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Clio und Natio im östlichen Europa Von Dittmar Schorkowitz I. Historiographie im Wandel der Epochen und Systeme Das Beobachten zeitlicher Abläufe aus abwägender Distanz wird dem Historiker im schwankenden Urteil der Zeitgenossen eher als Schwäche denn als Tugend ausgelegt. Scheint ihn doch die rück- wärtsgewandte Erkenntnissuche und das Schwimmen gegen den Strom des Zeitgeistes zu den Quellen seines Wissens der Gültigkeit selbst des bekannten Hexameters tempora mutantur et nos mutamur in illis entziehen zu wollen. In Zeiten des Umbruchs wird die profes- sionsbedingte Prägung auffällig, weil Forderungen der Gesellschaft nach flotter Erklärung des Geschehens, die immer auch Planungssi- cherheit für die Kommandohöhen mitliefern soll, den Historiker auf die hinteren Bänke der Ratgeber verweisen. Als strukturgebende Denkfiguren bieten die langen Schatten der Vergangenheit eben Aufschluß mit nur wenig griffigem Anwendungsbezug. Doch wer unter den Ratsuchenden “gewöhnt ist, die Geschichte als Fortschritt zu betrachten, der will an dieser Gewißheit festhalten...” 1 . Der Ruf nach Patentlösungen setzt sich schließlich in dem Maße durch, wie die Bereitschaft nachläßt, aus der Geschichte lernen zu wollen. Was aber tatsächlich relevant ist und historischen Bedeutungszuspruch verdient, darüber läßt sich bekanntermaßen trefflich streiten. Dabei muß man Geschichte nicht als Labyrinth begreifen, um zu erkennen, daß der “Ariadnefaden der Relevanz” 2 ein Clio angetrages 1 Hans-Joachim Torke, Die Geschichte Rußlands vor 1917 in der gegenwärtigen De- batte der sowjetischen Historiker, in: Siegfried Baske (Hrsg.), Perestrojka: Multidiszi- plinäre Beiträge zum Stand der Realisierung in der Sowjetunion. (Multidisziplinäre Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, 1.) Ber- lin/Wiesbaden 1990, 7-27, hier 27. 2 Christoph Schmidt, Zur Kritik historischer Relevanz. Am Beispiel der Geschichte Osteuropas, in: JbbGOE 48, 2000, 552-568, hier 552. Siehe auch Jurij Aleksandrovič Poljakov, Počemu istorija nas ne učit?, in: Voprosy Istorii 2, 2001, 20-31, hier 20, 22.

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Clio und Natio im östlichen Europa

Von

Dittmar Schorkowitz

I. Historiographie im Wandel der Epochen und Systeme

Das Beobachten zeitlicher Abläufe aus abwägender Distanz wird dem Historiker im schwankenden Urteil der Zeitgenossen eher als Schwäche denn als Tugend ausgelegt. Scheint ihn doch die rück-wärtsgewandte Erkenntnissuche und das Schwimmen gegen den Strom des Zeitgeistes zu den Quellen seines Wissens der Gültigkeit selbst des bekannten Hexameters tempora mutantur et nos mutamur in illis entziehen zu wollen. In Zeiten des Umbruchs wird die profes-sionsbedingte Prägung auffällig, weil Forderungen der Gesellschaft nach flotter Erklärung des Geschehens, die immer auch Planungssi-cherheit für die Kommandohöhen mitliefern soll, den Historiker auf die hinteren Bänke der Ratgeber verweisen. Als strukturgebende Denkfiguren bieten die langen Schatten der Vergangenheit eben Aufschluß mit nur wenig griffigem Anwendungsbezug. Doch wer unter den Ratsuchenden “gewöhnt ist, die Geschichte als Fortschritt zu betrachten, der will an dieser Gewißheit festhalten...”1. Der Ruf nach Patentlösungen setzt sich schließlich in dem Maße durch, wie die Bereitschaft nachläßt, aus der Geschichte lernen zu wollen. Was aber tatsächlich relevant ist und historischen Bedeutungszuspruch verdient, darüber läßt sich bekanntermaßen trefflich streiten.

Dabei muß man Geschichte nicht als Labyrinth begreifen, um zu erkennen, daß der “Ariadnefaden der Relevanz”2 ein Clio angetrages 1 Hans-Joachim Torke, Die Geschichte Rußlands vor 1917 in der gegenwärtigen De-batte der sowjetischen Historiker, in: Siegfried Baske (Hrsg.), Perestrojka: Multidiszi-plinäre Beiträge zum Stand der Realisierung in der Sowjetunion. (Multidisziplinäre Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, 1.) Ber-lin/Wiesbaden 1990, 7-27, hier 27. 2 Christoph Schmidt, Zur Kritik historischer Relevanz. Am Beispiel der Geschichte Osteuropas, in: JbbGOE 48, 2000, 552-568, hier 552. Siehe auch Jurij Aleksandrovič Poljakov, Počemu istorija nas ne učit?, in: Voprosy Istorii 2, 2001, 20-31, hier 20, 22.

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Gebot ist, das kaum hält, was es verspricht. Denn wenn unter dem Eindruck globaler Veränderungen die Einheit von Anschauung und Erkennen verloren zu gehen scheint, wird doch ein typisches Para-doxon unserer Zeit sichtbar. Um der Präzision seiner Beurteilung willen ist der Historiker jedenfalls gut beraten, zeitlichen Abstand zu den Fakten zu halten. Hierbei geht es für ihn um die Wahrung analy-tischer Mittel, “tools that political scientists possess and historians do not, lest their arguments degenerate into moralism”3.

Zu den Besonderheiten des Epochenwandels gehört nun, daß die postsozialistische Irritation des Historikers im östlichen Europa durch eine Desorientierung überlagert wird, die den Auswirkungen der Transformation auf die Geisteswissenschaften entspringt sowie seinem gewandelten Verhältnis zur Wissenschaft. Denn mit dem Sy-stemwechsel haben sich die Rahmenbedingungen seiner Arbeit im Grundsatz verändert. Ganze Kohorten dissidenter wie angepaßter Forschergenerationen waren gezwungen, sich in eine rapid erneu-ernde Gesellschaft ökonomisch und ideologisch hineinzufinden. Dem an sie gerichteten Anspruch nach Aufarbeitung und Richtig-stellung der Vergangenheit einerseits folgend, dem Druck erneuter Anpassung und Finanzierungszwängen andererseits gehorchend, verfolgte Clio - zwischen Skylla und Charybdis lavierend - seither einen schlingernden Kurs.

Die geschichtspolitischen Konturen der Staaten traten dabei in dem Maße hervor, wie die neuen Oligarchien und eine von ihnen verordnete Demokratie Einzug hielten. Die Blaupause hierzu lieferte das Ringen nationaler Trägerschichten um die Macht und ein wach-sendes Problembewußtsein über die Folgen der Transition für die Integration von Staat und Gesellschaft. Bekenntnisse zur nationalen Identität sind, an die Stelle kommunistischer Losungen tretend, seit-her an der Tagesordnung - ein Paradigmenwechsel, der mit dem Aufbruch aus der sozialistischen Völkerfamilie von allen Nationali-täten erfahren wurde. Jedoch hat das unablässige Umzeichnen der Leitlinien auch eine Entwertung sozialer Ideale mit sich gebracht und die gesellschaftliche Entsolidarisierung vertieft. Die Bildung

3 Marco Dogo, Historians, Nation-Building, Perceptions, in: Stefano Bianchini, Marco Dogo (Eds.), The Balkans: National Identities in a Historical Perspective. (Collana di studi sui Balcani e l’Europa Centro-Orientale, 9.) Ravenna 1998, 21-31, hier 26. Siehe auch Volker Ullrich, Keine Visionen. Ein Nachwort zum Historikertag in Halle, in: Die Zeit, Nr. 39, 2002, 35.

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neuer Wir-Gruppen, die sich um ethnisch-nationale oder religiös definierte Identitäten und Ikonen scharen, wurde so beschleunigt.

Von dem Identitätsausbau verspricht sich der Staat also nicht nur frische Loyalität mittels alter Symbole.4 Es geht ihm auch um die Ausbesserung jener Risse, die im Zuge des Systemumbaus durch ungleiche Redistribution, Korruption und soziale Differenzierung billigend in Kauf genommen wurden. Grob gezimmerte Historizitä-ten sollen bei der Einpflanzung des ‘richtigen Bewußtseins’ behil-freich sein, um eine dringend benötigte Kohäsionskraft bereitzustel-len. Hierbei zeigt sich erneut, daß Funktion und Wirken des Histori-kers an den sozialen Kontext gebunden bleibt. Auf dem ständigen Spannungsfeld von Sachlich- und Parteilichkeit reflektiert sein Handwerk sowohl auf eigene Anschauung beruhende Überzeugun-gen wie den Einfluß politischer Konjunkturen.

Was aber geschieht, wenn geschwächte Staaten die Nation durch Nabelschau zu kurieren suchen, ist hinlänglich bekannt. Die Über-höhung des Eigenen hat in der Regel Verzerrungen bei der Wahr-nehmung des Anderen und Fremden, religiös oder ethnisch ausge-grenzter Minderheiten zur Folge. Die intellektuelle Bereitschaft zur Überwindung ethnozentrischer Standpunkte läßt rapide nach. Es werden neue Lehrbücher verfaßt, weil die nationale Identität in der Periode früher Adoleszenz entscheidend geprägt wird.5

4 Dem Identitätsbegriff liegt das in die Sozial- und Politikwissenschaften eingegange-ne Konzept von ‘psychologischer Identität’ zu Grunde, wie es von Erik H. Erikson entwickelt wurde. Siehe ders., Childhood and Society. New York 1963, oder ders. Identity, Youth and Crisis. New York 1968. Identität als sozio-politische Kategorie wird diskutiert bei David D. Laitin, Identity in Formation. The Russian Speaking Populations in the Near Abroad. Ithaca/London 1998, 10-35; Ivan Iveković, Identity: Usual Bias, Political Manipulations and Historical Forgeries. The Yugoslav Drama, in: Stefano Bianchini/George Schöpflin (Eds.), State Building in the Balkans. Dilem-mas on the Eve of the 21st Century. (Collana di studi sui Balcani e l’Europa Centro-Orientale, 8.) Ravenna 1998, 251-273. 5 Sylwia Wilberg, Nationale Identität. Empirisch untersucht bei 14-jährigen in Polen und in Deutschland. (Internationale Hochschulschriften, 172.) Münster/New York/München/Berlin 1998; Miklós Stier, Lehrbücher unter dem Aspekt von Stereo-typenbildung, in: Valeria Heuberger/Arnold Suppan/Elisabeth Vyslonzil (Hrsg.), Das Bild vom Anderen. Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in multiethni-schen europäischen Regionen. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1998, 241-246, hier 241; Karl Eimermacher [Ajmermacher, Karl]/Gennadij Bordju-gov, “Svoë” i “Čužoe” prošloe. Vvedenie, in: dies. (Eds.), Nacional’nye istorii v so-vetskom i postsovetskich gosudarstvach. Moskau 1999, 13-17.

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Der sich abzeichnende Imperativ läßt sich mit wenigen Worte fas-sen: Der Historiker unterliegt der Verpflichtung persönlicher Befrei-ungsleistung von Xenophobien und Zentrismen jedweder patrioti-schen Geschichtsschreibung. Nationalistischen Vereinnahmungen gleichwie der Verlockung, seinen inneren Diskurs an Signalen der politischen Relevanz auszurichten, hat er zu widerstehen, wobei ihm die ständige Vergewisserung helfen mag, “daß er ohne Vaterland, ohne Glauben und ohne Herrscher auftreten muß”6.

Allerdings geht es weniger um die Erfindung von Vergangenheit als um die Auswahl diverser Narrative, um eine mit archäologischer Akribie betriebene Freilegung verschütteter Geschichtswelten und deren Ausbeutung. Weil Verheißungen über die Aufhebung der Klassengegensätze auf absehbare Zeit nicht mehr verfangen, wird an Projektionsflächen gebaut, die eine Integration nach nationalen und regionalen Kriterien versprechen. Das Abbilden von Gemeinschaf-ten7, das Modellieren identitätsstiftender und herrschaftslegitimie-render Sinnzusammenhänge aus dem vorgefundenen Stoff wird so-mit erneut zur Handlung von Historikern, Archäologen, Ethnologen und Philologen.

Ob diese als Wiedererwecker (re-awakeners)8 zudem den fausti-schen Pakt schließen und Geschichte in nationalistischer Absicht er-finden9 werden, hängt wesentlich von Clios ideologischen und - do ut des - materiellen Zwängen ab. Zu Architekten postsozialistischer Nationalstaatsbildung bestellt, wird ihnen das Profil eigenverant-wortlich wirtschaftender Wissenschaftsunternehmer10 jedenfalls noch lange fremd bleiben. Wahrscheinlicher ist, daß sie für absehba-

6 So Gerhard Friedrich Müller (1705-1783), zitiert nach Birgit Scholz, Von der Chro-nistik zur modernen Geschichtswissenschaft: Die Warägerfrage in der russischen, deutschen und schwedischen Historiographie. (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München: Forschungen zum Ostseeraum, 5.) Wiesbaden 2000, 5. Vgl. bei Schmidt, Zur Kritik (wie Anm. 2), 560-561, 567. 7 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983, 50. 8 Dogo, Historians (wie Anm. 3), 22. 9 Ernest Gellner, Nations and Nationalism. Ithaca 1983, 48 f. 10 Dieter Langewiesche, Hochschulpolitik aus historischer Sicht. Festvortrag zum 65. Geburtstag von Wolfgang Frühwald und zum 60. Geburtstag von Georg Jäger, gehal-ten am Dienstag, den 18. 7. 2000, in der Siemens-Stiftung München, in: IASL online spezial, http://iasl.uni-muenchen.de/spezial/langewie.htm, 2000, 1; Dittmar Schorko-witz, Wissenschaft und Globalisierung: Erst Endzeitstimmung, dann Ausverkauf?, in: Berliner Osteuropa Info 14, 2000, 16-19, hier 18.

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re Zeit im Dienste politischer Unternehmer (Max Weber) stehen werden - eine Trägerschicht, die in Osteuropa vornehmlich als ethnopolitischer Unternehmer (Joseph Rothschild) auftritt.11

Dabei versteht sich das Handwerk der an mageren Subventions-töpfen hängenden, ergo auf Selbstintegration erpichten Geistesarbei-ter nicht erst seit Paul Šafáŕik (1795-1861) auf das Schmieden natio-naler Identitäten.12 Die Knechtung der Wissenschaften unter den Diktaturen des 20. Jahrhunderts verweist indes jede Mutmaßung ins Reich der Fabel, die nationes Osteuropas seien für eine tendenziöse Nationalgeschichtsschreibung prädestiniert. Zum Kern des Problems führt vielmehr die Beobachtung, daß schwache Staaten, zumal in Krisenzeiten, eher bereit sind, die ‘nationale Frage’ als Konsensres-source anzuzapfen. Denn aus patriotischer Emotion gewonnene Energie läßt sich leicht in politische Handlung konvertieren.

11 Joseph Rothschild, Ethnopolitics. A Conceptual Framework. New York 1981; Ste-phan Ganter, Ethnizität und ethnische Konflikte. Konzepte und theoretische Ansätze für eine vergleichende Analyse. (Freiburger Beiträge zu Entwicklung und Politik, 17.) Freiburg im Breisgau 1995; Stefan Troebst, Politische Entwicklung in der Neuzeit, in: Magarditsch Hatschikjan/Stefan Troebst (Hrsg.), Südosteuropa. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur: Ein Handbuch. München 1999, 73-102, hier 75. ders., Factors of Escalation and De-Escalation in Ethnic Conflicts: An Overview of Theoretical Ap-proaches. Paper given at the International Conference ‘Balkan Security: Visions of the Future’, Centre for South-East European Studies, School of Slavonic and East Euro-pean Studies, University College London, London, 16 to 18 June 2000. Leipzig 2000. 12 Generationen tschechischer Historiker waren beispielsweise in den ‘Handschriften-streit’ hineingezogen. In der Ukraine sind Impulse nationaler Erneuerung ohne die politischen Ideen ihrer Historiker kaum denkbar und der polnischen Nation muß Clio gar als Schutzgöttin gelten, da sie die Hoffnung auf nationale Einheit über das Zeital-ter der Teilungen hinüberrettete. Vgl. bei Joseph Frederick Zacek, Palacky. The Histo-rian as Scholar and Nationalist. The Hague/Paris 1970 (siehe dazu die Besprechung von Friedrich Prinz, in: JbbGOE 22, 1974, 299 f.) Otfrid Pustejovsky, Josef Pekaŕ (1870-1937). Persönlichkeit und wissenschaftliches Werk, in: JbbGOE 9, 1961, 367-398, hier 369. Vgl. bei Mark Stolárik, The Painful Birth of Slovak Historiography in the 20th Century, in: Zs. für Ostmitteleuropaforsch. 50, 2001, 161-187. Jaroslaw Pe-lenski, Geschichtliches Denken und politische Ideen V. Lypynśkyjs. Zum 30. Todes-tag des ukrainischen Historikers und politischen Denkers (14. Juni 1961), in: JbbGOE 9, 1961, 223-246, hier 223, 239; Bernhard Stasiewski, Die Jahrtausendfeier Polens in kirchengeschichtlicher Sicht, in: JbbGOE 8, 1960, 313-329, hier 313.

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Die Perestrojka hat also den Geschichtswissenschaften neue Räumlichkeiten zugewiesen. Mit der Desintegration des sozialisti-schen Staatenkonglomerates schon erhielten diese eine patriotische Orientierung, als ethnische Großgruppen darangingen, sich national zu definieren und dabei ein Souveränitätsmechanismus einsetzte, der zur Bildung neuer Nationalstaaten und substaatlicher Autonomien führte. Zementiert wurde die Ausrichtung, weil der Systemwechsel durch die Renaissance der nationalen Idee nachhaltig überformt und durch die Historizität nationaler Eliteschichten bestimmt wurde. Die-se prägten eine Ideologie, die ursprünglich ihre Selbstintegration be-absichtigte und erst nach Installierung der Führerschaft auch andere Teile des Personalverbandes oder privater Netzwerke ins Auge faß-te, bevor sie an die Integration der Gesellschaft dachten.13

Die Prozesse der Nationsbildung und nachholenden Modernisie-rung werden somit durch ein rigides Ausrangieren sozialistischer und durch die Indienststellung ethnonationaler Projektionsflächen begleitet. In den neuen Republiken wird die Formgebung des natio-nalen Bewußtseins dabei durch die Geschichtspolitik einer Träger-schicht gesteuert, die, “[using] history for building national identi-ties”14, dem “einstigen universitären Mittelbau”15 entstammt. Auf

13 Gerhard Brunn, Historical Consciousness and Historical Myths, in: Andreas Kap-peler/Fikret Adanïr/A. O’Day (Eds.), The Formation of National Elites. (Comparative Studies on Governments and Non-Dominant Ethnic Groups in Europe, 1850-1940, 6.) Dartmouth 1991, 327-338, hier 327; Jörg Stadelbauer, Ethnonationalismus, Regiona-lismus und staatliche Organisation im östlichen Europa: Akteure und Konfliktpoten-tiale, in: Klaus-Achim Boesler/Günter Heinritz/Reinhard Wiessner (Hrsg.), Europa zwischen Integration und Regionalismus. (Europa in einer Welt im Wandel. 51. Deut-scher Geographentag Bonn 6. bis 11. Oktober 1997, 4.) Stuttgart 1998, 92-105, hier 101 f.; Dittmar Schorkowitz, Viel Geschichte - Wenig Integration. Nationale Reaktio-nen im Postsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Transition - Erosion - Reaktion. Zehn Jahre Transformation in Osteuropa. (Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 8.) Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2002, 163-188, hier 168-171; Horst Schützler, Die nationale Problematik in der Sowjetunion - in der postsowjetischen Geschichtsschreibung Russlands (Einblicke im Kontext mit der deutschen Historiographie), in: Ernstgert Kalbe/Wolfgang Geier/Holger Politt (Hrsg.), Osteuropa in Tradition und Wandel. (Leipziger Jahrbücher, 3[2].) Leipzig, 2001, 251-284. 14 Yuri Bregel, Notes on the Study of Central Asia. (Papers on Inner Asia, 28.) Bloom-ington 1996, 23. Vgl. bei Audrey Altstadt: Rewriting Turkic History in the Gorbachev Era, in: Journal of Soviet Nationalities 2/2, 1991, 73-90; Taras Kuzio, Soviet-Era Uzbek Elites Erase Russia From National Identity, in: http://www.eurasia-net.org/departments/culture/articles/eav042002.shtml, EurasiaNet Commentary, April 20, 2002; Artur Samari/Kamiljon Ashurov/Uktam Ibragimov, Uzbeks Rewrite History.

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einen breiten Konsens in der Gesellschaft angewiesen und sich durch das Versprechen des Neuanfangs legitimierend, war die ein-gewechselte, durch den postkommunistischen Machtkampf geprägte Elite nur allzu schnell bereit, die sozialistische Epoche aus dem hi-storischen Bewußtsein einfach zu streichen.16 Erfahrene Vergangen-heit sollte durch Geschichtskonstrukte eines nationalen Erbes ersetzt werden. Doch wer geglaubt hatte, die Herrschaft wäre damit siche-rer, unterlag nicht nur dem Trugschluß der Reversibilität von Ge-schichte. Er folgte einer teleologischen Interpretation von Vergan-genheit, die Geschichtsmächtigkeit ebenso leichtfertig ignorierte, wie die mögliche Wiederkehr chauvinistischer Nationalismen. Er übersah zudem, daß nachdrängende Abenteurer bereitstanden, die beschrittenen Pfade nationaler Selbstinszenierung mit noch größerer Vehemenz einzuschlagen.

Daß vor allem ethnisch-nationale und konfessionelle Identitäten bei der Integration der Gesellschaft helfen sollen, liegt wohl an der Effektivität des Mechanismus, mit dem sich diese bei der Selbstab-grenzung von Wir-Gruppen in Bezug auf Territorium, Rasse, Kultur ausprägen und im Bewußtsein von Abstammungsgemeinschaften verhaften.17 Für die Nationsbildung im östlichen Europa bedeutet

Academics Fear Tashkent’s Historical Revisionism May Lead to Anti-Russian Feeling among Uzbek Youth, in: Institute for War and Peace Reporting on Central Asia 160, November 13, 2002. 15 Helmut König, Geistige und soziale Prozesse des Systemwandels: Ihre Auswirkun-gen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, in: Osteuropa 43, 1993, 871-889, hier 880. Vgl. dazu Paul Georg Geiß, Nationenwerdung in Mittelasien. (Europäische Hochschulschriften, Rh. 31: Politikwissenschaft, 269.) Frankfurt am Main /Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995, 178-185. 16 Christian Giordano, Historizität statt Modernisierung? Reflexionen über die Trans-formationsprozesse in Mittel- und Osteuropa, in: Christine Brombach/Andreas Nebe-lung (Hrsg.), Zwischenzeiten und Seitenwege - Lebensverhältnisse in peripheren Re-gionen: Andreas Bodenstedt zum 60. Geburtstag. (Schriften des Zentrums für regiona-le Entwicklungsforschung der Justus-Liebig-Universität Giessen, 55.) Münster/ Ham-burg 1994, 217-232; Clemens Friedrich, Zur Entlastungsfunktion einer Denkfigur: Fukuyamas »Ende der Geschichte«, in: Brigitte Heuer/Milan Prucha (Hrsg.), Der Um-bruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie. (Gesellschaften und Staa-ten im Epochenwandel, 3.) Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995, 265-276; David Norman Smith, The Ethnological Imagination: Making and Remaking History, in: Dittmar Schorkowitz (Hrsg.), Ethnohistorische Wege und Lehr-jahre eines Philosophen: Festschrift für Lawrence Krader zum 75. Geburtstag. Frank-furt am Main/Berlin/Bern/NewYork/Paris/Wien 1995, 102-119, hier 102. 17 Georg Elwert, Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von Wir-Gruppen,

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dies zweierlei. Wenn Identität durch Abgrenzung entsteht und es ei-ne “anthropologische Bestimmung”18 menschlicher Gemeinschaften ist, sich voneinander abzugrenzen, ist eine Segregation der territori-al-administrativen Ordnung vorgezeichnet. Und stellt die Rückbe-sinnung der Gruppe auf Herkunft und Kultur ein wesentliches Krite-rium nationaler Selbstfindung dar, so hängt von ihrer Trägerschicht ab, welche Vergangenheiten, Mythen und Konfessionen zugelassen werden. Daß dies eine ethnopolitische Unternehmung von höchster Komplexität ist, zeigt sich schon an der begrifflichen Vielschichtig-keit von Geschichtsbewußtsein, das Faktizität wie Mythos beinhaltet und kollektiv wie individuell zugleich ist. Erst durch den Zugriff ge-sellschaftlicher Kräfte, durch individuelle oder institutionelle Sinn-gebung und den Rückgriff auf die Tradition konkretisiert sich Histo-rizität19, ablesbar an Erzählstrukturen, in denen Vergangenheit se-lektiert, gebündelt und kommunizierbar gemacht ist.

Ein solcher Umgang mit historischer Sinnstiftung verlangt aller-dings nach Fachleuten, welche die Historiographie in nationalisti-scher Perzeption aufarbeiten und dabei den Rahmen für diverse Na-tionalpakte gegen einen nun feindlichen Nachbarn zu zimmern ver-stehen. So wird innerer Konsens - mittels neuverfaßter Nationalge-

in: KZSS 41, 1989, 440-464; Thomas Hylland Eriksen, Ethnicity and Nationalism. Anthropological Perspectives. London/Boulder 1993, 18-35, 71-77. Ganter, Ethnizität und ethnische Konflikte (wie Anm. 11), 39-41, 139; Rodney Bruce Hall, National Col-lective Identity. Social Constructs and International Systems. New York 1999, 26-50; Sebastian Brather, Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Ar-chäologie, in: Germania 78, 2000, 139-177. 18 Kurt Hübner, Nation und Mythos, in: Clemens Friedrich/Birgit Menzel (Hrsg.), Osteuropa im Umbruch: Alte und neue Mythen. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1994, 29-43, hier 32 f. Vgl. dazu Miroslav Hroch, Ethnische, regio-nale und nationale Identität in historischer Perspektive, in: Boesler/Heinritz/Wiessner (Hrsg.), Europa zwischen Integration und Regionalismus (wie Anm. 13), 69-73, hier 71. 19 Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Eds.), The Invention of Tradition. Cambridge 1983; Hans-Georg Gadamer, The Problem of Historical Consciousness, in: P. Rabi-now/W. Sullivan (Eds.), Interpretive Social Science. A Reader. 2nd Ed. Berkeley 1987; Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewußtsein, in: Klaus Bergmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik. 3. Aufl. Düsseldorf 1985; Jörn Rüsen/Klaus Fröh-lich/Hubert Hostkötter/Hans Günter Schmidt, Untersuchungen zum Geschichtsbe-wußtsein von Abiturienten im Ruhrgebiet, in: Bodo von Borries/Hans-Jürgen Pandel/ Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein Empirisch. Pfaffenweiler 1991, 221-344. Guntram H. Herb, National Identity and Territory, in: ders./David H. Kaplan (Eds.), Nested Identities. Nationalism, Territory, and Scale. Lanham/Boulder/New York/Oxford 1999, 9-30, hier 13-17.

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schichtsschreibung - durch Abgrenzung gebildet, die das Abgrenz-bare dem Eigenen entgegenstellt. Längst überwunden geglaubte Ste-reotypen werden dafür aufgefrischt und zu Feindbildern überzeich-net. Bei dieser Zuarbeit geht es in der Tat darum, Argumente eines ideologischen Waffenarsenals für die gegenseitige Schuldzuweisung unter Verweis auf vermeintlich historische Rechte anzuhäufen. Die Vermutung liegt nahe, daß hierbei Identitäten verstärkt und mobili-siert werden sollen, um ethnonationale Konflikte in katalysatorischer Absicht auszubeuten. Von dem Eigennutz der Eliten, den Fehlent-wicklungen der Transition und einer geopolitischen Neuvermessung der Hemisphären ablenkend, wird Eskalation billigend in Kauf ge-nommen.

Doch indem die neuen Nationalstaaten ihre Vulnerabilität mit na-tionalistischen Ideologien zu kompensieren suchen, nehmen sie die Entfremdung von benachbarten, durchmischt lebenden Nationalitä-ten hin. Im östlichen Europa, wo ethnische Heterogenität das Er-scheinungsbild der Staaten seit Jahrhunderten bestimmt, blieb die Vielfalt in der Einheit dabei auf der Strecke. In letzter Konsequenz ist die geschmähte Option ethnischer Demarkation, welche die Mili-tärs zuvor in ihrer barbarischsten Konsequenz durchdekliniert haben, zu einem diskutablen Hoffnungsträger geworden. Dabei haben die Kriege auf dem Balkan, im Kaukasus sowie in Mittelasien den Wahrnehmungshorizont dafür verstellt, daß sich die Renationalisie-rung und der schmerzvolle Prozeß kollektiven Erinnerns20 in einer Kulturlandschaft mit multiplen Identitäten vollzieht. An eine Rück-mischung unter Zwang homogenisierter Siedlungsräume aber mag heute kaum jemand mehr glauben.

II. Die Wiederkehr der Nationalgeschichtsschreibung

Daß die Neuschreibung der Geschichte in der Tat an lang unter-

drückte Dispute über die Nation und ihre Identität anknüpft, zeigt ein Blick auf die frische Palette historischer Darstellungen. Hierbei ist eine Entwicklung erkennbar, die den postsozialistischen Raum mit gewisser Regelhaftigkeit durchzieht. Die festgestellte Überein-stimmung an politischer Motivation und den angewandten Mitteln wird in den Großregionen indes durch Unterschiede in der Wissen-

20 Hülya Demirdirek, The Painful Past Retold: Social Memory in Azerbaijan and Ga-gauzia, in: Journal of the Turkish World 9/1, 1999.

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schaftlichkeit angewandter Methoden spürbar durchbrochen. Für die Variantenbildung zudem entscheidend ist der politische Kontext und die Zweckgebundenheit geschichtlicher Argumentation.

Daß nationale Oligarchien nun über maßgebende Gestaltungskräf-te verfügen und der schleppende Ausbau zivilgesellschaftlicher Grundlagen einer traditionell inferioren Stellung der Geisteswissen-schaften nur unwesentlich beikommen kann, zudem regionale Men-talitäten ein Aufbrechen erschweren, ist auffällig zumal in Rußlands Orient - den sowjetischen Nachfolgestaaten Mittelasiens. Schließlich war Herrschaftslegitimation zweckmäßig hier schon im 16. Jahrhun-dert, als es darum ging, eine Aszendenz zu Tamerlan durch genealo-gische Legenden zu beweisen, “fabricated by historians”21. Was aber bedeutet, daß die Historienschreiber von Samarkand sich kaum anders verhielten als gelehrte Moskoviter Mönche, die mit ihren Chroniken des 15. und 16. Jahrhunderts den Herrscher mit Abstam-mungslegenden bedienten, “deren offenbarer Sinn es war, das groß-fürstliche, später das zarische Haus mit den römischen Kaisern zu verbinden”22, oder eben jener Turkmenbaši aus Ašchabad, der die Historiker des Landes abkommandierte, den Stammbaum seiner Fa-milie zu einer Dynastie der Nijazovs auszuschreiben.

Von Relevanz für die aktuelle Legitimationsbeschaffung aber ist vor allem jene Künstlichkeit, mit der Nation, Grenze und Staatsvolk in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts abgegrenzt worden wa-ren. Stalins berechnende Umverteilung eines multikulturellen Erbes aus vorrussischer Zeit mit ausgeprägter Bilingualität und Mehrfach-identitäten auf postrevolutionäre Nationalhistoriographien brachte ja nicht nur eine Fülle fachlicher Probleme mit sich. Unter der Ägide sowjetischer Nationalitätenpolitik entwickelte sich Clios Handwerk auch zu einer Disziplin, die der Rechtfertigung politischer Einheits-konstrukte dienen sollte, was eine Balkanisierung23 der Geschichte Mittelasiens zur Folge hatte.

21 Bregel, Notes (wie Anm. 14), 8. Vgl. bei Kuzio, Soviet-Era Uzbek Elites (wie Anm. 14). 22 Dietrich Geyer, Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte. Vorgetragen am 27. Oktober 1984. (SB der Heidelberger Akad. der Wiss., Phil.-hist. Klasse, Jg. 85, 2.) Heidelberg 1985, 1-46, hier 5. 23 Bregel, Notes (wie Anm. 14), 12, zitiert den damaligen Direktor des kirgizischen Akademieinstituts für Geschichte, der 1983 auf einer Konferenz in der St. Peters-burger Eremitage verkündete: “You, comrade scholars, please continue to discuss this problem, but we have already solved it in the Central Committee of the Party of Kir-

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Mit Beginn der Perestrojka trat daher eine kulturelle Reterrito-rialisierung ein, die in der Erfindung distinktiver Identitäten aller-dings neue Maßstäbe setzte. Denn zwischen Nativismus und Moder-nisierung schwankend, haben jetzt antikisierende Theorien Konjunk-tur. So ‘entdeckte’ man 1990 Proto-Kazachen als Zeitgenossen des Kušana-Reiches, womit eine Grundlage für 2000 Jahre kazachischer Ethnizität geschaffen wurde. Saken gelten seitdem als Vorfahren der Kazachen und Turkmenen als Nachfahren der Parther. Die Samani-den dienen als Kultursymbolik tadzikischer Zivilisation, Ibn Sina (†1037) und Tamerlan (†1405) werden als uzbekische Nationalhero-en beansprucht.24

Nicht nur steht die Projektionsfläche eines historischen Groß-Buchariens damit dem neo-persischen Bild von Groß-Chorasan ge-genüber. Vielmehr gilt die iranisch-turkische Beziehungsgeschichte wegen der Fortschreibung sich national voneinander abgrenzender Entwürfe heute als besonders problembehaftet. So nahmen die gegen Tadzikistan ins Feld geführten Argumente seit 1993 unter Islam Ka-rimov an Schärfe zu. Sein ‘Programm zum Studium, Erhalt und zur Verbreitung des historischen und kulturellen Erbes der Völker Uz-bekistans’ (Me’rās) verpflichtet die Historiker, Archäologen und Linguisten, wissenschaftliche (sic) Grundlagen einer Ideologie na-tionaler Unabhängigkeit zu errichten. Zielvorgabe ist ein Kontinuum uzbekischer Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Den hi-storischen Gebrauch des Persischen in Literatur und Verwaltung tut man als sprachliche Modeerscheinung ab, womit dieser Sprache - wie schon in den 20er Jahren - die Funktion eines Gradmessers eth-nischer Durchmischung aberkannt wird.25

ghizstan: the Kirghiz people emerged right on the territory that it occupies now.” (ebd. 16). 24 Theodor Levin, The Reterritorialization of Culture in the New Central Asian States: A Report from Uzbekistan, in: D. Christensen (Ed.), Yearbook for Traditional Music 25, 1993, 51-59, hier 52, über das Zusammenwirken postsowjetischer Kulturkräfte. 25 Igor Torbakov, Tajik-Uzbek Relations: Divergent National Historiographies Threaten To Aggravate Tensions, in: http://www.eurasianet.org/departments/culture/ articles/eav061201.shtml, Eurasianet, June 12, 2001. Siehe auch Stéphan Dudoignon: Changements politiques et historiographie en Asie centrale (Tadjikistan et Uzbeki-stan), in: Cahiers d’études sur la Méditerranée orientale et le monde turco-iranien 16, 1993, 86-135; Stephen Hegarty, The Rehabilitation of Temur: Reconstructing Na-tional History in Contemporary Uzbekistan, in: Central Asia Monitor 1, 1995, 28-35; Kuzio, Soviet-Era Uzbek Elites (wie Anm. 14). Rustam Šukurov, Tadzikistan: muki vospominanija, in: Eimermacher/Bordjugov (Eds.), Nacional’nye istorii (wie Anm. 5),

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Mit weit größerer Härte noch präsentiert sich der Schlagabtausch in der Geschichtsschreibung über den Südkaukasus zwischen Arme-nien und Azerbaidzan, die 1988 bis 1994 Krieg um Berg-Karabach (Arcach) führten. Da nun das Wortgefecht um die Legitimität staat-licher Handlungen hier als Fortführung des Krieges mit anderen Mit-teln gilt, wird die Geschichte skrupellos als Steinbruch für die politi-sche Argumentation geplündert. Ethnogenese, Landnahme und Staatlichkeit zählen - wie für ethnoterritoriale Konflikte typisch - zum Kerninventar einer ideologischen Rüstkammer im Streit um hi-storisches ‘Erstgeburtsrecht’ und den purifizierenden Nachweis eth-nisch-homogener Staatsgeschichte.26

Folglich hat man die Migrationstheorie, laut der protoarmenische Gruppen im 12. vorchristlichen Jahrhundert in das kaukasische Bergland eingewandert seien, zugunsten der Autochthoniethese auf-gegeben, die von einer Existenz der Armenier schon um 4000 vor der Zeitenwende ausgeht. Darüber hinaus jedoch stellt die frühe Staatlichkeit Armeniens (189 v.Chr.), wo das Christentum erstmalig zur Staatsreligion (301 n.Chr.) erhoben wurde, ein geschichtsträchti-ges Schwergewicht dar, das seinesgleichen vergeblich sucht. Als Versuch einer Entgegnung bezieht man sich auf azerischer Seite deshalb auf Albanien, jenes ostkaukasische Reich aus der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends27, das als frühe Heimstatt protoa-zerbajdzanischer Gruppen präsentiert wird. Ähnlich verfuhr man mit dem antiken Atropatene, das indes erst spät turkisiert wurde, nämlich

231-254. 26 Ronald Grigor Suny, Constructing Primordialism: Old Histories for New Nations. Contemporary Issues in Historical Perspective, in: The JModH 73, 2001, 862-896; Volker Jacoby, Geschichte und Geschichtsschreibung im Konflikt um Berg-Karabach, in: Ethnos-Nation 6, 1998, 63-84, hier 64; Stephan Astourian, In Search of their Fore-fathers. National Identity and the Historiography and Politics of Armenian and Azer-baijani Ethnogeneses, in: D.V. Schwartz/R. Panossian (Eds.), Nationalism and His-tory. The Politics of Nation Building in Post-Soviet Armenia, Azerbaijan and Georgia. Toronto 1994, 41-94; Burchard Brentjes, Drei Jahrtausende Armenien. 3. Aufl. Leip-zig 1984, 25-35; Schorkowitz, Viel Geschichte - Wenig Integration (wie Anm. 13), 178-183. Aleksandr Iskandarjan/Babken Arutjunjan, Armenija: “Karabachizacija” nacional’noj istorii, in: Eimermacher/Bordjugov (Eds.), Nacional’nye istorii (wie Anm. 5), 147-160. 27 D.A. Chalilov, Kavkazskaja Albanija, in: G.A. Košelenko/B.A. Rybakov/Institut Archeologii AN SSSR (Eds.), Drevnejšie gosudarstva Kavkaza i Srednej Azii. (Ar-cheologija SSSR s drevnejšich vremen do srednevekov’ja v 20 tomach.) Moskau 1985, 93-105, hier 93-94. Vgl. bei Kemal G. Aliev, Antičnaja Kavkazskaja Albanija. Baku 1992, 186.

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mit dem Erscheinen der Seldschuken im 11. Jahrhundert. Also fuhren die Historiker hier das Geschütz einer 3000 Jahre alten Schriftgeschichte auf, die man flugs in eine ebensolche Dauer staat-licher Existenz umdeutet. “Die Schriftgeschichte Azerbajdzans und seiner Urbevölkerung”, schreibt Rauf Gusejnov, “zählt drei Tausend Jahre. Ihre Erforschung wie das Studium der dreitausendjährigen Staatlichkeit des Landes ist die heilige Pflicht der Historiker und ihre Kenntnis die Verpflichtung eines jeden Bewohners azerbajdzani-scher Erde.”28 Bei diesem Mißgriff fällt erschwerend in’s Gewicht, daß Azerbajdzans Staatlichkeit - sieht man von der kurzen Autono-mie der Demokratischen Republik 1918-20 ab - eigentlich erst im Kontext der Stalinschen Nationalitätenpolitik Ende 1936 einsetzt.

Mit Rückblick auf die unterschiedlichen Entwürfe ‘Goldener Zeitalter’ in Mittelasien zeigt sich, daß die Suche nach den Ursprün-gen im Südkaukasus zu analogen Perspektiven gefunden hat. Sie knüpfen hier an die Vision von Groß-Armenien einerseits, an den sattsam bekannten Turanismus andererseits an. Der allerdings sorgt auch unter Intellektuellen Azerbajdzans für Irritationen beim Ausbau nationaler Identität. Das jedenfalls belegte die öffentlich ausgetrage-ne Streitfrage, wie denn die Bezeichnung der Staatssprache zu lauten habe: “Sollte sie Aserbaidschanisch (Azärbaycan dili) heißen? Oder Aserbaidschanisch-Türkisch (Azärbaycan Türk dili, Azärbaycan Türkcäsi)? Oder einfach Türkisch (Türk dili, Türkcä)?”29

Daß aber weder historisches Aufrechnen noch imaginierte Größe einer politischen Lösung von Konflikten des sozialen Wandels dien-lich sind, verdeutlicht der Zerfallsprozeß der Republik Jugoslavien in tragischer Weise. Denn mit dem Dahinschmelzen der Titoistische Legitimationsgrundlage setzten hier nationalistische Ideologien be-kanntlich eine Eskalation frei, die - auf dem Hintergrund schwin-dender Finanzressourcen und wachsender sozialer Unzufriedenheit - alle Segmente der Gesellschaft Zug um Zug gegeneinander auf-brachte. Als Auslöser dienten sich gegenseitig ausschließende ethnonationale Entwürfe, wobei das Groß-Serbien Projekt der Mi-lošević-Clique den Widerstand von Slovenen und Kroaten unmittel-

28 Rauf A. Gusejnov, Koncepcija istorii Azerbajdzana. Baku 1999, 4, vgl. ebd. 7, 11. 29 Barbara Kellner-Heinkele, Biz Kimik?* - das Problem mit der Bezeichnung der Staatssprache in der Republik Aserbaidschan, in: Berliner Osteuropa Info 17, 2001, 20-24, hier 20. Elçibäy dekretierte (22. 12. 1992) als Staatssprache noch das Türk dili - ein Beschluß, den Aliev in Azärbaycan dili revidierte (12.11. 1995).

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bar hervorief, die nun ihrerseits die Größe vergangener Zeiten zur Fundamentlegung eigener Nationalstaaten bemühten.

Die Vermutung, daß Fachleute “at the pay-roll of the party-state, by identifying their private interests with those of their ethnonational community ... successfully politically mobilized their co-nationals and took power ... claiming to speak for the whole ethnic collectivi-ty”30, und sie daher ethnonationale Identitäten für ihren politischen oder sozialen Aufstieg misbraucht haben, leuchtet dabei ebenso ein wie die Gewißheit, daß bei der emotionsgeladenen Mobilisierung Manipulation und auch Fälschungen eines historischen Revisionis-mus am Werke waren. Hypothesen einer zivilisationsgeschichtlich oder gar rassisch prädispositionierten Kultur der Gewalt, die durch Stereotype von balkanischen Greueln und vom Pulverfaß Balkan Zulauf einwerben, bieten demgegenüber nur ungenügend Erklärung. Stattdessen gibt es hinreichend Belege dafür, daß Geschichtsbilder und Mythen für eine Blut-und-Boden-Ideologie politisch nutzbar gemacht wurden, daß man Zeitebenen selektierte, um den Anteil al-logener Bevölkerungsgruppen an der Heimat - als dem postulierten Lebensraum - zu reduzieren und das historische Recht der eigenen Gruppe derart zu bekräftigen.31

Der Nationalismus hat bekanntlich viele Väter. Dem serbozentri-schen Identitätsmythos und seiner Instrumentalisierung aber arbeite-te vor allem der Intellekt eines akademischen wie theologischen Um-feldes zu. Dies verdeutlichen die anthropogeographischen Kartie-rungen des renommierten Geographen und Ethnographen Jovan Cvi-jić (1865-1927) ebenso wie die Planspiele (1937/44) ethnischer Säu-berungen des Historikers und Politikberaters Vasa Čubrilović oder die biologistische Geschichtsschreibung über das Kosovo (1985) ei-nes Dimitrije Bogdanović. Belege für die Rezeption ihrer Arbeiten durch die serbische Öffentlichkeit sind Legion. Das Serbisierungs-Programm (1995) des Ultra-Nationalisten Vojislav Šešelj gibt ein beredtes Beispiel.

30 Iveković, Identity (wie Anm. 4), 263. 31 Holm Sundhaussen, Kosovo: Eine Konfliktgeschichte, in: Der Kosovo-Konflikt. Ursachen - Akteure - Verlauf. München 2000, 65-88, hier 70, Anm. 22. Vgl. dazu Jens Reuter, Serbien und Kosovo - Das Ende eines Mythos, in: ebd. 139-155, hier 141. Konrad Clewing, Mythen und Fakten zur Ethnostruktur in Kosovo - Ein ge-schichtlicher Überblick, in: ebd. 17-63, hier 38. Brather, Ethnische Identitäten (wie Anm. 17), 149. Siehe die Ausführungen zum Identitätsbegriff, 158-162.

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Mittelasien, der Kaukasus und der Balkan verdeutlichen also, daß Clio als Hebamme der Nation vor allem in Staaten tätig wurde, “welche sich erstmals als souveräne völkerrechtliche Subjekte prä-sentieren”32. Ihre Fertigkeiten waren bei der Durchsetzung postso-zialistischer Territorial- und Souveränitätsansprüche gefragt, weil es darum ging, verschiedene Sprößlinge eines ehedem gemeinsamen Geschichtserbes zu entbinden. Und hierin unterscheidet sich ihr Wirken nicht bezüglich der ostslavischen Staatsbildungen. Denn auch zwischen der Ukraine, Weißrußland und der Rußländischen Föderation, auf die detaillierter einzugehen ist, verläuft die Grat-wanderung von nationaler Identitätsbildung und Kulturabgrenzung keineswegs spannungsfrei.

Für den Themenkanon weißrussischer Nationalgeschichte bedeu-tet dies eine Neubewertung von Ethnogenese und Staatsformation. Die Suche nach den Vorfahren setzt hier bei der Diskussion zur Be-stimmung des baltischen bzw. slavischen Substrates ein, die sich un-ter russischen und weißrussischen Wissenschaftlern in den späten 60er Jahren schon einmal entzündet hatte. Damals wie heute strittig war, ob überhaupt ein baltisches Substrat bei der Genese der Weiß-russen zu Grunde gelegen habe und auf welche Weise der Slavisie-rungsprozeß baltischer Gruppen mit der Formierung ostslavischer Stämme zusammenhängt. Die Frage birgt Sprengstoff, da die balti-sche These einen Ansatz bietet, mit dem der mühevoll konstruierte Mythos vom gemeinsamen Ursprung der ostslavischen Brudervölker ins Wanken gebracht werden könnte.

Hatte man die Slavisierung baltischer Ethnien bisher mit dem 7. und 8. Jahrhundert einsetzen lassen, so wird dieser Prozeß jetzt in das 6. Jahrhundert und somit in die Zeit der Landnahme verlegt. Während die Rückdatierung die These vom baltischen Substrat stärkt, wird damit eine Verlagerung der weißrussischen Nationsbil-dung westwärts behauptet. Hierzu wird gemutmaßt, daß sich der eth-nische Formierungsprozeß unter Beteiligung polnischer, germani-scher sowie tatarischer Gruppen bis ins 16. Jahrhundert erstreckt ha-be.

Antagonistisch dazu zeigt sich eine Abgrenzung gegenüber dem Osten. Der Landesname findet somit nicht mehr Erklärung aus Kie-ver oder Moskauer Perzeption, nach der es sich bei der weißen Rus’

32 Rainer Lindner, Nationsbildung durch Nationalgeschichte: Probleme der aktuellen Geschichtsdiskussion in Weißrußland, in: Osteuropa 44, 1994, 578-590, hier 578.

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um von den Tataren unabhängige bzw. steuerfreie Gebiete handelt. Neuerdings orientiert sich die Ethno- und Toponymie in spekulativer Euphorie an der “»Farbsymbolik der alten Welt«, nach der weiß im-mer westlich bedeutet habe”33. Nach diesem eigenwilligen Raumbe-griff beginnt Osteuropa erst an der Westgrenze Rußlands, zählt sich Minsk mit Berlin zu den Zentren Mitteleuropas, das keineswegs als indifferenter Zwischenraum, sonder als mixtum compositum west-östlicher Kultureinflüsse nun mit eigenem Gravitationsfeld hervor-gehoben erscheint.

In der Frage der Eigenstaatlichkeit wird das Fürstentum Polock des 11. bis 13. Jahrhunderts folglich als Kontrapunkt zu Kiev und Novgorod intoniert. Die Staatsformation habe sich hier parallel zur Kiever Rus’ völlig autochthon vollzogen und dabei alle nötigen At-tribute ausgeprägt: mit Fürstensitz und Veče, mit Verwaltung, Heer und eigener Währung. Der Idee früher Staatlichkeit verpflichtet, ist gegenüber Polen und Litauen konsequent auch der weißrussische Anteil des im 13. bis 18. Jahrhundert in Ostmitteleuropa dominanten polnisch-litauisch-weißrussischen Staatsgebildes herausgemeißelt worden. Der Streit um historischen Besitzanspruch hat sich unter-dessen an Staatssymbolen (Pahonja-Wappen) und Denkmälern (Vilnjus / Wilna) festgefahren.

Der weißrussische Drang nach Neuinterpretation des sowjethisto-riographischen Erbes wurde allerdings in dem Maße gedämpft, wie Aljaksandr Lukašenka den Anschluß mit restaurativen Kräften Ruß-lands suchte und die Politik sich einem “überkommenen historischen Wertekanon der Sowjetgesellschaft”34 zuwandte. Die Einführung des Weißrussischen als Staatssprache beispielsweise, wurde somit dem Ziel einer Reintegration der ostslavischen Staaten geopfert. Ein Jahr nach Amtsantritt erließ Präsident Lukašenka ein Dekret, das die

33 Ebd. 585. Vgl. bei Max Vasmer [Fasmer, Maks], Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka, 4 toma. Perevod s nemeckogo i dopolnenija O.N. Trubačëva. Moskau 1964-1973, Vol. 1, 149. 34 Rainer Lindner, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrussland im 19. und 20. Jahrhundert. (Ordnungssysteme, 5.) München 1999, 403. Siehe auch ders., Geschichte und Geschichtsbetrieb im Weißrußland der Stalinzeit, in: Zs für Ostmitteleuropaforsch. 50, 2001, 198-213, hier 198 f.; Jakub Zejmis, Belarusian National Historiography and the Grand Duchy of Lithuania as a Belarusian State, in: ebd. 48, 1999, 383-396, hier 383, 390-396; David R. Marples, National Awakening and National Consciousness in Belarus, in: Nationalities Papers 27, 1999, 565-578, hier 565, 573.

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Entfernung aller seit 1992 in den geisteswissenschaftlichen Fä-chern erschienenen Lehrmittel verlangte. Da das Budget zudem sehr beschränkt war und das Verfassen neuer Lehrbücher seine Zeit braucht, stellte man kurzerhand die spätsowjetischen Geschichts-werke wieder in die Regale. Wie man sieht, folgte staatliche Ge-schichtspolitik auch hier der Großen Politik, selbst wenn der Kurs diesmal ein anationaler war. Jedoch festigte sich damit die Teilung des kollektiven Geschichtsbewußtseins. Es kam zur Spaltung der Zunft in National- und Hofhistoriker. Denn neben der prorussischen Projektionsfläche, die sich auf eine “Resowjetisierung des offiziellen Geschichtsbildes”35 zurückzog, bestand die Geschichtspolitik von unten fort.

Eine vergleichbare Kursänderung gab es bei der ukrainischen Hi-storiographie bekanntlich nicht, an deren nationalen Ausrichtung sich seit Inkrafttreten des Bildungsprogramms (Osvita) im Novem-ber 1993 kaum etwas geändert hat. Da die Bildung “organisch mit der nationalen Geschichte und den Volkstraditionen verbunden”36 werden sollte, hatte man die Hochschul-Curricula 1992 schon im Vorlauf soweit reformiert, daß ukrainische Sprache und Geschichte zu obligatorischen Bestandteilen ernannt werden konnten. Einen zentralen Platz nimmt seitdem die als ‘normative’ Disziplin einge-führte Ukrainekunde (ukraïnoznavstvo) ein, zu der es im Lehrplan heißt: “Ukrainekunde ist ein System wissenschaftlich-integrativen Wissens über die Ukraine und das weltweite Ukrainertum als Gan-zes, ... Gegenstand ukrainekundlicher Untersuchungen sind das Phä-nomen des Ukrainertums, die Gesetzmäßigkeiten ... seiner Nations- und Staatsgründung ... sowie der Bildung und Entwicklung seines ethnischen Territoriums (Ukraine). ... Ukrainekunde ist der Weg zur Selbsterkenntnis und Selbsterschaffung des Ukrainertums und zur Erfüllung seiner historischen Mission.”37 Als Folge dieser Maßnah-

35 Lindner, Historiker und Herrschaft (wie Anm. 34), 484; ders., Besieged Past: Natio-nal and Court Historians in Lukashenka’s Belarus, in: Nationalities Papers 27, 1999, 631-648. 36 Tanja Penter, Das Hochschulwesen in der Ukraine. Zu Reformen, gesetzlichen Grundlagen, Problemen und Perspektiven nach der staatlichen Unabhängigkeit, in: Osteuropa 50, 2000, 1212-1232, hier 1226. 37 Ebd. 1228. Offenbar handelt es sich hierbei um den Versuch, das ideologische Rüst-zeug des wissenschaftlichen Sozialismus auf eine Wissenschaft vom Nationalismus zu übertragen. Vgl. bei Niklas Bernsand, Surzhyk and National Identity in Ukrainian Nationalist Language Ideology, in: Berliner Osteuropa Info 17, 2001, 38-47.

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men setzte in dem 1991 unabhängig gewordenen Staat eine Ukraini-sierung des öffentlichen Lebens ein, wogegen sich Widerstand ins-besondere unter der ethnisch heterogenen Bevölkerung (Russen, Ta-taren) im Osten des Landes regte.

Um die autochthone Entwicklung hervorzuheben, ist der Kern des nationalen Selbstbildes in die ostslavische Frühzeit verlegt worden. Die Ethnogenese der Ostslaven und die Staatsformation der Kiever Rus’ rückten so in das Zentrum nationalukrainischer Deutung. Durch die sowjetpatriotische Geschichtsschreibung gewieft, wußte man, daß sich das Herauspräparieren nationaler Besonderheiten am ehesten durch Gründungsmythen38 und ein Antikisieren scheinbarer Kontinuitätslinien bewerkstelligen läßt. Hierzu war man bereit, die Anfänge des ukrainischen Volkes durch Analogiebildung mit der Tripol’e-Kultur (Trypilla) des 4. Jt. v. Chr. zu verknüpfen. Indem man die Ukrainer als Vertreter der Zarubincy- sowie der Černjacho-vo-Kultur identifizierte, folgte die Rekonstruktion ausgetretenen Pfaden. Es bedurfte nur eines ukrainischen Neuanstrichs, was unter Anlehnung an Mychajlo Hruševs’kyjs Behauptung gelang, “bei den Anten handele es sich um die heutigen Ukrainer”39.

Daß solche Rückgriffe zu Kontroversen mit der rußländischen Geschichtsschreibung führen und Abgrenzungsgefechte um zu So-wjetzeiten noch gemeinsame Nationalsymbole auslösen müssen, liegt auf der Hand. Selbst wenn die ukrainische Wissenschaft von antirussischer Argumentation Abstand nimmt, so ist der Streit tat-sächlich vorprogrammiert, sollte es Kiev wirklich um den Nachweis gehen, “daß die Zivilisation der Ostslaven bzw. späteren Ukrainer am mittleren Dnepr tiefere Wurzeln hat als die der Weißrussen und Russen im Norden”40. In dem Kontext sorgt die Berufung auf eine

38 Über eine der skurrilen Blüten, die sogenannten ‘Russischen Veden’, klärt Helmut Keipert in einer Besprechung des in Rußland wie in der Ukraine scheinbar populären Veles-Buches auf: Erfundene Vergangenheit?, in: JbbGOE 49, 2001, 264-267. 39 Wilfried Jilge, Nationale Geschichtsbilder in ukrainischen Geschichtslehrbüchern. Am Beispiel der Darstellung der Kiever Rus’, in: Osteuropa 50, 2000, 1233-1253, hier S. 1239. Zum Anten-Problem siehe auch Matthias Hardt, Aspekte der Herrschaftsbil-dung bei den frühen Slawen, in: Walter Pohl/Maximilian Diesenberger (Hrsg.), Inte-gration und Herrschaft. Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmittel-alter. (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 3.) Wien 2002, 249-255. 40 Jilge, Nationale Geschichtsbilder (wie Anm. 39), 1238. Vgl. dazu Laitin, Identity in Formation (wie Anm. 4), 288-295, 360-363; Valerij Vasil’ev, Ot Kievskoj Rusi k ne-zavisimoj Ukraine: novye koncepcii ukrainskoj istorii, in: Eimermacher/ Bordjugov (Eds.), Nacional’nye istorii (wie Anm. 5), 209-230.

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den Rjurikiden vorgelagerte Staatsformation natürlich für beson-deren Zündstoff. Hierbei wird den ostslavischen Poljanen des Kiever Landes die Gründung von Kujabija - das Kuyābah arabischer Geo-graphen - zugeschrieben, womit man die maßgeblich auf skandinavi-schen Einfluß basierende Herrschaftslegung der Kiever Rus’ auf den zweiten Platz verweisen will. Verblüfft fragt man sich, wie eine Er-klärung ukrainischer Reichsbildung ohne die Druzina der Varäger und den normannischen Fernhandel, ohne die Novgoroder Herr-schaftsbildung oder die Pax Chazarica auskommen will.

Nicht nur feiert der Anti-Normannismus hier fröhliche Urständ, gegenläufig zur normannistischen Tendenz in der rußländischen Ge-schichtsschreibung. Auch wird die Historiographie von außerhalb der heutigen Ukraine gelegenen Herrschaftssitzen der Kiever Rus’, wie die randständige Behandlung von Polock - heute Weißrußland - zeigt, nun aus offenkundlich politischen Gründen ausgeblendet. Da zudem der Diskurs über die kulturelle Stellung der Ukraine zwi-schen Ost und West mit ihrer ‘Rückkehr nach Europa’ neu auflebt, gilt dies besonders für die Interpretation von Spuren der östlichen Saltovo-Kultur in den Kiever Siedlungsrudimenten sowie hinsicht-lich der Allianzheiraten mit der Nomaden-Aristokratie der aus Zen-tralasien stammenden Polovcer. Diese werden nun in düsteren Far-ben gezeichnet, damit die postulierte Zugehörigkeit der ukrainischen Rus’ zum westeuropäischen Zivilisationskreis sich umso deutlicher abhebt und der ‘pejorative’ Verdacht entkräftet wird, “that Ukraine was part of »Turkic civilization«”41.

III. Rußländische Geschichtsschreibung in nationaler

und regionaler Perspektive Der Umbau in Rußland entwickelte sich in zwei Richtungen. Auf

die Tilgung weißer Flecken eingeschworen, äußerte er sich einmal als Vergangenheitsbewältigung, die gleichlaufend eine Modernisie-rung der Geisteswissenschaften beabsichtigte. Zum anderen kam die Revision der Geschichtsbilder als Anrufung nationaler Traditionen daher. Das hatte den Effekt, daß man sich zugleich den Standards internationaler Wissenschaftsdiskurse annäherte und der Eigenwer-

41 Nataliya Yakovenko, Early Modern Ukraine Between East and West: Projecturies of an Idea, in: Kimitaka Matsuzato (Eds.), Regions: A Prism to View the Slavic-Eurasian World. Towards a Disciple of ‘Regionology’. Sapporo 2000, 50-69, hier 54.

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tigkeit vergewisserte.42 Der Rahmen dieser zweigleisigen Entwick-lung war abgesteckt durch den Rückbezug auf vorrevolutionäre Er-kenntnishorizonte, auch durch Ressentiments gegenüber einer blin-den Aneignung westlicher Deutungsimporte und zunehmend durch die Leitlinien nationaler Geschichtspolitik.

Denn mit Entfaltung der postsozialistischen Ordnung veränderte sich der soziale Kontext rasant und damit der Zugriff auf Identitäten. Weil die Formierung souveräner Staaten und autonomer Republiken einen Nationalismus förderte, der auch Rußland in seinen alten Ge-schichtslandschaften neu entstehen und regionale Abgrenzungen hervortreten ließ, geriet nun die Erinnerung nationaler Größe zum kulturellen Maßstab.43

So gewann die Nostalgie zur Romanov-Dynastie und der Familie des letzten Zaren Nikolaus II. an Konjunktur schon lange vor dessen Heiligsprechung im August 2000.44 Auch die kosakischen Traditi-onsverbände wurden wieder in Amt und Würden gesetzt. Ihre Ver-treter mühten sich nicht nur erfolgreich um die Restituierung alter

42 Dietrich Geyer, Perestrojka in der sowjetischen Geschichtswissenschaft, in: Dietrich Geyer (Hrsg.), Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. (GG, Sonderh. 14.) Göt-tingen 1991, 9-31 hier 10, 15; Klaus Müller, Nachholende Modernisierung? Die Kon-junkturen der Modernisierungstheorie und ihre Anwendung auf die Transformation der osteuropäischen Gesellschaften, in: Leviathan 19, 1991, 261-291, hier 277 f.; Reinhard Bobach, Der Umbruch im Osten - Binnenperspektiven, in: Brigitte Heu-er/Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Phi-losophie. (Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 3.) Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995, 175-199, hier 182 f. 43 Evgenij Anisimov, Oskolki imperii: Istoki velikoderžavnogo soznanija, in: Moskovskie Novosti 51, 1989, 10; N.M. Čeremisina, Istoriografija istorii narodov SSSR v bibliografičeskich ukazateljach (1987-1988 gg.), in: Istorija SSSR 3, 1990, 174-179; Alan Bodger, Nationalities in History. Soviet Historiography and the Pu-gačëvščina, in: JbbGOE 39, 1991, 561-581, hier 579; Uwe Halbach, Die Nationalitä-tenfrage: Kontinuität und Explosivität. In: Dietrich Geyer (Hrsg.), Umwertung (wie Anm. 42), 210-237. 44 Gerd Stricker, Zar Nikolaj II. - ein »Neu-Heiliger«. Zu einer umstrittenen Entschei-dung der Russischen Orthodoxen Kirche, in: Osteuropa 50, 2000, 1187-1196; ders., Das Moskauer Patriarchat im Zeichen des neuen Nationalismus, in: Osteuropa 48, 1998, 268-285. Vgl. bei Isabelle de Keghel, Oktoberrevolution in der russischen Hi-storiographie der Transformationszeit, in: Holm Sundhausen/Hans-Joachim Torke (Hrsg.), 1917-1918 als Epochengrenze? (Multidisziplinäre Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, 8.) Wiesbaden 2000, 231-268, hier 242-246; Julie A. Corwin/Robert Coalson, Monarchist March to Remember Roma-novs, while Some Propose More Permanent Memorials, in: RFE / RL NEWSLINE 6, No. 133/1, 18 July 2002.

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Rechtstitel. Atamane aus südrussischen Regionen machten wie-derholt durch fremdenfeindliche Pogrome von sich Reden. Übergrif-fe neofaschistischer Hooligans in den Großstädten des einstigen Na-zismus-Bezwingers auf Juden und Kaukasier, auf Asiaten wie Afri-kaner haben sich derart gemehrt, daß Generalstaatsanwalt Vladimir Ustinov im Mai 2002 seiner Behörde eine strenge Verfolgung ex-tremistischer Straftatbestände verordnen mußte.45 Die Restauration der orthodoxen Kirche fördert der Staat ebenso nachdrücklich, wie er die Mission westlicher Kirchen mißbilligt. Doch indem Moskau das Vaterland inszeniert und der Kreml den Historikern “ein neues Lehrbuch ... mit einer den patriotischen Zielen »angemesseneren« Darstellung des Zweiten Weltkriegs und der Verdienste der russi-schen Generale”46 abverlangt, melden sich die alten Narben Europas schmerzhaft zurück.

Ursprünglich aber wollte man aus der Geschichte lernen, um in unsicheren Zeiten Zukunft gestalten zu können. Dabei wurde die Vergangenheit nicht allein vom ‘Bakterium des historischen Mate-rialismus desinfiziert’, sie wurde neu verarbeitet. Zunächst mußten die Geschichtsregale entrümpelt und die Bildung entideologisiert werden.47 Dieser Umbau fiel nicht leicht, hatte er sich doch gegen eine traditionelle Indienststellung der Geisteswissenschaften und ge-gen tiefwurzelnde Wissenschaftskontroversen gleichermaßen durch-zusetzen. Dogmatisches Verharren und neue Frontenbildung prägten somit den Wandlungsprozeß, wodurch die Geschichtswissenschaften

45 Prosecutor-General Ordered to Tighten Measures Against »Fascism«, in: RFE / RL NEWSLINE 6, No. 92/1, 17 May, 2002; Robin Shepherd, Putin Condemns Racism ‘Bacteria’ as Risk to Russia, in: The Times (London), Online, July 27, 2002; Abduk-holik Rakhmatullaev, Migrant Tajiks Face Racist Violence: An Increasing Number of Tajiks in Russia are Dying at the Hands of Xenophobic Thugs, with the Authorities Seemingly Reluctant to Take Action, in: IWPR’s Reporting Central Asia 136, August 9, 2002 (Dushanbe); Robert Coalson, Teens Attack Ghanaian Ambassador, in: RFE / RL NEWSLINE 6, No. 211/1, 11 November 2002. 46 Jutta Scherrer, Zurück zu Gott und Vaterland. Putin verordnet die patriotische Wie-deraufrüstung - per Dekret soll Russland eine verlässliche Staatsmoral erhalten, in: Die Zeit, Nr. 31, v. 26. Juli 2001, 31. Siehe auch Rainer Lindner, Das konservative Prinzip. Konservatismus und Nationalismus als Konstanten russischer Geschichte, in: Schorkowitz (Hrsg.), Transition - Erosion - Reaktion (wie Anm. 13), 189-206. 47 Isabelle de Keghel, Aus der Geschichte lernen? Rußland auf der Suche nach seiner demokratischen Vergangenheit, in: Tatjana Eggeling/Wim van Meurs/Holm Sundhaussen (Hrsg.), Umbruch zur “Moderne”? Studien zur Politik und Kultur in der osteuropäischen Transformation. (Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 5.) Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, 77-93.

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mit Verzögerung und thematisch wie personell auf ganz unterschied-liche Weise von der “Umwertung aller Werte”48 erfaßt wurden und den neuen Wahrheiten der Eingang in das Schulbuchwissen so über Gebühr verschlossen blieb.49

In der Tat entstand Bewegung erst auf Druck des XXVII. Partei-tages und infolge der Plenarsitzungen des Zentralkomitees der KPdSU vom Januar und April 1987, die Clio dem Verdacht aussetz-ten, die “realen Prozesse beschönigt”50 zu haben. Die Dringlichkeit mit der scheidenden Epoche abzurechnen, ließ die Redaktionen füh-render Fachzeitschriften akademische Rundtischgespräche einberu-fen. Hier gehörte es bald zum Ton der neuen Sprachregelung, die Tilgung “weißer Flecken ... und verbotener Zonen”51 gebetsmühlen-haft anzumahnen. Schließlich wurden doch die alten Wissenschafts-funktionäre zu Koordinatoren des beabsichtigten Umbaus bestellt, der sich in weiten Teilen als potëmkische Ausführung fälliger Plan-korrekturen von 1984 herausstellte. Zum Koordinator für ‘Ethnohi-storie und nationale Prozesse der Gegenwart’ ernannte man Jurij Bromlej. Programmleiter für ‘Kulturgeschichte der Völker der UdSSR’ wurde Boris Rybakov, so daß der umstrittene Akademiker die Fäden noch lange in der Hand hielt.52

48 Oskar Anweiler, Historische Anknüpfungen in den aktuellen Schulreformbestre-bungen in Russland, in: FOEG 48, 1993, 17-25, hier 17. 49 E. E. Vjazemskij/Andrej L’vovič Jurganov, Kakim byt’ učebnym posobijam po isto-rii dlja školy, in: Voprosy Istorii 9, 1988, 185-186; G. Kuz’min, Gde vy, učënye-istoriki?, in: Voprosy Istorii 10, 1988, 189; A. G. Timošenko/S. G. Kim/A. N. Nečuch-rin/S. P. Ramazanov, Konferencija „Istoričeskaja nauka i perestrojka“, in: Voprosy Istorii 12, 1988, 164-166, hier 164; R. A. Burlakova, „Kruglyj stol“: Problemy isto-ričeskogo obrazovanija v škole, in: Voprosy Istorii 1, 1989, 166-175. Zusammenfas-send bei R. W. Davies, Soviet History in the Gorbachev Revolution. Studies in Soviet History and Society. London 1989, 167, 175-177. 50 Sergej Leonidovič Tichvinskij, Janvarskij (1987 g.) plenum CK KPSS i istoričeskaja nauka, in: Voprosy Istorii 6, 1987, 3-13, hier 3. Vgl. bei Joachim Hösler, Die sowjeti-sche Geschichtswissenschaft 1953 bis 1991. Studien zur Methodologie- und Organisa-tionsgeschichte. (Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas, 34. München 1995, 27-28, 202-217, 226-229. 51 Perestrojka i zadači žurnala „Voprosy Istorii“, in: Voprosy Istorii 2, 1988, 3-10, hier 3. Siehe auch: „Kruglyj stol“: Istoričeskaja nauka v uslovijach perestrojki, in: Voprosy Istorii 3, 1988, 3-57. 52 Perspektivnye kompleksnye programmy - Novaja forma koordinacii istoričeskich issledovanij, in: Voprosy Istorii 4, 1987, 82-84. Perspektivnye kompleksnye pro-grammy - Novaja forma koordinacii istoričeskich issledovanij, in: Istorija SSSR 6, 1987, 174-182. Kompleksnaja programma po istorii kul’tury narodov SSSR, in: Istori-

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Zu den unbestreitbaren Leistungen der Avantgarde alter wie neuer Dissidenten aber zählt, daß sie einen gesellschaftlichen Dis-kurs über historische Wahrheit und die Methoden ihrer Auffindung initiiert und dabei längst fällige Korrekturen ausgeführt haben. Das Wissenschaftsfeld, das es zu revidieren galt, besaß enorme Ausma-ße. Wie zu erwarten war, wurden vordringlich Forderungen nach einer Wiederaufnahme der unter Chruščëv begonnenen und von Breznev abgewürgten Auseinandersetzung mit dem Stalinismus er-neuert. Ob es um die Bekanntgabe des Zusatzprotokolls aus dem Hitler-Stalin-Pakt53, um das Eingestehen der Exekution polnischer Offiziere bei Katyn’54 oder um die epische Schilderung der Leiden während des Weltkrieges deportierter Sowjetvölker55 ging, lang ge-hütete Geheimnisse wurden nun in rascher Folge enthüllt. Die nach-geholte Abrechnung beabsichtigte nicht nur eine endgültige Verur-teilung Stalins und seiner Diktatur. Das Sowjetsystem sollte in seiner Ganzheit symbolisch zu Grabe getragen werden.

Dem dekonstruktivistischen Anknüpfen an vorrevolutionäre Tra-ditionen diente auch die scharf geführte Auseinandersetzung um den Gründungsmythos Oktober-Revolution, deren Vorgeschichte und ihrer permanent neu entworfenen Ikone - Vladimir Ilič Lenin. Um-gehend rehabilitierte der zunächst im sozialistischen Geist geführte Diskurs die als Links- oder Rechtsabweichler totgeschwiegenen Un-personen Trockij, Bucharin, Zinov’ev und Kamenev. Doch gab die

ja SSSR 1, 1988, 130-141. Zu den 1984 verabschiedeten Makrothemen gehörten u.a. “Ethnogenese und ethnische Prozesse der Gegenwart” (Bromlej) oder “Der historische Beitrag der Völker der UdSSR zur Kultur der sowjetischen Gesellschaft” (Rybakov). Vgl. dazu Geyer, Klio in Moskau (wie Anm. 22), 31. 53 Bernd Bonwetsch, Vom Hitler-Stalin-Pakt zum „Unternehmen Barbarossa“. Die deutsch-russischen Beziehungen 1939-1941 in der Kontroverse, in: Osteuropa 6, 1991, 562-579. 54 A.L. Szczesniak, Katyn. Tło historyczne, fakty, dokumenty. Warszawa 1989. Vgl. die Rezension von S. I. Larin, in: Voprosy Istorii 7, 1990, 173-175. Siehe auch Mał-gorzata und Krzysztof Ruchniewicz, Die sowjetischen Kriegsverbrechen gegenüber Polen: Katyn 1940, in: Wolfgang Wette/Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbre-chen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 2001, 356-369. 55 Nikolaj Fedorovič Bugaj, K voprosu o deportacii narodov SSSR v 30-40-ch godach, in: Istorija SSSR 6, 1989, 135-144; ders., Die Deportationen der Völker aus der Ukraine, Weißrußland und Moldavien, in: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Mas-senverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945. (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte NF., 10.) Essen 1999, 567-581.

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Umwertung der Revolution auch Raum zu Spekulationen über eine angebliche Vermeidbarkeit des Roten Oktobers. Das hypothetische Abfragen von Alternativen der historischen Entwicklung führte bald zur mythischen Überhöhung von Zar Nikolaus II. und seinem Mini-sterpräsidenten Arkadij Stolypin, dessen Reformen und folglich zu einer Überzeichnung der historischen Stellung wie der Möglichkei-ten der Februar-Revolution. Gleichzeitig verstärkte sich die Ten-denz, Regierungs- wie Integrationsdefizite des ausgehenden Zaren-reiches aus dem Wahrnehmungshorizont zu drängen und die Ge-setzmäßigkeit sozialrevolutionärer Entwicklungsfaktoren in Abrede zu stellen.56

Im Windschatten dieser lautstarken Auseinandersetzung aber strebte eine Fülle gewichtiger Einzelprobleme einer entdogmatisier-ten Darstellung zu. Neues war so über einen Bereich zu vernehmen, der kaum Beachtung in der Sowjethistoriographie gefunden hatte: die Unternehmergeschichte. Das Anknüpfen an vorrevolutionäres Unternehmertum und dessen geschichtswissenschaftliche Behand-lung korrelierte mit der postkommunistischen Rückkehr des Privat-eigentums. Es fiel daher leicht, über die patriotischen und national-russischen Verdienste der spätzarischen Bourgeoisie hinaus an “ihre wirtschaftlichen Erfolge, ihre sozialen Leistungen und sogar ... ihren politischen Einfluß”57 zu erinnern.

In der ideologisch gesättigten Bauerngeschichtsschreibung zeich-neten sich neue Deutungsmuster dagegen nur zögerlich ab, wie die Rückkehr zu leninistischen Begriffen belegt, mit denen ein Ende 1993 erschienener Band aufwartete.58 In gewohnter Manier geht hier

56 Manfred Hildermeier, Revolution und Revolutionsgeschichte, in: Geyer (Hrsg.), Umwertung (wie Anm. 42), 32-53; Benno Ennker, Ende des Mythos? Lenin in der Kontroverse, in: ebd. 54-74; De Keghel, Oktoberrevolution (wie Anm. 44), 231-268. 57 Klaus Heller, Neue russische Literatur zur Geschichte des privaten Unternehmer-tums in Rußland, in: JbbGOE 48, 2000, 264-272, hier 264. Vgl. dazu L. V. Košman, Istorija predprinimatel’stva v Rossii. Kn. 1. Ot srednevekov’ja do serediny XIX veka, in: Otečestvennaja Istorija 1, 2001, 122-124. Boris Vasil’evič Ananič/S. G.: Beljaev, Istorija predprinimatel’stva v Rossii. Kn. 2. Vtoraja polovina XIX - načalo XX veka, in: Otečestvennaja Istorija 1, 2001, 125-130. 58 Istorija krest’janstva SSSR s drevnejšich vremen do Velikoj Oktjabr’skoj socialističeskoj revoljucii. V pjati tomach. Tom I. Predposylki stanovlenija krest’janstva. Krest’janstvo rabovladel’českich i rannefeodal’nych obščestv. (VI - V tysjačeletija do n.ė. - I tysjačeletie n.ė. Moskau 1987. Istorija krest’janstva SSSR s drevnejšich vremen do Velikoj Oktjabr’skoj socialističeskoj revoljucii. V pjati tomach. Tom II. Krest’janstvo v period rannego i razvitogo feodalizma. Moskau 1990.

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die Rede vom spätfeudalen Bauertum, seiner sozialen Zerschich-tung und dem bäuerlichen Klassenkampf. Wie man sieht, ist Bau-erngeschichte nicht unpolitisch, besonders wenn die Privatisierung des Bodens sich auf der Tagesordnung der Duma befindet. Doch steht die marxistisch angehauchte Klassenanalyse des Bauerntums überraschenderweise im Widerspruch zu einer gelungenen Revision der Periodisierungsfrage. Widerlegt wurde damit endlich die Lehr-meinung, die Kiever Rus’ sei ein feudaler Staat gewesen und habe die Formation der Feudalgesellschaft - unter Umgehung der Skla-venhaltergesellschaft - direkt von der Urgesellschaft erreicht. Tat-sächlich gilt das Reich heute als Typ einer Zwischenformation, de-ren Klassifizierung als Vorfeudalismus allerdings unbefriedigend bleibt.59

Da auch der Normannismus-Streit unterdessen eine progressive Wendung genommen hat, die Beziehung der Rus’ zu Skandinavien für den Zeitraum von 750 bis 1050 neu gewertet und periodisiert wurde, bahnt sich hier weiterer Widerspruch an. Denn nun ist der bestimmende Einfluß der später slavisierten Varäger auf den Ausbau von Herrschaft und Handel, auf Recht, Sprache und Kultur in Osteu-ropa anerkannt. Da Eroberung, Tributbeziehung und Raubhandel ihre Geltung als Charakteristika dabei wiedererlangten, mußte ein distinktives Element der feudalen Formationsperiode gegenüber west- und mitteleuropäischen Entwicklungen eingeräumt werden: Herrschaft strukturierte sich im Osten Europas durch Vasallentum ohne Lehen.

Trotz der Uneinheitlichkeit, mit der sich das facettenreiche Bild neu erblühter Geschichtslandschaften dem Betrachter somit darbie-tet, bleibt der Eindruck haften, daß Clio sich dem Prokrustesbett so-wjetmarxistischer Ideologie entwinden konnte. Deutlich tritt die Be-freiungsleistung in der Revision zur Periodisierung zutage. Daß die Epochenabgrenzungen gesellschaftlicher Formationsperioden (Gen-tilorganisation, Sklaverei, Feudalismus) in ihrer unzulänglichen Uni-linearität dabei verworfen und die Staatlichkeit der Ostslaven als

Istorija krest’janstva Rossii s drevnejšich vremen do 1917 g. Tom III. Krest’janstvo perioda pozdnego feodalizma (seredina XVII v. - 1861 g.). Moskau 1993. Istorija krest’janstva Severo-Zapada Rossii. Period feodalizma. St.Peterburg 1994. Carsten Goehrke, Die Geschichtsschreibung über das Bauerntum Rußlands im Umbruch?, in: JbbGOE 45, 1997, 310-320, hier 310. 59 Ausführlich hierzu bei Torke, Die Geschichte Russlands (wie Anm. 1), 16-18, 20.

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“unmittelbares Produkt einer feudalen Klassengesellschaft”60 in Fra-ge gestellt wurde, darf als ein Beleg für das Abrücken von “dogmati-schen Wissenschaftspositionen”61 gelten.

Damit aber sind gewichtige Kurskorrekturen in der Deutungspro-blematik von der Herkunft der Ostslaven und der Entstehung des Kiever Reiches gemacht. Durch die Aufweichung des Russozentris-mus gewannen die nichtslavischen Einflüsse an Bedeutung. Von ei-ner Entwicklungsüberlegenheit der Ostslaven gegenüber Balten und Ostseefinnen spricht heute kaum einer mehr. Archäologische Gra-bungen haben außerdem gezeigt, daß viele Stammeszentren entwe-der zerfallen oder im Zuge protostaatlicher Formierung zugunsten günstiger gelegener Handelszentren verlegt worden waren. Einer li-nearen Evolution der Feudalstädte ist damit die Argumentations-grundlage entzogen.62

Die Schlußfolgerung aus der offensichtlich diskontinuierlichen Entwicklung von ostslavischen Stammeszentren und Kiever Verwal-tungszentren der Voloste zu Städten der Teilfürstentümer mußte auch für die Siedlungsgeschichte auf ein Zusammenwirken äußerer wie innerer Faktoren hinauslaufen - mit all ihren Konsequenzen be-züglich der Fernhandelsthese und der tributären Klientelbeziehungen der Slaven zu Varägern und Chazaren. Die Beziehungen der Ostsla-ven im Kräftefeld von Orient und Okzident sind dadurch einer ob-jektiveren Behandlung zugeführt worden. Den staatsbildenden Ele-menten der slavischen Gentilorganisation wurden so jene des Han-dels an die Seite gestellt, die aus dem Bedürfnis zur Absicherung und Routinierung erzielter Einkünfte entstanden. Denn erst mit der

60 N. F. Kotljar, O social’noj suščnosti drevnerusskogo gosudarstva IX - pervoj polo-viny X v., in: Drevnejšie gosudarstva vostočnoj Evropy: Materialy i issledovanija. 1992 - 1993 gody. Moskau 1995, 33-49, hier 34. Vgl. bei V. I. Goremykina, O genezi-se feodalizma v drevnej Rusi, in: Voprosy Istorii 2, 1987, 78-100. A. Ju. Dvorničenko, Ėvoljucija gorodskoj obščiny i genezis feodalizma na Rusi, in: Voprosi Istorii 1, 1988, 58-73. 61 Siehe die Besprechung von Carsten Goehrke zu dem Sammelband: Drevnejšie go-sudarstva vostočnoj Evropy: Materialy i issledovanija. 1992 - 1993 gody. Moskau 1995, in: JbbGOE 46, 1998, 282. Vgl. dazu: Novoe pokolenie rossijskich istorikov v poiskach svoego lica, in: Otečestvennaja Istorija 4, 1997, 104-124. 62 Anton Anatol’evič Gorskij, Političeskie centry vostočnych slavjan i Kievskoj Rusi: Problemy ėvoljucii, in: Otečestvennaja Istorija 6, 1993, 157-162, hier 157-158. Vladis-lav Petrovič Darkevič, Proischozdenie i razvitie gorodov drevnej Rusi (X - XIII vv.), in: Voprosy Istorii 10, 1994, 43-60, hier 45-46. Goehrke, Geschichtsschreibung (wie Anm. 58), 311.

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Schaffung von Märkten und der Errichtung einer Handelskontrol-le wich letztlich der sporadische Raub der Varäger einer systemati-schen Tributnahme, die in der Rus’ neue Qualität erhielt durch Olgas Umwandlung der fürstlichen Tributkollekte in amtliche Steuerbezir-ke.63 Es ist ein Verdienst von Glasnost’, den Geschichtswissenschaf-ten zu dieser komplexen Anrechnung nichtslavischer Kulturen und einer differenzierten Bewertung der Verhältnisse zwischen Jägern, Bauern und Nomaden im Grenzsaum von Wald und Steppe verhol-fen zu haben.

Erstaunlich ist nur, daß sich die Verwissenschaftlichung auf Schulbuchebene in ganz unterschiedlicher Weise durchsetzt. Hier nämlich lassen sich neben der nachholenden Modernisierung erneut patriotische und anti-aufklärerische Absichten ausmachen.64 Die nachlassende Ideologisierung der Geisteswissenschaft klärt eben nicht nur die Sicht auf Rußlands Stellung zwischen Europa und Asi-

63 V. Ia. Petrukhin [Petruchin, Vladimir Jakovlevič], The Normans and the Khazars in the South of Rus’ (The Formation of the “Russian Land” in the Middle Dnepr Area), in: Russian History 19, 1992, 393-400, hier 394-396; Elena Aleksandrovna Mel’nikova/Vladimir Jakovlevič Petruchin, Formirovanie seti rannegorodskich cen-trov i stanovlenie gosudarstva. (Drevnjaja Rus’ i Skandinavija), in: Istorija SSSR 5, 1986, 64-78, hier 72 f.; Elena Aleksandrovna Mel’nikova, K tipologii predgosu-darstvennych i rannegosudarstvennych obrazovanij v severnoj i severo-vostočnoj Ev-rope. (Postanovka problemy), in: Drevnejšie gosudarstva vostočnoj Evropy: Materialy i issledovanija. 1992 - 1993 gody. Moskau 1995, 16-33, hier 26-30; Anatolij Petrovič Novosel’cev, “Mir istorii” ili mif istorii?, in: Voprosy Istorii 1, 1993, 23-31, hier 28 f.; Ruslan Grigor’evič Skrynnikov, Drevnjaja Rus. Letopisnye mify i dejstvitel’nost’, in: Voprosy Istorii 8, 1997, 3-13, hier 3 f. 64 Leonid Aleksandrovič Kacva/Andrej L’vovič Jurganov, Istorija Rossii VIII-XV vv.: Ėksperimental’nyj učebnik dlja učaščichsja VII klassa. Moskau 1993. Nach Meinung der Autoren sei die Normannentheorie im zarischen Rußland von monarchistischen Historikern benutzt worden, die Geschichte der Staatsformation Rußlands und des Westens - dort friedliche Berufung, hier blutige Eroberung - in einen Gegensatz zu bringen; die Historizität der Gebrüder Sineus und Truvor wird abgelehnt (ebd. 21 f.). Michail Michajlovič Gorinov/Leonid Michajlovič Ljašenko, Istorija Rossii, čast’ I. Ot drevnej Rusi k imperatorskoj Rossii (IX-XVIII vv.). Moskau 1994. Hier wird von der Überlegenheit der Slaven über baltische wie finno-ugrische Stämme und von ständi-gen Überfällen turk-tatarischer Gruppen auf die Slaven der südlichen Rus’ berichtet (ebd. 19). Gleichfalls wird die Historizität von Sineus und Truvor abgelehnt (ebd. 20) und man läßt die Formierung der Klassengesellschaft im 9. Jahrhundert einsetzen. Auf biblische Schilderungen, die griechische und römische Mythologie sowie auf Legen-denerzählungen (Skif, Rus, Sloven) stützt sich die Geschichtsherleitung von Vladimir Petrovič Butromeev: Vsemirnaja istorija v licach. Istorija Rossii ot Rjurika do 1917 goda. Dlja srednego školnogo vozrasta (Ėnciklopedija školnika - Detskij Plutarch]. Moskau 1999.

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en weiter auf, sondern belebt ebenso die Politisierung von Ge-schichtschreibung, die ein wesentlicher Indikator für die innere Ver-fassung der Gesellschaft bleibt. Denn was künftige Generationen über Geschichte wissen sollen, muß heute in die Lehrbücher ge-schrieben werden.65 Dort finden sich die Projektionsflächen, die Auskunft über Art und Weise der angestrebten Integration geben. Clio - die ihr Gesicht nicht verhüllen kann - ist nicht Kassandra, die wohl weissagen, aber nicht überzeugen konnte.

Mit Blick auf die Aufteilung des gemeinsamen Geschichtserbes stellt sich abschließend die Frage, welche Vergangenheiten zur Fun-damentierung nationaler Identität in den ostslavischen Nachfolge-staaten herangezogen werden und wie die Abgrenzungen verlaufen. Erhellende Antwort wird man dazu ohne Berücksichtigung des alten Verortungsproblems europäisch-asiatischer Zugehörigkeit kaum er-warten dürfen. Angesprochen ist damit erneut die Stellung Rußlands in der Weltgeschichte.66 Denn Vergleichbarkeitserwägungen zur Zi-vilisationsgeschichte ergeben sich nun nicht mehr nur bezüglich der westeuropäischen (zu verschieden), sondern gleichsam zur osteuro-päischen (zu ähnlich) Entwicklungsebene und darüber hinaus zu ei-ner Modernisierung von Russisch-Asien.

In Weißrußland und in der Ukraine wird Orientierung, wie gese-hen, überwiegend in westlichen Wurzeln gesucht. Derart um einen zentralen Raum abendländischer Gemeinsamkeiten gebracht, wird Rußland - an den östlichen Rand von Europas Osten gedrängt und zurückgeworfen auf seine “besondere kulturelle Welt, die ... ihre ei-genen Ziele verfolgt und ihren eigenen Idealen zustrebt”67 - tatsäch-

65 N. N. Razuvaeva/N. P. Marčenkova, Aktual’nye problemy prepodavanija otečestvennoj istorii studentam neistoričeskich specialnostej, in: Otečestvennaja Istori-ja 5, 1997, 200-206, hier 200. 66 Hans-Heinrich Nolte, Zur Stellung Osteuropas im internationalen System der frühen Neuzeit. Außenhandel und Sozialgeschichte bei der Bestimmung der Regionen, in: JbbGOE 28, 1980, 161-197. 67 Dmitrij Tschizewskij/Dieter Groh, Europa und Rußland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses. Darmstadt 1959, 1. Vgl. auch Mark Bassin, Russia between Europe and Asia: The Ideological Construction of Geo-graphical Space, in: Slavic Rev. 50, 1991, 1-17; Elena Jur’evna Zubkova/Aleksandr Ivanovič Kuprijanov, Vozvraščenie k “Russkoj Idee”: Krizis identičnosti i nacio-nal’naja istorija, in: Otečestvennaja Istorija 5, 1999, 4-28, hier 5, 25 f. Nicholas J. Lynn/Valentin Bogorov, Reimagining the Russian Idea, in: G. H. Herb, D. H. Kaplan (Eds.), Nested Identities. Nationalism, Territory, and Scale. Lanham/Boulder/New York/Oxford 1999, 101-122, hier 107-109.

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lich zu entscheiden haben, “mit welcher Geschichte man die eige-ne in Beziehung”68 setzt.

Was werden die Bezugspunkte, was wird die eigene Geschichte der Föderation sein - eine russische oder eine rußländische? Es könnte doch sein, daß der Rückbezug sich künftig mit dem Ge-schichtsraum der Novgoroder Rus’ und des Moskauer Staates wird begnügen müssen. Nach dem Niedergang der akademischen Sowjet-geschichtsschreibung und der Deregulierung des Wissenschaftsbe-triebs ist eine Aufsplitterung der osteuropäischen Geschichtsland-schaft nach regionalen Kriterien nur folgerichtig. Es fragt sich nur, wo deren Akzente liegen: bei einer wiederbelebten Nationalge-schichtsschreibung, die ihre gestrige Imperialbefindlichkeit in einen Regionalpatriotismus umwandelt und “zur Individualiserung ten-diert”69 oder - wofür einiges spricht - bei einer Regionalgeschichte, die aus den lang vernachlässigten Quellen einer polymorphen Lan-deskunde schöpft.

Es wären in der Tat die historischen Regionen, die zum Vergleich und zur Neuvermesssung einladen. Doch nicht die kontinentalen Subregionen Ostmitteleuropa, Südosteuropa, Nordosteuropa und Rußland sind damit gemeint, die im klassischen Entwurf70 von Klaus Zernack das östliche Neu-Europa von jenem Raum unter-scheiden, der sich diesseits der römischen Reichsgrenzen ausbreitet. Eher handelt es sich um eine Untergliederung des eigentlichen Ost-europa in seine frühmittelalterlichen Gravitationsfelder.

Drei, vielleicht vier Teilräume rücken damit ins Blickfeld. Im Osten ist dies das Gebiet zwischen Wald und Steppe, das sich von Rostov und Rjazan’ trapezförmig nach Bolgar, Sarkel und Itil’ hin öffnet. Bei diesem Grenzsaum handelt es sich um eine klassische Kontaktzone von Stämmen ostslavischer (Vjatičen, Radimičen, Se-verjanen), finno-ugrischer (Merier, Mordvinen) und turk-tatarischer (Bolgaren, Chazaren) Zugehörigkeit. Der kulturell-wirtschaftliche

68 Fikret Adanïr/Christian Lübke/Michael G. Müller/Martin Schulze-Wessel, Traditio-nen und Perspektiven vergleichender Forschung über die historischen Regionen Ost-europas, in: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht. (Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte, 1.) Berlin 1996, S. 11-43, hier 21. Gorinov/Ljašenko, Isto-rija Rossii (wie Anm. 64), 3. 69 Adanïr/Lübke/Müller/Schulze-Wessel, Traditionen und Perspektiven (wie Anm. 68), 12; Hroch, Ethnische, regionale und nationale Identität (wie Anm. 18), 70. 70 Klaus Zernack, Osteuropa: Eine Einführung in seine Geschichte. München 1977, 31 f.

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Austausch zwischen den verschiedenen Zivilisationen - hier nicht-christianisierte Bauern und Jäger gentiler Konföderationen, dort kaum islamisierte Nomaden und Jäger protostaatlicher Chanate - scheint für beide Seiten, ungeachtet der tributären Klientelbeziehun-gen, ausgesprochen vorteilhaft gewesen zu sein. Für einen herr-schaftlichen Status des Rostover Landes spricht auch die Flucht des Chazaren-Chagan, der sich im Zuge von Aufstandswirren hatte hier-hin absetzen müssen und der durch die Eheschließung seiner Söhne mit varägischen Fürstentöchtern in den 830er Jahren eine translatio von Titel und Legitimation herbeiführte.71

Im Südwesten schließen hieran die Kernlande der Rus’ um Kiev und Černigov an, die bis zur Reichsbildung größere Eigenständigkeit besaßen und stärker mit der südöstlichen Raumstruktur von Steppe, Saltovo-Kultur und nördlichem Schwarzmeergebiet verbunden wa-ren. Gemessen an politischen und wirtschaftlichen Perspektiven der Gegenwart scheint man in Kiev heute gewillt, an diese Pfadabhän-gigkeiten anzuknüpfen - auch wenn man an die Tributpflicht der Poljanen gegenüber den Chazaren nicht erinnert werden will. West-orientierung und Ostabgrenzung verstärken zudem einen überkom-menen Autochthonismus, der die Herbeiführung der Reichseinheit durch Oleg 882 leicht als erzwungene Vereinigung ablehnen und dabei auf eine poljanische, d.h. ‘frühukrainische’ Staatsgründung rekurrieren könnte.72

So nimmt der Blick auf das Novgoroder und Pskover Land den Norden nun vor allem in seiner Entwicklungsdivergenz wahr. Und

71 Peter B. Golden, Aspects of the Nomadic Factor in the Economic Development of Kievan Rus’, in: I. S. Koropeckyj (Ed.), Ukrainian Economic History: Interpretive Essays. Cambridge 1991, 58-101, hier 63 f. Gleb Sergeevič Lebedev, Rus’ Rjurika kak ob-ekt archeologičeskogo izučenija, in: Peterburgskij Archeologičeskij Vestnik 6, 1993, 105-109, hier S. 108. Norman Golb/Omeljan Pritsak, Chazarsko-evrejskie do-kumenty X veka. Naučnaja redakcija, posleslovie i kommentarii V. Ja. Petruchina. Moskau/Jerusalem 1997, 54, 157 f. Valentin Vasil’evič Sedov, Russkij kaganat IX veka, in: Otečestvennaja Istorija 4, 1998, 3-15, hier 8. Alexander V. Riasanovsky, The Embassy of 838 Revisited: Some Comments in Connection with a “Normannist” Source on Early Russian History, in: JbbGOE 10, 1962, 1-12, hier 1 f. Anm. 7 u. 8, 5, 12, bezog den Titel auf den Kiever Fürsten. Er erinnerte zudem daran, daß chacanus als Herrscherbezeichnung noch Gang und Gäbe zu Zeiten Vladimirs war. 72 F. O. Androshchuk, The Northmen and Slavs in the Desna River Area (The Models of Cultural Interaction in the Period of Early Middle Ages). Kyiv 1999; Gennadij Kovalëv, Eščë raz o proischoždenii ėtnonima “Rus’”, in: Acta Baltico-Slavica 17, 1987, 131-145, hier 135 f. Skrynnikov, Drevnjaja Rus (wie Anm. 63), 4-6.

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es erscheint sinnvoll, diese im Kontext einer die Balten, Slaven und Finno-Ugrier integrierenden, “baltisch-subkontinentalen Zivili-sation”73 des Frühmittelalters zu erklären. In der Tat ist die besonde-re Prägung des nordosteuropäischen Teilraumes durch eine prägnan-te Siedlungs- und Herrschaftsgeschichte begründet. Wobei noch nicht ausgemacht ist, ob Polock und Smolensk in die circumbaltische Konzeption miteingeschlossen bleiben oder für die Legitimierung eines weißrussischen Sonderweges zur Disposition stehen. Denn mit Anerkennung separater Entwicklungen läßt sich die These einer aus dem großrussischen Volke abgeleiteten Ethnogenese der Weißrussen bzw. Ukrainer nicht mehr vertreten.

Für die in Petersburg wie Moskau gepflegte Perspektive einer Ei-genständigkeit der Oberen Rus’ spricht schon die in zwei Bewe-gungsrichtungen verlaufene Landnahme der Ostslaven, die ja unter beidseitiger Umgehung der Pripet’-Sümpfe im 6.-7. Jahrhundert nach Norden sowie nach Nordosten abzogen. Während die Slovenen im Baltikum-Ladoga-Raum aber die ansässigen Ethnien im Laufe des 8.-9. Jahrhunderts verdrängten oder assimilierten, gerieten die Rusinen im südöstlichen Dnepr-Raum unter turk-tatarischen Einfluß. Dabei war die Kolonisation des russischen Nordens kein so friedli-ches Vordringen slavischer Ackerbauern, wie erneut behauptet.74 Vielmehr hat man es mit einem Landnahmeprozeß zu tun, bei der die finno-ugrischen Ethnien auch gewaltsam verdrängt bzw. unter Tribut gebracht wurden. Eine ethnisch-sprachliche Konsolidierung der ostslavischen Kulturgemeinschaft konnte jedenfalls erst nach Ab-schluß der verschiedenen Wanderphasen zur vollen Entfaltung ge-langen. Sie muß im Norden nicht nur um Jahrzehnte später einge-setzt haben als in der Unteren Rus’. Durch den Migrationsverlauf

73 Torke, Geschichte Russlands (wie Anm. 1), 16. Vgl. bei Gleb Sergeevič Lebedev, Baltijskaja subkontinental’naja civilizacija rannego srednevekov’ja, in: Tezisy dokla-dov X Vsesojuznoj konferencii skandinavistov, Čast’ II. Moskau 1986. 74 Kacva/Jurganov, Istorija Rossii (wie Anm. 64), 12. Vgl. dazu Carsten Goehrke, Geographische Grundlagen der russischen Geschichte. Versuch einer Analyse des Stellenwertes geographischer Gegebenheiten im Spiel der historischen Kräfte. Mit zwei Karten, in: JbbGOE 18, 1970, 161-204, hier 180, 185 f. ders., Ostslavische Landnahme, Binnenkolonisation und Herrschaftsbildung im Spiegel der Regionalge-schichte. Ein Überblick über ausgewählte neuere Literatur, in: JbbGOE 44, 1996, 86-98, hier 86-90; Jürgen Udolph, Die Landnahme der Ostslaven im Lichte der Namen-forschung, in: JbbGOE 29, 1981, 321-336, hier 321-323, 331, 333 und 335 (Karte). Aleksandr Alekseevič Chlevov, Normanskaja problema v otečestvennoj istoričeskoj nauke. St. Peterburg 1997.

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und die gegenseitige Assimilation slavischer Stämme in einer bal-tisch-finnougrischen Umgebung waren auch die Prägungen unter-schiedlich.

Obschon die Hauptstadt der Nördlichen Rus’ nach Verlagerung der Rurikiden-Herrschaft auch Tribut an Kiev zu entrichten hatte, behielt Groß-Novgorod seine besondere Stellung lange bei. Die rela-tive Souveränität der Novgoroder ließ also “bereits für die Frühzeit eine deutliche Rivalität zwischen den beiden Hauptstädten spüren”75 und gab gleichermaßen zu eigenen Aufständen wie zu Unterwer-fungsaktionen der Kiever Fürsten Anlaß. In Anrechnung dieser Pfadabhängigkeiten liegt der Schluß nahe, daß die historische Land-schaft der Groß-Novgoroder Veče-Republik sehr wohl den Stoff lie-fern könnte, aus dem künftig nationale Identität und Geschichtsmy-then für Rußland geknüpft werden. Die im September 2002 mit ei-nem Besuch Präsident Putins in Novgorod in Szene gesetzte 1140-Jahrfeier des Bestehens russischer Staatlichkeit, die man mit der Be-rufung Rjuriks (862) und nicht mit der Einnahme Kievs (882) ein-setzen läßt, spricht dafür.76

Zusammenfassung

Fragen an die Geschichtsschreibung in Osteuropa richten sich seit über einem Jahrzehnt scheinbar weniger an Probleme der Forschung als an die Geschichts- und Identitätskonstruktionen, die der para-digmatische Wandel dort in die Historiographie eingeführt hat. Da-bei geht es um Erzeugnisse einer Renaissance der Nationalge-schichtsschreibung, deren Wert mit wissenschaftlicher Elle oft schwer zu ermessen, also eher als ideologischer Ausdruck postsozia-listischer Nationalstaatsbildung und als das Bedürfnis der neuen

75 Hans-Joachim Torke, Novgorod, in: ders. (Hrsg.), Lexikon der Geschichte Ruß-lands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution. München 1985, 263-266, hier 263. Siehe auch Evgenij Nikolaevič Nosov, Novgorodskoe (Rjurikovo) gorodišče. Le-ningrad 1990, 3, 170-171, 189-191; Igor’ Jakovlevič Frojanov, Mjatežnyj Novgorod: Očerki istorii gosudarstvennosti, social’noj i političeskoj bor’by konca IX - načala XIII stoletija. St. Peterburg 1992; Valentin Lavrent’evič Janin, U istokov novgo-rodskoj gosudarstvennosti, in: Otečestvennaja Istorija 6, 2000, 3-9, hier 3. 76 Andrej Riskin, Primerjat’ li koronu? Prusak predložil Putinu rol’ imperatora, in: Nezavisimaja Gazeta, 28.6. 2001. Putin Agrees to Mark 1,140th Anniversary of Rus-sian Statehood, in: RFE / RL Newsline 5, No. 124/1, 29 June 2001; Victor Yasmann, Putin Looks to Historians for National Ideas, in: RFE / RL Newsline 6, No. 7/1, 11 January 2002. Andrej Riskin, A byl li Rjurik? Na Novgorodčine nadejutsja najti mogilu legendarnogo knjazja, in: Nezavisimaja Gazeta, 17. 6. 2002.

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Staaten aufzufassen ist, dem Mangel an nationaler Identität durch die Beschaffung von historischer Legitimation beizukommen.

Dieser Indienststellung von Vergangenheit gebührt besondere Aufmersamkeit, wenn die Grenzen zwischen Klitterung und Verfäl-schung verschwimmen und die nationale Pose - zum Nationalismus erstarrt - ethnonational definierten Abgrenzungen Vorschub leistet, die leicht in zwischenstaatliche Spannungen übergehen können. Eher beiläufig sei damit auf zwei Defizite der historischen Osteuropafor-schung hingewiesen: auf die Vernachlässigung einer systematisch-kritischen Rezeption77 der neuen Nationalgeschichtsschreibung und auf den Umstand, daß die Rekonstruktion von Vergangenheit kaum unter dem Aspekt der Geschichtspolitik wahrgenommen wird, deren Dimension sowohl die ideologischen Grundlagen wie das Instru-mentarium umfaßt, mit dem sich staatliche Erinnerungskultur insze-niert. Um die Tragweite dieser Entwicklung aufzuzeigen, wurde der Fokus hier auf den Zusammenhang von historischer Sinnstiftung und nationalistischer Wahrnehmung gerichtet, womit zugleich Auskunft darüber gegeben wird, warum eine beständige Analyse historiogra-phischer Entwicklung in Osteuropa dringend geboten scheint.

77 Die Vermittlung veränderter Perspektiven, wie dies mit Einsetzen des politischen Tauwetters Mitte der 50er Jahre noch detailliert und Ende der 70er Jahre länderspezi-fisch ins Werk gesetzt werden konnte, erfolgt seit den 90er Jahren nur mehr bruch-stückhaft. Vgl. bei Günther Stökl, Russisches Mittelalter und sowjetische Mediaevi-stik. Forschungsbericht und bibliographische Übersicht, in: JbbGOE 3, 1955, 1-40, 105-122. ders., Russische Geschichte von der Entstehung des Kiever Reiches bis zum Ende der Wirren (862-1613). Ein Literaturbericht, in: JbbGOE 6, 1958, 201-254, 468-488; Georg von Rauch, Die neuere Geschichte (1500-1815) in der sowjetischen Ge-schichtsschreibung der Gegenwart, in: JbbGOE 3, 1955, 71-83; Cyril E. Black (Ed.), Rewriting Russian History. Soviet Interpretations of Russia’s Past. New York 1956; Samuel H. Baron/N. W. Heer (Eds.), Windows on the Russian Past. Essays on Soviet Historiography since Stalin. Ohio 1977; Peter Heumos, Geschichtswissenschaft und Politik in der Tschechoslowakei. Entwicklungstrends der zeitgeschichtlichen For-schung nach 1945, in: JbbGOE 26/4, 1978, 541-576; Hans-Joachim Hoppe, Politik und Geschichtswissenschaft in Bulgarien 1968-1978, in: JbbGOE 28/2, 1980, 243-286.