CLAUS D. PUSCH (Freiburg im Breisgau) ANDREAS · PDF fileDefinition von Periphrasen nach Gómez Torrego (1999) u.a. ist die Vorausset-zung, dass diese komplex-mehrgliedrigen Verbalausdrücke

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  • CLAUS D. PUSCH (Freiburg im Breisgau)ANDREAS WESCH (Kln)

    Verbalperiphrasen zwischen Grammatik, Lexikon und Pragmatik.Zu den Beitrgen dieses Bandes

    Periphrastizitt ist ein Kernthema der romanischen Sprachwissenschaft. Ausge-hend von der Etymologie des Terminus (cf. Bumann 2002: 505 s.v. Periphrase),aus der sich auch sein Gebrauch zur Bezeichnung der rhetorisch-explizierendenUmschreibung ergibt, lsst sich grammatische Periphrastizitt als charakterisie-rend-umschreibender Ausdruck grammatischer Kategorien durch Kombinationmehrerer lexikalischer und / oder morphologischer Formative fassen. So definiert,findet sie sich in den romanischen Sprachen vor allem in der Verbalgrammatik.Der Ausdruck temporaler, aspektueller, modaler und diathetischer Werte durchperiphrastische Konstruktionen mit teilweise oder vollstndig auxiliarisiertenVerbalformen gilt als ein Charakteristikum aller romanischen Sprachen undwurde als solches seit dem Beginn der wissenschaftlichen Beschftigung mitihnen erkannt. So zeigt bereits F. Diez in seiner Grammatik Beispiele fr voll-stndige periphrastische Conjugation (apud Dietrich 1973: 68) im Romanischenauf, und es berrascht kaum, dass periphrastische Strukturen in der 130 Jahrespter publizierten wichtigen Gesamtdarstellung des romanischen Verbalsystemsvon E. Coseriu (1976) einen sehr breiten Raum einnehmen. Das Charakteristikumder Periphrastizitt gehrt dabei in den greren Zusammenhang des panchroni-schen Wechselspiels von synthetischem vs. analytischem Ausdruck grammati-scher Kategorien (cf. Schwegler 1990), dem die romanischen Sprachen wieviele andere Sprachen der Welt unterworfen sind, wobei die Tendenz zur Ana-lyse nicht nur im verbalen Bereich als wichtiger typologischer Unterschieddieser Idiome gegenber der ihnen zugrunde liegenden Sprache, dem Lateini-schen, gilt.1

    Bei den Fragestellungen und erkenntnisleitenden Interessen bezglich der ver-balen Periphrastizitt lassen sich einige Konstanten feststellen. Vor allem die fol-genden Themen standen und stehen im Mittelpunkt der Forschung: die formal-beschreibende Inventarisierung von Periphrasen nach Einzelsprachen, einzel-sprachlichen oder bereinzelsprachlich-universellen Ausdrucks- und Funktions-bereichen; die Analyse des semantisch-funktionalen Potentials und Gebrauchs-spektrums der einzelnen Periphrasen sowie die Genese und Motivation des peri-phrastischen Ausdrucks (im Unterschied und in Konkurrenz zum flexional gebun-den-synthetischen Ausdruck). Der erste Bereich spielt dabei in den hier versam-melten Beitrgen nur eine untergeordnete Rolle; mehr oder minder exhaustiveInventare periphrastischer Strukturen, mit jeweils spezifischen Schwerpunkten

    1 Zum Verhltnis der Begriffe Periphrastizitt und Analytizitt cf. Haspelmath (2000: 655).

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    und Auswahlkriterien, liegen fr die meisten romanischen Sprachen teilweiseschon seit langer Zeit vor.2 Die beiden brigen Bereiche, durch neuere methodi-sche Anstze und aktuelle Grammatik- und Kommunikationstheorien in besonde-rer Weise befruchtet, werden jedoch von den meisten Autoren dieses Bandes the-matisiert. So wird in mehreren Beitrgen deutlich, dass sowohl zur Erfassung dessemantischen Raums, den einzelne Verbalperiphrasen abdecken knnen, als auchzur Beschreibung und Erklrung ihrer historischen Entwicklung das von kognitivbasierten und typologisch-universalistisch ausgerichteten Sprachwandelmodellenwie der Grammatikalisierungstheorie (cf. Lehmann 1995) zur Verfgung gestellteInstrumentarium die Frage nach dem Warum der Periphrasenbildung anders undmglicherweise berzeugender beantwortet als der notwendige, aber nicht hinrei-chende strukturalistische Hinweis auf cases vides im flektionalen System (die beiHaspelmath [2000: 655] zum Definitionskriterium gemacht werden) und kom-plementre Erklrungsanstze zu Hypothesen einer entlehnungs- oder sprach-kontaktbedingten Periphrasengenese anbietet. Auch zeigt sich, dass zur Beschrei-bung der Distributionsmuster bestimmter Periphrasen der oft bemhte und imKern sicher auch zutreffende Verweis auf ubiquitre Expressivitt im Gebrauchvon Sprache durch empirisch abgesicherte Analysen etwa im Rahmen der quanti-tativen Soziolinguistik ergnzt werden muss.

    Eine unabdingliche Voraussetzung fr die Beschftigung mit einem sprach-lichen Objektbereich stellt seine definitorische und klassifikatorisch-taxonomischeEingrenzung dar. Gerade diese ist jedoch im Kontext der Periphrasenforschungproblematisch. So sieht es nicht danach aus, als knne unter den damit befasstenLinguisten Konsens darber erzielt werden, was unter einer Verbalperiphrase zuverstehen sei. Es wrde den Rahmen dieses Vorwortes sprengen, auch nur einereprsentative Auswahl der Definitionsvorschlge und zugehriger Kriterien-kataloge zusammenstellen zu wollen. Einigkeit scheint darber zu bestehen, dasseine Verbalperiphrase als komplexer (mehrgliedriger) verbaler Ausdruck einauxiliarisiertes Verb (cf. Heine 1993), also ein in seinem Verbalcharakter irgend-wie eingeschrnktes und daher auf die anderen Bestandteile der Periphrase ange-wiesenes Element aufweisen muss, auf das umgekehrt die brigen Elemente derPeriphrase zum Ausdruck bestimmter, meist grammatischer Kategorien angewie-sen sind. Eine hufig zugrunde gelegte Definition versteht Verbalperiphrasen alseine Verbindung von zwei (oder, in Ausnahmefllen, mehr) Verbalformen, dieeine einzige und semantisch einheitliche (nicht-kompositionelle) Prdikations-einheit bilden und deren Auxiliarelement bei sehr stark abgeschwchtem semanti-

    2 Auswahlartig sei hingewiesen auf Dietrich (1973) und Squartini (1998) mit gesamtromani-scher Ausrichtung; Gougenheim (1929) und Werner (1980) zum Franzsischen; Schlieben-Lange(1971) zum Okzitanischen und Katalanischen; Roca Pons (1958), Yllera (1980), Gmez Torrego(1988), Olbertz (1998) und Fernndez de Castro (1999) zum Spanischen; Rojo (1974) zum Galici-schen; Schemann (1983) zum Portugiesischen; Bertinetto (1986) zum Italienischen. Zum Rumni-schen scheint noch keine umfassende monographische Darstellung vorzuliegen; ebenso fehlt einethematische Bibliographie. Breiter Raum wird den Periphrasen in den jngst erschienenen des-kriptiven Grammatiken eingerumt: vgl. Gmez Torrego (1999) und Yllera (1999) zum Spani-schen, Gavarr / Laca (2002) zum Katalanischen und Bertinetto (2001: 129ff.) zum Italienischen.

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    schen Gehalt als Trger der flexional markierten Verbalkategorien dient, whrendein zweites nicht finites Verbalelement, das also (in den romanischen Sprachen)als Infinitiv, Gerund bzw. Partizip vorliegen kann, die semantische Hauptinfor-mation der Prdikationseinheit beisteuert (cf. Gmez Torrego [1999: 3325]; hn-lich Gavarr / Laca [2002: 2665]). Diese bereits recht enge Definition wird zumTeil noch restriktiver gefasst; so setzt Olbertz (1998: 32) als zustzliches definito-risches Kriterium die Erstaktantenidentitt zwischen Auxiliar und nicht-finitemVerb an, was bestimmte diathetische Konstruktionen (wie etwa die Kausativ-struktur) obschon Einheiten mit sowohl stark auxiliarisiertem als auch infinitemVerbalbestandteil aus der Kategorie Verbalperiphrase ausschliet. DieselbeAutorin (op.cit.: 33ff.) spricht sich auch dagegen aus, mehrgliedrige komplexeVerbaleinheiten mit echten Auxiliaren, also mit Verben, die nur noch in derAuxiliarfunktion, nicht mehr jedoch autonom als lexikalische Verben vorkommen(wie etwa haber / haver im Spanischen und Katalanischen), als Verbalperiphrasenzu bezeichnen, was u.a. bestimmte analytische Konstruktionen mit temporalemWert aus der Kategorie eliminieren wrde.

    Derartige Einschrnkungen erscheinen berechtigt, wenn man sich die Parame-ter der Grammatikalisierung vor Augen hlt, die fr die diachronische Dimensionvon Auxiliarisierung gelten. Zu den Charakteristika grammatikalisierter sprach-licher Einheiten zhlen neben der Reduktion des lexikalisch-semantischen Gehaltsu.a. die Dekategorisierung durch syntagmatisch-funktionalen und paradigmatisch-morphologischen Abbau und die phonetische Reduktion, die letztlich zu einerKlitisierung des Auxiliarelements fhren kann. Als Paradebeispiel sei auf dasromanische Futur aus verwiesen (cf. Fleischman 1982),ursprnglich eine mehrgliedrige Verbalkonstruktion mit periphrastischem Habi-tus, bei der es letztlich begnstigt durch die im Romanischen wirksame Suffix-prferenz bei der Morphologisierung (Wandruszka 1992) zu einer Resynthesekam. Dass die Abgrenzung problematisch bleibt, wo auf der Skala der Auxiliarittder resultierende komplexe Verbalausdruck (noch) als analytisch bzw. (schon) alssynthetisch gelten darf bzw. muss, ist jedoch offenkundig.

    Ebenso schwierig ist es zu entscheiden, wo Auxiliaritt beginnt, ab welchemPunkt also die syntaktische, vor allem aber die semantische Autonomie des finitenElements eines mehrgliedrigen Verbalausdrucks geschwcht genug ist, damit derGesamtausdruck als periphrastisch im o.a. Sinne gelten kann. Das Postulat dersemantischen Nicht-Kompositionalitt setzt hier sehr enge Grenzen, und es fehltdeshalb nicht an Vorschlgen und Argumenten, die Definition von Verbalperi-phrasen in dieser Richtung zu erweitern, vor allem um gebrauchsrelevante, durchIsomorphie- und Isotopiebeziehungen gegenber prototypischeren Periphrasengekennzeichnete komplexe Verbalkonstruktionen nicht aus dem Blickfeld zu ver-lieren. Dabei handelt es sich in erster Linie um die bei Dietrich (1973: 51ff.) sogenannten verba adiecta, hier in Anlehnung u.a. an Olbertz (1998: 47ff.)3 als

    3 Olbertz (1998) differenziert hier jedoch genauer zwischen lexikalischen und semi-auxiliaren

    Bildungen, und zwar auf teils semantischer, teils syntaktisch-aktantieller Grundlage.

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