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Charlotte Brontë Jane Eyre Die Waise von Lowood Eine Autobiografie Aus dem Englischen von Marie von Borch Vollständig neu überarbeitet von Martin Engelmann Anaconda

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Charlotte Brontë

Jane EyreDie Waise von Lowood

Eine Autobiografie

Aus dem Englischen von

Marie von Borch

Vollständig neu überarbeitet von

Martin Engelmann

Anaconda

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Die englische Originalausgabe erschien 1847 bei Smith, Elder & Co.,London, unter dem Titel Jane Eyre. An Autobiography. Edited by Currer Bell.

Die erste deutsche Ausgabe in der Übersetzung von M. v. Borch erschien1888 bei Philipp Reclam jun., Leipzig, unter dem Titel Jane Eyre, dieWaise von Lowood. Eine Autobiographie von Currer Bell.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind imInternet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieser Band ist Teil der SonderausgabeAnne, Charlotte, Emily Brontë: Die großen Romane. Agnes Grey.Jane Eyre. Shirley. Villette. Sturmhöhe (fünf Bände in Kassette)

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung© Aufbau Media GmbH, Berlin, 2008 (für die revidierte Übersetzung)© dieser Ausgabe 2012 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Frederic Leighton (1830–96), »Study of a Lady«,Private Collection, © Whitford & Hughes, London / bridgemanart.comUmschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: GEM mbH, RatingenPrinted in Czech Republic 2012ISBN [email protected]

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Erstes Kapitel

Es war ganz unmöglich, an diesem Tag einen Spaziergang zumachen. Am Morgen waren wir zwar noch eine ganze Stunde inden blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert, aberseit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde,wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind sodüstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regenmit sich gebracht, dass von weiterer Bewegung im Freien nichtmehr die Rede sein konnte.

Ich war von Herzen froh darüber, denn lange Spaziergängewaren mir stets zuwider, besonders an frostigen Nachmittagen. Ichfand es furchtbar, in der rauen Dämmerstunde nach Hause zukommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen und mit einemvom Schimpfen der Kinderfrau Bessie schweren Herzen, ge-demütigt durch das Bewusstsein meiner körperlichen Minderwer-tigkeit gegenüber Eliza, John und Georgiana Reed.

Eliza, John und Georgiana hatten sich gerade im Salon um ihreMama versammelt. Diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe desKamins, umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in die-sem Moment weder zankten noch schrien, und sah vollkommenglücklich aus. Mich hatte sie davon befreit, mich dieser Gruppeanzuschließen: Sie bedauere es zutiefst, sei aber gezwungen, michfernzuhalten, solange sie nicht selbst oder durch Bessies Worteüberzeugt sei, dass ich ernsthaft versuche, mir anziehendere undfreundlichere Manieren, einen kindlicheren, geselligeren Charak-ter und ein leichteres, offenherzigeres, natürlicheres Benehmenanzueignen. Bis dahin müsse Sie mich aber leider von allen Vor-rechten ausschließen, die nur für zufriedene, glückliche kleineKinder gedacht seien.

»Was sagt denn Bessie, dass ich getan habe?«, fragte ich.»Jane, ich liebe weder Spitzfindigkeiten noch Fragen; außer-

dem ist es geradezu widerlich, wenn ein Kind ältere Leute in die-ser Weise zur Rede stellt. Sofort setzt du dich irgendwohin undschweigst, bis du höflicher reden kannst!«

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An das Wohnzimmer grenzte ein kleines Frühstückszimmer, indas ich hineinschlüpfte. Hier stand ein großer Bücherschrank. Ichergriff einen dicken Band, wobei ich sorgsam darauf achtete, dasser auch bebildert war. Dann kletterte ich auf den Sitz in der Fens-tervertiefung, zog die Füße hoch und kreuzte die Beine wie einTürke. Schließlich zog ich die roten Wollvorhänge fest zusammenund war auf diese Weise doppelt versteckt.

Scharlachrote Stofffalten verdeckten mir die Aussicht nachrechts; links befanden sich die großen, klaren Fensterscheiben, diemich vor dem düsteren Novembertag schützten, mich aber nichtvon ihm trennten. In kurzen Momenten, wenn ich die Seiten mei-nes Buches umblätterte, fiel mein Blick auf den Winternachmit-tag. In der Ferne lagen Wolken über einem blassen, leeren Nebel,davor in endlosem Regen die freie Rasenfläche mit ihren entlaub-ten, sturmgepeitschten Sträuchern.

Ich kehrte zu meinem Buch zurück, es war Bewicks »BritischeVogelkunde«. Im Allgemeinen kümmerte ich mich wenig um dengedruckten Text, und doch waren da einige einleitende Seiten,welche ich nicht gänzlich übergehen konnte. Sie handelten vonden Verstecken der Seevögel, von jenen einsamen Felsen undKlippen, die nur ihnen gehören, und von der Küste Norwegens,die von ihrer äußersten südlichen Spitze, dem Lindesnes, bis hinaufzum Nordkap mit Inseln übersät ist:

»Wo der nördliche Ozean, in wildem WirbelUm die nackten, öden Inseln tobtDes fernen Thule; und das atlantische MeerSich stürmisch zwischen die Hebriden wälzt.«

Auch konnte ich nicht unbeachtet lassen, was dort stand über diedüsteren Küsten Lapplands und Sibiriens, über die Küsten vonSpitzbergen, Nowaja Semlja, Island und Grönland, den endlosenBereich der arktischen Zone und jene einsamen Regionen leerenRaumes – jenes »Reservoir von Eis und Schnee, wo fest gefroreneEisfelder, durch Jahrhunderte des Winters auf alpine Höhen ge-

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Anne Brontë

Agnes GreyRoman

Aus dem Englischen neu übersetzt von Tobias Rothenbücher

Anaconda

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Die englische Originalausgabe erschien im Dezember 1847bei Thomas Cautley Newby in London unter dem Titel Agnes Grey. A Novel by Acton Bell. Der vorliegendenNeuübersetzung liegt die Ausgabe in der Reihe Oxford World’s Classics, Oxford 2010, zugrunde.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieser Band ist Teil der SonderausgabeAnne, Charlotte, Emily Brontë: Die großen Romane. Agnes Grey.Jane Eyre. Shirley. Villette. Sturmhöhe (fünf Bände in Kassette)

© 2012 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: George Dunlop Leslie (1835–1921), »Consideringa Reply« (um 1860), Private Collection / The Maas Gallery,London / bridgemanart.comUmschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: Andreas Paqué, www.paque.dePrinted in Czech Republic 2012ISBN [email protected]

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Kapitel 1Das Pfarrhaus

In einer Lebensgeschichte ist immer auch eine Lehreverborgen; doch bei einigen fällt es schwer, diesenSchatz zu heben, und hat man ihn endlich gehoben, ister oft von so geringem Umfang, dass der vertrocknete,runzlige Kern, den man vorfindet, es kaum lohnend er-scheinen lässt, die Nuss überhaupt geknackt zu haben.Ob dies bei meiner eigenen Lebensgeschichte der Fallist oder nicht, darüber vermag ich kaum zu urteilen.Bisweilen glaube ich, dass sie sich für manche als hilf-reich und für andere als unterhaltsam erweisen könnte.Darüber soll die Welt ihr eigenes Urteil fällen. Indemich im Verborgenen bleibe und einigen Personen fikti-ve Namen gebe und da bereits viele Jahre verstrichensind, wage ich das Unterfangen und werde dem Leserin aller Offenheit darlegen, was ich meinem engstenFreund nicht anvertrauen würde.

Mein Vater war ein nordenglischer Pfarrer, der beiallen, die ihn kannten, wohlverdienten Respekt genossund der als junger Mann sehr gut von den Einkünftenaus seiner kleinen Gemeinde und einer bescheidenenBesitzung leben konnte. Meine Mutter, die ihn ganzgegen den Wunsch ihrer Familie geheiratet hatte, war

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die Tochter eines Grundbesitzers und eine Frau mitCharakter. Alle Versuche, ihr vor Augen zu führen, dasssie auf ihre Kutsche, ihr Hausmädchen und alle An-nehmlichkeiten des Wohlstands, die ein nahezu unver-zichtbarer Teil ihres Lebens waren, würde verzichtenmüssen, sobald sie die Frau eines armen Pfarrers wür-de, waren vergeblich. Eine Kutsche und ein Hausmäd-chen waren angenehme Erleichterungen des täglichenLebens, aber gottseidank verfügte sie über Füße, die sietrugen, und Hände, mit denen sie alles Nötige selbsterledigen konnte. Ein elegantes Anwesen auf weitläufi-gem Grund und Boden war durchaus nicht zu verach-ten, aber sie wollte lieber mit Richard Grey in einerHütte leben als mit irgendeinem anderen Mann aufder Welt in einem Palast.

Da ihr Vater einsehen musste, dass Argumente nichtsnützten, erklärte er den beiden Liebenden schließlich,sie könnten heiraten, wenn es ihnen gefiele, doch wür-de seine Tochter ihr ganzes Vermögen damit verspielen.Er hatte erwartet, dass dies die Begeisterung der beidendämpfen würde, doch er irrte sich. Mein Vater kannteden tatsächlichen Wert meiner Mutter nur zu gut, alsdass er hätte übersehen können, dass sie selbst ein nichtzu verachtendes Vermögen darstellte. Sofern sie alsobereit war, sein bescheidenes Heim zu verschönern,war er entschlossen, sie unter allen Umständen zurFrau zu nehmen. Sie wiederum wollte lieber mit ihreneigenen Händen arbeiten, als von dem Mann, den sieliebte, getrennt zu sein, dem Freude zu bereiten sieglücklich machen würde und mit dem sie ohnehin be-

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Charlotte Brontë

ShirleyRoman

Aus dem Englischen von Johannes Reiher und Horst Wolf

Anaconda

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Titel der englischen Originalausgabe: Shirley (London 1849).

Der vorliegende Band ist ein unveränderter, redigitalisierter Nachdruckder Ausgabe Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1967. Gustav Kiepenheuer

ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin.Nicht übernommen wurde das Nachwort von Hans Malberg.

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1967, 2008 (für die o. g. Ausgabe)

© dieser Ausgabe 2012 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Robert Home (1752–1834), »Portrait of a Lady«,Private Collection / Photo © Philip Mould Ltd, London / bridgemanart.com

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.dePrinted in Czech Republic 2012

ISBN [email protected]

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten

sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieser Band ist Teil der SonderausgabeAnne, Charlotte, Emily Brontë: Die großen Romane. Agnes Grey.Jane Eyre. Shirley. Villette. Sturmhöhe (fünf Bände in Kassette)

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Emily Brontë

Sturmhöhe

Roman

Aus dem Englischenvon Gisela Etzel

Anaconda

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Titel der englischen Originalausgabe: Wuthering Heights(London 1847). Die Übersetzung wurde anhand des Originalsvon Ilka Saal und Gerhard Wolf durchgesehen, ergänzt undbehutsam modernisiert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographi-sche Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieser Band ist Teil der SonderausgabeAnne, Charlotte, Emily Brontë: Die großen Romane.Agnes Grey. Jane Eyre. Shirley. Villette. Sturmhöhe(fünf Bände in Kassette)

Lizenzausgabe mit freundlicher GenehmigungCopyright © Aufbau Media GmbH, Berlin 2005© dieser Ausgabe 2012 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: John William Waterhouse (1849–1917),»Boreas«, Private Collection / Photo © Christie’s Images /bridgemanart.comUmschlaggestaltung: www.katjaholst.dePrinted in Czech Republic 2012ISBN [email protected]

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I.

1801. – Ich bin soeben von einem Besuch bei meinem Haus-wirt zurückgekehrt – dem einsiedlerischen Nachbarn, mitdem ich mich nun abgeben muß. Wirklich, dies ist einprächtiges Land! In ganz England, glaube ich, hätte ichkeine andere Gegend gefunden, die so völlig dem Getriebeder Gesellschaft entrückt ist. Für den Misanthropen einwahres Eden! Und Mr. Heathcliff und ich sind so recht einpassendes Paar, diese Einsamkeit miteinander zu teilen. Einkapitaler Kerl! Wie argwöhnisch er die schwarzen Augenzusammenkniff, als ich bei ihm vorritt, und wie mißtrau-isch er die Hände tiefer in die Jackentaschen bohrte, als ichmeinen Namen nannte! Das gewann ihm gleich mein Herz,wovon er freilich nichts ahnen mochte.

»Mr. Heathcliff?« fragte ich.Er nickte.»Mr. Lockwood, Ihr neuer Mieter«, stellte ich mich

vor. »Ich gebe mir die Ehre, mein Herr, Sie sobald als mög-lich nach meiner Ankunft aufzusuchen, um die Hoffnungauszusprechen, daß ich Sie in meinem beharrlichen Bemü-hen, Thrushcross Grange als Wohnsitz zu erlangen, nichtetwa belästigt habe; ich hörte gestern, Sie hätten daran ge-dacht –«

»Thrushcross Grange gehört mir«, unterbrach er michausweichend. »Würde niemandem erlauben, mich zu be-lästigen, soweit ich es verhindern könnte –. Treten Sie ein!«

Das »treten Sie ein« war mit zusammengepreßten Zäh-nen gemurmelt worden und drückte den Gedanken aus:

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»Geh zum Teufel!« Selbst das Tor, an dem er lehnte, ließseinen Worten keine einladende Bewegung folgen. Unddieser Umstand, glaube ich, veranlaßte mich, der Auffor-derung Folge zu leisten. Ich fühlte Interesse für einenMann, der noch unzugänglicher zu sein schien, als ichselbst es war.

Als er sah, daß die Brust meines Pferdes sich gegen dasTor preßte, zog er eine Hand hervor und öffnete. Dannging er mürrisch vor mir die Allee hinauf. Als wir den Hofbetraten, rief er: »Josef, nimm Mr. Lockwoods Pferd undbring Wein herauf«.

Aha, da haben wir anscheinend das gesamte Dienst-personal, schloß ich aus diesem bündigen Auftrag. KeinWunder, daß zwischen den Pflastersteinen Gras wächstund daß nur das liebe Vieh für das Beschneiden der Hek-ken sorgt.

Josef war ein ältlicher, nein, ein alter Mann; sehr altvielleicht, obschon stark und sehnig. »Gott helf uns!«murmelte er leise und sichtlich mißvergnügt, als er mirvom Pferd half. Dabei sah er mich mit so sauerer Mienean, daß ich mitleidig vermutete, er bedürfe, um sein Mit-tagessen zu verdauen, tatsächlich göttlicher Hilfe und seinfrommer Ausruf habe zu meiner unerwarteten Ankunftkeine Beziehung.

Wuthering Heights, Sturmheidhof, heißt Mr. Heath-cliffs Wohnort; der Name soll den atmosphärischen Tu-mult bezeichnen, dem dieser Ort bei stürmischem Wetterausgesetzt ist. Einen reinen, stärkenden Luftzug müssensie dort in der Tat haben. Man kann sich die Gewalt desum die Ecken des Gutshofs blasenden Nordwinds vorstel-len, wenn man die schiefe, geduckte Haltung der paar ver-kümmerten Föhren, die hinter dem Haus stehen, betrach-tet und die Reihe dürrer Dornbüsche, die alle ihre Gliedernach einer Richtung drehen, als erbettelten sie Almosen

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Charlotte Brontë

VilletteRoman

Aus dem Englischen von Christiane Agricola

Anaconda

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Villette erschien zuerst 1853 in drei Bänden bei Smith & Elder in London unter dem Pseudonym Currer Bell.

Die erste Übersetzung von Christiane Agricola erschien 1971 im Paul List Verlag, Leipzig; die vorliegende, überarbeitete Version

erschien erstmal 1992 im Insel Taschenbuch.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten

sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieser Band ist Teil der SonderausgabeAnne, Charlotte, Emily Brontë: Die großen Romane.

Agnes Grey. Jane Eyre. Shirley. Villette. Sturmhöhe(fünf Bände in Kassette)

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1992,

2008 (für Übersetzung und Anmerkungen)© dieser Ausgabe 2012 Anaconda Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Ercole Cartotto (1889–1946), »Easter Morning«,

Private Collection/Cooley Gallery, Old Lyme, Connecticut, USA/bridgemanart.com

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: Roland Poferl Print-Design, Köln

Printed in Czech Republic 2012ISBN [email protected]

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inhalt

1. bretton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92. paulina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193. die spielgefährten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284. miss marchmont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525. ein neues blatt wird aufgeschlagen . . . . . . 646. london . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717. villette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888. madame beck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029. isidore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

10. doktor john . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14011. die pförtnerloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15112. das schmuckkästchen . . . . . . . . . . . . . . . . 16013. ein unzeitiges niesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 17614. das fest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19115. die grossen ferien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23416. die alte zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25217. la terrasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27418. wir zanken uns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28819. die kleopatra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29920. das konzert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31621. der rückschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34822. der brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37323. vasthi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38824. monsieur de bassompierre . . . . . . . . . . . . . 40825. die kleine gräfin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42926. ein begräbnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44927. das hotel crécy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47128. die uhrkette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49629. monsieurs festtag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51330. monsieur paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534

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31. die dryade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55032. der erste brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56633. monsieur paul hält sein versprechen . . . . . 57934. malevola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59135. brüderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60936. der apfel der zwietracht . . . . . . . . . . . . . 62837. sonnenschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64938. not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67239. alte und neue bekannte . . . . . . . . . . . . . . . 70840. das glückliche paar . . . . . . . . . . . . . . . . . 72541. faubourg clothilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73442. ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756

anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763

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Villette

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1. bretton

Meine Patin lebte in einem hübschen Haus in der sauberenund altertümlichen Stadt Bretton. Hier war die Familie ihresMannes seit Generationen ansässig gewesen; sie trugen tat-sächlich den Namen ihres Geburtsortes – die Brettons ausBretton. Ich weiß nicht, ob da nur ein Zufall mitspielte oderob irgendein ferner Vorfahr eine Persönlichkeit von genü-gend Bedeutung gewesen war, um seiner Umgebung seinenNamen zu hinterlassen.

In meiner Mädchenzeit reiste ich etwa zweimal im Jahrenach Bretton. Ich liebte die Besuche dort sehr; das Haus undseine Bewohner entsprachen mir ganz und gar. Die großenfriedvollen Zimmer, die schön angeordneten Möbel und diehellen großen Fenster, der Balkon davor mit dem Blick auf ei-ne hübsche altmodische Straße, in der immerfort Sonntag undFeiertag zu sein schien, so still war ihre Atmosphäre, so sauberihr Pflaster – das alles behagte mir sehr.

Gewöhnlich wird von einem Einzelkind in einem Erwach-senenhaushalt ziemlich viel Aufhebens gemacht; und Mrs.Bretton nahm auf ruhige Art recht viel Notiz von mir. Sie warschon Witwe, als ich sie kennenlernte; ihr Mann, ein Arzt,war gestorben, da sie noch eine junge und hübsche Frau war,und hatte sie mit einem Sohn zurückgelassen.

So wie ich sie in der Erinnerung habe, war sie nicht mehrjung, doch immer noch hübsch, groß und wohlgebaut, undobwohl sie für eine Engländerin dunkel war, leuchtete auf ih-ren bräunlichen Wangen die klare Farbe der Gesundheit, undderen Lebendigkeit strahlte aus einem Paar schöner und hei-terer schwarzer Augen. Die Leute meinten, es sei jammer-schade, daß sie ihre Farben nicht ihrem Sohn mitgegebenhatte. Dessen Augen waren blau, freilich sogar in seiner Jun-

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genszeit funkelnd scharf, und seine langen Haare besaßen ei-nen Ton, den Freunde lieber nicht genau definierten, außerwenn die Sonne darauf schien, dann nannten sie sie golden.Aber die Züge seiner Mutter hatte er geerbt, auch ihre präch-tigen Zähne und ihre Statur (oder doch die Verheißung ihrerStatur, denn er war noch nicht ganz erwachsen) und, wasnoch besser war, ihre makellose Gesundheit und ihre spann-kräftigen, ausdauernden Lebensgeister. Wer die besitzt, istbesser dran als mit einem Vermögen.

Im Herbst des Jahres … hielt ich mich in Bretton auf. Mei-ne Patin war persönlich bei den Verwandten erschienen, beidenen ich damals für die Dauer untergebracht war, und hattemich angefordert. Ich glaube, sie sah damals die Ereignissedeutlich voraus, deren bloße Schatten ich noch kaum bewußtempfand. Doch schon die blasse Ahnung genügte, mir unbe-stimmte Traurigkeit einzuflößen; ich war glücklich, Ort undGesellschaft zu wechseln.

Bei meiner Patin floß mir die Zeit immer sanft dahin.Nicht mit ungestümer Geschwindigkeit, sondern milde, wieein voller Strom durch eine Ebene. Meine Besuche bei ihr er-innern an das Verweilen Christians und Hopefuls an einemgewissen angenehmen Strom »mit grünen Bäumen an beidenUfern und Wiesen, lilienverschönt das ganze Jahr hindurch«.Es gab weder den Zauber der Abwechslung noch die Erre-gung der Ereignisse; aber mir war der Frieden so lieb, und ichverlangte so wenig nach Anreiz, daß ich es fast als Störungempfand, als er sich einstellte. Ich hätte wünschen mögen, ersei weiterhin ferngeblieben.

Eines Tages traf ein Brief ein, dessen Inhalt Mrs. Brettonoffensichtlich Überraschung und einigen Kummer bereitete.Zuerst vermutete ich, er sei von daheim gekommen, und zit-terte in der Erwartung ich weiß nicht welcher katastrophalen

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