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Judentum - Christentum - Islam; was verbindet sie, was unterscheidet sie? Drei Vorträge Herausgeber: Der Rektor der Universität Passau, unterstützt vom Neuburger Gesprächskreis

Christentum - Islam; was verbindet sie, was unterscheidet sie ......sind erlaubt, denn diese richtigen Lehren aus der unfriedlichen Vergangenheit verbauen möglicherweise die Zukunft

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Judentum - Christentum - Islam;was verbindet sie, was unterscheidet sie?

Drei Vorträge

Herausgeber:Der Rektor der Universität Passau,unterstützt vom Neuburger Gesprächskreis

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Judentum - Christentum - Islam;was verbindet sie, was unterscheidet sie?

Drei Vorträge

© 2003Herausgeber: Der Rektor der Universität Passau,unterstützt vom Neuburger GesprächskreisRedaktion: Patricia Mindl, Universität PassauFoto: Karin Hölzlwimmer, PassauDruck: Druckerei Ostler, Passau

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Inhaltsverzeichnis

Seite

Vorwort 7

Vorträge:

Professor Dr. Michael Wolffsohn

Geschichte als Falle. Deutschland und die jüdische Welt 11

Professor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth Felcht

Judentum - Christentum - Islam;was verbindet sie, was unterscheidet sie?Erörterung des Themas aus der Perspektive einesgobal agierenden Chemieunternehmens 21

Professorin Dr. Martha Zechmeister-Machhart

Dialog zwischen Christen und Muslimen.‚Multireligiöse Schummelei oder Beitrag zu einerhumaneren Welt?‘ 29

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Professor Dr. Walter SchweitzerRektor der Universität Passau

Vorwort

Am 12. und 13. Juli 2002 fand das 21. Jahressymposion des Neuburger Ge-sprächskreises Wissenschaft und Praxis an der Universität Passau e. V. unter dem Thema „Judentum – Christentum – Islam; was verbindet sie, was unterscheidet sie?“ an der Universität Passau statt.Zu diesem Thema referierten Professor Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang Frühwald, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung („Die Familie der monotheistischen Religionen. Zum Toleranz-Begriff Gotthold Ephraim Lessings“), Professor Dr. Michael Wolffsohn, Universitätspro-fessor für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der internatio-nalen Beziehungen an der Universität der Bundeswehr München („Geschichte als Falle. Deutschland und die jüdische Welt“), Professor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth Felcht, Vorsitzender des Vorstands der Degussa AG, Düsseldorf („Erörterung des Themas aus der Perspektive eines global agierenden Chemieunternehmens“), Professorin Dr. Martha Zechmeister-Machhart, Professur für Fundamentaltheo-logie an der Universität Passau („Dialog zwischen Christen und Muslimen. ‚Mul-tireligiöse Schummelei’ oder Beitrag zu einer humaneren Welt?“), Klaus Werndl, Botschafter a. D., Stephanskirchen („Die Thematik aus politisch-diplomatischer Sicht“) und Professor Dr. Bassam Tibi, Leiter der Abteilung für Internationale Beziehungen am Seminar für Politikwissenschaft an der Georg-August-Univer-sität zu Göttingen („Vom religiösen Anspruch auf das Absolute zum religiösen Pluralismus“).Die Diskussionsleitung am Freitag und Samstag einschließlich der Podiumsdis-kussion lag in den Händen von Sigmund Gottlieb, Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens.Aus unterschiedlichen Gründen konnte uns jedoch leider nur ein Teil der Refe-renten ihren Vortrag zur Veröffentlichung überlassen. Es können daher nur drei Vorträge in diesem Heft publiziert werden, für deren Überlassung ich mich bei den Autoren herzlich bedanken möchte.

Passau, im Juni 2003 Rektor Professor Dr. Walter Schweitzer

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Ein Teil der Referenten der Tagung (v. l.): Professor Dr. Michael Wolffsohn, Pro-fessor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth Felcht, Professor Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang Frühwald, Botschafter a. D. Klaus Werndl mit Chefredakteur Sigmund Gottlieb und Rektor Professor Dr. Walter Schweitzer. Es fehlen Professorin Dr. Martha Zechmeister-Machhart und Professor Dr. Bassam Tibi.

Während der Podiumsdiskussion am 1. Tag der Veranstaltung (v. l.): Professor Wolffsohn, Professor Tibi, Chefredakteur Gottlieb und Professor Frühwald ...

und am 2. Tag (v. l.): Professorin Zechmeister-Machhart, Chefredakteur Gottlieb, Professor Tibi und Botschafter a. D. Werndl.

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Professor Dr. Michael Wolffsohn

Professor Dr. Michael WolffsohnUniversitätsprofessor für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksich-tigung der internationalen Beziehungen an der Universität der Bundeswehr München

Geschichte als Falle. Deutschland und die jüdische Welt

Deutschland und die jüdische Welt haben die jeweils richtigen „Lehren aus der Ge-schichte“ gezogen. Gerade deshalb kommen sie nicht zueinander. Sie entwickeln sich voneinander weg. Sie werden möglicherweise sogar gegeneinander geraten, weil sie in die Falle der Geschichte, genauer: der Erinnerung an Geschichte, an die nationalsozialistische Zeitgeschichte, an den Holocaust, getappt sind. Das ist meine These. Auf den ersten Blick scheint der Brückenschlag zwischen Deutschland und der jüdi-schen Welt, also Israel und der jüdischen Diaspora, gelungen.Intensiver denn je sind die deutsch-israelischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und nicht zuletzt auf militärischem Gebiet. Nach den USA ist Deutschland Israels wichtigster - und, von gewöhnlichen Krächen oder Krisen abge-sehen, zuverlässigster - Partner. Diese gute Tradition der Bonner Republik wird auf absehbare Zeit auch jede Koalition der Berliner Republik fortsetzen.Zu den Diasporajuden scheint sich Deutschlands Verhältnis ebenfalls entkrampft zu haben. Wer könnte noch die Ehrungen aufzählen, die bundesdeutsche Politiker fast aller Parteien von diasporajüdischen Organisationen erhielten und erhalten? Jüdische Delegationen der verschiedensten Staaten bereisen Deutschland intensiver und freudiger denn je, und das politisch so wichtige American Jewish Committee hat im Februar 1998 in Berlin sogar ein Büro eröffnet. Nur wenige Prominente dieses Landes blieben der Einweihungsfeier fern.Der erste Blick ermutigt. Wer hinter die Kulissen schaut, sieht die „Zeichen an der Wand“. Deutschland und der Jüdische StaatWeniger ungetrübt als auf der Parteien- und Regierungsebene ist das Verhältnis der deutschen und israelischen Öffentlichkeit zueinander. Die historisch-psychologische „Chemie“ zwischen beiden Bevölkerungen stimmt nicht. „Israel? Nein Danke!“ Das ist, trotz aller amtlichen Jubel- und Grußbotschaften zum fünfzigsten Jubiläum des Jüdischen Staates, die Einstellung der meisten Bundesbür-ger. Wer es nicht glaubt, prüfe die Umfragen. Die Daten, die ich in der 1996 erschie-

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nenen fünften Aufl age meines Buches „Israel: Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft“ ausführlich präsentiere und interpretiere, zeigen seit 1981 ständig, dass Israel zu den in Deutschland unbeliebtesten Staaten zählt und die Israelis die ungeliebten Juden sind.1 Dass ich 1998 mein neuestes Israelbuch „Die ungeliebten Juden“ nannte, ist deshalb keine Provokation, sondern eine sachliche Feststellung.2

Im Mai 1981 hatte Israels Ministerpräsident Menachem Begin Bundeskanzler Hel-mut Schmidt sowie „die Deutschen“ insgesamt für den Holocaust verantwortlich gemacht. Begins Wiederentdeckung der These deutscher Kollektivschuld war nicht unbedingt als Liebeserklärung gedacht, was die bundesdeutsche Öffentlichkeit re-gistrierte und mit Liebesentzug honorierte. Diese innere Entfernung der deutschen Öffentlichkeit zu Israel blieb, von wenigen zyklischen Schwankungen abgesehen, dauerhaft.

Beweist die Israel-Distanz der Deutschen „Antisemitismus“? Mitnichten. Denn ebenso deut lich dokumentieren die Befragungen der Bundesbürger, dass der Antisemitis mus in Deutschland niedriger als in den meisten westlichen Staaten ist, von den osteuropäischen ganz zu schweigen.

Israel-Distanz oder Israel-Kritik ist also keineswegs automatisch „Antisemitismus“, zumal manche Deutsche Judenliebe geradezu hingebungsvoll zelebrieren. Für diese Landsleute gilt der Satz: Ohne Juden wissen viele Gute Deutsche nicht, was sie den-ken dürfen sollen. Sie haben eben die „Lehren aus der Geschichte gezogen“.

Weshalb stimmt trotzdem die politische Chemie zwischen Deutschen und Israelis nicht? Wegen und nicht trotz der „Lehren aus der Geschichte“.

Deutsche und Israelis haben aus derselben Geschichte, dem Holocaust, ganz und gar unterschiedliche „Lehren“ gezogen. Jede ist an sich richtig, aber für den anderen nicht nachvollziehbar - wegen der geschichtlichen Lehren. Vier Beispiele verdeutlichen die geschichtlich bedingte Entfremdung zwischen Deutschen und Israelis.

- Das erste Beispiel: Die Mehrheit der Israelis hat zu Nation und Nationalstaat ein völlig ungebrochenes Verhält nis. Nationalismus ist in Israel eine Selbstverständ-lichkeit, in Deutschland vielen, nein, den meisten eine Unerträglichkeit.

Gerade weil die jüdische Nation seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jah-re 70 unserer Zeitrechnung keinen Staat mehr hatte, war sie knapp zweitausend Jahre sozusagen vogelfrei, wurde sie verfolgt, verfemt und vernichtet; besonders zwischen 1933 und 1945, in der Epoche des Holocaust. Dass die meisten Israelis diese „Lehre aus der Geschichte“ gezogen haben, kann und darf nicht überra-schen. So wenig wie die Tatsache, dass die meisten Deutschen heute schon beim Begriff „Nation“ historische Gänsehaut bekommen. Sie erinnern sich genau, wie schnell und heftig aus der deutschen Nation die deutsche Aggression wurde, die

unter Hitler schließlich zur „Deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) führ-te, die freilich nicht nur auf Deutschland und Deutsche begrenzt blieb.Beim Nachdenken über die Geschichte ihrer jeweiligen Nation haben Israelis und Deutsche die für sie richtigen Schlüsse gezogen. Zueinander fi nden können sie nicht - wegen der Geschichte. Beide haben jene Vergangenheit bewältigt, wobei die Bewältigung sie heute ebenso trennt wie das schreckliche Gestern.

- Das zweite Beispiel: Religion ist in Israel mit Politik äußerst eng verfl ochten. In Deutschland gehört die Trennung von Kirche und Staat zu den eisernen Grund-sätzen des Gemeinwesens. Selbst in der bundesdeutschen Frühzeit war die Bindung und Verbindung zwi-schen Religion (sprich: Katholizismus) und Politik (sprich: CDU/CSU) nie so fest wie in Israel. Mehr noch: In Israel wurde der religiös-politische Komplex immer mächtiger. So mächtig, dass der ehemalige Oberbürgermeister von Tel-Aviv, Roni Milo, im Mai 1998 davor warnte, Israel drohe das jüdische Gegenstück zum isla-mistischen Iran und Tel-Aviv das jüdische Pendant zu Teheran zu werden. Die Macht des religiös-politischen Komplexes hängt in Israel nicht zuletzt damit zusammen, dass sich dieses Gemeinwesen als „jüdischer Staat“ versteht. Und das bedeutet: Ganz ohne jüdische Religion gibt es weder ein Judentum noch einen jüdischen Staat. Das wiederum erklärt die strukturelle Schwächung des laizisti-schen Lagers in Israel, dessen 1999 vom Volk direkt gewählter Ministerpräsident Barak schon ein Jahr später an eben dieser Macht scheiterte.Solange und weil sich Israel als „jüdischer Staat“ versteht, wird die Abgrenzung von Nichtjuden betont; auch von den Nichtjuden im eigenen Staat, also den Paläs-tinensern, die zwar gleichberechtigt, doch normativ Bürger zweiter Klasse sind. Dass Israel der Staat von Juden, für Juden und durch Juden sein soll, mag im Ausland gefallen oder nicht. Verstehen kann man es nur historisch.Außen- und regionalpolitisch ist die betonte Abgrenzung zu den Nichtjuden eben-falls folgenreich: Sie stärkt tendenziell und wiederum strukturell die israelischen „Hardliner“, die „Falken“, im Konfl ikt mit den Palästinensern im Besonderen und den Arabern im Allgemeinen. Im außenpolitisch tendenziell und strukturell eher taubenhaft-sanften Deutsch-land sind gerade diese israelischen „Falken“ höchst unbeliebt. Dass „Falken“, ob jüdisch-israelisch oder nicht, in Deutschland eher unpopulär sind, kann und muss man auch historisch erklären.Wer wollte „die Deutschen“ anklagen, weil und dass sie inzwischen eher tauben-haft-sanft sind? Kaum jemand. Zurecht. Wegen der Geschichte. Wer will es umgekehrt den jüdischen Israelis vorwerfen, dass sie nach zweitau-send Jahren nichtfriedlicher Koexistenz mit nichtjüdischen Nachbarn nur unter

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Juden bleiben wollen? So gesehen, haben die israelisch-jüdischen Falken die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen.

Sind diese historisch richtigen Lehren aber auch die politisch richtigen? Zweifel sind erlaubt, denn diese richtigen Lehren aus der unfriedlichen Vergangenheit verbauen möglicherweise die Zukunft für ein friedliches und heute mögliches Nebeneinander von Juden und Nichtjuden in der Nahostregion. Das genau erhof-fen sich die meisten Deutschen, die - wegen der Geschichte - so glücklich über die Sicherung des Friedens in ihrer europäischen Region sind.

- Das dritte Beispiel: Die Bindung der Israelis zum „Land Israel“, zum Boden ih-res Nationalstaates, ist tief verwurzelt. Sie war - zunächst - defensiv und ebenfalls Reaktion auf die 2000-jährige Trennung von Volk und Land.

In Deutschland denken aufgeklärte Menschen bei der Verbindung von Volk und Land an die „Blut-und-Boden“-Ideologie der Nationalso zia listen. Deutschland als „der Deutschen Land“, das klingt in deutschen Ohren wieder wie eine histori-sche Ungeheuerlichkeit. „Eretz Israel“, das Land Israel und das Land Israel dem Volk Israel - das ist in Israel, auch unter politischen „Tauben“, eine Selbstver-ständlichkeit.

Ist Geschichte, ist Erinnerung also auch hier eine politische Falle? Darüber kann man streiten. Nicht darüber, dass die Geschichte Deutsche und Israelis politisch mehr denn je trennt - wegen und nicht trotz der Erinnerung.

- Das vierte Beispiel: Deutsche und Israelis haben völlig entgegengesetzte Einstel-lungen zu politischer Gewalt und zum Krieg als Mittel der Politik.

„Die Deutschen“, das „Volk der Täter“, haben Gewalt und Krieg abgeschworen. „Nie wieder Täter!“ sagen sie „wegen der Vergangenheit“. Ebenfalls „wegen der Vergangenheit“ halten „die Israelis“, das „Volk der Opfer“, Gewalt sowie Krieg durchaus für legitim. Sie sagen: „Nie wieder Opfer!“ auch „wegen der Vergan-genheit“.

In Israel schlägt man lieber einmal zu viel, zu früh und zu heftig als gar nicht zu - wegen der Geschichte. Als Falle der Geschichte hat es die Öffentlichkeit Israels bislang nicht betrachtet. Das ist ihr gutes Recht, und es ist historisch verständlich. Wurde dadurch aber Israels Politik unbeabsichtigt, doch geradezu unvermeidlich nicht strukturell friedensunfähig? Erwies sich Geschichte nicht als Geschichts-falle? Wer im palästinensisch-arabischen Mitbürger und Nachbarn, historisch verständlich, nicht nur den Gegner, sondern den möglichen Feind, gar Todfeind, einen „neuen Hitler“, und in jedem Waffengang oder Terrorakt, historisch eben-falls verständlich, einen neuen „Holocaust“ sieht, übersieht auch Friedenschan-cen; übersieht, dass die Geschichte nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich weitergegangen und anders, trotz allem sogar besser geworden ist.

Genau diese Frage haben sich Jitzchak Rabin und Schimon Peres gestellt. Sie erkannten, dass Geschichte für Israel zu einer politischen Falle geworden war. Deshalb fanden sie den Mut zu einer neuen Politik. Ihr Ziel: Der Ausbruch aus der Geschichtsfalle. Die neuen Antworten, die Rabin und Peres und ihr Israel auf die Fragen der jüdisch-israelischen Geschichte gaben, ähnelten erstmals ziemlich genau den Antworten, die das neue Deutschland der Bundesrepublik auf die Fra-gen der deutschen Geschichte gab und gibt.

Es war deshalb folgerichtig, dass gerade diese beiden Politiker auch zur Bundes-republik Deutschland ein pragmatisches Verhältnis suchten und fanden - ohne jemals Geschichte, Zeitgeschichte und Erinnerung verdrängen zu wollen. Sie hoben die Ausschließlichkeit von Holocaust-Geschichte und Erinnerung auf und ergänzten sie durch partnerschaftliche Politik zu Palästinensern, anderen Arabern, Deutschen und Nichtjuden überhaupt. Im Rahmen seiner visionären und die Geschichte entfl echtenden (nicht verdrängenden!) Politik hatte Peres als Außenminister und Ministerpräsident in den Jahren 1995/96 sogar daran gedacht, den seinerzeit greifbaren Frieden mit Syrien durch die Stationierung deutscher Soldaten auf den Golanhöhen abzusichern. Mit Hilfe der US-Streitkräfte sowie der Bundeswehr sollte Israel aus der friedens- und geschichtspolitischen Falle befreit werden.

Um gute Kontakte zu Deutschland bemühte sich auch Ex-Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Doch anders als seine beiden Vorgänger Rabin und Peres, haben sich Netanjahu, seine Koalition und seine Wähler grundsätzlich weit mehr als Politiker und Anhänger der Arbeitspartei und der Linksliberalen im Netz der Geschichte verfangen. Das gilt für den Begriff der Nation, das Gewicht der Re-ligion, die Verbindung von Volk und Land sowie die Anwendung von Gewalt in der Politik. Es gilt für die Wahrnehmung einer grundsätzlich feindlichen und zu einem „neuen Holocaust“ bereiten Umwelt, die Juden als Juden überall und immer verfolgt und in der Arafat Hitler und „die Palästinenser“ „die Deutschen“ als „Todfeinde“ ablösten. Es überrascht nicht, dass in der Regierungszeit des na-tionalistisch-religiösen Lagers der Holocaust auch das Geschichtsbild der Israelis seit 1977 immer nachhaltiger prägte.3

Rabin, Peres und Barak repräsentierten - auch in ihrem einstweiligen Scheitern - ein Neues Israel; immerhin stellt es knapp fünfzig Prozent der Wähler. Dieses Neue Israel ist nicht von der Geschichte losgelöst, doch nicht an ihr allein fi xiert. Das Israel des „nationalistisch-religiösen“ steckt in der Geschichtsfalle. Nur mit dem Neuen Israel wird es für das Neue Deutschland, die Bundesrepublik, lang-fristig gute Beziehungen geben. Das Israel Begins, Schamirs, Netanjahus und Scharons gefährdet sowohl die Möglichkeit nahöstlicher Friedenspolitik als auch eine entspannte Europa- und Deutschlandpolitik.

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Deutsche und Israelis haben diese Vergangenheit „bewältigt“. Gerade deshalb sind sie heute so weit voneinander entfernt.

Deutschland und die jüdische DiasporaSchauen wir auf Deutschlands Verhältnis zur Diaspora, den außerhalb Israels leben-den Juden. Die nichtreligiösen Diasporajuden (und das sind die meisten) führen ein jüdisches Dasein ohne jüdisches Sein, also eine tragisch absurde Existenz. Es sind Juden ohne Judentum. Sie möchten gerne Juden sein und sind deshalb Möchtegern-Juden. Inhaltlich ausfüllen können sie es nicht, weil sie als moderne Menschen nicht glauben können. Ohne glauben zu können, sind sie nicht religiös und als areligiöse Möchtegern-Juden sind sie Juden ohne Judentum. Traditionell stand das Judentum auf zwei Beinen: der Religion und der rund 4000-jährigen Geschichte. Das religiöse Standbein haben die meisten Juden (wie Nichtju-den) amputiert. Höchst ens zehn Prozent aller Diasporajuden sind heute „religiös“. In Israel sind es dreißig bis vierzig Prozent. Das wissen wir aus Umfragen.4

Im Jüdischen Staat tobt der Religionspolitik wegen eine Art Kulturkampf. Doch er ändert nichts daran, dass auch die nichtreligiösen Israelis Bürger eines jüdisch geprägten und prägenden Staates sind. Ihre Identität bleibt, selbst in der anti-ortho-doxen Verneinung der Religiosität, jüdisch. Was macht nichtreligiöse Diasporajuden zu Juden? Nichts. Die jüdische Geschichte, könnte man entgegnen. Im Prinzip ja, doch auch in ihrem Verhältnis zur Geschichte sind Diasporajuden nicht anders als Nichtjuden: Die meisten kennen bestenfalls die jüngste Geschichte, die Zeitgeschichte. An ihr orientieren sie sich, hier sind sie „be-troffen“. Dass in der jüdischen Zeitgeschichte der Holocaust sachlich und seelisch dominiert, ist eine natürliche Reaktion. Die Refl exion darüber ist natürlich. Sie ist auch not-wendig. Die fast vollständige Exklusivität der Zeitgeschichte presst jedoch viertausend Jahre jüdischer Geschichte auf die zwölf schrecklichsten zusammen: auf die NS-Zeit von 1933 bis 1945. Nach dem ersten, religiösen Standbein wurde also auch das zweite Standbein jüdischen Seins - das historische - amputiert. Wieder ist ein Gegenargument denkbar: Das zweite Bein sei durch die Gründung und Geschichte des Jüdischen Staates, Israels also, verlängert worden. Die zeit-geschichtliche Holocaust-Orientierung und Holocaustfi xierung werden durch den „Israelismus“ der Diasporajuden ergänzt. Das Argument stößt ins Leere, denn Israelismus außerhalb Israels ist eine Absurdität. Diasporajuden sind natürlich Bürger ihres jeweiligen Staates, nicht Israels. Das Interesse der Diasporajuden an Israel hat außerdem dramatisch abgenommen. Eine Studie ergab Anfang der 90er Jahre, dass nur 43 Prozent der britischen Juden sich Israel „sehr eng verbunden“ fühlen. In den USA sind es 67 Prozent.5

Aufschlussreicher als Meinungen sind Handlungen: Messbar ist hier die größer gewordene Distanz zu Israel auch an den zurückgehenden Spenden, besonders der US-Juden. In den 60er Jahren überwiesen sie siebzig Prozent aller gesammelten Gelder nach Israel, sie behielten dreißig Prozent. Heute ist es genau umgekehrt.6 Nur 12 Prozent ihrer Sammelgelder überwiesen Mitte der 90er Jahre britische Juden nach Israel.7 Wieder ein Gegenargument: Diasporajüdische Einrichtungen sind bekanntlich seit Jahren Zielscheibe des arabisch-islamischen Terrorismus und damit ein Ne-benschauplatz des Nahostkonfl iktes. Diasporajuden und Israel seien ineinander verzahnt. Gewiss, doch wieder prägt allein die jüdische Situation das jüdische Sein der Diasporajuden - und wieder ist es eine negative Fremdbestimmung: durch die Feinde Israels.Israelismus, die Israelorientierung der Diasporajuden, hat auch aus nahostpolitischen Gründen abgenommen: Die innerisraelische Polarisierung über die Palästinenser-politik spaltet seit 1967 (Eroberungen im Sechstagekrieg) und noch mehr seit 1977 (Amtsantritt Menachem Begins) auch die jüdische Diaspora. Ministerpräsident Ben-jamin Netanjahu setzte seit 1996 jene Tradition Begins eifrigst fort. Baraks Politik spaltete 1999/2000 die Diaspora in die umgekehrte Richtung. Die nichtreligiösen Diasporajuden haben keine eigenständigen jüdischen Inhalte mehr. Sie sind negativ fremdbestimmt. Die politischen Aktionismen des deutsch-jüdischen „Zentralrats“, „Jüdischen Weltkongresses“, antideutsche Anzeigen des „American Jewish Committee“ in der „New York Times“ am 8. Mai 1998 oder auch Klagen gegen die „Allianz“-Versicherung, die Deutsche oder Dresdner Bank und andere deutsche Unternehmen waren und sind kein Ersatz für fehlende Inhalte. Sie überdecken nur das Nichts; selbst da, wo sie inhaltlich gerechtfertigt sind. Das Ent-schädigungsproblem jener Firmen ist ohnehin weitgehend gelöst und verschwindet von der Tagesordnung, das diasporajüdische Nichts bleibt. Früher war Antisemitismus die tödliche Gefahr für uns Juden, heute scheint Tole-ranz die existentielle, nichtphysische Gefahr für das Judentum. Früher haben An-tisemitismus und Verfolgung die Abkehr der Juden vom Judentum verhindert und die Umkehr zu ihm gefördert. Gewiss, der Antisemitismus ist nicht verschwunden, aber anders als einst, ist er eine Minderheitsideologie in der nichtjüdischen Umwelt. Der Antisemitismus führte in Tod und Jenseits, die Toleranz ins jüdische Nichts im Diesseits. Was Hitlers „Endlösung“ nicht schaffte, vollbringt die Toleranz. Sie wirkt als sanfte „Endlösung“ der Judenfrage in der Diaspora. Toleranz aber wollen wir, brauchen wir. Folglich benötigen wir eine neue Überle-bensstrategie.Israel, die Religion oder das Nichts. Das ist die Kurzformel jüdischen Seins heute. In „Meine Juden - Eure Juden“, erschienen 1997, habe ich sie näher erläutert.8 Es gehört zur tragischen Absurdität diasporajüdischer Existenz, dass allein der Holo-

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caust für die nichtreligiösen Diasporajuden das jüdische Nichts ausfüllt und somit als einziger Stifter jüdischer Identität bleibt. Diese Holocaust-Fixierung der nichtreligiösen, also der meisten Diasporajuden hat weitreichende Folgen für das Verhältnis zu Deutschland: Sie nehmen das neue Deutschland der Bundesrepublik eigentlich immer noch als das alte, nationalsozia-listische und strukturell judenmörderische wahr. Das ist kein Antigermanismus oder Deutschenhass, sondern die verzweifelte und verständliche Suche nach jüdischer Identität. Sie wird die Atmosphäre zwischen Deutschland und der jüdischen Diaspo-ra, vornehmlich in den USA, vergiften. Als Wähler und besonders als Wahlkampf-spender werden die amerikanischen Juden umworben. Deshalb sind sie, besonders bei den „Demokraten“ einfl ussreich. Folgenreich, das heißt negativ, wird das Ver-hältnis der amerikanischen Juden zu Deutschland daher auch für die deutsch-ameri-kanischen Beziehungen insgesamt sein; erst recht für die deutsch-israelischen. Vor allem Amerikas nichtreligiöse Juden werden unter den geschilderten Voraus-setzungen somit zunehmend ein Störfaktor der israelisch-deutschen Beziehungen. Ihre Suche nach jüdischer Identität über die ausschließliche Holocaust-Geschichts-fi xierung treibt somit indirekt und direkt einen Keil zwischen Israel und seinen zweitwichtigsten Partner, Deutschland. Der Jüdische Staat könnte auf diese Weise das ungewollte Opfer diasporajüdischer Identitätssuche werden. Das wollen die US-Juden natürlich nicht, aber sie bewirken es. Die rein nahostpolitischen Konsequen-zen liegen ebenfalls auf der Hand: Die Holocaustfi xierung der US-Juden bestärkt geschichtsgefesselte Israelis und erschwert den Friedensprozess. „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, sagten die talmudischen Weisen. Sie meinten dabei natürlich die Erlösung der Täter und ihrer Nachfahren. Die Opfer und deren Nachkommen haben weniger Erinnerungs- als vielmehr Trauerarbeit zu leisten. „Jede Trauer hat ihr Maß“, sagten die talmudischen Weisen an die Hinter-bliebenen gerichtet: - „Und Rabbi Jehuda sagte, Raw habe gesagt: Jeder, der sich wegen seines Toten

über die Maßen mit Schmerz belastet, der weint noch über einen anderen Toten. Eine Frau in der Nachbarschaft Raw Hunas hatte sieben Söhne. Einer von ihnen starb, und sie beweinte ihn übermäßig. Da schickte Raw Huna zu ihr: So sollst du nicht tun! Aber sie beachtete ihn nicht. Da schickte er zu ihr: Wenn du gehorchst, ist‘s gut, wenn aber nicht, so bereite die Totenausstattung für einen anderen (Sohn)! Da starb er. So starben sie alle. Zuletzt sagte er zu ihr: Stümperst du schon an deiner eigenen Totenausstattung herum? Da starb sie.“9

Erinnerung als alleinige Geschichtsfi xierung kann eine politische Falle sein.

(Footnotes)1 Michael Wolffsohn: Israel: Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, 5. Aufl a-

ge, Opladen: Leske & Budrich 1996, besonders Seiten 237ff.

2 Michael Wolffsohn: Die ungeliebten Juden. Israel: Legenden und Geschichte, München - Zürich: Diana Verlag 1998.

3 Vgl. dazu die Daten in Yair Oron: Sehut jehudit-israelit, (hebr.: Jüdisch-israe-lische Identität), Tel-Aviv: Sifrijat Hapoalim 1993, besonders Seiten 71ff und 94ff.

4 Daten in: Wolffsohn: Israel, besonders S. 178ff und 343ff.5 Barry Kosmin u. a.: The attachement of British Jews to Israel, London: Institute

for Jewish Policy Reserach 1997, S. 6.6 1996 wurden in Los Angeles 41 Mio $ gesammelt, davon wurden 13 Mio $ nach

Israel geschickt, also rund 32 % (Stimme Israels, 3. 11. 1997, 9 Uhr MEZ Nach-richten). Vgl. auch Wolffsohn: Israel, S. 223ff.

7 Kosmin, a. a. O., S. 14.8 Michael Wolffsohn: Meine Juden - Eure Juden, München - Zürich: Piper 1997, S.

108ff.9 Moed Qatan, Folie 27b, in: Der Babylonische Talmud, Band IV, neu übertragen

von Lazarus Goldschmidt, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1996 (Nachdruck zweite Aufl age, Berlin: Jüdischer Verlag 1967), S. 226. Der eher textgemäßen und auch schöneren Übersetzung wegen zitiert aus Der Babylonische Talmud. Ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, 4. überarbeitete Aufl age, München: Goldmann Verlag 1963, S. 536.

In: Michael Wolfsohn, Thomas Brechenmacher, Hg., Geschichte als Falle. Deutschland und die jüdische Welt, München, ars una 2001.

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Professor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth Felcht

Professor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth FelchtVorsitzender des Vorstands der Degussa AG, Düsseldorf

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Erörterung des Themas aus der Perspektive eines global agie-renden Chemieunternehmens

Meine sehr verehrten Damen und Herren,es ist mir eine große Ehre, heute in diesem illustren Kreise die Sichtweise eines Unternehmens darzulegen. Gerne, Herr Professor Schweitzer, habe ich Ihre Einladung für die heutige Veranstaltung angenommen.Wir bei Degussa sind, wie alle Unternehmer, angetreten, ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen und zukunftsorientiert weiter zu entwickeln. Wir wollen und werden dies im Kontext der Gesellschaft tun.Wir sind nicht nur ein weltweit tätiges, sondern auch ein multinationales Unternehmen mit vielen tausend Mitarbeitern und noch mehr Kunden auf allen Kontinenten und in den unterschiedlichsten Kulturkreisen.Hieraus leiten wir Pfl ichten und Rechte ab, die wir im Sinne eines „Corporate Citizen“ wahrnehmen. Die Degussa ist mehr als nur Steueraufkommen und Arbeitsplätze – das ist heute ja schon eine Menge – die Degussa versteht sich als Teil der Gesellschaft, gleich wo wir uns wirtschaftlich betätigen.Die Degussa, auf die ich mich heute beziehe, ist erst im Februar vergangenen Jahres geschaffen worden. Sie setzt sich im Wesentlichen aus der früheren Degussa – der ehemaligen Deutschen Gold und Silber Scheideanstalt –, der SKW Trostberg, der Hüls AG, der TH Goldschmidt AG und der britischen Laporte plc. zusammen. Jede dieser Vorläufergesellschaften blickt auf eine lange Unternehmensgeschichte zurück. Die Anfänge der alten Degussa wie der TH Goldschmidt liegen in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Laporte und SKW Trostberg sind um die Jahrhundertwende entstanden, und die frühere Hüls AG stammt aus den 30er Jahren.Diese Vorläufergesellschaften haben wir mit ihrer jeweils sehr spezifi schen Ge-schichte und Unternehmenskultur zur neuen Degussa zusammengeführt. Vieles, was da an Traditionen wie auch an traditionellen Tätigkeitsfeldern aus den Vor-

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läufern vorhanden war, haben wir zu Gunsten einer völlig neuen Unternehmens-kultur und unternehmerischen Ausrichtung über Bord geworfen. Heute ist unser Unternehmen das drittgrößte deutsche Chemieunternehmen. Weltweit liegt Degussa an siebter Stelle. Wir sind ein weltweit aktives Unterneh-men mit einer konsequenten strategischen Ausrichtung auf die Spezialchemie. In diesem Segment sind wir weltweit die unumstrittene Nummer 1 und verfügen in bereits 85 % unserer geschäftlichen Aktivitäten über eine führende Marktpositi-on. In dreifacher Hinsicht sind wir ein hoch innovatives Unternehmen. Innovativ im Hinblick auf unser strategisches Geschäftsmodell der klaren Konzentration auf unsere Kernmärkte, unser dezentrales Organisationsmodell sowie unser Selbst-verständnis als Corporate Citizen. Zu diesem Selbstverständnis gehört auch, dass wir uns bei aller Neuausrichtung des Unternehmens uneingeschränkt zu unserer historischen Verantwortung bekennen, die wir von den Vorläufergesellschaften übernommen haben. Insbe-sondere gilt dies natürlich bezogen auf das, was unter dem Namen der Vorläufer-gesellschaften an unermesslichem Leid und Unrecht während der Naziherrschaft geschehen ist. Wir können und wir wollen uns dieser Verantwortung nicht ent-ziehen.Mit der neuen Degussa sind wir aber angetreten, jeden Tag weltweit unter Beweis zu stellen, dass unsere neue Degussa auch in dieser Hinsicht ein völlig neues Unternehmen ist. Degussa ist heute ein Unternehmen, bei dem Respekt, Toleranz und Integration an vorderster Stelle stehen. Gestützt werden diese Grundprinzipien durch unsere Philosophie „so dezentral wie möglich, so zentral wie nötig“. Diese bestimmt unmittelbar unser Organisati-onsmodell. Sie trägt der Notwendigkeit Rechnung, im intensiven Wettbewerb der internationalen Spezialchemie nah an den Märkten zu sein. Nur so können wir schnell operieren und nur so können wir auch den kulturellen Unterschieden, die unsere Märkte weltweit prägen, gerecht werden.Unsere 23 Geschäftsbereiche agieren weltweit an über 300 Produktionsstandor-ten und einer Vielzahl weiterer Vertriebsstandorte als „Unternehmen im Unter-nehmen“. Die Degussa ist heute mit ihren Produkten in praktisch allen Staaten dieser Welt präsent. Für den fl ächendeckenden Erfolg ist es zwingend notwendig, dass wir uns den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten anpassen. Unsere dezentrale Organisation ist dabei von unschätzbarem Wert. Unser jeweiliges Handeln und

Auftreten als Degussa bestimmt sich durch Menschen vor Ort, ist auf die örtli-chen Gegebenheiten ausgerichtet.Dies hat viele Facetten, von denen ich Ihnen die wesentlichen kurz erläutern möchte.Unsere Produkte orientieren sich grundsätzlich an den Bedürfnissen unserer Märkte und unserer Kunden gemäß dem Grundsatz „Think global, act local“. Wir befi nden uns dabei in bester Gesellschaft. Ein nach Außen hin scheinbar monolithischer Konzern wie Coca Cola verfolgt bei näherer Betrachtung exakt diese Strategie. Dosen und Flaschen seines be-kanntesten Getränks sind sowohl hinsichtlich der Form, wie auch der farblichen Gestaltung weltweit einheitlich, und auch in diesen Dosen und Flaschen ist je-weils eine dunkelbraune Flüssigkeit, die auf einer einheitlichen Grundrezeptur basiert. Bei genauerer Analyse aber ist festzustellen, dass etwa der Zuckergehalt oder die Intensität der Kohlensäure von Land zu Land deutlich variieren. Hier fi nden die geschmacklichen Präferenzen der Konsumenten in den einzelnen Ländern ihre Berücksichtigung – sprich der Kunde mit seinem auch kulturell bedingten Verhalten ist eindeutig der König.In gleicher Weise stellen wir uns auf unsere Kunden und Märkte ein. Im Nah-rungsmittelbereich etwa produzieren wir koschere Aminosäuren insbesondere für den US-amerikanischen und den israelischen Markt. Gelatine, ein Produkt, von dem wir uns erst kürzlich getrennt haben, haben wir für verschiedene Kulturkrei-se aus unterschiedlichen tierischen Quellen hergestellt. Das Verhältnis zu unseren Kunden ist geprägt durch den Respekt von ihrer kul-turellen und religiösen Herkunft. Unser primäres Ziel als Unternehmen ist es selbstverständlich, am Schluss immer zu einem Vertragsabschluss zu kommen, einen Kunden zu gewinnen oder zu halten. Dafür müssen wir ihn zu allererst von den Vorteilen unserer Produkte überzeugen. Von besonderer Bedeutung ist aber auch der Weg, wie wir zum Ziel gelangen. Geschäftliche Verhandlungen in New York, in Kairo oder in Peking laufen nach völlig unterschiedlichen Grundmustern ab. Sie sind geprägt durch eine Vielzahl kultureller und religiöser Besonderheiten, denen wir Rechnung tragen müssen. Am besten gelingt uns dies dort, wo wir auf Mitarbeiter vertrauen, die in der jeweiligen Gesellschaft, in dem jeweiligen Kul-turkreis fest verankert sind. Dies sind im Regelfall einheimische Mitarbeiter.Unsere Mitarbeiter sind weltweit unser wichtigstes Kapital. Sie sind es, die for-schen, neue Produkte entwickeln, produzieren und – im täglichen Wettstreit um den Kunden – verkaufen. Ihnen gilt daher unsere primäre Aufmerksamkeit.

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Wir haben über 50.000 Mitarbeiter auf allen Kontinenten unserer Erde. Knapp 50 % davon arbeiten außerhalb Westeuropas. Wir sind angetreten mit der neuen Degussa, alle Mitarbeiter ungeachtet ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religionszu-gehörigkeit in einem Unternehmen zu integrieren. Dazu gehört auch, dass heute bereits Brasilianer in Südafrika, Iren in Saudi Arabien oder Jordanier in Frankfurt arbeiten und das wir diesen länder- und kulturübergreifenden Austausch weiter forcieren werden. Um dieses Zusammenwachsen der Mitarbeiter aller Konzerngesellschaften welt-weit zur neuen Degussa zu fördern, haben wir unter Einbeziehung vieler Mitar-beiter eine Vision, Mission und Leitlinien für unser Unternehmen entwickelt. Sie sollen uns gemeinsame Richtschnur für das tägliche Miteinander sein, schreiben unsere gemeinsamen Ziele fest und beschreiben die Standards für den Umgang mit Kunden, Lieferanten und Nachbarn. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um folgende Grundsätze:

- Wir handeln sozial und ethisch verantwortlich.- Wir richten uns nach den Grundsätzen nachhaltiger Entwicklung und den Maß-

stäben von Responsible Care. - Wir begegnen allen Menschen mit Respekt, unabhängig von Kultur, Geschlecht,

Nationalität und Herkunft.- Respekt vor unterschiedlichen Meinungen, Fairness und Berechenbarkeit prägen

unseren Umgang miteinander.- Offenheit, Aufrichtigkeit und uneingeschränkter Informationsaustausch bestim-

men unser Verhalten.- Wir verstehen uns als lernende Organisation, fördern persönliche Weiterentwick-

lung und unterstützen das Arbeiten in Teams.

Jeder einzelne Bereich im Unternehmen ist aufgefordert, diese Grundsätze seinen Anforderungen gemäß umzusetzen. Dieser Prozess ist derzeit in vollem Gange. An allen Standorten arbeiten unsere Mitarbeiter in Teams an der Konkretisierung dieser „Unternehmensverfassung“. Ein weiterer Meilenstein in diesem Prozess ist eine Mitarbeiterbefragung zur Stimmungslage im Konzern, die wir Anfang des Jahres gestartet haben. Die Ergebnisse ermöglichen es uns, nunmehr ganz gezielt und spezifi sch weitere Veränderungsprozesse anzustoßen.Unser Ziel ist es, alle Mitarbeiter für Degussa, für unser Geschäft, unsere Produk-te und unsere Unternehmenskultur zu begeistern. Wir bieten damit unseren Mitarbeitern sehr viel:

- Wir bieten ihnen einen langfristig verlässlichen, kalkulierbaren Rahmen.

- Wir bieten ihnen die Möglichkeit der berufl ichen Entfaltung und Entwicklung.- Wir bieten ihnen ein angemessenes Gehalt und eine soziale Sicherung.

Auf der anderen Seite fordern wir auch viel von unseren Mitarbeitern:

- Wir fordern hohes Engagement und Bestleistungen.- Und wir verpfl ichten unsere Mitarbeiter auf die obengenannten Grundprinzipien

und werden diese auch konsequent einfordern.

Das Wertegerüst, das wir uns erarbeitet haben, hilft uns auch, die Gratwanderung zwischen Anpassung und Anbiederung vor Ort zu bewältigen. Fairness, Offenheit und Berechenbarkeit im Innenverhältnis wie nach Außen sind nicht mit Beste-chung oder Bestechlichkeit zu vereinen. Responsible Care bedeutet auch, dass wir nicht jedes Produkt an jeden Kunden liefern. Gerade in der Spezialchemie ist dies von großer Bedeutung. Viele unserer Produkte haben vielfältige Verwen-dungszwecke. Etliche davon sind auch militärischer Art. Ich möchte dies kurz an einem Beispiel erläutern:Guanidinnitrat etwa ist ein Produkt, welches zur Herstellung von Treibsätzen für Airbags eingesetzt wird. Gleichzeitig ist es ein Produkt, das in der Wehrtechnik zum Einsatz kommt.In allen diesen Fällen sehen wir es als unsere Pfl icht an, die endgültige Verwen-dung unserer Produkte sorgfältig zu prüfen. Lieber lehnen wir einen Auftrag ab, als dass das Produkt in die falschen Hände gelangt. Wir sind ein Unternehmen mit Sitz in Deutschland und wollen dies auch bleiben. Unser Wertegerüst, die Freiräume, die wir innerhalb unserer Organisation defi -niert haben, aber auch die Grenzen, die ich Ihnen gerade aufgezeigt habe, sind geprägt von liberalen, christlichen Wertvorstellungen und der Möglichkeit der individuellen Verantwortlichkeit. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass wir eine Balance gefunden haben, die es uns ermöglicht, unterschiedlichste Kul-turen und Traditionen zu integrieren. Zugute kommt uns dabei sicherlich, dass die drei monotheistischen Weltreligionen, die Gegenstand der heutigen Veranstaltung sind, viele gemeinsame Wurzeln haben. Zugute kommt uns aber auch, dass die internationalen wirtschaftlichen Ver-fl echtungen – Stichwort Globalisierung – in den letzten Jahrzehnten die Durch-dringung wirtschaftlicher Interessen weltweit gefördert haben. Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen, welches diesen Prozess mitgestaltet hat und von ihm auch profi tiert. Wir profi tieren aber nicht nur im Sinne von Umsatz und Gewinn, sondern wir profi tieren auch davon, dass wir über das wirtschaftliche Interesse

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mit unseren Mitarbeitern und unseren Kunden an einem Strang ziehen können. Uns vereint ein gemeinsames Ziel, auf das wir hinarbeiten.

Wenn ich unter diesem Aspekt das derzeitige Spannungsfeld zwischen Judentum, Christentum und Islam betrachte, so habe ich den Eindruck, dass die Wurzeln der derzeit im Namen der Religionen gewalttätigen Auseinandersetzungen nur bedingt auf religiöse Differenzen und ihre Ausstrahlung in die jeweiligen Gesell-schaften zurückzuführen sind.

Eine der wesentlichen Ursachen aus meiner Sicht sind die sozialen Spannungen, das Wohlstandsgefälle, das hier auf engem Raum innerhalb einzelner Gesell-schaften existiert. Weitere Vorraussetzungen dafür sind, dass die einzelnen sozia-len Gruppen unterschiedliche Religionszugehörigkeiten aufweisen.

Als prägnantes Beispiel müssen wir uns nur Nordirland anschauen. Hier geht es nur vordergründig um den Konfl ikt zwischen Protestanten und Katholiken. Im Kern geht es um den Konfl ikt zwischen den armen Katholiken, die – extrem ausgedrückt – nichts zu verlieren haben, und den reichen Protestanten, die alles zu verteidigen haben – Wohlstand, Reichtum und damit auch Macht. Die Religi-onszugehörigkeit ist damit nur ein Vehikel, mit dem suggeriert wird, dass hier ein Kampf für eine scheinbar höhere, bessere Sache geführt wird. Die Gefühle, die dabei angesprochen werden, sind auf der einen Seite die Ohnmacht angesichts der eigenen Schwäche und auf der anderen Seite die existenzielle Angst um den Ver-lust des Erreichten. Dieses ist das Grundmuster, nach dem Extremisten jeglicher Couleur ihre Anhänger um sich scharen.

Ein Ausweg aus derartigen Konfl ikten erscheint mir nur möglich, wenn es ge-lingt, eine sogenannte Win-Win Situation herzustellen. Unter wirtschaftlichen Aspekten heißt dies im Idealfall:

Wir müssen die soziale Schere schließen, indem wir den einen eine belastbare Perspektive auf ein wirtschaftlich besseres Leben eröffnen ohne den anderen et-was substanziell zu nehmen. Wer seine eigene wirtschaftliche Perspektive sieht, der läuft nicht mehr blind jedem Rattenfänger hinterher. Gleiches gilt für den, der nicht mehr ständig in der Angst lebt, das Erreichte zu verlieren.

Der Schlüssel hierfür ist nicht die Umverteilung und auch nicht die großzügige Unterstützung durch Dritte. Die Lösung liegt allein in der wirtschaftlichen Ent-wicklung. Sie erst eröffnet die Spielräume für einen sozialen Ausgleich.

Dies ist ein langwieriger Prozess. Er erfordert viel Geduld und Engagement. Sei-tens der Politik wie seitens der Unternehmen.

Das Dilemma, das ich dabei heute sehe, ist folgendes:

1. Frieden und ein wenigstens rudimentär funktionierendes Gemeinwesen sind un-abdingbare Grundlage für substanzielle Investitionen, ohne die wirtschaftliches Wachstum nicht möglich ist.

2. Wirtschaftliches Wachstum, das sich auf alle Bevölkerungsgruppen und -schich-ten verteilt, gräbt dem Extremismus das Wasser ab.

Aus dieser Perspektive haben diejenigen, die unter dem Deckmantel ihrer Reli-gion rund um den Globus brutale, blutige Auseinandersetzungen führen, jedes Interesse, diese weiter zu schüren. Sie haben es in der Hand, die wirtschaftliche Entwicklung zu verhindern und damit ihre Gefolgschaft und Macht auszubauen. Diesen Teufelskreis müssen wir gemeinsam durchbrechen.Ohne ein konzertiertes Gegensteuern der Staatengemeinschaft laufen wir Gefahr, dass sich die bestehenden Konfl ikte aus ihrem bisher überwiegend regional fo-kussierten Kontext lösen und weitere geographische Kreise ziehen. Der 11. Sep-tember hat uns dies schmerzhaft vor Augen geführt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Überlegungen fokussieren sich klar auf den wirtschaftlichen Aspekt und die wirtschaftlichen Hintergründe aktueller Konfl ikte, die das Bild des Verhält-nisses zwischen den drei Religionsgemeinschaften derzeit prägen. Auch wenn ich der Nachkriegsgeneration angehöre, ist mir als Deutscher stets bewusst, dass die historischen Erfahrungen im Verhältnis der drei Religionsgemeinschaften tiefe Spuren hinterlassen haben. Mein Beitrag zur heutigen Veranstaltung sollte aber die Sicht des Unternehmers sein: orientiert an wirtschaftlichen Fragestellungen und den Blick nach vorn gewandt. Ich bin davon überzeugt, dass die Erfahrungen des globalen Mikrokosmos Degussa wertvolle Gedankenanstöße leisten können. Und ich sehe es als mei-ne Aufgabe, als die Aufgabe der Degussa, an der Gestaltung einer friedlichen Weltgemeinschaft, die auf den Grundfesten der Toleranz und des gegenseitigen Respekts basiert, mit zu gestalten. Eine derartige Weltgemeinschaft ist der Ideal-zustand eines global agierenden Wirtschaftsunternehmens, welches im Gegenzug die Entwicklung dahin nachhaltig unterstützen kann.Vielen Dank

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Professorin Dr. Martha Zechmeister-Machhart

Professorin Dr. Martha Zechmeister-MachhartProfessur für Fundamentaltheologie an der Universität Passau

Dialog zwischen Christen und Muslimen. ‚Mulitreligiöse Schummelei oder Beitrag zu einer hu-maneren Welt?‘

Seit dem 11. September 2001 ist das Interesse am „interreligiösen Dialog“ zwischen Christen und Muslimen sowie die öffentliche Resonanz auf diesbezügliche Veranstaltungen jäh emporgeschnellt. Was das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ so im Dezember 2001 konstatiert hat, gilt noch immer. Und es steht auch noch immer als Provokation im Raum, was damals unter der Überschrift „Der verlogene Dialog“ weiter ausgeführt wurde: Gutmeinende Christenmenschen würden den Dialog als Allheilmittel anpreisen und eifrig nach dem Guten im Glauben der anderen, der Muslime, suchen. Aus Angst, sich gegenüber der fremden Religion als intolerant zu zeigen oder des Fremdenhasses verdächtigt zu werden, fehle ihnen jedoch der Mut, die kritischen Punkte offen und konkret beim Namen zu nennen. Eilfertig würden sie versichern, dass der Islam mit Terrorismus nicht das Geringste zu tun habe – und gebetsmühlenartig schärfen sie die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus ein. Sie würden die christlichen Missetaten vergangener Jahrhunderte geradezu lustvoll bekennen – und zugleich den Islam als eine im Grunde tolerante Religion preisen. Kurz gefasst: Durch die Naivität deutscher christlicher Gutmenschen sei der interreligiöse Dialog zu einer groß angelegten „mulitreligiösen Schummelei“ verkommen. Bundesinnenminister Otto Schily fühlte sich angesichts dieser Diagnose veranlasst, sich um die Kirchen zu sorgen, die ihm „nicht immer die Kraft zu haben scheinen, die geistige Auseinandersetzung mit dem Islam zu bestehen.“1 Und Alice Schwarzer schreibt in ihrem im Frühjahr 2002 erschienenen Büchlein „Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz“: „Der deutsche Protestantismus scheint für geißelnde Selbstverleugnung und adorierende Fremdenliebe ein besonderer Nährboden zu sein.“2

Im Folgenden versuche ich aus der Perspektive der christlichen Theologin über Bedingungen einer authentischen Begegnung mit dem Islam zu refl ektieren. Dabei begreife ich christliche Identität allerdings wesentlich aus ihrer dialektischen

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Beziehung zu ihrer älteren jüdischen Schwester. Mein Ausgangspunkt ist die soeben angesprochene Kritik an der Naivität christlicher Dialogbemühungen, die in der deutschen Öffentlichkeit gegenwärtig am pointiertesten von Bassam Tibi zum Ausdruck gebracht wird. Auch der genannte Spiegelartikel beruft sich auf ihn. Seine Stimme ist schon deshalb besonders interessant, weil ihm als Moslem wohl kaum vorgeworfen werden kann, er würde ein „Feindbild Islam“ beschwören. Die Naivitäten des christlichen Gegenübers deckt er vielmehr aus der muslimischen Innenperspektive auf. Seine in zahlreichen Buchveröffentlichungen vertretenen Argumente hat er Ende Mai in der Wochenzeitung „Die Zeit“ auf den Punkt gebracht. Der Titel seiner Ausführungen lautet: „Selig sind die Belogenen.“3 Ich greife die These Bassam Tibis heraus, die mich bei der Lektüre seiner Texte zu meinen Überlegungen provoziert hat. Tibi stellt es mit aller wünschenswerten Deutlichkeit heraus: Bieder-korrekte Dialogchristen würden den Muslimen eine gemeinsame Basis unterstellen – von der sich diese jedoch höchstens aus taktischen Gründen nicht distanzieren. Die Christen bewegen sich auf dem Boden einer kulturell und religiös pluralistischen, demokratischen Gesellschaftsordnung – und verstehen unter Dialog den diskursiven Austausch gleichberechtigter Partner, der die reziproke Anerkennung der Standpunkte voraussetzt. Die Muslime dagegen – und zwar nicht bloß die Islamisten, sondern auch die Vertreter des orthodoxen Islam – seien noch längst nicht in dieser pluralistischen Moderne angelangt. Überzeugt von der Überlegenheit, ja der göttlichen Absolutheit ihrer eigenen Anschauungen, ist das, was die Christen als Dialog bezeichnen, für sie konsequenterweise höchstens die Gelegenheit zur Missionierung der Ungläubigen.Nicht um den Islam aus Europa auszugrenzen, deckt Bassam Tibi dies auf, sondern im Gegenteil, um dem Euro-Islam den Weg zu bereiten. Er hält es für durchaus möglich, muslimische und europäische Identität ohne Schizophrenie miteinander zu vereinen, gibt jedoch klare Kriterien für einen solchen Euro-Islam, der erst noch auf den Weg zu bringen wäre, an. Tibi wörtlich: „Eine erfolgversprechende Lösung kann nur darin bestehen, den Islam von seinem universalistischen Absolutheitsanspruch zu befreien und ihn an die pluralistische europäische Moderne anzupassen. ... Es geht darum, die Religion des Islams nur im Rahmen eines religiösen Pluralismus zuzulassen. Religiöser Absolutismus und missionierende Einstellungen müssen zugunsten der Loyalität gegenüber der säkularen Zivilgesellschaft und pluralistischer Demokratie aufgegeben wer-den.“ 4

Was provoziert mich nun als Theologin an Bassam Tibis These? Wenn ich dies im Folgenden zu formulieren versuche, so wird es zugegebenermaßen – um der

Deutlichkeit und Kürze willen – überspitzt ausfallen. Denn zunächst frage ich mich, ob denn überhaupt das Christentum, dort wo es noch authentisch bei sich selbst ist, die Kriterien erfüllt und erfüllen kann, die Tibi für die Europa-Tauglichkeit des Islam aufstellt. Tibi scheint dies selbstverständlich vorauszusetzen. Es mag ja durchaus sein, dass das Christentum und seine theologische Refl exion sich weithin so anschmiegsam und modernitätsverträglich erwiesen haben, wie dies die Kriterien Tibis als wünschenswert erscheinen lassen. Können aber die Religionen – zumindest die monotheistischen –, dort wo sie sich noch nicht längst, sich selbst relativierend, aufgegeben haben, der pluralistischen Gesellschaft die Provokation und die Irritation des Absoluten ersparen? Können sie denn, ohne sich selbst zu verraten, sich wirklich von ihrem universalen Anspruch verabschieden? Können sie sich schließlich wirklich ohne Duckmauserei und Selbstverkrümmung von ihrer „missionierenden Einstellung“ lösen, d. h. von ihrer Überzeugung, ihnen sei eine heilsrelevante Botschaft für alle Menschen anvertraut, die es auch an diese weiterzugeben, d. h. zu verkünden gilt?Die Muslime glauben noch immer, dass ihre Religion wahr ist. Und eben dies würde sie von den Christen unterscheiden. Zu diesem Schluss kommt Hans-Peter Raddatz in seinem Buch „Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft“5. Er hält es, in Klammern bemerkt, für eine Naivität der Mulitkulturalisten zu glauben, überzeugte Muslime könnten ihr integralistisches Religionsmodell unter dem Einfl uss pluralistischer Demokratie aufgeben. Raddatz ist also äußerst skeptisch, was die Chancen für einen Euro-Islam betrifft.Meine Frage – penetrant zugespitzt – nochmals wiederholt: Können die, die sich zu einer monotheistischen Religion bekennen, den Anspruch der einen und unbedingten Wahrheit getrost fahren lassen – und friedlich und sanft in einer pluralen, mulitkulturellen und multireligiösen Landschaft untertauchen?An meiner Insistenz merken Sie, dass ich geneigt bin, diese Fragen mit einem entschiedenen Nein zu beantworten. Damit möchte ich jedoch gewiss nicht die Differenz verwischen: Zwischen einerseits einer Religion, die sich, im Falle des Christentums, irreversibel dem Experiment der Aufklärung ausgeliefert hat – und andererseits einer Religion, die, im Falle des Islam, in ihrer Mehrheit noch vor der Entscheidung steht, ob sie sich überhaupt in Richtung pluralistischer Moderne aufmachen oder ob sie in ihrer Abschottung verharren wird. Die Differenz darf nicht verwischt werden: Zwischen einerseits einer Religion, die schmerzlich gelernt hat, sich vom Anspruch auf politische Macht zu lösen und sich in ein kritisches Verhältnis zur eigenen Gewaltgeschichte zu setzen – und andererseits

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einer Religion, in der die Mehrheit ihrer Gläubigen theokratische Verhältnisse durchaus für wünschenswert erachtet; Verhältnisse in denen die religiösen Autoritäten mit den politisch und gesellschaftlich dominierenden Instanzen in eins fallen.Schon gar nicht möchte ich bestreiten, sondern mich im Gegenteil entschieden diesem Standpunkt anschließen, dass auf dem Boden demokratischer Zivilisation nur eine Religion akzeptiert werden darf, die bedingungslos und vollständig auf jede physische und psychische Gewalt zur Durchsetzung ihres Wahrheitsanspruchs verzichtet hat. Die Fähigkeit, konkurrierende Glaubensüberzeugungen und Wahrheitsbehauptungen respektvoll wahrzunehmen und sich argumentativ zu ihnen in Beziehung zu setzen, ist die Mindestanforderung, die eine demokratische Gesellschaft den von ihr akzeptierten Religionen abzuverlangen hat. Was ich jedoch sehr wohl möchte, ist, nochmals genauer zusehen, was das Verhältnis von monotheistischen Religionen zu den sogenannten „Werten der demokratischen Zivilisation“ betrifft. Jürgen Habermas hat in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels dazu mit einer Analyse überrascht, die sich deutlich von seinen früheren Ausführungen abhebt – oder diese zumindest entscheidend weiterentwickelt.6 Auch schon früher wusste Habermas darum, dass das, was wir als modernes Europa bezeichnen, wesentlich als säkulares Erbe der jüdisch-christlichen Tradition zu begreifen ist. Da auch die Überlieferungsleistung des Islam mitzubedenken ist, die das antike-griechische Erbe dem Vergessen entrissen hat, so sind alle drei monotheistischen Religionen tief in die europäischen Fundamente eingelassen. Die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, von Demokratie und Menschenrechten begreift Habermas als die Übersetzung des religiösen Erbes in universale, diskursiv vermittelbare Vernunftkategorien. Beim Habermas vergangener Jahrzehnte konnte es jedoch so scheinen, als wäre diese Übersetzungsarbeit früher oder später erledigt – als käme irgendwann der Punkt, an dem das „semantische Potential“ der Religion defi nitiv ausgeschöpft wäre. Diese aber würde dann wie eine ausgebrannte Raketenstufe überfl üssig geworden sein. Beim Habermas der Friedenspreisrede klingt dies deutlich anders. Es mag sein, dass ihn der Schock des 11. Septembers 2001, der Schock, dass die Religion in ihrer archaischen und gewalttätigen Form unvermutet in die säkulare Gesellschaft eingebrochen ist, zu seiner Wortschöpfung von der „post-säkularen Gesellschaft“ getrieben hat. Sie weist aber auch auf etwas hin, was in

den früheren Texten Habermas’ so nicht deutlich geworden ist: Nicht nur den Glaubenden ist zugemutet, ihre religiösen Überzeugungen in säkulare Sprache zu übersetzen, wenn sie in demokratischer Öffentlichkeit gehört werden und in ihren Argumenten Zustimmung erfahren will. Sondern es gilt auch, dass sich die säkulare Gesellschaft nur dann nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneidet, wenn sie sich ein Gefühl für die Artikulationskraft religiöser Sprache bewahrt. Religion wäre so nicht irgendwann überholt, „aufgehoben“, – sondern die demokratische Ordnung wäre um der von ihr verteidigten Werte, wie z. B. der gleichen Würde und Rechte aller Menschen, willen auf den bleibenden kritischen Widerstand der Religion verwiesen.Lassen Sie mich nochmals zu meiner These zurückkehren: Religion, die nicht längst sich selbst relativierend aufgegeben hat, vermag der pluralen, demokratischen Öffentlichkeit nicht die Provokation und Irritation des Absoluten zu ersparen. Und ich würde jetzt hinzufügen: Es geht dabei nicht bloß um den Selbstbehauptungsrefl ex der Religion, genauer gesagt der christlichen Religion, sondern um den Bestand oder Untergang dessen, worauf die demokratische Ordnung letztlich baut: auf Humanität und Menschenwürde. Die Provokation des Absoluten vermag die monotheistische Tradition der (post-)modernen Welt nur um den Preis zu ersparen, dass in der Konsequenz auch aus der Rede von Humanität und Menschenwürde jeder substantielle Gehalt ausgetrieben wird.Der, der m. E. diese Zusammenhänge – in der Negativität der Kritik – am schärfsten diagnostiziert, ist Friedrich Nietzsche. Für ihn ist der Atheismus derer, die glauben, man bräuchte nur Gott loszuwerden, damit der Mensch sich frei und aufrecht erheben könne, eine Naivität. Mit dem Tod des christlichen Gottes ist für ihn auch der uns bekannte Mensch unausweichlich in den Strudel des Untergangs gezogen. „Das größte neuere Ereignis, – dass ‚Gott tot ist’, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen.“ Für die, deren Augen stark und fein genug sind, erscheint „unsre alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder, älter“. Nur wenige vermögen zu erkennen, „was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral“.7

Nietzsche hat keinerlei Zutrauen in die säkulare, von ihren religiösen Wurzeln abgeschnittene Gestalt der Humanität. Der französische postmoderne Philosoph, Michel Foucault, formuliert dieselbe Einsicht im letzten Satz der „Archäologie des Wissens“ folgendermaßen: „Es mag durchaus sein, dass ihr Gott unter dem Gewicht all dessen, was ihr gesagt habt, getötet habt. Denkt aber nicht, dass ihr aus all dem, was ihr sagt, einen Menschen macht, der länger lebt als er.“8

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Was ist nun die Konsequenz aus dem bisher Gesagten für den interreligiösen Dialog: Bereuen es glaubende Christen schon längst, sich dem Experiment der Aufklärung ausgesetzt zu haben, weil sie aus diesem Experiment zumindest im europäischen Raum als bloße gesellschaftliche Marginalie hervorgegangen sind? Möchten die geistig und moralisch erschöpften europäischen Christen sich dem Islam anbiedern, um aus seiner Vitalität neue Lebensgeister zu beziehen? Oder möchten sie gerade das Gegenteil: sich fundamentalistisch sowohl gegen die Usurpation durch das Fremde, wie auch gegen weitere säkulare Zersetzung zur Wehr setzen?Wofür ich klar plädiere, ist die Ökumene der monotheistischen Religionen. Gewiss nicht im Sinn „interreligiöser Schmusestunden“, die Bassam Tibi zu Recht für entbehrlich erachtet. Auch nicht im Sinne einer Ökumene des kleinsten gemeinsamen Nenners, der harmlos naiv eine Familienähnlichkeit der sogenannten abrahamitischen Religionen voraussetzt – und alles, was das Unterscheidende des Eigenen wie das Befremdliche des Anderen ausmacht, verschämt unter den Tisch wischt. Wofür ich plädiere ist eine dialektische Ökumene, die sich gerade der Differenz, dem Anderssein des Anderen aussetzt – und das Eigene unverstellt und unverkürzt zumutet. Es geht darum, sich ein differenziertes theologisches und historisches Wissen über den jeweils anderen anzueignen – und es geht um eine Ökumene, in der offensiv und produktiv um das gestritten wird, was den Wesenskern des Monotheismus ausmacht. Worum es in diesem Streit zu gehen hat, möchte ich abschließend am zentralen Punkt andeuten.„Es gibt keinen Gott außer Allah, Mohammed ist der Gesandte Gottes“, lautet das Glaubensbekenntnis der Moslems. „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“ (Ex 20,2 f; Dt 5,6 f), lautet das erste Gebot der Juden und Christen. Die göttliche Einheit und Einzigkeit ist allen drei Religionen gleichermaßen heilig. Dass auch das christologische und trinitarische Dogma der Christen nur dann recht ausgelegt wird, wenn es den Monotheismus nicht relativiert und aufweicht, sondern allererst einschärft, kann ich hier nur behaupten und nicht erläutern. Das Bekenntnis zur göttlichen Einheit und Einzigkeit trägt in sich schon den universalen Anspruch der monotheistischen Religionen. Gott ist entweder der Gott aller Menschen, oder er ist nicht Gott. Ein Gott, der nur für eine Teilwirklichkeit oder nur für eine partikuläre Menschengruppe zuständig wäre, kann im Sinne der monotheistischen Religionen niemals als Gott angerufen, sondern höchstens als Götze entlarvt werden. Zu streiten bleibt freilich, wie ein solcher universaler

Anspruch zu verwirklichen ist, wie sich denn das Bekenntnis zu Gott, der der Gott aller Menschen ist, zu vollziehen hat.In der Heiligen Schrift der Juden und Christen wird das erste Gebot, „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“, eingeleitet mit dem Satz „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“. Das Bekenntnis zum Einzigen geht in eins mit der Befreiung von allen Mächten und Gewalten, die den Menschen offen und despotisch – oder dumpf und unbewusst – beherrschen. Die innerste Aussage des biblischen Monotheismus lautet: Nichts soll über den Menschen versklavend dominieren. Er ist per se die Relativierung aller falschen Absolutheitsansprüche. Und dieses Kriterium der Befreiung darf auch nicht im Dialog mit dem Islam preisgegeben werden.Damit komme ich nochmals zum Kernpunkt unserer Überlegungen zurück: zum Verhältnis von Monotheismus und Demokratie, um das es gerade in einem aufrichtigen Dialog mit dem Islam zu streiten gilt. Ausgehend von Nietzsche zieht sich durch die europäische Geistesgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte die radikale Antithese, das große Lob des Polytheismus. Odo Marquard hat es klassisch zum Ausdruck gebracht9, von Richard Rorty wird es gegenwärtig fortgesetzt. Der Monotheismus vergewaltige die Menschen unter das Diktat der einen Norm und der einen nicht-perspektivischen Wahrheit. Nur wenn wir uns davon entschieden lossagten, könnten wir die Vision der Griechen wiedergewinnen, in der „der eine Gott nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes“ war. Und nur unter einem solchen Himmel würde sich der Raum eröffnen, in dem das Individuum frei atmen könne und in dem es „zur größtmöglichen Vielfalt frei gewählter Lebensweisen ermutigt“ werde. Nur wenn wir uns entschieden von allen Ansprüchen auf Einzigkeit und Ausschließlichkeit verabschiedeten, sei eine tragfähige soziale Ordnung in einer pluralen Gesellschaft, wie auch eine Friedensordnung in einer multikulturellen Welt, möglich.10

Dieses Lob des Polytheismus im Namen einer pluralen, demokratischen Weltordnung beruft sich auf Nietzsche. Ich denke, letztlich nicht zu Recht. Denn wiederum erweist sich Nietzsche m. E. im Sarkasmus seiner Kritik als der schärfere Diagnostiker. Für ihn, den Demokratieverächter, muss nicht der Monotheismus um der Demokratie willen beseitigt werden, sondern er verachtet den Monotheismus gerade umgekehrt deshalb, weil er in ihm den maßgeblichen Inspirator der demokratisch-egalitären Ideale der Aufklärung diagnostiziert. In der Fröhlichen Wissenschaft bezeichnet Nietzsche den Monotheismus, also den Glauben „an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter gibt“, als die „starre Konsequenz der Lehre vom Einen Normalmenschen“11.

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Und im Nachlass von 1885/86 lässt er seiner Verachtung freien Lauf, wenn er formuliert, dass „das Christentum, als plebejisches Ideal, mit seiner Moral auf Schädigung der stärkeren höher gearteten männlicheren Typen hinausläuft und einen Herdenart-Menschen begünstigt: dass es eine Vorbereitung der demokratischen Denkweise ist“.12

In Umkehrung derer, die glauben, das Lob des Polytheismus um der Demokratie anstimmen zu müssen, möchte ich deshalb formulieren: Das ist der Wesenskern der monotheistischen Religionen, der im Gespräch mit dem Islam geltend gemacht werden muss: Es ist gerade das Bekenntnis zum einen und einzigen Gott, dass den Himmel offen hält, unter dem sich der Mensch frei und aufrecht erheben kann – und unter dem es möglich wird, Pluralität und Verschiedenheit anzuerkennen und zu bejahen. Damit aber verbietet sich jede, auch jede religiös motivierte, autoritäre Herrschaft des Menschen über den Menschen. Glaubwürdig vertreten kann man eine solche Option tatsächlich nur im kritischen Wissen um die schreckliche Geschichte des Missbrauchs des Monotheismus zur Legitimation von Herrschaftsansprüchen – und zwar sowohl auf christlicher, wie auch auf muslimischer Seite. Könnte aber damit der aufrichtige Dialog von Christen mit Muslimen nicht doch entscheidend mehr leisten, als ihm „Der Spiegel“ und Konsorten zuzutrauen scheinen – nämlich die verlogene multireligiöse Schummelei? Könnte nicht gerade der aufrechte Dialog unter den monotheistischen Religionen zur entscheidenden Vermittlungsleistung werden, die für die Muslime, ohne dass diese sich selbst aufgeben und verraten müssten, die Brücke in ein demokratisches Europa schlägt?

(Footnotes)1 Der Spiegel, 17. Dez. 2001, Der verlogene Dialog.2 A. Schwarzer, Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2002, 15.3 Die Zeit, Nr. 23/2002, 31.5.2002.4 B. Tibi, Selig sind die Belogenen, in: Die Zeit, Nr. 23/2002, 9.5 H.-P. Raddatz: Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fort-

schrittsgesellschaft, München 2001.6 J. Habermas, Glaube und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels,

Frankfurt a. M., 2001.7 F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 343.8 M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, 301.

9 O. Marquard, Lob des Polytheismus, in: H. J. Höhn (Hg.), Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996, 154-173.

10 R. Rorty, Ein Prophet der Vielfalt, in: Die Zeit, Nr. 35/2000, 41.11 Fröhliche Wissenschaft, Nr. 143.12 F. Nietzsche, KSA Bd.12, 155.