststellte, die körperlichen Manifestationen im Raum der Malerei so ab, dass Dinge spürbar gemacht werden, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit vorgesehen sind.23 Und möglicherweise ist die unmittelbare, anschauliche Evidenz,24 die seine Bilder ausstrah-len, durch dieses Moment bestimmt. Charles Wyrsch äussert sich bezüglich seiner jüngsten Werke dahin gehend, dass es eine der grossen Schwierigkeiten sei, nicht der Routine zu verfallen. So beschreibt er die Meisterschaft, die er über all die Jahre zweifelsohne erlangte, als eine der grössten Gefahren, gleichsam als Falle seines heutigen Schaffens. Seine späten Werke sind immer auch ein Anmalen gegen die routinierte Sicherheit. Er wolle jeweils beim «Nichts» begin-nen, meint er.25 So führt er die Malerei an ihren Nullpunkt zurück, um von dort seine Kunst gewis-sermassen neu zu schaffen.22 Flurina Paravicini-Tönz/Gianni Paravicini-Tönz/Cristina

Casagrande (Hrsg.), Charles Wyrsch. Edith, Luzern 2oo3.23 Samuel Herzog, «Das Leben als Kruste», in: Neue Zürcher Zeitung,

28.5.2o1o, S.49.24 Martin Schwander, «Zum Geleit», in: Charles Wyrsch, Ausstel-

lungskatalog, Kunstmuseum Luzern, Luzern 1996, S. 5.25 Wie Anm 2.

Narziss spricht

Überschaut man dieses Werk, so wie es das vor-liegende Buch in einer stringenten Auswahl ermög-lichen möchte – und wie es noch deutlicher sicht-bar wurde, als für dieses Projekt eine umfassendere Auswahl zusammengetragen wurde –, dann fällt erst die Geschlossenheit, die Kraft der Serien auf, in denen der Künstler seine Arbeiten realisiert. Dieses Werk ensteht in Schüben, die zyklisch wieder-kehren, an deren Ursprung oft eine neue Erkennt-nis, eine Anregung von aussen stehen mag. Charles Wyrsch hat seine Antennen bekanntlich weit ausgefahren, er absorbiert, was er in der Kunst erfährt und begreift, in seine Malerei. Das Arbeiten in Serien ist dann eine Art Durchdek linieren neuer Erkenntnisse und neuer Errungenschaften. Nicht, dass das Einzelbild sich in der Serie unterordnen oder auflösen würde. Jedes seiner Ge-mälde beschwört in der mit nie nachlassender, obsessiver Intensität vorangetriebenen malerischen Annäherung die ikonische Qualität des Bildes. Wyrsch arbeitet mit jedem Bild stets, wie das Hans Rudolf Schneebeli beschrieb, an einer letzten Form und somit an seiner zeitlosen Aktualität.26

abgeleitet malt er wieder vermehrt Still-leben, in denen er das Motiv des Schädels ins Zen-trum rückt. Als wolle er unterstreichen, dass die Gewissheit des Schädels jedes seiner Antlitze bestimmen würde. Charles Wyrsch bezieht sich auf das Sujet des Memento mori, das ihm aus dem Barock vertraut ist. Und er thematisiert etwa im Gemälde Aus (1982/199o/1997/1998) explizit das Ende, welches dem Alter, das er in seinen Por-traits darstellt, bevorsteht. — Abb. LXV

Das Selbstportrait überführt er in den 9oer-Jahren in eine intensiv geführte Selbstbeob-achtung, die unbeabsichtigt eine Langzeitstudie auslöst, welche die Veränderung des alternden Menschen dokumentiert. Weit entfernt von einer konzeptuellen Anordnung, malt er sich gewis-sermasen hic et nunc, weil dieses Motiv täglich verfügbar ist und insofern das daraus entstehende Selbstgespräch Teil seiner Lebensrealität in der Atelier-Klause ist. So entsteht über mehrere Jahre eine schonungslose Darstellung des Alterns – ein Thema, vergleichbar mit der Portraitserie seiner unlängst verstorbenen Frau Edith22 – und, darin enthalten, eine Studie über die Vergänglichkeit alles Menschlichen. Diese Gewissheit bedingt den schonungslosen Realismus, der die Werke aus-zeichnet. Eindrücklich ist die Intensität der Selbstbe-obachtung. Im Unterschied zu den früheren Por-traitserien vermeidet er Typenhaftes und verzichtet weitgehend auf historische Bezüge. Der Künstler schaut in sein Gesicht und scheint die Gesichtszüge staunend von Neuem zu entdecken, erkennt sich zuweilen selber. Im Unterschied zur Nähe, welche diese Arbeitsanordnung vermuten lässt, nehmen wir immer auch die Distanz wahr, die der Maler zu seinem Selbst herstellt. Bei diesen Selbstportraits steht nicht ein philosophisches Erkennen im Vordergrund. Er sucht in diesen Bildnissen nicht die Reduktion auf das Wesentliche. Er malt alles, was sich in den Fal-ten und Gruben dieses Gesichts beobachten lässt. Jedes Detail ist relevant, nichts geht verloren. Charles Wyrsch kumuliert, trägt Strich um Strich, Schicht um Schicht auf, bis sich eine Art Kruste über dem Dargestellten bildet. Er setzt wieder und wieder am gleichen Ort an, modellierend, anhäu-fend; eine Art Suche, die manchmal an Giacometti erinnert. So registriert er jedes Detail, das sich in diesem Gesicht verändert, und malt selbst das Wachsen der Nase, das er in einem ebenso beti-telten Selbstbildnis festhält. — Abb. LXIV

Man wird diesen Bildnissen nicht gerecht, wenn man in ihnen die psychologische Deutung einer Tiefe sucht, wenn man sie reduziert auf die Blosslegung einer beobachteten Wirklichkeit.

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24 Herausragend für sein Schaffen ist die Be-deutung des Selbstportraits. Ihnen kommt in dieser Werkanlage ein besonderer Stellenwert zu. Denn Charles Wyrsch stösst eine neue Schaffens-phase oft mit einer Selbstbefragung in diesem Genre an. Als ob er seine Malerei jeweils am Selbst-bildnis ausrichten, seine Position an ihm über-prüfen müsste. Er bezieht sich dabei auf das, was ihm gewiss und vertraut ist: das Gegenüber in der Eigenspiegelung. Als könnte er sich darauf verlassen, dass dieser Narziss, der im dunklen Spiegel seiner Malerei auftaucht, durch das Bild zu ihm sprechen würde; als könnte er wissen, dass als Blüte dieses Schauens seine Malerei von Neuem wächst. So betrachtet, ist dieses Schauen ein Ein-tauchen in die Malerei, ein Sichauflösen in der Malerei. Und man vermutet in der Einschreibung des Künstlers in seine Kunst einen Aspekt der überzeugenden Dringlichkeit des Werks. An ande-rer Stelle war von Charles Wyrschs Schaffen als einer referenziellen Malerei die Rede. Mag sein, dass in dieser Werkanordnung auch die Brüche zu begründen sind, die neben der Geschlossenheit der Serien diesen Arbeiten ebenso eigen sind. Zuweilen ist man geneigt, eine Kippenberger’sche Mehrstimmigkeit zu erkennen, die die Einheit-lichkeit des Werks manchmal unterläuft. Offen-sichtlich wird das uvre von Charles Wyrsch in der anstehenden Aufarbeitung der Postmoderne an Aktualität gewinnen. Wyrsch gleicht ja sein Empfinden nicht allein mit seiner Malerei ab. Er steht im ausdauernden Dialog mit den alten Meistern. Er amalgamiert ihre Kunst in der eigenen Malerei, er schreibt sich durch Rollenzuordnungen zuweilen selber in diese Kunst ein. In diesem Sinn ist Charles Wyrsch ein Gläubiger der Kunst. Sein Mysterium, wenn wir ihm ein solches zumuten wollen, ist eigentlich die Malerei.26 Hans Rudolf Schneebeli, «Charles Wyrsch», in: expressiv. Schweizer Kunst des 20.Jahrhunderts aus der Sammlung Anliker,

Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Luzern, Luzern 1991, S. 173.

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