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7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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NUMMER
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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CARSTEN COLPE
ÜBERD S
H iliG
VERSUCH
S IN RVERKENNUNG
KRITISCH
VORZUBEUGEN
NTON H IN
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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CIP-Titelaufnahme derDeutschen Bibliothek
Colpe,
Carsten
Über das Heilige Carsten Colpe. - Frankfurt am Main : Hain,
19 )0.
Anton Hain ; Nr. 3)
ISBN 3-440-o6oo3-7
NE:GT
© 1990
VerlagAllton Hain Meisenheim GmbH, Frankfurt
am
Main
Alle Rechte vorbehalten.
Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht
gestattet, das Buch oderTeile daraus auffotomechanischem
Weg Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen.
Gesamtgestaltung: Bayerl, Ost Rebmann, Frankfurt am Main
Satz:Typo Forum, Büdingen
Herstellung: Druckerei
Hermann
Duncker, Leipzig- IIIII8II38
ISBN 3-440-o6oo3-7
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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EINLEITUNG ABSICHT)
7
A. ZU STÄNDIGENVORAUSSETZUNGEN
9
I. Fragen und Besinnung
Alltag, Dichtung, Wissenschaft, Politik)
II. Axiomatik
und
Chronologie
symbolische Formen, zeitliche Erfahrungen)
III. Sprachliche und nichtsprachliche Grundlagen
kultisches Reden, rituelles Handeln)
B.
AUS FRÜHEREN FORSCHUNGEN
19
rv Vorbereitungen empirie- und symbolbildenden
Erlassens J.Kant, J.F.Fries, E.Cassirer)
V Auseinandertreten von Begriffsübersetzung und
Namengebung
N.D.Fustel de Coulanges,
R.H. Codrington, E.Durkheim)
Vl. Anwendungen der beiden wissenschaftlichen
Aussageweisen VY.Wundt, W.Windelband, N.Söderblom)
VII. Hinwendungen zum Grundsätzlichen:
Das
Apriori-
Problem
E. Troeltsch,
R.
Otto,
P
Tillich)
C. UM KÜNFTIGE FORTSCHRITTE
50
VIII. Aufsuchen neuerVordergründe das Erhabene,
das Numinose, das Interessante, der Ernstfall)
IX. Sich entscheiden für die richtige Methode
Psychologie und Linguistik, Selbst- und Fremddefinition)
X. Belassen der Phänomene in der Geschichte
Urprofanität, Pansakralität, Transzendierung,
Säkularisation)
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XL
Sich bewegen in endlichen Gegebenheiten
Ekstase, Sexus, Lebensalter, Charisma)
D. INWEITEREN SCHWIERIGKEITEN
72
XII. Der ontologische Ausweg als Suche
nach Hintergründen Mircea Eliade)
XIII.
Der
soziologische Ausweg
zur
Vermeidung
von Aporien Jürgen Habermas)
XIY Verbreiterung der Phänomenenbasis in empirischer
Unbefangenheit Evidenzen und Vorbehalte)
XV Unvollständigkeit der begrifflichen Erfassung des
Heiligen aus ethischem
Defizit
Einheit der Forderungen nach Synthese und Moral)
ANMERKUNGEN
86
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EINLEITUNG ABSICHT)
»Das Heilige« ist ein Zauberwort, und auch die Sache, von
der es spricht, können wir uns heutzutage, wenn über-
haupt, am ehesten als etwas vorstellen, das unsere Welt,
vielleicht sogar: ie Welt, verzaubert. Schon immer aber
gab es
den echten und den faulen
Zauber,
den manche
auch den wahren und
den falschen, ja den guten und den
bösen nennen. Welcher Zauber es ist, der da uns oder die
Welt, vielleicht, verwandelt, verwandelt hat oder verwan-
deln könnte, das sagt uns die Erfahrung nicht eindeutig
und unmittelbar. Damit sie wenigstens eindeutig wird,
müssen wir leider auf Unmittelbarkeit verzichten, indem
wir uns vorbereiten, ähnlich wie wir es für die Erfahrung
von etwas Schönem oder sonstigem Außergewöhnlichen
tun, indem wir Tage, Stimmungen und Gelegenheiten of-
fenhalten, die seinem Eintreten günstig sind, oder indem
wir an
Orte gehen,
an denen
es
zu erwarten
ist das Ge-
genteil kann dann immer noch geschehen). Für »das Hei-
lige« besteht die Vorbereitung darin, daß wir uns verge-
genwärtigen, wie und von wem es früher und anderswo
bekundet wurde urid wird, und untersuchen ob es sich
wirklich als das Bekundete
erweisen
läßt. Solche Bemü-
hungen sind Wissenschaft.
Die Wissenschaft kann und will weder die Erfahrung »des
Heiligen« noch einen Existenzbeweis für dieses selbst
herbeiführen. Das einzige, was sie beisteuern kann, sind,
gegebenen Falles, einige Möglichkeiten, es richtig zu er-
kennen. »Richtig erkennen« bedeutet hier: Erfahrungen
7
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die solche >>des Heiligen sein könnten, so zu verifizieren
daß nicht widerlegt werden kann, sie seien Erfahrungen
von etwas Wirklichem,
und
Aussagen die
daraus eine
Er-
kenntnis machen sollen so zu treffen daß sie
nicht von
vornherein falsch sind. Wahrheitsbeweise lassen sich
hingegen beide Male nicht führen.)
Mag es auch unbefriedigend sein daß »das Heilige damit
nicht evident wird so ist es doch ein Gewinn daß seine
Unwirklichkeit nicht von vornherein feststeht wenn mit
der Möglichkeit zu rechnen ist daß man es nur verkannt
hat.
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A. ZU STÄNDIGENVORAUSSETZUNGEN
»Das Heilige<< so sei es vorausgesetzt, ist von derselben
Art wie andere nichtdingliche Grundgegebenheiten. Des
halb kommen für sie alle auch dieselben Erkenntnismög
lichkeiten in Frage. Ob diese aber zeitlos-transzendental,
oder
ob sie
Ergebnisse
unserer
stammesgeschichtlichen
Entwicklung sind, die an die Stelle von früheren traten,
das ist heute heiß umstritten. Wir stellen uns auf die Seite
derer, die das erstere behaupten, weil nicht ersichtlich ist
daß wir jemals Ordnung entbehren können- und werde
ihr
Geltungsbereich auch
noch so
klein-, und
daß die
Mit-
tel mit denen sich Ordnung schaffen läßt, anders konsti
tuiert seien als die Regeln richtigen Rechnens und logi
schen Denkens. Genauso, wie diese gültig sind einerlei,
ob und wann die Menschheit oder der Mensch sie ent
deckt oder erlernt, aber nicht wachsen wie ein physiologi
sches Organ gleich der Hypophyse oder dem Blinddarm
und irgendwann wie diese außer Gebrauch geraten, so
sind auch die Voraussetzungen für die Erkenntnis >>des
Heiligen« und die Möglichkeiten, es zu erfahren, unab
hängig von der physischen, emotionalen und mentalen
Befähigung des Menschen, sich
darauf
vorzubereiten.
Er
kenntnistheoretisch gelten diese Voraussetzungen be
ständig, so sehr auch der faktischeVollzug der Erkenntnis
heute und der Erfahrung einstmals geschichtlich ist.>
9
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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I Fragen und Besinnung
Alltag, Dichtung, Wissenschaft, Politik)
Wenn wir etwas »heilig<< nennen, also etwa von »heiligen
Gütern<< >>heiligem Zorn<< »Heiligem Geist<< oder »einem
wunderlichen Heiligen<< reden, und wenn wir uns gar zu
einerVerallgemeinerung »das Heilige<< erheben, dann ent
steht sogleich eine schwierige Frage. Sie lautet: Reden wir
mit der Bezeichnung »heilig<< immer von derselben Quali-
tät?, oder: Ist »das Heilige<< immer und zu allen Zeiten das
selbe gewesen? Wir ahnen auch gleich eine vorläufige
Antwort, über deren Richtigkeit wir freilich nicht sicher
sind: Es könnte Unterschiede geben, welche die Einheit
der
Sache
fraglich
machen. Denn: In urgeschichtliche
Zeiten hinein, in denen es noch keine Schrift gab und wo
wir demgemäß die Sprachen nicht kennen, können wir
nur Rückschlüsse ziehen. Dabei kann man, wie bei allen
Schlüssen, fehlgehen. Seit aber Sprachen bekannt und er-
forscht
sind,
treten in
vielen von
ihnen
ganz verschiedene
Wörter hervor. Wir übersetzen sie in unseren heutigen
Sprachen in abermals ganz verschiedenenWörter, von de
nen das deutsche Wort »heilig« nur eines ist. Dieses Wort
wiederum könnte in der deutschen Bibelübersetzung, wo
wir vor allem von der Heiligung des Menschen durch den
Heiligen Gott lesen- »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin
heilig<< 5· Mose 19,2 -,etwas anderes bedeuten als z.B. im
achtzehnten Jahrhundert, da Klopstock dichtete: »Ja, wie
einen reisenden Jüngling, der seiner Geliebten/Und dem
empfangenden Blick/Und dem klopfenden Herzen voll
heiliger Zärtlichkeit
zu
weint<<
Oden
I 58),
oder da
Goethe
mit Werther aus seinem Leiden in die Zeiten zurück
blickte, als »ich dann die Vögel um mich denWald beleben
härte, ... und das Moos ... und das Geniste ... mir das in
nere glühende, heilige Leben der Natur eröffnete: wie
faßte
ich das
alles
in mein warmes
Herz,
fühlte mich
in
der überfließenden Fülle wie vergöttert und die herrli-
l
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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chen Gestalten der unendlichenWelt bewegten sich allbe
lebend in meiner Seele«.
5
Wieder etwas anderes war si
cher
gemeint,
wenn
die Wissenschaften des
neunzehnten
und frühen zwanzigsten Jahrhunderts über Kultur und
Geschichte des Abendlandes mächtig hinausdrängend
das »Heilige« gleichsam zu einem Schlüsselwort interso
zietärer Erkenntnis machten, um die Voraussetzungen ar
chaischerVergesellschaftungwie die Hintergründe nicht
theistischer Religionen gleichermaßen in den Griff zu be
kommen.
Und was liegt vor, wenn gegen Ende unseres zwanzigsten
Jahrhunderts erwogen werden muß ob die Idee des Staa
tesgenauso eine Ganzheitsvorstellung repräsentiert, wie
es
im
Mittelalter die gotische Kathedrale tat, so daß
wir
einmal sangen: »Deutschland, heiliges Wort,/Du voll
Unendlichkeit/Über die Zeiten fort/Seist du gebenedeit /
Heilig sind deine Seen,/Heilig dein Wald ...«?Wenn sich
gar die Frage aufdrängt, ob die Rolle des politischen »Füh
rers« dieselbe Verpflichtung
auf
das Ganze,
um nicht zu
sagen: auf das Total(itär)e beinhalte, wie sie früher der
»Heilige« verkörperte? Oder wenn sich alsbald nach ei
nem blutigen Bombenanschlag eine Organisation dazu
bekennt, die Wert darauf legt, unter dem Namen »Islami
scher Heiliger Krieg« respektiert zu sein?
Schon diese
wenigen Erinnerungen
zeigen, daß
man
sich
dem , was man vielleicht »das Heilige« nennen darf, nicht
einfach anheimgeben kann, sondern eine gewisse intel
lektuelle Anstrengung aufwenden muß um zu verstehen,
worum es sich handelt. Wir würden nicht weiterkommen,
wenn wir
jetzt
zusammentragen würden was uns dazu
noch einfällt. Wir müssen schon den Weg der Analyse be
schreiten, auf die Gefahr hin, daß wir am Schluß Distanz
zu Etwas gewonnen haben das wir dann erst recht nicht
mehr kennen, aber zugleich in der Hoffnung, daß die Wis
senschaft ausnahmsweise auch einmal etwas leistet, was
uns persönlich nützt, nämlich Klarheit zu schaffen in ei-
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ner Materie deren Dunkelheit und Kompliziertheit uns
sonst blockieren würde und damit zu einer Freiheit zu
verhelfen die
nicht
auf den
Bereich des
Denkens
und
Nachdenkens beschränkt zu bleiben braucht.
Diese Hoffnung vor Augen wird es uns einleuchten daß
diesmal eine einzelne Wissenschaft weder allein kompe
tent noch - bei interdisziplinärer Fragestellung - auch
nur federführend sein kann wie es sonst meist der Fall ist.
Bei »dem Heiligen« denkt man zwar zuerst an »Religion«.
Aber schon wenn es zwischen der Zuständigkeit von
Theologie oder Religionswissenschaft zu wählen gilt ent
steht Streit. Die Geister scheiden sich hier obwohl sie in
zwischen wissen könnten daß man diese beidenWissen
schaften
nicht dann
am
besten
unterscheidet
wenn man
sich in der einen angstvoll gegen die andere abkapselt
sondern vielmehr dann wenn man ein genaues Gespür
dafür entwickelt hat wo es erlaubt oder sogar sachlich nö
tig ist die Grenze zwischen ihnen in der einen oder ande
ren
Richtung
zu
überschreiten. Genauso
ist
es
wenn man
nicht zuerst an Religion denkt sondern z B an Irrationali
tät statt an Rationalität an archaische Unbewußtheit statt
an moderne Aufgeklärtheit
an Erhabenheit statt
an
Durchschnittlichkeit an Außergewöhnlichkeit statt an
Normalität.
Nimmt man diese Kategorien als weitere Aspekte desThe-
mas dann könnte man ihnen ungefähr Philosophie Psy
chologie Ästhetik und Soziologie als zuständig zuordnen.
Doch auch dann müßte man nach jeder gelungenen Lö
sung damit rechnen daß das Problem in der Nachbarwis
senschaft vielfältig
wieder
auftaucht
und in der
Disziplin
für die man sich entschieden hat zu Revisionen zwingt
mit denen man nicht selten abermals seine Grenzen über
schreitet. Diejenigen der genannten Wissenschaften die
es mit Gesprochenem und mit Geschriebenem zu tun ha-
ben
müssen heute
überdies beachten
wie
sich
ihre
Spra
ehe oder Schreibe zu der ihres Gegenstandes verhält -
12
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eine Schwierigkeit, die sie mit Philologie, Sprach- und Li
teraturwissenschaft teilen, an die man sich sonst gleich-
falls gern, und vielleicht sogar zuerst, wenden würde; und
diejenigenWissenschaften, die es mitVerhalten, Handlun-
gen oder darstellender Kunst zu tun haben, müssen etwa
Symbole von Zeichen unterscheiden, um mehr
als
Ein-
drücke, Assoziationen oder Signale vermitteln zu
können.
Alles in allem ergibt sich eine so
neue Fraglichkeit der
Identität dessen,
was
man
»das Heilige«
zu
nennen
ge-
wohnt war, daß sich gleich zwei traditionsreiche Proble
matiken potenzieren, die erfahrungswissenschaftliche
und die erkenntnistheoretische Näheres siehe in Teil IV .
Dieser Lage kann man in einer kurzen Einführung nur
gerecht werden,
indem man
die
Einzelinformationen
ri
gide auswählt und die verbleibenden so kurz referiert,
wie irgend vertretbar, diese Auswahl aber mit um so mehr
kritischer Stellungnahme durchmischt, damit das Thema
von Fall zu Fall die Offenheit erlangt oder wiedererlangt,
wie es die in die geschlossenen Systeme jeder hiermit be-
faßtenWissenschaft einbrechenden Nachbarwissenschaf-
ten jeweils erzwingen.
Voraussetzen muß man, was eine
bescheidene Axiomatik in jedem Falle gestattet. Anfangen
kann man nur, indem man die Überzeugung vorspiegelt,
die Sache sei immer dieselbe gewesen und habe nur ver
schiedene Behandlungen erfahren. Fortfahren läßt sich
nur, wenn man Verallgemeinerungen nicht scheut, die
wie Binsenwahrheiten aussehen.
II. Axiomatik
und
Chronologie
symbolische Formen, zeitliche Erfahrungen)
Wir haben soeben von Gesprochenem und Geschriebe-
nem, von Handlungen und Darstellungen, von Symbolen
und Zeichen gesprochen und damit etwas ganz Gewohn-
tes, ja Gewöhnliches getan: wir haben abstrahiert und for-
13
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malisiert. So einfach dies ist, es kann uns helfen, etwas
sehr Schwieriges zu tun, nämlich gleich richtig anzufan
gen, bzw. die
historischen
Anfänge
ohne belastende
Vor-
entscheidungen aufzusuchen, wie man sie z.B. häufig
und gern mit Hilfe derVölkerkunde getroffen hat. Denn ob
wir es bei den Anfängen der Menschheit inhaltlich mit
dem »Heiligen zu tun bekommen, das wissen wir ja noch
nicht. Und sollten wir
Gründe haben, dies anzunehmen,
so wissen wir immer noch nicht, ob das »Heilige im onto-
logischen Sinne »ist<< und sich nur historisch partikulari
siert und >>zeigt<< oder ob
es aus Handlungen und Denken
der frühesten Menschen externalisiert wird und dann, als
ein Symbol wie andere objektiviert, weiterlebt Abstrahie-
ren wir
jetzt also
von Inhalten,
die
uns bisher
als
»heilig
in aller Vorläufigkeit begegnet sind und auf die wir in er-
gänzender historischer Kenntnis auch schon vorausblik
ken können, und formalisieren wir den Modus ihrer Ge-
gebenheit.
In diesem Sinne ist
wahrscheinlich eine
symbolische
Form, in welche Erscheinungsinhalte zu fassen wären,
die in historischer Zeit und in weiten Kulturbereichen un
ter anderem als »heilige bestimmt werden dürfen, als
Mittel oder prägende Kraft an allen Bezügen menschli
chen Lebens beteiligt gewesen, seit es ein solches auf der
Erde gibt. >Wahrscheinlich« muß man sagen, weil diese
Aussage aufzwei Voraussetzungen beruht, derenVerifizie-
rung durch irgendeine Art von Nachweis nicht möglich
ist.
Die erste Voraussetzung besteht darin, daß zusammen mit
der
Hominisation
aus dem
bloß
additiven
Zusammenle
ben der frisch entstandenen Menschen nur dadurch die
Urzelle) eine r) Gesellschaft entstand, daß eine reflektive
Transformation der zoologischen Naturwüchsigkeit statt-
fand, durch welche Instinkt zu Erfahrung wurde; anders
gesagt:
nur
dadurch, daß
die
bloße empirische
Natürlich-
keit der Individuen und ihres instinktiven Zusammenfin-
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dens in eine symbolhaltige Nicht-mehr- oder Mehr-als
Natürlichkeit, das heißt: Vergemeinschaftung oder Ver-
gesellschaftung überging, in der Erfahrungen dergestalt
gemacht wurden, daß man sie wiederholen, bedenken,
korrigieren und ausdrÜcken konnte.
4
Die zweite Voraussetzung ist, daß bei diesem Vorgang aus
Gewohnheiten eine Regelhaftigkeit entstand, wie sie für
Gentilbildungen schon von kleinstem Umfang und erst
recht für Institutionen und
Organisationen konstitutiv ist.
Diese erste Regelhaftigkeit aber muß wie jede spätere so
beschaffen
gewesen sein, daß als ihr Komplement oder
auch Gegensatz das Regelfremde, Anormale, Außerge-
wöhnliche nicht nur ständig bewußt blieb, sondern auch
jederzeit realisierbar
war. Und
sowohl
zur
Ausnahme als
auch zur Regel kann sich eine Reihe von Deutungen fü-
gen, wie sie der Mensch in Symbolen denkt oder in Intui
tionen gewahr wird.
Die erste Voraussetzung würde bedeuten, daß auch bei
>>dem Heiligen<< das uns bisher eigentlich lediglich als ein
heuristisches Leitmotiv gedient hat, von Anfang an eine
gewisse emotional-mentale Reflektiertheil mit im Spiel
war, welche die Art seiner Gegebenheit nun immerhin als
»Erfahrung des Heiligen<< erscheinen läßt.
5
Ob damit be
reits »Religion<< konstituiert war, müssen wir dahingestellt
sein lassen, weil
wir
uns
hier mit der
Definition von Reli-
gion nicht befassen. In bezug auf die zweite Vorausset-
zung kann das sowohl heißen, daß >>das Heilige<< auf die
Seite des Regelgemäßen, als auch daß es auf die Seite des
Regelwidrigen gehörte. Es kommt fürs erste nur auf sei-
nen
Erfahrbarkeitscharakter
an.
Dies
ist eine
symboltheo
retisch-anthropologische Grundvoraussetzung für
den
Anfang einer Entwicklung, aber nicht dieser Anfang
selbst. Anfänge solcher Art, also auch der des »Heiligen<<
sind überhaupt nicht datierbar. Prinzipiell, wenn auch
kaum praktisch datiert, d.h. in historischen Situationen
und an geschichtlichen Gegebenheiten aufgefunden wer-
15
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den können nur gewisse virtuelle Präsenzen, in derenVer-
folg es statthaft ist, von der realen Anwesenheit auch »des
Heiligen« zu sprechen, sobald die eingangs aufgezeigten
ständigen Voraussetzungen für das Erkennen besonderer
Handlungen, Gegenstände, Lokalitäten und Momente
einschlägig erfüllt sind siehe Teil X .
III. Sprachliche und nichtsprachliche Grundlagen
kultisches Reden, rituelles Handeln)
Wenn bis hierhin die Voraussetzungen richtig definiert
sind, dann enthalten sie die Mehrzahl der Probleme, wel-
che bestehen
seit
der
Mensch
Erfahrungen macht und
sich bewußt macht, und das heißt zugleich: seit er dies
mittels bestimmter Symbolisierungen tut. Prinzipiell um
einen Grad weniger wichtig ist es, ob diese Symbolisie-
rungen sprachlich oder nichtsprachlich waren. Dennoch
haben
die
ersteren gerade
in den
westlichen Wissenschaf-
t e n ~ nur diese sind es, die hier gefragt i n ~ die Aufmerk-
samkeit absorbiert, seit hellenistische Juden das qiidöS
aus der hebräischen Bibel mit hagios lateinische Chri-
sten dieses aus Septuaginta und Neuern Testament mit
sanctusund deutsche Mönche und Humanisten dieses aus
der Vulgata mit heilig wiedergaben. Auf die Verhältnisse
in den anderen Wissenschaftssprachen ist zurückzukom-
men.) Diese Übersetzungen sind unwiderrufbar und ehr-
würdig. Aber wir wissen, mWechselspiel welcher histori-
schen Umstände, ja Zufälligkeiten sie geschehen sind,
und
daß,
wären
sie bloß
auf
den Ebenen der
Etymologie
und der Synonymik vonstatten gegangen, auch ganz an-
dere Wörter hätten etabliert werden können.
Die für die Effektivität ihrer Arbeit unabdingbare gleich-
wohl manchmal beneidenswerte Unbekümmertheit der
Lexikographen
und
Philologen
beruht auf der
Faktizität
solcher Übersetzungsvorgänge und ihrer Ehrwürdigkeit.
16
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Sie hat auch zu einer Selbstverständlichkeit in der Identi
fikation »des Heiligen<< geführt deren Wert man noch
heute bei verändertem Problembewußtsein nicht gering
achten wird. Jahrhundertelang in unserem und dem isla
mischen Kulturkreis spätestens seit der alexandrinischen
Wissenschaft in Indien seit Panini hat man so gearbeitet.
Resultate die man so gewinnt sind genauso wichtig wie
sie früher waren wenn man sie nur an der richtigen Stelle
im
sich
immer
weiter
diffenzierenden
Erkenntnisprozeß
einsetzt.
Auch die Anwendung einer derart stabil gewordenen
Übersetzungsterminologie auf bestimmte Wörter aus den
vielen Sprachen die man seit dem Zeitalter der Entdek
kungen kennenlernte und in welchen auch
religiöse
Texte überliefert sind beruht auf der Grundannahme der
Gleichwertigkeit der Begriffe in diesem Falle also der
»Heiligkeits<<-Begriffe innerhalb und außerhalb des Gül
tigkeitsbereichs der »philologia perennis<<. Hier allerdings
wird die Sache bedenklich: Nicht nur bei Überschreitung
dieses Bereichs sondern auch zwischen den modernen
Metasprachen innerhalb desselben die ja ähnlich wie die
alten Objektsprachen für das was wir für dasselbe zu hal
ten geneigt sind verschiedene Wörter nebeneinander ha
ben entstehen Äquivalenzprobleme.
Sogar die nichtphilologisch-lexikologischen also
vor
al
lem die ethnologischen und die soziologischen Methoden
bei der Identifizierung >>des Heiligen<< die sich vornehm
lich an die eingangs angedeuteten nichtsprachlichen
Symbolisierungen-am ehesten also: an rituelle Handlun
gen
-
halten
waren und sind noch
oft
der
philologia
per
ennis manchmal sogar der philologia sacra verhaftet
neben welcher oder gegen welche sie einer von >>theologi-
schen<< Prämissen endlich befreiten Betrachtungsweise
doch eigentlich zu ihrem Rechte verhelfen wollen.Würde
man sein Augenmerk auf die moderne Linguistik richten
würde hervortreten daß und wie erst sie sich konsequent
17
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aus dieser Tradition und von ihren inhaltlich so prägen-
den Vorgaben gelöst hat.
6
Nicht zuletzt d durch ist uch
solchen Wissenschaften die sich
mit
symbolischen For-
men nichtsprachlicher Natur befassen zu einer eigen-
ständigen Theorie verholfen worden.
8
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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B AUS FRÜHEREN FORSCHUNGEN
Die frühere wissenschaftliche Beschäftigung mit »dem
Heiligen<< hatte dieses nur selten direkt und ausschließ
lich zum Thema. Meist hatte sie es mit größeren Zusam
menhängen zu tun. Aus diesen müssen wir uns jetzt das
Wichtigste vergegenwärtige n.
rv Vorbereitungen empirie- und symbolbildenden
Erlassens (I.Kant, J.F.Fries, E Cassirer)
Schon die in Teil I behauptete) Potenzierung der erfah
rungswissenschaftliehen und der erkenntnistheoreti
schen Problematik, zu der die Frage nach der Identität des
>>Heiligen<< geführt habe, sagt über dieses direkt gar nichts
aus. Trotzdem muß diese Potenzierung auf ihre Wurzeln
zurückgeführt werden; denn nur dann wird zweierlei
deutlich, nämlich unter welchen Voraussetzungen das
>>Heilige<< in der Neuzeit überhaupt begriffen werden
konnte, und inwiefern die außerordentliche Vielfalt der
Zugänge, die man bis heute zum »Heiligen« zu haben
meint, eine
Folge
von
in
gegenseitiger Verschränkung
sich stabilisierenden Denk-, Empfindungs- und Tatbemü
hungen ist, die ihre Gründe ganz woanders haben und in
ihre Intentionen das »Heilige<< eher zusätzlich einbezie
hen.
Daß
Denk-,
Empfindungs-
und Tatbemühungen im
Prin
zip auf das Größtmögliche, auf den räumlich und zeitlich
19
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endlich-unendlichen
Kosmos,
auf das Schöne in der Welt
und das Dynamisch-Erhabene in der
Natur, und auf die
höchsten moralischen Anforderungen gerichtet
sind,
steht spätestens seit Immanuel Kant 1724-1804) fest, und
zwar deshalb weil er selber auch die Gründe dafür aufzei
gen konnte. Die Gründe dieserBemühungen so wissen
wir jetzt, liegen woanders als im Ausgangspunkt im Voll
zug und in den Zielen ihrer selbst. Sie liegen auch nicht in
deren Transzendenz. Sie verhalten sich vielmehr tran
szendental zu ihnen allen. Kant konnte zwar, zum Bei
spiel, schon sagen: »Die völlige Angemessenheil des Wil
lens aber zum moralisch Guten ist Heiligkeit, eine Voll
kommenheit deren kein vernünftiges Wesen der Sinnen
welt in keinem Zeitpunkt seines Daseins fähig ist<<
oder:
>>Die se) Heiligkeit des Willens
ist gleichwohl eine prakti
sche Idee, welche notwendig zum Urbilde dienen muß
welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist,
was allen vernünftigen Wesen zusteht ...
7
Aber genau be
sehen
spricht
er
damit nicht über >>die
Heiligkeit<<
wie
über
>>das Heilige<<, sondern er nennt
so eine von vornherein be
stehende Voraussetzung oder Bedingung unter der a
priori ein Wille
auf das absolut Gute sich
richten
muß
wenngleich keinerlei eigene Praxis ihm sagt, daß er je
mals in der Lage war oder sein würde es wirklich zu tun.
Parallel dazu steht die Möglichkeit, a priori zu erkennen
welches die formale Bedingung ist, unter der etwas in der
Erfahrung überhaupt als ihr Gegenstand bestimmt sein
kann ohne daß die bloße Wahrnehmung des Gegenstan
des diese Möglichkeit schon vermittelt.
Was
nach
Kant a
priori dazu
befähigt,
reine
Reflexions-,
Erfahrungs- und Praxisurteile zu fällen, stand in der Fol
gezeit als Formalprinzip immer wieder in Spannung zu
der unabweisbaren Notwendigkeit, es in Erfahrungs- und
rkenntnisinhalte aufzunehmen. Nicht zuletzt nach dem
Grade
der
Vollständigkeit, ist
dem eine
a
priori beste
hende Gesetzmäßigkeit in derjenigen aufgeht die Gegen-
20
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stand von Psychologie, Ästhetik und Ethik ist, unterschei
den sich die kantianischen Richtungen. In derjenigen, die
durch
Jakob Friedrich Fries
(1773-1843)
repräsentiert
wird, ging die transzendentale derart in eine psychologi
sche Fragestellung über, daß das biblisch-christlich über
lieferte »Heilige«, wenn es in sie einbezogen wurde
gleichzeitig zu einer Voraussetzung wie zu einem Gegen
stand oder einem Inhalt von Erfahrung werden mußte.
Sie sollte
dann
die religiöse
oder innere
Erfahrung sein.
In
beiderlei Hinsicht war die Erfahrung schon früher reflek
tiert worden, wenn auch nicht konsequent transzen
dental. Aber damit sie als Erfahrung speziell des Heiligen
gelten konnte, war auch ein Heiligkeitsbegriff a priori nö
tig. Fries
selber
entwickelte
weder
diese
besondere
Gel
tung noch ihreVoraussetzung, aber er begründete theore
tisch, daß Erfahrung keine figürliche Synthesis gegebe
ner Gegenstände, Wahrnehmungen oder Erscheinungen
bleiben muß, sondern anthropologisch verifiziert werden
darf.
So geht der
Weg von Kants »Kritik
der
reinen
Ver-
nunft« (1. Aufl. 1781 2. Aufl. 1787) zu Fries dreibändiger
»Neue(r) oder anthropologische(r) Kritik der Vernunft«
(1807, 2. Aufl. 1828 und 1831) und von da zu seinem zwei
bändigen »Handbuch der psychischen Anthropologie
oder der Lehre von der Natur des menschlichen Geistes«
(1820 und 1821, 2. Aufl. 1837 und 1839).
8
Indem
Fries
eine
auf jegliche Erfahrung anwendbare Theorie überhaupt
aufstellte- auch der Terminus »Erfahrungswissenschaft«
stammt von ihm9 - machte er einen Unterschied zwischen
Wissenschaft von der Erfahrung und empirischerWissen
schaft. Die
erstere
befaßt sich
mit dem
Apriori-Moment,
kraft dessen die Resultate der letzteren gültig sind. Damit
schuf Fries erst die Möglichkeit, daß Wissenschaften von
jeglichen Gegenständen empirische Wissenschaften sein
und als solche einen theoretisch gesicherten Status haben
können. Eine
entsprechende
Sicherung
der Erfahrung
des Heiligen sollte von dieser Möglichkeit profitieren
21
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siehe Teil VII). Hier aber erhebt sich das eine Problem,
nämlich wie Erfahrung beschaffen sein muß, damit sie
wirkliche Erkenntnis vermittelt,
und
das andere, nämlich
ob ein solcher Erfahrung zugänglicher, d.h. sie wie an-
dere Gegenstände eigentlich erst vollziehbar machender
Gegenstand auch das »Heilige<< sein kann, gegenseitig in
die zweite Potenz.
Die Erkenntnis, um die es dabei geht, vollzieht sich aber
immer noch an Gegenständen, deren Zeitlosigkeit derje-
nigen von Zahl, Wesen und Idee gleichkommt. Dieselben
in bedeutungsfunktionale Erkenntnismittel umgedacht
und damit Repräsentationen gleichgemacht zu haben,
wie auch Symbole es sind, war die epochemachende Lei
stung des
anderen
großen Kantianers,
dem
die Komplet
tierung der Erkenntnistheorie zu danken ist, Ernst Cassirer
1874-1945). Auch er hat das >>Heilige« nicht zu seinem
Thema gemacht. Aber indem er die Sprache als anschau-
ungsfunktionale Art symbolischer Repräsentation verste-
hen lehrt und den
Mythos
so interpretiert, daß
er
in seiner
Funktion, Denken, Anschauung und Leben einfach auszu-
drücken, eine selbständige rt symbolischer Repräsenta-
tion von theoretisch gleichem Rang wie die andern Arten
darstellt, fertigt er nebenbei auch die Wünschelrute an, mit
der man dem Rätsel des>>Heiligen« nachgehen muß. Denn
wer das »Heilige<< nicht erfahren und nicht begreifen
kann, der wird sich, ehe er es ganz leugnet, immerhin fra
gen, ob es vielleicht die Sprache, genauer: die alten Spra
chen, bezeugt/bezeugen, die davon reden. Und der, der
das >>Heilige« gar nicht leugnen will, dem es aber fremd ist,
dem begegnet
es,
wenn auch
als etwas Fremdes,
aufjeden
Fall im Mythos, genauer: in alten Mythen. Mit alten Spra
chen und Mythen aber ist die historische Dimension eröff
net. Cassirer hat denn auch seiner »Philosophie der sym
bolischen Formen<< die in drei Bänden >>Die Sprache<<
1923),
>>Das
mythische
Denken<< 1925)
und
die
>>Phäno-
menologie der Erkenntnis« 1929) behandelt, einen vier-
22
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len Band nicht etwa dieses Werkes, sondern des dreibän
digen >>Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und
Wissenschaft
der neueren
Zeit«
10
folgen lassen,
das
die
Philosophie der symbolischen Formen auch schon vorbe
reitet hatte: Folgerichtig endet dieser, nach zwei »Bü
chern« über Geometrie/Physik und Biologie, mit einem
dritten »Buch<< über »Grundformen und Grundrichtungen
der historischen Erkenntnis<<.
Diese über Kant und Fries hinausgehende Erweiterung
des Erkenntnisanliegens bringt es mit sich, daß man über
das »Heilige«, wenn man es denn schon einbeziehen will,
sachgemäß nur so handeln kann daß man ständig be
rücksichtigt, wie sich die in der Nachfolge von Fries auf
drängende aus der Potenzierung der Erkenntnisproble
matik resultierende alte Schwierigkeit, das »Heilige« wie
ein zeitloses Objekt zu erkennen und die neue Schwierig
keit, nun gerade mittels des historischen d.h. sich alter
Sprachen und Mythen bedienenden Erkennens das
selbe?) »Heilige<< als Wirklichkeit zu identifizieren- wie
sich auch diese beiden Schwierigkeiten gegenseitig in die
nächsthöhere Potenz erheben.
Die durch Kant vorbereiteten von Fries und Cassirer aus
gearbeiteten Erfahrungs- und Erkenntniskategorien sind
so genau und im Bedarfsfall weiter formalisierbar ange
legt, daß auch
von den empirischen Wissenschaften ge
wonnene Forschungsergebnisse in sie hätten eingefügt
werden können - soweit die deutsche sog. Religionsge
schichtliche Schule beteiligt war, ist es auch geschehen
und daß man sie auch für zeitdiagnostische Einsichten,
psychologische Kenntnisse
und
religionsgeschichtlich
linguistische Daten nutzen kann die seit 194 abermals
hinzugekommen sind. So eindeutig das zum Besten der
Deutung ebendieser Einsichten, Kenntnisse und Daten
geschähe - einfacher werden die Dinge dadurch nicht
wie in Abschnitt D zu zeigen ist). Ernst Cassirer selbst
wäre hätte er länger als hundert Jahre gelebt, dazu beru-
23
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fen gewesen, diese weitere Komplizierung der episte
mologischen Problematik darzustellen. Er hätte heute
seinem
großen Werk
über
»Das
Erkenntnisproblem
...
«
ei
nen fünften Band anfügen müssen und würde darin allein
für die letzten fünfzig Jahre mehr als die dreihundert Sei
ten benötigt haben, wie er sie sich im vierten Band für die
hundert Jahre seit Hegels Tod 1851) genehmigt hat. Wir
konnten nichts Besseres tun, als uns in Teil II) grundsätz
lich in die Fries-Cassirersche Tradition hineinzustellen,
sogar ohne die Kritik mitzumachen, die im letzten Kapitel
des dritten Bandes an Fries von Cassirer geübt wird, und
erst recht weil dieser selbst im letzten Kapitel des vierten
Bandes unter der Überschrift »Der Einfluß der Religions
geschichte
auf
das historische Erkenntnisideal« die Erfor
derlichkeil seines erkenntnistheoretischen Ansatzes für
die Deutung anderweitig gewonnener Daten durch Ein
führung des großen französischen Historikers bewiesen
hat, dessen Untersuchung griechischerund römischer i-
ten,
Namen und
Institutionen
erstmals
geeignet
erschien
und erscheint, den Stofffür ein sachgerechtesVerstehens
moden zu bieten: Numa Denis Fustel de Coulanges
0
o-
188g).
V Auseinandertreten von Begriffsübersetzung und
Namengebung N.D.Fustel de Coulanges,
R.H. Codrington, E.Durkheim
Der merkwürdige Tatbestand siehe Teil III), daß eine in
den
neuzeitlichen Wissenschaftssprachen stabil gewor
dene Helligkeitsterminologie unhinterfragt Gegebenhei
ten interpretiert, in denen die Dinge entweder objekt
sprachlich viel komplizierter liegen oder überhaupt nur
vorbegrifllich interessierten, wird erst neuerdings eini
germaßen
deutlich. Man
statuiert nämlich ohne
Rück
sicht auf die Fraglichkeil der Tragweite terminologisch
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gebundener Wissenschaftsaussagen einen Anfang der
Forschung in der historisch-kritischen Wissenschaft des
19.
Jahrhunderts der
selbst
erst durch
Interpretation
in
der heutigen Beschäftigung mit dem »Heiligen« das
Thema hergibt, das diese von dort direkt gestellt be-
kommen zu haben meint. Nur weil an die Stelle der hier
fehlenden Reflexion auf die Erkenntnismethoden der ei
genen Wissenschaft diejenige treten kann, auf deren
Nachvollzug
eben
Teil
V
hinauslief, ergibt sich zufällig
der gleiche forschungsgeschichtliche Anfang.
»En 1864, dansSOll livre celebre La Cite antique Fustel de
Coulanges posait le problerne du sacre dans la societe ar
chaique
et
ouvrait ainsi le debat sur le röle du sacre dans
les religions.« So
beginnt ein abschließender
Überblick
über Resultate eines großen historisch-vergleichend an-
gelegten Projekts, mit welchem eine Summe der For
schung gezogen werden sollte. In derTat, einen so durch-
geführten Ansatz, die Entstehung und den weiteren Ent
wicklungsgang
der
Institutionen Griechenlands
und
Roms aus religiösen Bindungen ihrer Träger abzuleiten
hatte es bis dahin noch nicht gegeben.'
2
Aber in dieserAuf
nahme des Ansatzes von Fustel de Coulanges wird voraus
gesetzt, daß »das Heilige« so etwas wie Grundlage, Ur
sprung oder Wesen der Religion überhaupt sei, so daß es
ganz
für
diese
stehen
könne; es
wird
vorausgesetzt, als
verstehe sich seine Gleichsetzung mit der Religion von
selbst und sei kein modernes Theorem. Insbesondere
wird suggeriert, daß »das Heilige« auch, sozusagen, die
Hauptsignatur der antiken Religion sein soll. Das aber
wird
von Fustel de Coulanges
nicht
vertreten,
und nicht
nur weil sich in seinem Buch weder Untersuchungen
über hier6s/hagios/h6sios/semn6s noch solche über sacerl
sanctus finden. Den Ahnenkult, von dem her Fustel
dann
allerdings von heiligen Toten, Herdfeuern, Feldgrenzen,
Zeremonien
spricht,
kann man ebensogut
als
einen zen-
tral bleibenden Ausgangspunkt für die Religionsentste-
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hung in derAntike ansehen der selbst noch nicht Religion
ist. Der moderne Interpret demonstriert hier ungewollt,
wie
kurzschlüssig ein Nachweis sein kann,
der seinen
Ge
genstand vornehmlich in Texten aufbewahrt sieht und
dieselbe Zuverlässigkeit, wie deren Zeugnis sie meist bie
tet, auch einer ganz anders strukturiertenArgumentation
unterstellt. Indirekt belegen dies auch die als solche vor
züglichen philologischen Untersuchungen aus allen
wichtigen Religionssprachen, welche die phänomenolo
gisch und hermeneutisch angelegten Aufweise eines In
einander von göttlicher Annäherung und menschlicher
Heilsmöglichkeit stützen sollen.
5
Die andere, gleichfalls ungewollte Demonstration der -
schwindenden
-
Übermacht
des terminologisch gebun
denen Heiligkeitsinterpretaments ergibt sich nicht aus
heutiger Anwendung, sondern findet sich direkt in den ei
genen Worten eines damals beteiligten Zeitgenossen,
nämlich von Emile Durkheim (t858-1917), Fustel de Cou
langes großem Schüler.
Diese Kritik muß aber zunächst hinter derWürdigung der
folgenschweren Leistung zurücktreten, die Durkheim
vollbracht hat, indem er die Soziologie zur Entschlüsse
lung gerade der nichtsprachlichen Symbolisierungen
tauglich machte- denn darum handelt es sich bei den -
ten und gesellschaftlichen Regulierungen der australi
schen Ureinwohner, aus denen er zugleich eine allge
meine Theorie der Religion entwickelte.
Durkheim stand zwar noch ganz unter dem Bann derVor-
stellungeiner unpersönlichen Kraft als Urzelle und späte
rem
Zentrum der
Sphäre,
welche
die religiöse
werden
sollte- man verwendete damals dafür gern das melanesi
scheWort m n - und er interpretierte die negative Seite
von deren Wrrkung - für die das polynesische Wort tabu
gebräuchlich geworden war - folgerichtig als interdits
oder
interdictions
Aber
er
ging
darin weiter
als
seine
Vor-
gänger, daß er die vom Mana erzeugten Wirkungen, die
6
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außerhalb der gewöhnlichen Macht des Menschen wie
außerhalb der gewöhnlichen Naturvorgänge liegen, kon-
sequent auf die tribalen Organisationsformen hin aus-
legte und damit zu einer wichtigen Unterscheidung eben
des Außergewöhnlichen vom Gewöhnlichen kam, dessen
der Mensch stets Herr bleibt. Um zu verdeutlichen, wie
sehr diese seine Einsicht weiterführte, müssen wir eine
Rückerinnerung an die vor und neben und häufig auch
wieder nach) Durkheim üblich gewordene Verwendung
des Mana-Begriffes
einschalten.
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lernte
der Missionar R.H. Codrington 1830-1922) ihn bei den
Melanesiern kennen. Er definierte ihn vorläufig so: »Es ist
eine Macht oder eine
Einwirkung,
nicht
physisch
und in
gewissem Sinne übernatürlich; es offenbart sich aber in
körperlicher Kraft oder in jeder Art Kraft und Fähigkeit,
die ein Mensch besitzt. Dieses m n ist nicht an einen
Gegenstand gebunden, kann aber von fast jedem Gegen-
stand übertragen werden; Geister . . . haben es und kön-
nen es mitteilen ... Die ganze melanesische Religion be-
steht faktisch darin, daß man dieses mana für sich selbst
erwirbt oder macht, daß es zum eigenen Vorteil ange-
wandt wird«.
4
Unendlich oft
ist
seither mit dieser unaus-
gereiften
Definition gearbeitet worden. Auf den Südseein-
seln, so hielt man
fest,
bedeute Mana immer eine Macht;
es würden unter diesem Namen alle Arten von Begriffen
zusammengefaßt: Einfluß, Kraft, Ruhm, Majestät, Ver-
stand, Herrschaft, Gottheit, Fähigkeit, außergewöhnliche
Macht, erfolgreich, stark, zahlreich, verehren,fähig sein,
anbeten, prophezeien. Die Probleme, die sich
um
diesen
Kernbegriff gruppierten, rückten mehr und mehr in den
Mittelpunkt der ethnologischen, der völkerpsychologi
schen und der soziologischen Forschung.
»Rein inhalt-
lich«, so meinte man, »zeigte
sich zunächst, daß die
Vorstellung, die sich in dem ana der Melanesier und Po
lynesier ausspricht, ihr genaues Korrelat in anderen my-
27
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thischen Begriffen besitzt die in verschiedenen Abwand
lungen über die ganze Erde verbreitet sind. Das anitu der
Algonkin-Stämme Nordamerikas das
Orenda
der
Iroke
sen das Wakanda der Sioux weisen so durchgängige und
schlagende Parallelen zu der Mana-Vorstellung auf daß
hier in der Tat ein echter mythischer >Elementargedanke<
ergriffen zu sein schien. Schon die bloße Phänomenologie
des mythischen Denkens schien somit darauf hinzuwei
sen daß in dieser Vorstellung nicht sowohl ein bloßer In
halt des mythischen Bewußtseins als vielmehr eine sei
ner typischen Formen ja vielleicht seine ursprünglichste
Form sich darstellt ... Verband man diese Vorstellung mit
der nahe verwandten ihr in negativer Richtung entspre
chenden
des
>Tabu<<<-
des zu Meidenden
Verbotenen Un
berührbaren - »So schien mit diesen beiden polaren Be
griffen gewissermaßen eine Urschicht des mythisch-reli
giösen Bewußtseins bloßgelegt zu sein<<.
5
Durkheim fand nun den Keim derselben Kraft oder Macht
auch im
australischen Totemismus
wieder
welcher ihm
als Grundlage diente >>die elementaren Formen des reli
giösen Lebens<<
16
überhaupt zu bestimmen. Für ihn war
die vom Mana erzeugte Wirkung welche über die ge
wöhnliche Macht des Menschen in der Gesellschaft wie
über die gewöhnlichen Naturvorgänge hinausführte be
sonders wichtig. Seine Theorie wiees-wir lassen dahin
gestellt ob vom Mana aus oder unahängig davon- zur Un
terscheidung von heilig und profan kam fasziniert noch
heute. »Allen bekannten religiösen Glaubensweisen
seien sie einfach oder komplex ist eine Eigentümlichkeit
gemeinsam:
sie
nehmen eine Einteilung aller
Dinge
rea
ler wie idealer von denen die Menschen sich eine Vor
stellung machen in zwei Klassen in zwei gegensätzliche
Gattungen an gewöhnlich durch zwei verschiedene Aus
drücke bezeichnet die die Wörter prof n und heilig ziem
lich gut wiedergeben.
Die Aufteilung
der
Welt
in
zwei Be
reiche deren einer alles was heilig deren anderer alles
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was profan ist, umfaßt- das ist der Zug, der das religiöse
Denken kennzeichnet; die Glaubensweisen, die Mythen,
die Dogmen, die Legenden sind entweder Repräsentatio-
nen oder Repräsentationssysteme, die die Natur der heili-
gen Dinge, die ihnen zugeteilten Wirkungen und Fähig-
keiten, ihre Geschichte und die Verhältnisse ausdrücken,
in denen sie zueinander und zu den profanen Dingen ste-
hen. Aber unter heiligen Dingen darf man nicht einfach
jene persönlichen
Wesen verstehen, die Götter
oder
Gei-
ster genannt werden. Ein Fels, ein Baum, eine Quelle, ein
Kiesel, ein Stück Holz, ein Haus, mit einem Wort: jedes
Ding kann heilig sein. Ein Ritus kann dieses Merkmal ha
ben; es gibt gar keinen Ritus, der es nicht in einem be
stimmten
Grad
hat
...
Der
Kreis
der
heiligen Objekte
kann
also) nicht ein für alle Male bestimmt werden; sein Um-
fang ist je nach der Religion unendlich verschieden ...
Jetzt müssen wir zeigen, durch welche Gattungsmerk-
male sie sich von profanen Dingen unterscheiden. Man
könnte versucht sein, sie durch den Platz, den sie in der
Hierarchie der Dinge besitzen, zu definieren. Meistens be
trachtet man sie als würdiger und mächtiger als die profa-
nen Dinge ... Es genügt indessen nicht, daß ein Ding ei-
nem andern untergeordnet ist, damit das zweite in Bezug
auf das erste heilig sei ... Andererseits darf man nicht
übersehen
daß
es
heilige Dinge
aller
Grade gibt
...
Wenn
aber eine rein hierarchische Unterscheidung sowohl zu
allgemein als auch zu ungenau ist, dann bleibt nur mehr
die Andersartigkeit übrig, um den Unterschied zwischen
dem Heiligen und dem Profanen zu definieren. Die Anders-
artigkeit
genügt
aber,
um
diese Klassifizierung
der
Dinge
erschöpfend zu charakterisieren und sie von jeder ande
ren zu unterscheiden weil sie eine ganz besondere ist: sie
ist absolut In der Geschichte des menschlichen Denkens
gibt es kein weiteres Beispielfür zwei Kategorien von Din-
gen, die so tiefverschieden und einander so radikal entge-
gengesetzt sind. Der traditionelle Gegensatz zwischen
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Gut und Böse ist nichts dagegen
... Je nach den Religionen
ist dieser Gegensatz auf
verschiedene Weise aufgefaßt
worden.
Um die
beiden
Arten
von Dingen zu trennen, hat
es hier genügt sie in verschiedenen Regionen des physi-
schen Universums zu lokalisieren; dort wurden die einen
in einem idealen und transzendenten Milieu angesiedelt
während die materielle Welt den anderen zu eigen gege-
ben wurde. Wenn auch die Kontrastformen variabel sind
so bleibt doch die Tatsache des Kontrastes universal<<. So
heißt es in den einleitenden Fragen zum ersten Kapitel an
zentraler Stelle.
Diese Worte sind Bestandteil einer Theorie die unter al-
len welche über das Heilige un das Profane zusammen
aufgestellt
wurden,
die
am konsequentesten
soziologi-
sche ist. Kurz zusammengefaßt besagt sie: Es ist die Ge-
sellschaft die ständig heilige Dinge schafft. Sie tut es weil
sie in sich immer wieder Triebkräfte entbindet, aus sich
heraus- und über sich hinauszugehen, weil sie mit immer
neuen
Motivationen fertig
werden muß, nicht
in
oder bei
sich bleiben zu können. Durkheim faßt das alles mit dem
Ausdruck »prinzipielle Aspirationen<<
7
zusammen. Diese
wie auch die Mittel sie zu befriedigen konkretisieren
sich in Menschen, Dingen Handlungen und Ideen. Was
muß mit ihnen geschehen? Die Gesellschaft sondert sie
aus und vergottet sie. Wird eine Vorstellung einstimmig
von einemVolk geteilt dann darfman sie nicht verneinen
oder bestreiten. Gerade das Verbot beweist daß man vor
etwas Heiligem steht. Mit Verboten- Tabus - solcher Art
in negative Riten gefaßt entledigt sich der Mensch gewis-
ser
Dinge die
damit profan werden,
und nähert
sich
dem
Heiligen. Mit Hilfe von rituellen Enthaltungen wie Fasten
Nachtwachen Klausur und Schweigen gelangt man zum
gleichen Ergebnis wie durch Salbungen Sühnopfer und
Einsegnungen. Sobald sich dergestalt das Heilige vom
Profanen trennt, entsteht
Religion. Das
ursprüngliche
Sy-
stem heiliger Dinge ist der Totemismus in dessen Zen-
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trum meist ein bestimmtes Tier steht. Aber nicht nur das
Totemtier ist heilig sondern alle Dinge die innerhalb ei
nes Klans klassifiziert werden haben die gleiche Eigen
schaft da sie der gleichen Gattung angehören; die Klassi
fikationen die sie mit anderen Dingen des Universums
verbinden weisen ihnen ihren Platz im religiösen System
zu. Die Idee der Klasse ist ihrerseits von Menschen als ein
Instrument des Denkens konstruiert worden; denn es war
wiederum
die Gesellschaft
welche das Grundmuster
lie
ferte nach welchem das logische Denken gearbeitet hat.
Gleichwohl ist der Totemismus keine grobe und falsche
Wissenschaft vor der Religion wie James George Frazer
meinte; denn die Grundeinteilung auf die es zuerst und
vor allem ankommt
ist die
in
heilig
und
profan
und
sie
wird mit Hilfe des Totems vorgenommen das sowohl eine
Kollektivbezeichnung religiösen Charakters als auch
selbst ein heiliges Ding ist. Heilig wird ein Ding auch nicht
durch seine klassifikatorischen Bezüge zum Universum:
eine Welt profaner Dinge bleibt auch dann profan wenn
sie räumlich und zeitlich unendlich ist. Ein Ding wird hei-
lig indem der Mensch es dem gewöhnlichen Gebrauch
entzieht; der negative Kult in welchem das geschieht
führt zum Tabu. Der Mensch wird heilig durch Initiation.
Dem der noch profan ist können gewisse Nahrungs-
mittel verboten
sein
weil
sie heilig sind
dem
Heiligen
können andere verboten sein weil sei profan sind. Zuwi
derhandlung wäre im einen Falle Entheiligung das heißt
Profanierung der Nahrungsmittel im andern Falle Profa
nierung der Person. Dergleichen kann Krankheit und Tod
zur
Folge
haben. In den
Heiligen
das heißt
sowohl
den
Wesen der totemistischen Spezies als auch den Klanmit
gliedern die einer Profanierung widerstanden haben
verehrt die Gesellschaft sich selbst.
Sieht man von der Heilig-Profan-Dualität ab und konzen-
triert sich auf das Mana so hat der Totemkult auch unter
diesem Aspekt für Durkheim seine Bedeutung. Er ist im
5
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Prinzip die Verehrung dieser anonymen und unpersönli
chen Kraft. Riten, die unabhängig von jedem persönli
chen Glauben ausgeführt werden, und sogarnoch synkre
tistische Religionen hält Durkheim nur deswegen für
möglich und lebensfähig, weil in ihnen das unpersönliche
Kraftprinzip besonders zum Tragen komme. Das Totem
wappen sei eine Repräsentation nicht nur des Mana, son
dern auch der speziellen Gesellschaft, in der das Totem
tier eine Rolle spielt. Damit ist das Kraftprinzip eines
Clans nichts anderes als der Clan selber, allerdings verge
genständlicht und geistig vorgestellt unter den sinnhaften
Formen von Pflanzen und Tieren, die als Totem dienen.
Die Wahrnehmungsfähigkeit für die außergewöhnlichen
- einschließlich
der
außerirdischen
-Kräfte
führt Durk
heim auf ein duales Erlebnisgeschehen der Mitglieder
des Clans zurück. Einerseits leben sie isoliert und zer
streut, dann ist ihr Leben alltäglich. Auf der anderen Seite
sind Stammestreffen, in denen man die Kraft des Clans
fühlt, aufregend, sie rufen ekstatische Gefühle hervor, der
Mensch erkennt sich nicht wieder, er fühlt sich be
herrscht von einer äußeren Macht; er fühlt sich gezwun
gen, anders zu handeln als im Alltag, er fühlt sich in einen
anderen Bereich versetzt, und damit hat er zugleich die
Fähigkeit erlangt, das Heilige zu erleben.
Wir kommen nun zum kritischen Punkt. Um ihn genau zu
treffen, müssen wir denAnfang der eben angeführten Pas
sage auf französisch zitieren. >ifoutes les croyances reli
gieuses connues, qu elles soient simples ou complexes,
presentent un meme caractere commun: elles supposent
une
classification
des
choses,
reelles ou
ideales,
que se re
presentent les hommes, en deux classes, en deux genres
opposes, designes generalerneut par deux termes dis
tincts que traduisent assez bien les mots de profane et de
sacre La division du monde en deux domaines compre
nant, l'un tout ce qui est sacre, l'autre tout ce qui est pro
fane, tel est le trait distinctif de la pensee religieuse; les
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croyances, les mythes, les dogmes, les legendes sont ou
des representations ou des systemes de representations
qui expriment la nature des choses sacrees les vertus et
les pouvoirs qui leur sont attribues, leur histoire, leurs
rapports les unes avec les autres et avec les choses profa
nes<< 18Was ist hier geschehen?
Durkheim hat den Tatbestand urtümlicher Dualität in
einer Stammesgesellschaft aufgewiesen und diesen ver
allgemeinert.19
Er
unterstellt,
daß
die
beiden damit gege
benen Klassen oder Genres überall durch zwei verschie
dene Termini bezeichnet werden und daß prof ne und
s cre die angemessenen »Wiedergaben<< oder gar »Über
setzungen« aller Bezeichnungen für die eine und die an
dere
Klasse seien.
Er hat damit
die Kontinuität
seiner
ro
manischen Metasprache zum Lateinischen benutzt, um
zwei Ausdrücke aus dem letzteren, proj nus und s r tus-
eine seit dem erstenJahrhundertvor Chr. aus bestimmten
Gründen nötig gewordene Verdeutlichung von s cer - als
objektsprachliche Äquivalente einschlägiger Ausdrücke
aus Sprachen australischer und amerikanischer totemi
stischer Stämme zu suggerieren und damit
den Tatbe
stand der gesellschaftlichen Dualität, auch wo er sich nur
aus der Analyse des Rituellen oder Kultischen ergibt, in
den Interpretationsrahmen der philologia perennis hin
eingezogen. Seine
faszinierenden Ausführungen über
Profane und Sacre konnten denn auch streckenweise wie
ein ethnologischer Kommentar zum altrömischen Neben
einander von proj nus und s cer gelesen werden ein
schließlich der Ambiguität des letzteren, die für Durk
heim in seinem
Material allerdings
nicht zwischen
dem
Ehr- und dem Verabscheuungswürdigen, sondern zwi
schen dem Reinen und dem Unreinen bestand. Diese Par
allelisierbarkeit hat zur Akzeptanz von Durkheims Ent
wurf auch als einer allgemeinen Theorie der Religion
nicht wenig beigetragen. Wir werden sehen wie wirk
sam sie heute noch ist.)
55
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Ein entscheidender Unterschied aber liegt in folgendem:
Der entscheidende römische Gegensatz besteht nicht
zwischen sacer und projanus sondern zwischenj s und
nejas. Dieser wiederum ist nicht abstrakt der Gegensatz
zwischen
»erlaubt<<
und >>verboten« sondern er ist ein sol
cher nur in bezug auf die Autorität eines auf ganz andere
Weise entstandenen sacrum. Der Gegensatzzwischenjas
und nejas ist übersetzt etwa der zwischen »recht« und
»schändlich«, >>Recht« und »Ruchlosigkeit«, >>göttlichem
Gesetz« und »widergöttlichem Frevel.« Er deckt sich ganz
und gar nicht mit dem zwischen Nicht-Tabu und Tabu.
Durkheim hätte dies, wäre er an solcher Weiterführung
der genialen Erkenntnisse seines Lehrers Fustel de Cou
langes
über
das,
was
die antike Familie
aus welchen
Gründen tat oder nicht tat, interessiert gewesen, nicht
nachweisen können und wohl auch nicht wollen. Sein In
teresse geht in eine andere Richtung: er will zeigen, daß
eine Gesellschaft selber aus sich heraussetzt was dann
als sacre gültig sein wird.
Mehrfach führt Durkheim als weiteres Beispiel dafür an,
was während der frühen Französischen Revolution ge
schah. Es entfällt damit völlig die Möglichkeit, l sacre ein
deutig als das Außergewöhnliche, Regelüberschreitende
zu definieren siehe Teil II). Denn wenn es in kollektiven
Begeisterungen Feiern von Festen, Errichtung von Altä
ren, Erschaffung von Helden, Praktizierung ungewöhnli-
cher Rituale äußerlich zuerst erscheint dann geschieht
dies alles ja letztlich, damit die Gesellschaft bleiben kann
wie sie ist. Das Irreguläre erweist sich somit als notwendi-
ges Korrelat
des
Regelhaften.
Indem Durkheim die Hervorbringung eines solchen Irre
gulären als Entstehung von Religion bezeichnet und die
ses sacre das Regelhafte profane nennt und für solcheVor-
gänge und Konsequenzen bei australischen Totemisten
wie bei französischen Revolutionären die gleiche Sympa
thie aufbringt, steht er ganz nahe bei der religion civile bei
34
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der auf ganz anderen VVegen Jean-Jacques Rousseau
1712-1778) am Schluß seines Gontrat Social 1762) ange
kommen
war.
Im achten
Kapitel
des
vierten
Buches
hatte
er ausführlich dieses Thema formuliert, um das es nicht
mehr still werden sollte. Dort heißt es unter anderem:
>>Die Religion kann in Bezug aufdie Gesellschaft- die ent
weder die allgemeine menschliche) oder die besondere
politische) is t- in zwei Arten eingeteilt werden: Die Reli
gion des Menschen und die des Bürgers. Die erstere kennt
keinen Tempel, keinen Altar und keine Riten. Sie be
schränkt sich auf den rein innerlichen Kult des Höchsten
Gottes und auf die ewigen Pflichten der Moral. Sie ist die
reine und einfache Religion des Evangeliums, der wahre
Theismus,
das,
was man
das
natürliche
göttliche Recht
nennen kann. Die andere ist in ein einziges Land einge
schrieben und gibt ihm seine besonderen Götter und eige
nen Schutzpatrone. Sie hat ihre Dogmen, ihre Riten, ihren
von den Gesetzen vorgeschriebenen äußeren Kult. Mit
der Ausnahme der
Nation, die
sich zu ihr bekennt,
ist alles
andere für sie ungläubig, fremd und barbarisch. Sie dehnt
die Menschenpflichten und -rechte nur soweit aus, wie
ihre Altäre reichen. So waren alle Religionen der ersten
Völker. Man kann ihnen den Namen ziviles oder positives
Gottesrecht geben ... Es gibt also ein rein ziviles Glau
bensbekenntnis. Seine Artikel müssen vom Souverän er
lassen werden ... Die Dogmen der zivilen Religion müs
sen einfach sein, gering an Zahl, klar im Ausdruck, ohne
Erklärungen und Auslegungen. Diese positiven Dogmen
sind: Die Existenz einer mächtigen, vernünftigen, wohltä
tigen,
vorausschauenden und
vorsorglichen
Gottheit; das
künftige Leben; die Belohnung der Gerechten; die Bestra
fung der Bösen, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages
la saintete du cantrat social) und der Gesetze«.
2
Mit der zitierten Interpretation, die Fustel de Coulanges
seitens heutiger Philologen, Ethnologen und Historiker
als Entdecker der Heiligkeitsproblematik in den Religio-
5
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nen zuteil wird, und mit der Interpretation, welcher Durk
heim seine eigenen Befunde unterzieht, wird ein prinzi
pieller Unterschied
der
Qualit)iten
von wissenschaftli
chen Aussagen sichtbar. Dies gilt sowohl für ihrVerhältnis
zum jeweiligen Gegenstand als auch für ihre Funktion in
der Theorie des Philologen, Historikers, Soziologen, Psy
chologen, Philosophen, Theologen, der sich damit befaßt.
Fortan steht neben allem andern auch die Semantik und
die Syntaktik des Heiligkeilsbegriffes als Aufgabe mit an.
Was Rousseau
im Ganzen und Durkheim in den auf ihn
hinauslaufenden Teilstücken seiner Theorie anlangt, so
können wir schon hier kritisch sagen: dies ist von allen
adäquaten Theorien des »Heiligen<< weit entfernt. Ein Son
derfall
ist diejenige,
mit der ein überraschender
Durk
heim redivivus in unseren Tagen, Jürgen Habermas, sei
nen Ahnherrn nur wenig modifiziert siehe Teil XIII). Wel
cher Ansatz hinter den Bestrebungen in Frankreich und in
den USA heute, eine civil religion zu begründen
2
, sich
durchsetzen und
damit
als
der auch
theoretisch relevan
teste erweisen wird, ist noch ganz offen.
VI. Anwendungen der beiden wissenschaftlichen
Aussageweisen VY.Wundt, W.Windelband, N.Söderblom)
Kehren wir in die so produktive Zeit vor dem ersten Welt
krieg zurück. Durkheim hat es für wichtig gehalten, Wil
helm Wundt 1832-1920) zu besuchen, den großen Psy
chologen und Philosophen, der sich mit seinen Studien
auf benachbarten
Terrains bewegte.
Es
ist
meines
Wis
sens nicht untersucht, ob gegenseitige - eventuell auch
briefliche -Anregung und Kritik zur Klärung der Positio
nen beider geführt haben. Durkheims >>Regeln der sozio
logischen Methode« erschien zuerst 1894/95, erweitert
1901,
der
Aufsatz Ȇber
den
Totemismus<<
1902,
>>Die ele
mentaren Formen des religiösen Lebens« 1912; der zweite
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der zehn
Bände von Wundts »Völkerpsychologie«, der sich
mit >>Mythus und Religion und darunter auch mit dem
»Heiligen befaßt, erschien 1906.
22
Aufschlußreich ist es
immerhin wie der Deutsche das völkerkundliche Mate
rial nicht von der Soziologie, sondern von der empiri
schen Psychologie her erschließen will, und wie er von
seinem zwar evolutionistischen aber nicht religionskri
tisch gemeintenAusatz aus zu ganz anderen Ergebnissen
kommt.
Wundt geht von allen Erscheinungen aus, die etwas mit
dem Tabu zu tun haben weil für i n dies wohl eine Ab-
grenzung gegen Durkheim mit welchem er im übrigen
die Selbstverständlichkeit in der Anwendung des Heilig-
keitsbegriffes
teilt-
der
>>fabuismus
eine
»ungleich
dau
erhaftere Erscheinung als der Totemismus« ist. Auch
Wundt hat ein »Interesse«: die >>freie Humanität<<. Sie ist
das Kardinalmoment des Ethos, welches denselben Ent
wicklungsgesetzen folgen soll, die Wundt für Sprache und
Mythos aufzustellen sucht. Sie verwirklicht sich minde
stens in zwei Stufen. Die erste wird durch die Tabugebote
geschaffen welche zunächst die positive Funktion haben
die Furcht vor der Wirkung dämonischer Mächte zu ban
nen ehe sie ihrerseits als Sitte und Herkommen Zwang
ausüben und zum ältesten Gesetzeskodex der Mensch
heit werden der ungeschrieben
ist,
aber durch Furcht
und Schrecken seine Herrschaft behauptet. Irgendwann
sondert sich die Furcht, die der Mensch
vor dem Dämoni
schen und damit auch vor dem dieses domestizierenden
Tabu empfindet in die beiden Formen der Ehrfurcht und
des
Abscheus. Die
Differenzierung
dieser
Affekte vollzieht
sich in und mit der ihrer Objekte. So entsteht in denletzte
ren >>das Heilige und das Unreine zwischen denen sich
einneutrales Gebiet des bloß Erlaubten entwickeln kann.
Die psychologischen Beziehungen die zwischen Ehr
furcht und Abscheu bestanden stellen sich aber nach der
Scheidung ihrer Objekte wieder ein, so daß >>das Heilige
57
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und das Unreine neu tabuisiert werden können. Es sind
also jetzt zwei Tabus auf einander gegenüberliegenden
Seiten,
nicht
nur
eines
auf
nur
einer
Seite,
das
allenfalls
die Möglichkeit zu einer Spaltung minderen Grades in
sich hätte. Das Ziel, das in dieser Zweiheit angelegt ist,
wird verfehlt, wenn beide Tabus und damit das Heilige
und das Unreine sich wieder mischen; es wird erreicht
wenn das Tabu des Heiligen als religiöser Affekt zurück-
bleibt, das des Unreinen hingegen auf das Gebiet der Sitte
und der Sittlichkeit hinüberwandert.
Wertprinzipien, wie sie in einer solchen, induktiv gemein-
ten Argumentation stecken, werden im gleichzeitigen
Neukantianismus bewußt angewandt. Daranliegt es wohl,
daß
WundtsAnsichten merkwürdig mit denen
z.B.
von
-
helmWindelband I848-1915) konvergieren, obwohl dieser
mit einer religionskundliehen und kulturgeschichtli-
chen Allgemeinbildung auskommt die allerdings ein-
drucksvoll in den Dienst einer transzendentalphiloso-
phischen Deduktion von Schleiermachers Grundgefühl
der »schlechthinnigen Abhängigkeit« genommen wird.
Normen liegen für Windelband nicht wie für Wundt in
den Verboten, die das Tabu setzt, sondern im transempiri-
schen Zusammenhang solcher Persönlichkeiten deren
Gewissen in einem übergreifenden Bewußtsein solcher
Normen besteht. Die sittliche Norm aber, nämlich das Gute,
liegt im Widerstreit mit normwidrigen naturgesetzliehen
Notwendigkeiten. Dieser Widerstreit läßt sich nicht mehr
in das Leiden aufheben welches das Bewußtsein an ihm
empfindet, sondern nur noch als eine Antinomie aufwei
sen,
deren transzendentaler
Ausdruck die Religion ist. Das
religiöse Bewußtsein - eben das, was vom Gefühl der
schlechthinnigen Abhängigkeit durchdrungen wird - ist
damit selbst von einer inneren Antinomie geprägt. Der
eine von dessen Nomoi wird vom Heiligen aufrecht erhal-
ten,
das damit unter anderem
als Inbegriff
der
ethischen
Normen bestimmt ist - »unter anderem<< deshalb, weil es
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zuwenig wäre es auf das Norm al)bewußtsein vom Guten
zu beschränken. Erst der Inbegriff auch der Normen, die
das
logische
und das ästhetische Leben beherrschen
oder: erst das Erlebnis der transzendenten Wirklichkeit
auch des Wahren und des Schönen macht das Heilige
komplett.
Folgt man Wilhelm Diltheys Interpretation von »Schleier
machers System als Philosophie und Theologie«
3
, dann
gehört mit Bezug auf das Heiligkeitsthema der deutsche
Philosoph Wilhelm Windelband unter den ersten der
schwedische Religionshistoriker und Bischof Nathan Sö
derblom 1866-1931) unter den zweiten Aspekt. Dies ist
der systematische Ort, an welchem Söderblom, für viele
bis
heute
verbindlich,
den
Heiligkeitsbegriff
an
die Stelle
des Gottesbegriffs gesetzt hat, um Religion zu bestimmen.
Er
gewinnt damit einmal die Möglichkeit, auch Gott-lose
Formen- damals waren es die »niederen« der Magie und
die »höheren« des Buddhismus, heute könnte man es an
ders wenden - in die religionsgeschichtliche Forschung
im engeren Sinne einzubeziehen zum andern kann er
den Unterschied des Heiligen und Profanen unverändert
lassen und damit die schon
zu seiner Zeit nahezu klas
sisch gewordenen Forschungen weiterführen.
Er tat es,
indem
er mit beträchtlich erweiterten und vielen neuen
besonders auch sprachlichen Materialien arbeitete, von
denen er die biblischen und die iranischen besonders be
herrschte. Die Souveränität, mit welcher er diese an die
bisherigen Forschungen über Mana, Tabu, Seele, Ritus
und andere anschloß, sucht bis heute ihresgleichen. Das
historisch
und
religionslogisch differenzierter als
bisher
ausgeführte System der Heiligkeit, das er daraus entwik
kelt, kann hier nicht einmal skizziert werden. Hier muß
nur der Gesichtspunkt zur Sprache kommen daß gerade
die theologische Befassung mit Offenbarung es war, wel
che den Einzugskreis seiner religionsgeschichtlichen Ar-
beit erweiterte ohne daß diese dadurch »theologisch ver-
39
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fälscht<< worden wäre. (Wenn das auf dem Totenbett ge
sprochene Wort, er wisse, daß Gott lebe, weil er ihn aus
der
Religionsgeschichte
beweisen könne, nicht
apokryph
ist und eine schon länger bestehende Überzeugung wie-
dergibt, so ist diese privat geblieben.)24 Die Offenbarungs
theologie gestattet es Söderblom sogar, klarer zu erkennen,
als noch manch ein heutigerWissenschaftstheoretiker es
kann, was eine Prämisse ist. Das ist auch seinen Untersu-
chungen über >>das Heilige<< zugute gekommen.
VII. Hinwendungen zum Grundsätzlichen:
Das Apriori-Problem (E. Troeltsch, R Otto, P Tillich)
Blickt man nicht von der Sache, sondern von der Wir
kungsgeschichte aus, so war es dennoch nicht Söderblom,
sondern Rudolf Otto (1869-1937), mit welchem eine neue
Qualität in die Diskussion gekommen ist. Zwei weiterfüh-
rende
Umsetzungen
größerer Zusammenhänge aus den
(in Teil IV umrissenen philosophischen Vorbereitungen
waren nötig, damit die Gelehrsamkeit, Empfindsamkeit
und Genialität, durch die sich Ottos Name nicht allein mit
dem Buchtitel >>Das Heilige<< sondern geradezu mit dem
»Heiligen« selbst verband, in ebendieser Verbindung
weite Volkskreise von Fernwest bis nach Fernost in ihren
Bann schlagen konnten, sofern sie irgend religiös waren
oder es auch nur sein wollten. Die eine Umsetzung nahm
Otto selbst vor, indem er eine eindruckvolle Synthese der
religionsphilosophischen Folgerungen aus Kants und
Fries
Denken
schuf, die
für
ihn
selbst
fortan
verbindlich
war. Die andere Umsetzung kam von Ernst Troeltsch
(1865-1923), dem großen Systematiker der Religionsge
schichtlichen Schule.
25
Sie war inhaltlich den Pionierlei
stungen der Religionswissenschaft um die Jahrhundert-
wende und methodisch den Auseinandersetzungen
zur
Gewinnung von Kausalität und Gesetzlichkeit in der Ge-
40
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schichte in eins mit einer Logik der Geschichtswissenschaft
verpflichtet in der sich der Ausgangspunkt Kants bei den
Bedingungen der
Möglichkeit
des
Erkennens zu den
ver
nünftigen und seelischen Möglichkeiten des Erkenntnis
subjekts verschob, das Tatsächliche als das Lebendigma
chende in der Erfahrung zu erfassen. Da im Mittelpunkt
der Religionstatsachen historisch-psychologische Gege
benheiten stehen und ihnen gegenüber ein einfacherEm
pirismus nicht in Frage kam, weil von rational-apriori
schen Elementen, die ihre Erkenntnis ermöglichen, auch
in ihnen selbst nicht abzusehen war wurde das was a
priori gegolten hatte, zu einemApriori, zu einer religiösen
Tatsache.Wenn damit auch die ganze symboltheoretische
Dimension ausgesperrt
war-
und
blieb-,
so
konnte doch
nun wenigstens jede religiöse Tatsache als sui generis ge
sichert werden wegen der aufkommenden materialisti
schen Kritik an der Idealität solcher Tatsachen war das
keine Selbstverständlichkeit mehr). Auch das »Heilige<<
konnte
nun
ein
religiöses Apriori
werden,
sowohl
in der
Geschichte als auch in dem Subjekt das sich aus ihr er
hebt, indem es sie erkennt.
Rudolf Otto war es beschieden, ein religiöses Apriori den
ken und auffinden zu können, damit eigene Erfahrungen
als religiöse zu qualifizieren und deren Wirklichkeitscha
rakter auf das »Heilige« zu übertragen, von dem er zu
gleich umfassende historisch-exegetische Kenntnis hatte.
Alles zusammen macht seine Erkenntnis aus und mit je
dem der drei Momente läßt sie sich im ganzen belegen.
Was die historische Kenntnis anlangt, so ist RudolfOtto
immer
·wieder
vom
Alten
Testament ausgegangen,
und
was immer zu seiner Universalisierung der israelitischen
Heiligkeitskategorie zwecks Benutzung zur Interpreta
tion anderer Religionen undAufweis des Wesens der Reli
gion kritisch zu sagen sein wird- was er über das Heilige
in
der
Bibel
gesagt hat, ist
im großen
und
ganzen
richtig
geblieben. Die Erfahrungsgründe hingegen liegen in Ot-
4
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tos Biographie, woraus sich zugleich die Widersprüche
und Schwierigkeiten in seiner strukturanalytischen Über-
prüfung der einzelnen Momente
im
Erlebnis
des
Heiligen
erklären, auf die wir stoßen werden. Rudolf Ottos intuitive
Erfassung des Heiligen beruht nämlich aufEindrücken in
Moscheen und Tempeln des Orients, vor allem in einer
armseligen Synagoge in Marokko, wo ihm beim Jesaja-
nischen Dreimal Heilig die große Schau des Heiligen
geschenkt wurde. In einem Bericht aus dem Jahre tgn
beschreibt Otto es so: »Plötzlich löst sich die Stimmenver-
wirrung und- ein feierlicher Schreck fährt durch die Glie-
der- einheitlich, klar und unmißverständlich hebt es an:
Qadosch Qadosch Qadosch ElohimAdonai Zebaoth Male u
haschamajim waha'arez
kebodo (Heilig Heilig Heilig ist
Gott, der Herr der Heerscharen Himmel und
Erde sind
seiner Herrlichkeit voll). Ich habe das Sanctus Sanctus
Sanctus von den Kardinälen in Sankt Peter und das Swiat
Swiat Swiat in der Kathedrale des Kreml und das Hagios
Hagios Hagios
vom Patriarchen in Jerusalem
gehört.
In
welcher Sprache immer sie erklingen, diese erhabensten
Worte, die je von Menschenlippen gekommen sind, im
mer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufre-
gend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheim-
nis des Überweltlichen, das dort unten schläfl«.
26
Wie fügt
sich dies nun in das Zeugnis der hebräischen Bibel?
7
Hier ist qädös der alles beherrschende Begriff. Hat er, wie
einige Semitisten annehmen, die Wurzel q »absondern«,
dann ist die Grundvorstellung der römischen verwandt.
Es wird aber auch die Wurzel qdswie in akkadisch qadäsu
»rein
werden« erwogen, was
auf
einen kultischen Zusam
menhang weisen würde. Nichts in der hebräischen Bibel
ist jedoch qädö auf Grund von menschlichenAbgrenzun
gen oder Praktiken, oder gar von Natur aus. Alles ist es,
weil es für oder von Jahwe Elohim dazu erklärt wird. Dies
macht den Inhalt der gesamten
Schöpfung aus:
Menschen
einschließlich der Priester, Orte einschließlich der Stadt
42
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Jerusalem Feste einschließlich des Sabbats Bauten ein
schließlich des Tempels Schmuck einschließlich Priester
krone und
-kleid Gewässer Pflanzen
und
Tiere ein
schließlich der Opfer. Die Propheten sowie die Bewegung
die aus dem Vortrag des Gottesrechtes auf dem israeliti
schen Bundesfest hervorging und in der Aufstellung des
Heiligkeilsgesetzes ihren Höhepunkt fand haben die Ver-
lagerung des Heiligkeitsattributes auf Jahwe Elohim na
hezu konsequent vollbracht.
Das hat die Konsequenz daß bei weitem nicht mehr alle
eben genannten Gegenstands- und Handlungsbereiche
objektsprachlich mit dem Heiligkeitsattribut ausgestattet
sind. Die theologische Rede von heiligen Stätten Zeiten
Handlungen und Gegenständen
ist
aufweite
Strecken
me
tasprachliche Interpretation. Sie ist sachlich nicht falsch
weil auch eine von Gott auf Grund seiner eigenen Heilig
keit verliehene Heiligkeit diesen Namen verdient. Aber es
ist dabei doch der besondere Charakter des Geschöpfli
chen zu beachten welcher der verliehenen
Heiligkeit eig
net; darin liegt ein wesentlicher Unterschied z B zum
griechischen Naturverständnis. Das hat Konsequenzen
für die Bestimmung des Profanen in Israel.
Eine wichtige säkularisierungstheoretischeThese besagt
bekanntlich daß die Desakralisierung derWelt insbeson
dere der Natur und des Außergewöhnlichen in ihr wie sie
im Schöpfungsglauben und in der Heiligkeitstheologie Is
raels vollzogen und durch das Christentum weitervermit
telt wurde eine Grundvoraussetzung für die Weltlichkeit
der Neuzeit war. Versteht man diese Grundvoraussetzung
nicht
exklusiv
und nicht
als conditio
sine qua
non
dann
ist
sie sicher richtig bestimmt. Man kann die Geschöpflich
keit imWeltverständnis Israels und die Weltlichkeit als Le
gitimitätskriterium der Neuzeit »Profanität<< nennen aber
sie wäre von ganz anderer Qualität als jede römische
griechische oder
sonstige. Mit
diesem
Sachverhalt
hängt
es zusammen daß die »Profanität<< der Welt- übrigens
43
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nicht nur in Israel sondern auch anderswo - objekt
sprachlich ganz uneinheitlich und zersplittert zum Aus
druck
kommt
je
nachdem
ob etwa
im
kultischen Zu
sammenhang von Rein und Unrein oder in prophetischer
Predigt von Gehorsam und Sünde gesprochen wird. In der
hebräischen Bibel ergibt sich so als eindeutige Kontradik
tion zu qädöS nur wenige Male lfol, das von der Septua
ginta mit bebelos und von derVulgata mitprojanuswieder
gegeben wird.Ifol bezeichnet nur etwas das ohne Ritus
zugänglich und brauchbar ist während das Verbum lfälal
auf eine richtige Entweihung durch ein Greuel zielt.
Der Gebrauch der geschaffenen Dinge die Gott heiligt
durch Menschen die ebenfalls heilig sind weil Gottheilig
ist
in Dankbarkeit für
die
Übereignung von
seiner
Seite
ist nicht dasselbe als wenn bei Griechen und Römern
eine Sache dem profanen Gebrauch entzogen wird. Mit
letzterem Tatbestand kann man in Israel allenfalls die
Bannung vergleichen. Das >>Gebannte« feraem, ist etymo
logisch
übersetzt das
>>Ausgesonderte<<
Der
Unterschied
nicht nur zu heiligkeitsbewußtem >>Profan«-Gebrauch
sondern selbst zur Opferung einer Sache liegt darin daß
die Aussonderung zum Zweck der Vernichtung erfolgt.
Die Übereinstimmung mit der Verfluchung bringt die
griechische Bibelübersetzung durch ana(te)thema(tisme-
nos) richtig zum Ausdruck während sich die Vulgata mit
consecratum oder votu behilft.
So sieht ganz kurz skizziert der von der Bibelwissen
schaft erstellte Referenzrahmen aus in welchem Otto
seine Fähigkeit aufarbeitete das Heilige zu erleben. Das
begann kurz bevor
er
das
eben
wieq
ergegebene Erlebnis
hatte und zwar in einer Rezension des zweiten Bandes
von Wundts »Völkerpsychologie«
28
vier Jahre nach dessen
Erscheinen im Jahre 1906. Otto wendet sich dabei beson
ders gegen Wundts animistisch-evolutionistische Grund
sicht
derzufolge
die Vorstellungen
und
Begriffe
von
der
>>Seele« zu solchen vom »Geiste« diese zu solchen vom
44
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»Dämon<< diese zu solchen vom »Gotte<< und diese zur Idee
des Überweltlich-Göttlichen sich gewandelt haben sol
len.
Gegenüber dieser
>>Heterogonie
der Zwecke<<
-
>>Zwecke<< unterstellt Otto angesichts der teleologischen
Grundtendenz dieser wie wohl fast jeder evolutionisti
schen Theorie durchaus zutreffend- hält Otto die Homo
gonie für richtig: Religion fängt mit sich selber an, wenn
auch nicht gleich als fertige. Damit ist er vom ethnolo
gisch-historischen Material aus an demselben Punkt an
gelangt, zu welchem er in der >>Kantisch-Fries sche(n) Re
ligionsphilosophie und ihre r) Anwendung auf die Theo
logie<< (1909) mit transzendentalphilosophischer Refle
xion auch gekommen war: Das Mit-sich-selbst-Anfangen
der
Religion
schließt jede
Erklärung
der
Religion a
poste
riori aus.
Das selbstverständliche Korrelat dieser Nega
tion ist die Kategorie des religiösen Apriori.
9
In Ottos Hauptwerk wird >>das Heilige« als diese
Kategorie
bestimmt. Zugleich aber müssen die Daten der Religions
geschichte
so,
wie man
sie
nachempfinden kann, darauf
bezogen werden, und das ist nur möglich, indem sie als
materiale Analogien zu demjenigen Gefühl begriffen wer
den, welches Gott oder das Heilige aus allen Relationen
zwischen den Dingen und ihrer Idee, zwischen Vielheit
und Einheit, zwischen Raum/Zeit und Transzendenz her
aushält.
Otto nennt dieses Gefühl den sensus numinis
Doch hier ist einzuwenden: Deranalogische Charakter, in
welchem sich die
an religionsgeschichtlichen Daten
festzumachenden Gefühle zum sensus numinis verhalten
- Gefühle des Unheimlichen, des Schauervollen, des
Grauens, des Übermächtigen, des Geheimnisvollen, des
ganz Anderen, des Anziehenden, des Faszinierenden -,
dieser analogische Charakter kann nur begrifflich festge
halten, aber nicht empirisch demonstriert werden. Eine
Analogie ist eben zu abstrakt- und hierin liegtOttos fol
genreichste Fehleinschätzung von >>Erleben<<
-,
als
daß
>>durch« sie Gefühle wie
die genannten den sensus numinis
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>>reizen<< könnten.
30
So rückt die >>religiöse Anlage<< die
grundsätzlich wohl als
Deutungskategorie des menschli-
chen
Selbstverständnisses
auf der transzendentalen
>>Ebene<< des religiösen Apriori hätte bleiben sollen, gera-
dezu zwangsläufig wieder auf die Ebene des psycholo-
gisch Aufweisbaren, ja des historisch Konkretisierbaren
hinüber, auf der sie bei Schleiermacher schon gewesen
war.
Damit kommt ein dialektisches
Verhältnis zwischen
Übereinstimmung und Differenz von analogischer und
psychologischer Zusammengehörigkeit des religiösen
Apriori und der religiösen Anlage zustande.
Hier sind hervorragende Ansätze zur vertieften Durchar-
beitung dessen gegeben, was man bis dahin in Alternati-
ven
wie zwischen Voraussetzungen philosophischer oder
psychologischer
Herkunft, Repräsentation in einer Kate-
gorie
a priori oder a posteriori, transzendentalphiloso-
phischer oder empirischer Erfaßbarkeit des Heiligen,
seinem rationalen oder irrationalen Charakter, seiner
homogonen oder heterogonen Entstehung eingefangen
hatte. An der Rezeption von Ottos Hauptwerk ist paradox,
daß wohl scharfsinnig mit allen diesen Begriffen gearbei-
tet wird und auch neue Positionen entstehen konnten, daß
aber eben dabei die Begriffe gegeneinander ausgespielt
werden, meist der eine als proprium einer Wissenschaft,
die Otto hätte besser berücksichtigen sollen, gegen eine
andere, die er leider statt dessen oder außerdem noch be-
rücksichtigt hat:
also Psychologie gegen Metaphysik
Friedrich
Karl Feigel), Religionswissenschaft gegen
Theologie für viele eine Pflichtübung
bis heute), Philoso-
phie gegen
Soziologie Roger Caillois
und
andere). Hier
liegen noch eine Menge wissenschaftstheoretischer Auf-
gaben.
Daneben aber gibt es eine Rezeption ganz andererArt. Für
diese stellt Ottos Werk gleichsam eine Verschriftlichung
des Heiligen selbst
dar.
Zwei Vermutungen
seien
erlaubt,
wie es wohl dazu kam. Zum einen: »Das Heilige<< könnte
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ein Trostbuch geworden sein - für Theologen, denen im
Ersten Weltkrieg der Liberalismus und der Kulturpro
testantismus obsolet geworden war, die aber in der dialek
tischen Theologie eine zu offenbarungspositivistische
Engführung sahen und sich von Otto in das freie, mit na
türlicher Theologie geradezu trächtige Feld religiöser
Humanität überhaupt geführt wähnten;- und für Bürger,
die »das Heilige« an die Stelleall der andern, insbesondere
der nationalen
Werte
setzen konnten,
die
nach und nach
den Bach hinunter gingen. Otto selbst hat weder das Er
scheinungsjahr entsprechend gewählt - so wie er gear
beitet hat, wäre das Buch wahrscheinlich auch ohne Welt
krieg im Jahre 1917 erschienen- noch in den Vorworten
oder in den
Textteilen
eine auch
nur
geheime
Absicht sol
cher Art erkennen lassen. Enthüllungsbereit und ideolo
giekritisch, wie auch ich meine bleiben zu müssen, habe
ich alleAuflagen daraufhin durchgeprüft.)
Zum andern: Die dialektischen Innenspannungen- und
sagen wir ruhig: sowie die nicht seltenen Ungenauigkei
ten - in Ottos Thesen führten in ein Feld,
auf dem die
Dinge noch lange schwierig bleiben sollten, aber sie eröff
neten eben damit ein anderes, aufwelchem alles
viel ein
facher war. Und auch hier konnte man sich Rudolf Otto an
vertrauen. Das deutsche Wort »heilig<< hat in der Epoche,
welche man
die
der>>Empfindsamkeit« oder des
»empfind
samen
Klassizismus«
3
nennen könnte, eine Sonderent
wicklung durchgemacht, und
Otto - ich weiß nicht, mit
wieviel bewußter Kenntnis der Literatur des achtzehnten
Jahrhunderts- führt dies weiter. Durch ihn wird »heilig«
fast
zu einem
Lieblingswort
der deutschen
Gebildeten
und Wissenschaftssprache bis in unsere Tage, wie es ein
solches durch Klopstock in der deutschen Dichtersprache
über
die
Romantik hinaus geworden war.
3
Sogar »der
ganz Andere« im neutrum
oft zitiert, wenn es gilt, Ottos
originäre Leistung in der Abhebung des Heiligen vom Nu
minosen, Dämonischen, Geschöpflichen, Verfügbaren, Ir-
47
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rationalen und anderem zu würdigen - findet sich schon
bei Klopstock Oden I 143). Es wäre eine lohnende Auf
gabe,
einmal
Klopstacks
Dichtungen nach den
Katego
rien von R. Otto s Religionsphilosophie zu untersuchen;
die Ausbeute für die Einzelmomente des Numinosen: das
jascinans das tremendum das mirabile wäre reich<<
53
,
schrieb schon vor mehr als fünfzig Jahren eine kluge
Interpretin. Diese Forderung braucht man heute nur um
zukehren: Spricht Otto da, wo er nicht argumentativ,
sondern epideiktisch vorgeht, also etwa bei der Interpre
tation von Malerei, Bauwerken oder Hymnen, die Sprache
Klopstocks? Und ist seine Wirkung in unserem Jahrhun
dert nicht mit der Klopstacks bis zur Mitte des vorigen -
bildungssoziologisch
gesehen übrigens
doch
wohl in den
selben Leserkreisen- vergleichbar?
54
Wenn dieses richtig vermutet ist, dann ergibt sich für uns
daraus die Aufgabe, das Amalgam von literarischer Ob
jektsprache, hermeneutischer Interpretationssprache
bei
der Deutung nichtsprachlicher
Objekte)
und
wissen
schaftlicher Metasprache, dessen wir uns bedienen, bis in
seine Elemente hinein aufzulösen.
Davon wird auch der strukturelle Nexus zwischen Apriori
und Erfahrung/Erkenntnis betroffen sein. Daß man damit
in diesen nicht von einer nur linguistischenWarte aus ein
greift, sondern eine Auflösungstendenz manifest macht,
die in diesem Falle in ihm selber liegt, dafür sei als unver
dächtiger Zeuge Paul Tillich (1886-1g65) aufgerufen.
55
Unverdächtig ist er, weil er als großer Theologe »das Hei
lige« als »die Qualität dessen« bestimmt, »was uns unbe
dingt
angeht«.
»A
priori sind diejenigen
Begriffe<<
so
sagt
er, »die in jeder aktuellen Erfahrung vorausgesetzt sind,
da sie eben die Struktur der Erfahrung selbst konstitu
ieren. Die Bedingungen der Erfahrung sind a priori. Wenn
diese Bedingungen sich ändern- und mit ihnen die Struk
tur der Erfahrung
-,
so
muß eine andere
Gruppe von
Be
dingungen es ermöglichen, Erfahrung zu haben.« FürTil-
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lieh ist dieser Sachverhalt sogar von ontologischer Rele-
vanz und gegen historischen Relativismus zu sichern.
Aber »das Heilige« ist
ihm dann
nur
noch eine
»Idee«
neben der »Idee des Göttlichen« beide in gegenseitiger
Abhängigkeit stehend. Indem Ottos Analyse »rein phäno
menologisch« genannt wird -»die man übrigens niemals
psychologisch nennen sollte«- ist von Erfahrung und ih
rer transzendentalen Struktur gleich gar nicht die Rede.
Und während für Otto das Dämonische mit auf die er-
schreckende schauervolle und grausige Seite des Heili-
gen gehört ist es für Tillich die Qualität dessen was Hei-
ligkeit für sich beansprucht und widergöttlich geworden
ist. Solch zu rasche und unbedarfte Grenzüberschreitung
zur
Theologie ist
zwar
immer noch das
Beste
was
passie-
ren kann wenn es auf Erkenntnistheorie nicht mehr an
kommt. Aber es wir t auch die Frage auf ob dabei etwas
verlorengeht.
49
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C UM KÜNFTIGE FORTSCHRITTE
Die frühere Forschung hat eher beiläufig auchWorter ge-
braucht, die »das Heilige« nur erläutern oder in seine
Richtung weisen sollten. Einige Worter, die mehr in rein
sprachlicher Hinsicht signifikant sind,
lassen sich
begriff-
lich
so
prägnant
fassen,
daß
man neu
von ihnen ausgehen
kann. AndereWorterweisen mehr aufpsychologische Tat-
bestände hin; letztere lassen sich durch bestimmte an
thropologische Gegebenheiten ergänzen.
Dabei wird man, ohne daraus Grundsätzliches zu folgern,
die Frustration zulassen müssen, die
vom konsequenten
Festhalten an erkenntnis- und symboltheoretischen Prä-
missen häufig ausgeht. Jagt einem doch ein Apriori keine
Gänsehaut über den Rücken,
und vor einem Existenzope-
rator, wie ihn zum Beispiel die wahre Aussage enthält, daß
es mindestens ein heiliges Geschehen gibt, das zugleich
normal und außergewöhnlich ist, wird niemand auf die
Knie fallen. Sollten
sich trotzdem die methodischen
Ver-
dienste früheren Nachdenkens nutzen lassen, wenn es
gilt, Schauder und Verehrung nicht zu empfinden und zu
praktizieren, sondern zu beschreiben?
VIII. Aufsuchen neuerVordergründe das Erhabene,
das Numinose, das Interessante, der Ernstfall
Zuerst
ist
an
eine ganz besondere
Schrift
zu erinnern.
Sie
trägt griechisch den Titel Peri hypsous lateinisch De subli-
50
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matate deutsch om Erhabenen. Sie stammt von einem
Autor des ersten Jahrhunderts nach Chr. - des einzigen
Griechen übrigens,
der das
Alte
Testament korrekt zitiert
Gen. 1, 3 und g: »Gott sprach: Es werde Licht, und
es ward. Es werde Land, und es ward<< g g) -, den wir,
da wir seinen Namen nicht kennen, Pseudo-Longinos
nennen.
Diese Schrift bildete im siebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert neben der
aristotelischen
Poetik
und der
Ars Poetica des Horaz die Grundlage jeder Ästhetik und
Literaturkritik,
ja der
Autor schlug mit seinem »Golde
nen Buch<< wie Isaac Casaubonus die Schrift nannte,
diese Jahrhunderte geradezu in seinen
Bann, vor allem
durch
die
zentrale These, ein außerordentliches
Dicht
werk wirke nicht durch Überzeugung, sondern durch
Entzückung. Groß wird das Werk des Dichters, so wollte
es der Geniekult fortan, nicht erst durch Perfektionie
rung anhand tradierter Kunstbegriffe, sondern es ist
spontan groß auf Grund einer besonderen seelischen
Verfassung, der >>poetischen<< dem ansteckenden schöp
ferischen Feuer eines Homer, Pindar, Aischylos. Über
trägt man das, was Pseudo-Longinos für die Rhetorik
ausführt, in Ausdrucksformen für das Kreaturgefühl, so
steht ziemlich genau bei dem, was Otto über die Maiestas
oder
das
Erhabene oder
das Augustum
als
Momente des
Numinosen sagt.5
6
Hier dürfen zwei
Resultate von Ottos Arbeit unverändert
festgehalten werden.
1. Das Heilige im vollen Sinne des Wortes ist für uns eine
zusammengesetzte
Kategorie.<<
2. Was man unter dem Vorzeichen des sensus numinis den
»Zorn Gottes<< die »schlechthinnige Unnahbarkeit<<, die
»numinose Leidenschaft Kraft Bewegung Erregtheit Tä
tigkeit<< das »Leere« nennt, das sind keine einfachen Zei
chen oder »natürlichen Prädikate<< für das Dämonisch
Gespenstische, das tremendum oder die maiestas die
5
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liebende Energie das ganz Andere sondern es sind >>Ideo-
gramme<< oder >>reine Deutezeichen« eines eigentümli
chen Gefühlsmomentes
im
religiösen Erleben.
7
In dem
Maße wie Otto selber amideographischen Charakter die
ser Deutezeichen festhält wird er mißverstanden wenn
man seine Aussagen psychologisch nimmt.
Ein großer Psychologe war Otto aber außerdem. Wo er
sich nicht ideographisch sondern empirisch einstellt
konnte eine seiner Grundbeobachtungen erneuert wer
den. Carl Gustav Jung bemühte sich fast sorgsam nurvom
Numinosen zu sprechen sicherlich wissend daß man mit
Otto numinos das heißt bei ihm: nur im Gemüt erfühlbar
eben das nennen sollte was übrigbleibt wenn man vom
Heiligen das
sittlich
Gute
und
das
Rationale
gleichsam
subtrahiert. Um so tiefer dringt C.G.Jung in das Gebiet
des Noch-nicht-Sittlichen und des Noch-nicht-Rationalen
ein wenn er Archetypen wie die Ganzheit die Anima und
andere auch Gefühlsqualitäten archaische Eigenschaf
ten
Mandala-Vorstellungen
bestimmte Charaktere als
numinos beschreibt >>das heißt unbedingt gefährlich ta
buiert magisch<< 3
8
Georg Schmid hat in dem was Rudolf Otto mit seinen be
rühmt gewordenen Begriffen zur Besonderheit des Heili
gen gesagt die Kategorie einer Besonderheit entdeckt
die uns allen geläufig ist die des Interessanten.59 Er ver
gleicht- und das ist wohl eher phänomenologisch als psy
chologisch zu verstehen - Idee und Erfahrung des Inter
essanten mit Idee und Erfahrung des Heiligen. Es zeigt
sich daß sich das sogenannte religiöse und das soge
nannte
profane Erleben gerade in ihren wesentlichen
Momenten entsprechen. In beiden begegnet etwas Beson
deres vom Gewöhnlichen Unterschiedenes. Dieses Be
sondere spricht an und nimmt in Ausdruck kann ver
pflichten erschüttern in Beschlag nehmen. Dabei rücken
die
Summen beider Erlebnisarten enger zusammen
als
man es bisher gewohnt war und es ergibt sich die Aufgabe
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den Unterschied zwischen Heilig und Profan neu zu be
stimmen, vielleicht in ihrer konträren oder realen Form
ganz aufzugeben. Damit scheint ein guter
Ansatz
gegeben
zu sein das was einmal als Heiliges bezeugt war in un
sere säkulare Welt zu übersetzen und dabei doch das Ver
bot des semantischen Zusammenschlusses von überlie
fertem Zeugnis und neuer Benennung zu beachten.
So dann
hat Walter Burkert ausgehend von seinen bedeu
tenden Studien über Opfer
Töten und Gewalt
bei den
Griechen, Ottos Momenten des Numinosen ein wichtiges
hinzugefügt. Es seien - ohne das Ungeheure - das myste-
rium tremendum das jaseinans und das augustum die
wiedergegeben werden könnten etwa als Angst Beseli
gung,
und
Rangordnung.
»Nun
sind
eben
diese Angst Be
geisterung und Rangordnung, auch durchaus
psycholo
gisch-ethische
Kategorien. Über die Angst ihre Formen
und Wurzeln, ihre biologische Funktionalität sowie über
Begeisterung und Rangordnung hinaus, die
sich als
grundlegende
biologische
Verhaltens-
und
Erlebniswei
sen in der Erfahrung des Heiligen konzentrieren, sei der
Begriff des »Ernstfalls<< heranzuziehen.
>>Bezeichnet dieses Wort wohl zunächst in den Planspie
len der Generalstäbe den Krieg im Gegensatz zum Ma
növer so ist es doch auch geeignet, allgemeinere Erfah
rungen auszudrücken. Wenn der Ernstfall eintritt, so
weiß man: die Situation ist gefährlich, eigentlich ang
stauslösend, doch wird sie bewältigt mit energischen
Maßnahmen, ja in aggressivem Hochgefühl: die
Wer
tordnungen schlagen um, vieles, was bisher im Vor
dergrund
stand,
wird unwichtig;
man
verbrennt das
Gerümpel, ta erga enepimprasan in der berühmten
Schilderung des Demosthenes, und dies wirkt, bei aller
Sorge, befreiend. Wir haben also im >Ernstfall< eine be
zeichnende Kombination von tremendum jascinans und
augustum;
nicht umsonst wird im
Krieg
dem
Ernstfall
kat exochen, das Vaterland >heilig< Umgekehrt ist das
53
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Heilige ernst, ja das >Ernsteste<, wie schon Platon beob
achtete Leg. 887 d). Im religiösen Ritual wird - nach
Sicht
des Außenstehenden
oft
in künstlicher
Weise -
ein
Ernstfall geschafffen und durchgespielt; umgekehrt kann
dann bei einem äußerlichen gegebenem >Ernstfall<, bei
schweren Krisen - im Vordergrund stehen Krieg, Hun
gersnot und Krankheit- auf das religiöse Ritual zurückge
griffen werden.<<
40
IX Sich entscheiden für die richtige Methode
Psychologie und Linguistik, Selbst- und Fremd
definition)
Von den hiermit nebeneinanderliegenden alten, den prä
gnanter gefaßten und den neuen Ausgangspunkten aus,
die hypothetisch Vordergründe des Heiligen sind, müssen
nun Erkenntnisfortschritte versucht werden. Da man alle
Stellen
im
kategorialen
Verhältnis
zwischen apriorischem
Begriff und unter ihm gedeuteten Dingen, an denen das
Heilige nach Otto eine Funktion hat, Phänomene nennen
kann - sowohl Erfahrungsinhalte als auch Objekte wiir
den also dazugehören -, entgeht man einem fruchtlosen
Methodenstreit am ehesten durch eine Art Phänomenolo
gie. Hier ist freilich einzuschränken, daß die Religions
phänomenologie ihren Husserl noch nicht gefunden hat.
Auch Otto ist es nicht geworden, weil ihm das Zusammen
treten des numinosen, das heißt irrationalen Momentes
mit den rationalen und sittlichen Momenten zum Heili
gen ein wichtigeres Thema
war.
Dennoch wurde
die
»Schematisierung<<, als welche Otto »das Verhältnis des Ra
tionalen zum
Irrationalen in der Komplex-Idee des Heili
gen<< begreift, gleichsam wie eine Interpretationsformel
für religionsgeschichtliche Beobachtungen wichtiger als
für
die Religionsphilosophie Troeltsch
und
Tillich
haben
sie sogleich abgelehnt . Insofern darf auch das, was die
54
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sogenannte Religionsphänomenologie zu bieten hat, an
Hand dieser Formel durchgeprüft werden, wobei sich so-
gar
das Irrationale
mit dem
Regelwidrigen,
Normen au-
ßer
Kraft
Setzenden akkordieren
ließe, das wir unter II)
als ein Urdatum voraussetzen mußten.
Hier ist nun freilich von keiner konsistenten Diskussion
und schon gar nicht von Resultaten, sondern nur von ver-
einzelten Vorstößen und offenen Fragen zu berichten.
Das liegt
z. T. daran, daß
die
prinzipiell geführte Diskus-
sion rein religionsphilosophisch blieb. Joseph Geyser
z.B. nahm die Dialektik, die oben unter VI) nachentwik-
kelt wurde, unter den Begriffen >>Intellekt« und >>Gemüt<<
auf und engte jegliche religiöse Evidenz auf eine rein
subjektive wie gefühlsmäßige Intuition ein,
wies
sie
also
dem psychischen Bereich zu. Er selbst bestand auf einer
exakt wissenschaftlich erhobenen und stringent logisch
verifizierten Erkenntnis, die er bei
Otto nicht finden
konnte. Da ist es verständlich, daß Otto seine Auseinan-
dersetzung mit
Wundt
in
seine
»Aufsätze,
das Numinose
betreffend,
Teil I« und in deren vermehrte Auflage unter
dem Titel >>Das Gefühl des Überweltlichen Sensus numi-
nis «41 wieder aufnahm, beide Male mit Verdeutlichun-
gen. Er hält hier fest am sensus numinis der zwischen ei-
ner Bestimmung als anthropologischem Wurzelboden
der Religion mit aus den
Tiefen des Gefühlslebens selber
kommender Erlebnisfähigkeit und analogem Gefühl
für
das ganz Andere als eine rt Ermöglichungsgrund für die
Erfahrbarkeit des Mysteriösen
schweben bleibt. An an-
derer
Stelle betont er Schleiermachers Erweis der Reli-
gion als
eines eigenen
Gebietes
menschlichen
Seins.)
4
Aber indem er dem Empiriker Wundt nachweist, daß
selbst er ohne Anklänge an diese Sicht nicht auskommt,
läßt er sich aufschlußreich auf die Materialien und Da-
ten aus der Völkerkunde ein, die Wundt zum Ausgangs-
punkt
für seine Heterogoniethese gedient hatten.
Die
psy-
chologischen Elemente aus dieser Diskussion lassen sich
55
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als Fermente einer neuen Phänomenologie weiter ver
wenden.
Was die
anderen
wichtigen Fermente
anlangt, die
benö-
tigt werden, nämlich die mehr an der Sprache orientier
ten, die man auch linguistische nennen kann, so sei der
Beitrag von Walter Baetke hervorgehoben. Er ist nicht di
rekt phänomenologisch, aber er ist für eine kritische Phä-
nomenologie besonders wichtig, weil er demonstriert,
wie man es vermeidet, Resultate der Analysen von nicht
sprachlichen und von sprachlichen Dokumenten auf die
selbe Ebene zu rücken und dort zur gegenseitigen Bestäti
gung kurzzuschließen siehe Teil III und V). In der ersten
Hinsichtvermißt Baetke in einer »religionswissenschaftli
chen
Grundlegung«,
in der er
Otto
vernichtend
beurteilt,
die Berücksichtigung der volkhaft-sprachlichen und kul-
turell-sozialen Vermittlung des Heiligen sowie seiner ver
schiedenartigEm Ausprägungen im kultisch-religiösen
und im sittlich-rechtlichen Bereich. Das Heilige trete dem
religiosen
Subjekt
stets
als
ein
Vorgegebenes
entgegen,
geknüpft an die von einer religiösen Gemeinschaft getra-
gene Iradition in Lehre (Mythos) und Kult. Das sei aber
nur der Anfang für den je Einzellien in der Gemeinschaft,
nicht ein Anfang, der vor aller Gemeinschaft liege; bei
Rudolf Otto wisse man nie genau, welche rt von an-
fänglicher Gegebenheit er meine. In der zweiten Hinsicht
arbeitet Baetke als Altgermanist
45
, also am gotischen, an-
gelsächsischen, altnordischen, althochdeutschen und alt
sächsischen Sprachmaterial. Indem Baetke seinen so
zialwissenschaftlichen Ansatz - darum handelt es sich
bereits,
wenn
auch noch nicht im heutigen Sinne
-
mit
dem sprachwissenschaftlichen kombiniert, gewinnen
seine Erkenntnisse grundsätzliche Bedeutung, heute für
den Unterschied zwischen Fremddefiniton und
Selbstdefinition »des Heiligen«.
Für uns Deutsche ist
dies
besonders
wichtig,
weil sich
er
gibt, wie falsch es ist, eine »Bedeutung« von »heilig« zu ge-
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winnen, indem man z.B. mit »Heil« oder »heil« im Sinne
von »ganz« etymologisiert.
44
Allgemein ergibt sich, daß
man
die Sachdiskussion
unter den
Titel »Fremddefini
tion«, i ~ Beschäftigung mit Wörtern aber, die man mit
»heilig« oder einemWort aus einer anderenWissensspra
che) übersetzen darf, unter den Titel »Selbstdefinition«
stellen sollte. Das, was mit der Fremd-, und das, was mit
der Selbstdefinition gemeint ist, kann zusammenfallen,
muß es aber nicht. Wir sollten grundsätzlich bereit sein,
nicht nur etwas »heilig« zu nennen, was in einem Quel
lentext nicht so heißt, sondern auch die Bezeichnung von
etwas in einem Quellentext als »heilig« in Frage zu stellen,
wenn·eine phänomenologische Analyse uns Grund dazu
gibt.
Der sehr
große
heuristische
Wert
der
Wortbezeugung
bleibt dabei unbestritten.
Die Infragestellung kann auf zweierlei Weise geschehen.
Entweder man erwägt die Heiligkeitsbezeichnung als
falsch, oder man erwägt, daß sie- paradoxerweise-in die
profane Sphäre besser paßt
als
in
die religiöse. Das
führt
natürlich auf das Problem der Identität von Religion
schlechthin; aber nicht nur auf dieses, sondern auch auf
den Charakter von Alltagswirklichkeit.) Die Fragen kön
nen mit »Ja«, aber auch mit »Nein« beantwortet werden
m letzteren Fall war die Heiligkeitsbezeichnung zutref
fend, und sie gehörte doch in die Religion. So oder so aber
ist die massive Bindung des Phänomens an die sprachli
che Sphäre gelöst worden. Nun kann eine andere Bindung
prinzipieller bedacht werden, nämlich diejenige, die je
weils zu einer bestimmten und begrenzten historischen
Situation besteht.
Hier
aber kommen
zusätzlich
hand
lungstheoretische Fragen ins Spiel, von denen man auch
auf der Suche nach einem Zugang zum »Heiligen« nicht
absehen darf.
Wenn man aus der Geschichte irgendwann einmal für das
Handeln etwas lernen will und weder den Irrweg ihrer
pragmatischen Befragung noch den eines auf Ableitbar-
7
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keit aus ihr also nicht aus Normen oder Gesetzen, wie bei
Carl Schmitt) verzichtenden Dezisionismus zu gehen bereit
ist, bleibt
wiederum
als
Theorie
nur
eine Phänomenolo-
gie. Ihr Gegenstand ist jetzt das, was beim wissenschaft
lichen Handeln herauskommt das in Beschreiben, Be
nennen Erklären und Verstehen besteht. Dieses Handeln
darf, weil es eine Komponente sozialen Handeins über
haupt ist, nicht so beschaffen sein, daß wichtigste Dimen-
sionen der Erkenntnis verspielt werden. Schon deshalb
muß die Phänomenologie mehr leisten als Katalogisierung
letzteres tut sie, mit ansatzweisen Ausnahmen bisher).
Ihre eidetische Reduktion muß in der Erhebung eines
>>Logos« aus den Phänomenen bestehen. Die Phänomene
aber
sind
geschichtlich. Das,
was
man
ihren
»Logos«
nennen kann ist deshalb nur durch historisch dimensio
niertes Vergleichen zu ermitteln. Die ältere Komparati
stik war auf ein übergeschichtliches »Wesen« aus.)
Man kann so die Forderung nach einer »historischen Phä-
nomenologie« aufstellen.
46
Dreierlei
ist
für
sie erheblich.
I Sie muß logisch so angelegt sein, daß sie Aussagen
über das »Sein des Heiligen<< nicht ausschließt, wenn sie
auch selbst solche Aussagen nicht machen kann. 2. Sie
muß soziologisch so angelegt sein, daß sie auchAussagen
über die >>gesellschaftliche Einbettung des Heiligen« er
möglicht, wenn sie auch selbst Aussagen über eine rein
historisch -soziale Konditionierung des Heiligen nicht ma-
chen darf. · Sie muß den Bestand der Phänomene ver
breitern aufdie sie sich stützt. Die bisherigen Katalogisie
rungen aus der >Welt der Religion<< sind vollständig genug
und reizen zu nicht
mehr
als
internen
Umgruppierungen.
Die Verbreitung der Phänomenenbasis braucht nach dem
Bisherigen keine Rücksicht daraufzu nehmen ob die Phä
nomene religiös sind oder nicht. Festzustellen, ob sie so
qualifiziert werden müssen ist cura posterior. Cura prior
aber
ist
das
Belassen
der Phänomene in der
Geschichte.
Wie könnte es konkret aussehen?
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X Belassen der Phänomene in der Geschichte
Urprofanität, Pansakralität, Transzendierung,
Säkularisation
46
Die symbolische Form, die »das Heilige« sein oder nicht
sein könnte, ist sie selbst erst im Verhältnis zu etwas, wo-
von sie sich abgrenzt oder wovon unterschieden sie ihre
Qualität hat. Darin hat die frühere Forschung auf weite
Strecken recht, und deshalb dürfen wir aus ihr auch das,
was damit zusammenhängt, insoweit übernehmen, wie
es uns nicht an die Modelle der römischen Kultreligion
oder der Durkheimschen Zivilreligion bindet. Indem wir
hier nur die Möglichkeit des Heiligen voraussetzen, nen-
nen wir
also
das
Andere vorbehaltlich
genauerer
Unter
scheidungen - es ist darauf zu achten, was konträre und
was kontradiktische Gegensätze zum Heiligen sind -
aufs neue das >>Profane« Das Wort proj num kommt aus
dem Lateinischen und bezeichnet den Raum oder Be
reich, der
»vor«
dem oder außerhalb des Tempel s)
liegt.
Davon abstrahiert, kann es für alles, was nicht heilig ist,
gut verwendet werden.
In der Geschichte definieren sich heilige und profane
Qualitäten von Gegenständen, Verhaltensweisen, Vorgän
gen, Zusammenhängen und Menschen teils selbst und
sind heute nur so zu akzeptieren oder zu kritisieren, teils
sind sie vom heutigen Standpunkt aus erst zu konstatieren
und zu definieren. Beides schließt die Möglichkeit ein,
daß das Heilige in Wirklichkeit metaphysisch, ewig, trans-
historisch ist und sich in der Geschichte nur fragmentiert
und
partikularisiert
in immer neuen
Objekten vergegen-
ständlicht. Es besteht aber auch beide Male die Möglich
keit, daß sich das Heilige aus gewissen, den historischen
Prozessen immer innewohnenden symbolisierenden
Kräften ständig neu bildet, indem es deren Objektivatio
nen noch transzendiert.
Das historische Grundproblem ist, in welcher Gleichzei-
59
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tigkeit oder Reihenfolge das Heilige und das Profane zu
sehen sind. Alle drei möglichen Anschauungen sind ver
treten
worden. Leider erlauben aber
die
religionsphäno
menologischen und -geschichtlichen Befunde keine Aus
sage über die urgeschichtlichen Verhältnisse. Selbst die -
am ehesten richtige - Grundannahme daß die Religion
mit der Hominisation ins Dasein getreten sei, erlaubt hier
keinen Nachweis. Denn mit dieserVoraussetzung ist noch
nicht gesagt, ob die Religion einmal alles umfaßte oder ob
auch neben ihrer Urgegebenheit einschließlich der des
Heiligen gleich eine profane >Weltanschauung<< bestand.
Kommen wir nun zum »Anfang selbst«, das heißt überle
gen wir, wie das Heilige entstanden oder wie es in die Ge
schichte eingetreten sein
könnte.
o
integral das
Heilige
auch zur Religion gehören kann so unabhängig davon
muß seine Geschichtlichkeil untersucht werden. Da wir
hier weiterhin auf Rückschlüsse angewiesen sind- denn
darum handelt es sich auch wenn es nicht mehr um sym
boltheoretisch-anthropologische
Voraussetzungen, son
dern schon um reale Anfänge geht - müssen wir einige
Male aufTheorien zurückgreifen die in noch ganz ande
ren Zusammenhängen aufgestellt worden sind. In drei
Gruppen kann man sie zusammenfassen:
Nach einer möglichen Anschauung wären Heiliges und
Profanes gleich ursprünglich gegeben gewesen
1). Nach
einer andern
wäre das Heilige eine nachträgliche Über
höhung des Profanen 2). Nach einer dritten, urtümliche
Pansakralität voraussetzenden Anschauung wäre das Hei
lige einmal eine Ganzheit gewesen in das die ganze Welt
eingeschlossen
war, bzw.
das
die
ganze
Welt
einte
3).
Auch das Magische wäre von ihm noch ungetrennt gewe
sen. Das Profane, sei es magisch sei es unmagisch hätte
sich aus ihm nach und nach in einerArt urtümlicher Säku
larisation entwickelt.
1.
Die erste
Möglichkeit
bestünde
also darin,
daß
sowohl
das Heilige als auch das Profane mit sich selber anfangen.
6o
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Den Sachverhalt einer Entstehung aus >>demselben«, grie
chisch homo- nennt man Homogonie. Bei Homogonie so
wohl
des Heiligen als
auch
des
Profanen bestünde
also
eine Urpolarität zwischen beiden. Für diese These kann
man sich auf die Höhlen und Grotten des Mittel- Dra
chenloch und Wildenmannlisloch im Schweizer Kanton
St. Gallen, Petershöhle im deutschen Mittelfranken) und
Jungpaläolithicum Altamira, Lascaux, Trois Freres, Rouf
fignac) sowie des Neolithicum viele Plätze) berufen. Ihre
Besonderheit erfüllt zwar nur die beiden Kriterien der
räumlichen Abgetrenntheit von Bezirken des Alltagsle
bens a) und der Außergewöhnlichkeit b), aber diese rei
chen aus, um die Bezeichnung Heiligtümer zu rechtferti
gen. a) Die
Höhlen sind
schwer
zugänglich, liegen
sehr
hoch oder tief im Innern, haben einen sehr engen oder
schwer auffindbaren Zugang, sind für Alltagsverrichtun
gen zu flach oder zu dunkel. b) Sie enthalten Kunstwerke,
die sich alltäglicher Betrachtung entziehen, sowie Kno
chen- und Schädeldeponierungen, die keine weggeworfe
nen Reste von Mahlzeiten sein können. Beides weist dar
aufhin, daß hier neben dem alltäglichen Bezirk, z.B. dem
Aufenthalts-, Schlaf- und Eßraum nahe dem Höhlenein
gang, ein außeralltäglicher Raum lag. Die Frage, ob die
Deponien Opfer waren, und ob sie einem oder mehreren
Göttern galten, ist damit nicht entschieden. Aber daß die
Höhlen heiligen Verrichtungen dienten, in vielen Fällen
der Initiation, ist so gut wie sicher. Indem man in sie ein
drang, kam man vom proj num ins sacrum. Welcher Art
die Beziehungen zwischen beiden sonst noch waren, ist
nicht
bekannt.
Aber
daß
sie
nebeneinander bestanden, ist
evident. Die Wahrscheinlichkeit spricht dann dafür, daß
auch jedes mit sich selber angefangen hat und nicht noch
früher beides in einem Raum lag, der vornehmlich nur
das eine oder andere gewesen wäre.
2. Kommen wir nun zu der Möglichkeit, daß nur eines,
nehmen wir das Profane, homogen und damit uranfäng-
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lieh ist,
daß aber das Heilige aus diesem als aus etwas
»an-
derem<< griechisch
hetero- entstanden, also heterogen
und
damit nachträglich
ist.
Diese
These deckt sich
mit der
vom religionslosen Urzustand der Menschheit. Sie beruht
vornehmlich auf ethnologischen, z.T. auch auf psycho-
analytischen Theorien, nach denen entweder das Heilige
zunächst ein Deckbegriff für bestimmte Wunschinhalte
war und dann echt wurde, oder gleich durch rituell ge-
wirkte Heiligung entstand. Man konnte auch an die Heili-
gung von Handlungen denken, die ursprünglich nur
ethisch gut waren, ferner an die Entwicklung >>der Gabe<<
Marcel Mauss) zum Opfer, aber auch an die Entstehung
von Göttern aus Menschen über die
Zwischenstufe des
Heros,
und
anderes.
Weitere
Theorien:
Die Magie als vorwissenschaftliche Wissenschaft hat ver-
sagt, so daß der Mensch seine Zuflucht in Religion suchen
mußte J.G.Frazer).
Das gesellschaftliche Sein der Urmenschen war so primi-
tiv
daß
ihr
Bewußtsein ganz
und gar an
die Praxis
gebun-
den war und keine religiösen Abstraktionen hervorzu-
bringen vermochte; erst als für Nahrungsbeschaffung
durch Jagd und Ackerbau
Magie nötig wurde, entstand
mit ihr verschwistert die Religion, deren Funktion noch
verstärkt wurde, sobald es zu Herrschaftsverhältnissen
kam dogmatischer Marxismus).
Das Heilige ist aus dem Unreinen entstanden. Das Tabu,
die
Einflößung einer Berührungsscheu, war beiden ge-
meinsam und bleibt es auch), der Bereich des Alltägli-
chen ist profan und rein. Darauf differenziert sich
die
Scheu in Ehrfurcht vor dem
Heiligen
und
Abscheu
vor
dem Dämonischen; nun gilt als unrein das, was der heili-
gen Gottheit mißfällt, das ist das Profane, und das Heilige
ist rein. Das Unreine kann dann noch dem Heiligen oppo-
sitionell
entgegentreten, und zwischen beiden liegt das
Reine
und
Gewöhnliche
oder
das
Profane als
Bereich des
Erlaubten WilhelmWundt und
viele
andere).
62
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Das zentrale Tabu ist das des Inzestes; es rührt aus dem
Willen des Urvaters her. Nach seiner Ermordung wird das
Verhältnis zu ihm ambivalent und findet im Begriff der
Heiligkeit
seine
Synthese. Der Grund der Ermordung, die
vom Urvater vollzogene Kastration, wird symbolisch
durch
die Beschneidung ersetzt, welche, an den männli
chen Nachkommen Israels vollzogen, die eigentliche Hei
ligung dieses Volkes darstellt Sigmund Freud).
Das
Heilige
ist
aus dem
Opfer
entstanden, das
als
letzte
Tötung und Bluttat die Kette von Gewalt und Gegengewalt
beendet, aus welcher die profane) Geschichte der
Menschheit besteht. Da die letzte,
alles aufhebende Ge
waltanwendung nicht mehr willkürlich sein darf, ist sie
durch
Riten
umzeichnet und
gebändigt. Wenn das
damit
entstehende heilige Handeln als solches richtig bekannt
und vom profanen Handeln unterschieden ist, sind die
Rollen in der Gesellschaft richtig verteilt. Werden Heiliges
und Profanes ununterscheidbar, entsteht eine sakrifi
zielle Krise; ihr entspricht eine Vermengung der Rollen,
aus der eine gesellschaftliche Krise
entsteht.
Gewalt, die
notwendig
wird,
um
die Stabilität
wiederherzustellen,
wird sowohl von Einzelnen wie von der Gesamtheit ange
wandt: von Einzelnen durch Askese, Selbstdisziplin usw.
gegen sich selbst- sie werden dadurch zu Heiligen-, von
der
Gemeinschaft durch
Ablenkung
auf einen
Sünden
bock, der auf diese Weise die Gesellschaft davor bewahrt,
daß ganze Gruppen in ihr durch erneuernde Anwendung
des Heiligen sich gegenseitig zerstören Rene Girard).
Einige dieser Thesen können sich aufVeränderungen be
rufen,
die
im
Verhältnis
zwischen Heiligem
und
Profanem
im Laufe der Geschichte wirklich eintreten, und selbst die
sonst unmögliche Theorie Freuds hat in der Tatsache, daß
Religionsübung tatsächlich eine Zwangshandlung wer
den kann, ein Wahrheitselement. Die These von Girard
bezieht in den Primärcharakter des Opfers- sofern erbe
steht- die Natur des Menschen und seinerVergesellschaf-
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tung wohl am realistischsten ein. Für eine zuverlässige
urgeschichtliche Rekonstruktion taugt das aber trotzdem
nicht.
3· Die einfache Umkehrung der soeben illustrierten
These besagt, daß nur das Heilige homogen und damit ur-
anfänglich, das Profane aber heterogen und damit nach
träglich ist. Da wir hier nur mit zwei Größen rechnen,
kann das Andere, aus dem das Profane entstanden sein
soll, nur das Heilige selbst sein. Die meisten Säkularisie-
rungstheorien gehören hierher. Die urgeschichtlich
orientierte kann man grob so zusammenfassen: Was wir
als Religion, Magie und Wissenschaft, als Gottesdienst,
Zauberei und Heilkunde, als Prophetie, Gesetzgebung
und
Ethik, als Priester, König
und Schamanen unterschei
den, war einmal in einer sakralen Einheit beisammen. So
lautet eine populäre Grundansicht, die aus der Urmono-
theismusthese von Andrew Lang bis Wilhelm Schmidt, aus
Theologumena von einer Uroffenbarung seit Johann To-
bias
Beck
und
Adolf SchlaUer,
aus Elementen der
Animis-
mustheorie Edward Burnett Tylors, der Mana-Orenda
Identifikation in der Zeit zwischen R H Codrington und
G van der Leeuw, der Präanimismus- oder Dynamismus
Theorie von Robert Ranulph Marett bis Konrad Theodor
Preuß abgeleitet ist. Von einer Verselbständigung des Pro-
fanen, die Bestandteil eines aus der sakralen Ureinheit
hervorgehenden Differenzierungsprozesses sei, kann
man nur reden, wenn man unbeachtet läßt, in welch ei-
nem Synonymieverhältnis unser Begriff des Heiligen zu
den Phänomenen steht, auf die jene Theorien sich grün
den.
Keine dieser Ursprungs- oder Entstehungstheorien ist
wirklich zu verifizieren. Doch auch wenn man von den
Anfängen aus in die Menschheitsgeschichte weitergeht,
gelangt man nicht zu einer Geschichte des Heiligen, son
dern
nur zu
einzelnen
Aspekten, die sowohl
für
kontinu-
ierliche Entwicklungslinien als auch für geschichtliche
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Grundgegebenheiten kennzeichnend sind. Letztere sind
ihrerseits für erste Anfänge genauso konstitutiv wie für in
der historischen Zeit immer wieder sich ereignende
Neu
anfänge.
Solche Aspekte zu erfassen wäre nach der oben
begründeten Forderung nun das konkrete Programm ei
nerseits einer historischen Phänomenologie anderer
seits einer historischen Anthropologie. Zunächst einige
Ergänzungen zum ersteren zur historischen Phänome
nologie. Mit Blick
auf die
Phänomene des Heiligen und
des Profanen sind drei zeitliche Aspekte grundsätzlich
wichtig, der der Unveränderlichkeit oder zeitlichen
Dauer a), der der Veränderung
oder Metamorphose b)
und der der Beendbarkeit oder des Unterganges c).
a) Absolut
unveränderlich
ist das
Heilige nur,
wenn
man
außerhalb der Geschichte liegende Gründe hat es als me
taphysische ewige oder transhistorische Gegebenheit zu
verstehen. Unveränderlichkeit oder Beständigkeit zeigt
sich auf der historischen Ebene insofern als in allem was
die Religionsphänomenologien als heilige Menschen
Ge
meinschaften Handlungen Schriften, Naturerscheinun
gen fabrizierte Objekte, Zeiten Orte, Zahlen und Worte
nachweisen nicht ausschließlich Situationen Absichten
und Bedingungen sich ausdrücken sondern daß in glei
chem Maße und
oft sogar mehr ein alter Typus nachwirkt
oder wiedererscheint; dies ist sogleich und dann sehr
langzeitig möglich sobald er nur einmal gebildet worden
ist.
b) Gleichwohl gibt es auch echte Metamorphosen Sie
bestehen in Transzendierung des Profanen oder in Säku
larisierung
-
dies jetzt nicht
mehr
als
Urentstehung
ver
standen wie oben- des Heiligen.
Das erstere liegt vor in
Initiationen, Sakramenten Taufen, in der Verwendung
von Steinen für ein Heiligtum oder von Tieren für ein Op
fer, in der Segnung einer Sache, einer Handlung eines
Menschen. Das letztere gibt es im Großen in weltge
schichtlichen Prozessen. Im Kleinen liegt es vor, wenn
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eine Heilige
Handlung simuliert wird, wenn ein Mythos
von der Tatsache, der er ist, zu einem Bericht über Tatsa-
chen gemacht oder
wenn
ein
heiliger
Text
zur
Unter-
haltung gelesen wird, oder wenn jemand, ohne direkt zu
sündigen, etwas anderes tut als er Gott gelobt hat. Die end-
gültige Form der Säkularisierung ist der Untergang des
Heiligen bei Bestehenbleiben des Profanen, die größt-
mögliche franszendierung ist die Restitution des Heiligen
mit grundsätzlicher Infragestellung des Profanen.
c) Der Untergang der Religion ist etwas anderes als der
ntergang des Heiligen. Der Untergang einer Religion
vollzieht sich am eindeutigsten, wenn man sie auflnstitu-
tionen beschränkt, da diese einfach
abgeschafll: werden
können.Weniger eindeutig ist
er,
wo eine
Religion
ihre an-
gestammte Funktion verliert, aber auch das läßt sich letzt-
lieh
feststellen. Das Heilige hingegen neigt in der indu-
striellen Gesellschaft dazu, von einem aktiven Element,
das es war, immer mehr zu einer Art nicht ausgedrückter
Potentialität
zu
werden.
Es verfallt
dann im
sozialen Le-
ben, dieses wird ganz profan. Im menschlichen Geist
bleibt jedoch sein Archetypus, der jederzeit bereit ist, das
numinose Gefühl wieder ins Bewußtsein zu bringen,
wenn die Umstände günstig sind SabinoAcquaviva).
Man kann nun die Religionsgeschichte im einzelnen
durchgehen und in jedem historischen Stadium, in jeder
Überlieferung, im Gesamt aller Phänomene zu ermitteln
suchen, wie ein Besonderes aussieht, das mit anderem zu-
sammen beanspruchen kann, heilig genannt zu werden.
Besonderheiten der conditio hum n fallen hier zuerst
ins
Auge.
Ihre
Beschreibung
innerhalb begrenzter
histori-
scher Situationen erschließt auch zentrale Aspekte von
Religionen, bleibt aber nicht auf diese beschränkt, son-
dern greift weit in andere Lebensbereiche aus.
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XI. Sich bewegen in endlichen Gegebenheiten
Ekstase, Sexus, Lebensalter, Charisma
47
Der Mensch zeigt sich zuweilen in Zuständen, die
qualita-
tiv anders erscheinen als die gewöhnlichen. Die letzeren
bilden entweder als Summe seines normalen Verhaltens
oder als sozialer Durchschnitt das Maß für den Vergleich.
Vergleiche,
welche den individuellen Unterschied zwi-
schen einem möglicherweise heiligen und einem gewiß
profanen Zustand sowie soziale Bewertungen eines be-
sonderen Menschentyps als heilig im Unterschied zum
profanen Durchschnitt demonstrieren, können bis auf
weiteres am besten in Kategorien einer historischen
An-
thropologie angestellt werden, da
es
eine
historische
Psy-
chologie, welche noch tiefer dringen sollte, bisher nicht
gibt. Unter den in diesem Sinne besonderen individuellen
Zuständen sind vierVerhaltenspaare besonders wichtig.
Ekstase un Trance Schon ethologisch ist wahrscheinlich
eine Übereinstimmung zwischen Mensch
und
Tier
in
Konzentration auf ein Gegenüber, in Anhalten von Atem
und Stimme, in angespannter Ruhe mit der Fähigkeit, in
schnellste Bewegung zu
wechseln, für
den Moment zu
konstatieren, in welchem der früheste Jäger und seine
Wildbeute einander gegenüber standen. Auf der mensch-
lichen Seite ist Weiterbestehen und Weiterentwicklung
dieses Urverhaltens eine Geschichte von Selbstinterpre-
tationen, die zusätzlich jeweils neue soziale Zusammen-
hänge zur Voraussetzung haben. Dies war zuerst wohl im
Schamanismus der Fall und ist so geblieben, wo er, z. T. bis
heute, weiterbesteht. In das griechische
Interpretament
ekstasis ist die Vorstellung mit eingegangen,
daß
der
Mensch fähig ist, >>außer sich zu stehen<< das heißt seit
dem fünften, vielleicht seit einem noch früheren Jahrhun-
dert vor Christi Geburt:
körperlich aus dem normalen
Stand herauszutreten,
seit
dem
1.Jahrh. vor
Chr.
auch,
daß sein Wesentlichstes, Seele, Selbst oder Schauorgan,
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aus seinem Körper herausgeraten kann. Ekstase kommt
in der gesamten Seelen- und Kulturgeschichte der
Menschheit
vor. Sie
kann den Menschen
befallen,
ohne
daß er Gründe dafür kennt, sie kann aber auch durch Ver
senkung, Autohypnose, Fasten oder durch Drogen, Fixa
tionsobjekte, langdauernde rituelle Wiederholungen von
Worten oder Bewegungen herbeigeführt werden. Ekstase
muß nicht heilig, sie kann auch profan sein, wenn auch
Phänomene wie Berauschtheil und Glossolalie, visionäre
und auditive Disposition, Hyper-, An- und Parästhesien
äußerlich oft übereinstimmen. Profane Ekstasen können
in Kulturen mit armer Technik Initiationen, Passageriten
und Kriegsvorbereitungen begleiten oder Reaktion auf
bestimmte Fehlleistungen oder
soziale
Rückstufungen
sein. In Schriftkulturen liegen profane Ekstasen z B bei
den Korybanten und Mänaden Griechenlands, bei den
Tänzern und Flagellanten im Gefolge des Schwarzen To
des Pest im vierzehnten Jahrhundert , bei Shakers, Quä
kern, gewissen Psychopathen,
auch
bei Sozialaussteigern
vor. Heilig
ist Ekstase nur im Zusammenhang mit einer
historischen Religion, die anders entstanden ist.
Ekstase
ist also nicht, gleichsam als religio pura der Urkeim einer
oder gar jeder Religion. Jedoch kann Ekstase innerhalb
einer Religion als Grundanstoß zur Entfaltung der jeweili
gen Mystik erfahren werden.
Sie geht dann in Trance über, als deren hyperkinetische
Urform man schon die Besessenheit verstanden hat.
Wenn das, wovon jemand besessen oder - in sanfterer
Form- inspiriert ist, als ein Gottverstanden wird, welcher
das ausgelöschte Bewußtsein ersetzt, sagt schon das klas
sische Griechisch enthousiasmos. Dieser ist per defini
tionem heilig. Profane Trancen liege hingegen
bei
Wahr
nehmung von Vorgängen in weiter räumlicher
Ferne,
Vergangenheit oder Zukunft vor. Das eine ist die propheti
sche
Weissagung,
das
andere
die
Clairvoyance
oder
das
Hellsehen.
68
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Sexualität un Askese Das Geschlechtsleben besonders
die weibliche Geschlechtlichkeit wird als >>heilig emp-
funden.
Positiv
steht
dies
in
zweierlei Gegensatz:
einmal
zur Unfruchtbarkeit in der sich wohl besonders der Hun-
ger auswirkte der immerdanprofan ist wenn er nicht im
bewußten Fasten zur Weltüberwindung ertragen wird;
deshalb konnte die
Heiligkeit der Mutter wohl noch ge-
steigert werden als im Neolithikum der
Ackerbau be-
gann den die »Mutter Erde ermöglichte. Sodann steht
die Geschlechtlichkeit besonders die aktive im Gegen-
satz zur Asexualität die das profane Kennzeichen entwe-
der des von Gefahren Kälte und Arbeit gezeichneten Nor-
malzustandes beider Geschlechter oder des gegenüber
der Frau mit seltenerer
Orgasmusfähigkeit
gesegneten
Mannes ist.
Die Bedeutung dominierender Göttinnen insbesondere
von Muttergöttinnen in archaischen Gesellschaften
hängt nur mit der Heiligkeit ihrer Geschlechtlichkeit
aber
nicht mit ihrem
etwaigen
Charakter entweder
als
verjenseitigter Repräsentantin matristischer oder als po-
larer Adressatin patriarchalischer Gesellschaften zusam-
men. Denn allein von der Rolle einer Großen Göttin aus
lassen sich keine Schlüsse auf eine Sozialordnung ziehen.
Die häufig anzutreffende Doppelheit als hilfreich und
grausam als Lebensspenderin und als gory goddess ge-
hört ganz auf die Seite der Heiligkeit.
Askese ist nicht die Profanierung der Sexualität sondern
die Überschreitung des Normalzustandes zu einer Voll-
kommenheit die in anderer Richtung liegt. Wenn der As-
ket
dessen
Enthaltsamkeit sich ja
auf
alle
Lebensberei-
che einschließlich Essen und Trinken bezieht gerade das
Geschlechtsleben tabuisiert erkennt er in gewisserWeise
ebenso dessen Heiligkeit an
wie er sie für sich selbst in
Anspruch nimmt.
Unschuld
un
Weisheit
Unschuld
kann
als heilig
erschei-
nen im messianischen Kinde so seit der 4· Ekloge Vergils
g
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seit der Weissagung Jesajas oder noch früher. Profan
wäre dagegn die
plappernde entnervende Unmündig-
keit. Aus
der
Unschuld des messianischen
Kindes
läßt sich
aber kaum erschließen wie sündig oder wie überaltert
sich eine Gesellschaft fühlt die
auf es hofft.
Weisheit kann die Heiligkeit des Alters sein so im Hinduis-
mus beim Guru in der Spätantike beim Mystagogen und
im jüdischen Chassidismus beim ~ a d d i q der erst nach
langer Lebenserfahrung durch sein Vorbild
dem Mitmen-
schen zum Gottesumgang verhelfen kann. Als Profanität
des Alters gilt weithin die Untüchtigkeit. o sie die jün-
gere Generation belastet grenzt diese sich sozial dagegen
ab. Im Extremfall werden die Alten in die Einöde ge-
schickt wie hie und da im alten Indien oder
sie
werden
auf dem Lagerplatz zurückgelassen wie bei manchen No-
maden. Der exilierte Greis kommt aus seiner Profanität
nur heraus indem er sein und der andern Heil statt in der
Weisheit im Fluche sucht.
Charismatische
un
magische Begabung
Das
Verhältnis
zwischen beiden ist vielschichtig zumal nachträgliche
Deutung hier oft neue Akzente setzt oder Umwertungen
vornimmt und nach heutiger Interpretation bei den mei-
stenWundern auch Magie im Spiele sehen muß. EinWun-
dertäter kann als Heiliger gelten wie der Origenesschüler
Gregorius oder Theodoros von Sykeon und andere die
den Beinamen Thaumaturgos erhielten; aber nicht jeder
der z.B. durch Kanonisierung in der katholischen Kirche
zum Heiligen erklärt worden ist war ein Wundertäter es
sei denn man betrachtet es als ein Wunder
daß jemand
das Gebot der Liebe zu
Gott
zum Nächsten und zum
Feinde absolut erfüllt hat. Profanität ist hier leichter zu de-
finieren: Sie kommt demjenigen zu der zu gewissen Be-
zwingungen von Krankheiten Naturgewalten oder Haß-
gefühlen einfach nicht in der Lage
ist. Ein Wundertäter
kann aber auch
nicht
als Heiliger gelten
bzw.
es
nach
reli-
gionswissenschaftlicher Interpretation nicht gewesen
70
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sein wie Jean Baptiste Marie Vianney oder Don Bosco und
war deshalb doch kein Scharlatan wie Cagliostro oder Ra-
sputin,
die
ihrerseits wohl keine reine
profane,
aber auch
keine ganz dämonische Gestalten waren. Auch hören wir
von »falschen Propheten<< wie im Alten Israel oder bei Lu-
kiansAlexander, aberwirwissen nicht, ob hier nicht ledig-
lich Heilige über Heilige den Sieg behalten haben. In der
Spätantike konnten am Rande von Städten und Dörfern, in
denen bürgerliche Administration oder bäuerliches Patro-
nat durch soziale oder religiöse Umwälzung entmachtet
waren, gewisse Personen, die sonst profan geblieben wä-
ren, im Guten wie im Bösen zu »heiligen Männern« avan-
cieren, indem sie die entinstitutionalisierten Funktionen
selbst
übernahmen
Peter
Brown .
7
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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D. INWEITEREN SCHWIERIGKEITEN
Um die Erfüllung der Forderung nach einer historischen,
psychologisch und linguistisch fermentierten Phänome
nologie gründlich genug anzugehen, wäre es eigentlich
nötig, noch viel mehr aus der französischen und alles aus
der
italienischen Diskussion durchzunehmen.
Die
deutsch-niederländische, die skandinavische und die
englisch-amerikanische hängen noch immer relativ eng
zusammen, eine russisch-polnische gibt es nicht, eine
spanische ist erst im Kommen.) Dafür ist dies nicht der
Ort. Statt
dessen
soll
an
je
einem
Beispiel
gezeigt
werden,
wie es aussieht, wenn man, da eine Entwicklung der rich
tigen Phänomenologie noch nicht möglich ist, ihre Inten
tionen regelrecht konvertiert. Die eine Konversion,
statt
die Phänomenologie für Seinsaussagen offenzuhalten, er
folgt zur Ontologie Teil XII), die andere, statt die Einbe
ziehung historisch-gesellschaftlicher Gegebenheiten zu
ermöglichen, in Soziologie im hier gewählten Falle wird
diese Konversion als indirekter Anspruch eines neu vor
ausgesetzten Heiligen interpretiert: Teil XIII). Es wird
sich zeigen, daß man dabei zwangsläufig in neue Schwie
rigkeiten gerät,
die
nicht
ohne weiteres zu beheben
sind.
Die Verbreitung der Phänomenenbasis macht diesen Tat
bestand erst richtig manifest, weil sie in einer Unbefan
genheit geschieht, die das als naiv-»monodisziplinär<< ver
einerleit, was »transdisziplinär« hätte bleiben sollen Teil
XIV). Schließlich
hat
die Schwierigkeit, die
in
Vergeßlich
keit besteht, sogar eine moralische Dimension Teil XV .
72
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XII. Der ontologischeAusweg
als Suche nach Hintergründen Mircea
Eliade
Mircea Eliade
48
der bedeutendste Vertreter nicht nur der
letzten vierzig Jahre, sondern der ganzen Epoche derwis-
senschaftlichen Beschäftigung mit dem Heiligen über-
haupt, zeigt in der Aporie zwischen ontischem Sein und
bloßem Bezeichnetsein eine Dialektik des Heiligen auf.
Durch die bloße Tatsache,
daß das Heilige
sich
zeigt, ver-
birgt es sich auch; wenn etwas Heiliges sich manifestiert,
dann wird zur selben Zeit auch etwas verborgen. Das setzt
natürlich voraus, daß das Heilige transhistorisch da ist. Es
bewegt sich auf der einen Seite zur besonderen, histori-
schen, bedingten
Manifestation,
der
Hierophanie.
Darin
ist es nicht mehr vollkommen und unterliegt den Prozes-
sen radikalen Bedingtseins.
Es kann sogar fragmentiert
und partikularisiert werden und sich verwirrend in im-
mer neuen Objekten vergegenständlichen. Das kann bis
zum Zusammenbruch der Struktur des Heiligen führen.
Dies ändert aber nichts am Bestandhaben der religiösen
Gestalt als solcher, welche zum Archetypus zurückfinden
kann; das Heilige bleibt transzendent wirklich, und es
braucht nicht unbedingt als historisch übermächtig erlebt
zu werden.
Richtet man seinen Blick nun auf die Hierophanie als sol
che, so ergibt
sich,
daß
sie ambivalent ist: Das Heilige ist
da, aber nicht in einer Faktizität, aus welcher die auch pro-
fane Gegebenheit, an der es sich zeigt, absolut ausge-
schlossen bliebe. Zur Dialektik des Heiligen kommt also
eine
Ambivalenz
in der
Phänomenologie des
Sich-Zei
genshinzu.
Diese
Auffassung enthält in vertiefterWeise das Problem,
ob man das Heilige ontologisch und transhistorisch auf-
fassen darf, und in welchemVerhältnis das heilige Sein zu
dem
steht,
was
man
dann seine historischen
Manifestatio
nen nennen muß.Wir lassen das Problem hier unerörtert.
7
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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Als großes Desiderat bleibt stehen, genauer zu bestim
men, was innerhalb dieses
Systems Gegensätze und was
Unterschiede
sind;
sodann,
ob
der
dialektische Gegensatz
wenn es nicht nur ein Unterschied ist zwischen heilig
und profan auf einen realen Gegensatz hinweist;
welcher
kontradiktorische Gegensatz, wie er zwischen rein und
unrein besteht, innerhalb des Heiligen wie des Profanen
sonst noch konstatiert werden kann;
ob die Ambivalenz in
der Phänomenologie des Sieh-Zeigens auch bloß
konträre
Gegensätze wie zwischen unrein und
profan, unrein und
heilig, rein und profan, rein und heilig umfaßt; und ob das
Verhältnis zwischen beseligend und schauervoll, anzie
hend und abschreckend, eigentlich ursprünglich nur ein
wesentlicher Unterschied
war,
der
sich
zu einem
Gegen
satz gleich welcher Art
entwickelt
hat. Die Forderung
aber, zwischen Fremd- und Selbstdefinition, zwischen der
eigenen Interpretation eines religiösen Phänomens und
seiner Benennung durch die Teilhaber an demselben hi
storischen
Kontext,
in welchem
es
steht,
zu unterscheiden
und gegebenen Falles das Eine sich durch dasAndere kor
rigieren zu lassen, ist bei Eliade erfüllt. Es ist gleichwohl
zu argwöhnen, daß
die ungeheure Wirkung, die seinWerk
ausübt, nicht auf das Vorhandensein theoretischer Errun
genschaften zurückgeht, sondern eher auf deren
Mangel.
Denn das Ganze wird vorgetragen, die Phänomene aus al
lerWelt werden immer wieder hinreißend ausgebreitet, als
sei der ontologische Gottesbeweis nie kritisiert worden. Es
wäre nicht das erste Mal, daß eine Majorität sich eine kau
tianisehe Anstrengung erspart. Es scheint dieser Majorität
nun
nichts
mehr
dagegen zu sprechen,
aus den
Phänome
nen und ihrer Geschichte,
besonders aus ihrerArchaik, we
nigstens einen ontologischen Heiligkeitsbeweis anzutre
ten. Eliades Werk gehört dennoch, wegen des n ü e r t r o f f e ~
nen Reichtums an sachlicher Belehrung, den es vermittelt,
mehr auf
die Seite
der
»wissenschaftlichen Beschäftigung
mit dem Heiligen<< als auf die des »Heiligen heute«.
7
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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XIII. Der soziologische Ausweg zur Vermeidung
von Aporien Jürgen Habermas)
>>Das Heilige heute« steht dennoch, und zwar als neuer Er
fahrungsinhalt, zur
Diskussion, denn merkwürdige
Dinge tragen
sich
zu. Große Teile der Gesellschaft haben
sich einer »antimaterialistischen« Strömung verschrie
ben, und die Interpretation der Entdeckung östlicher wie
westlicher Spiritualität, oder auch der Hervorhebung ei
ner ethischen Instanz für das Prinzip Verantwortung als
Wiederkehr des Heiligen, liegt ihnen nahe.Wo man einer
Säkularisationstheorie folgt oder gefolgt s t würde man
das Nebeneinander von Heilig und Profan seit Urzeiten
voraussetzen, bedürfte
man ihrer gar nicht
-,
fragt
man
nach der Umsetzung des ehemaligen Heiligen in der heu
tigen Alltags- und Lebenswert. Als heteron aus welchem
Heiliges entstehen könne, werden statt so sanfter Dinge
wie Tabuierung, Seelenglauben,
Vision,
Eingebung,
Er
schauern, Bewundern, Lieben, Verehren erstmals auch
der Ernstfall siehe
Teil VIII) und die Gewalt siehe
Teil X
in Anspruch genommen. Islamische revolutionäre Grup
pen proklamieren ausdrücklich als »Heiligen Krieg«, was
bisher Gihad geheißen hatte und nur von europäischen
Gelehrten so übersetzt worden war. Ein ganzer Kongreß
über
»das Heilige« findet statt,
auf dem Personen von ihrer
erfolgreichen Spurensuche berichten,
die bisher derglei
chen in der Moderne nie vermutet hatten.
49
>>Der Hang
zum Gesamtkunstwerk« wird in einer bedeutenden Aus
stellung dokumentiert, und der Träger von Ganzheits
vorstellungen, das künstlerische
oder
wissenschaftliche
Genie,
der politische Führer, soll sich als das erweisen
können, was früher einmal ein Heiliger
war. Oder ist gar
das Gesamte das Heilige, und ist das Heilige dann auch
das Totale und Totalitäre?
Verschiedene Wissenschaften haben sich e t h ~ d o l o g i s h
in die Lage versetzt, hinter die Literaturen, Kunstwerke,
75
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Gesellschaftsformen zu dringen und dort etwas zu ent
decken, was vielleicht früher einmal in religiöse Bezüge
eingebunden
war.
Ein
Sozialphilosoph
50,
der fürwahr we
gen anderer Ansichten zum meistzitierten A11;tor unseres
Jahrhunderts außerhalb der Literatur geworden ist so je
denfalls will es jemand überschlägig ausgezählt und
hochgerechnet haben), nennt diese Entdeckung unge
niert »das Heilige« und schreibt mehr als hundert Seiten
darüber:
Jürgen Habermas geht es um Grundbegriffe, wie sie bei
George Herbert Mead 1865-1951) und Einile Durkheim
1858-1917; sieheTeil IV entwickeltwerden, undzwar um
solche, in denen sich MaxWebers Theorie der Rationali
sierung aufnehmen und aus der
Aporetik
der
Bewußtseins
philosophie befreien läßt. Mead tut es mit einer kommuni
kationstheoretischen Grundlegung der Soziologie, Durk
heim Init einer Theorie der gesellschaftlichen Solidarität,
die Sozial- und Systemintegration aufeinander bezieht.
Beide
gehen damit von
der
Zwecktätigkeit
zum kommu
nikativen Handeln über; Habermas stuft diesen Übergang
als Paradigmenwechsel im Sinne Thomas Kuhns) ein.
Die gesellschaftliche Solidarität manifestiert sich in Grup
penidentitäten. In der Sprache Durkheims prägt sich in ih
nen das kollektive, und das ist vor allem: das religiöse Be
wußtsein aus, und Habermas übernimmt diese Sprache.
Auch für ihn erschöpft sich die Religion darin, eine beste
hende rituelle Praxis- denn sie ist es, die gerade nicht als
außeralltägliche Haltung im Patriotismus seiner Zeitge
nossen wie im stammesgeschichtlich tief verwurzelten
Kollektivbewußtsein die
Gruppenidentität konstituiert
-
auszulegen, und er hält es weiterhin für gerechtfertigt,
daß dies in Begriffen des Heiligen geschieht.
Man muß anerkennen, daß hier auf das Weiterbestehen
einer Verwandtschaft von Religion und Moral Wert gelegt
wird. Ob
man aber aus den strukturellen
Analogien
des
»Heiligen«- bleiben wir einmal bei dieser Bezeichnung-
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und des Moralischen immer noch auf die sakrale Grund-
lage der Moral überhaupt schließen darf, wie es Durk-
heim
tat,
ist
eine andere
Frage.
Glänzend ist
es,
wie
Haber-
mas das Hinabreichen
kognitiver, moralischer und
ex-
pressiver Beziehungen zur äußeren Natur,
zur kollektiven
Identität und zur inneren Natur ins Vorsprachliche auf-
zeigt, und wie er zeigt, daß sich daraus
Sprache entwik-
kelt. Aber warum ist das, wenn auch mit rationaler Struk-
tur, die »Versprachlichung des Sakralen«? Warum ist es
nicht einfach die
Umsetzung symbolischer Interaktion in
Sprache? Es ist wohl kein Zufall, daß die Semantik und die
Syntaktik des Heiligen in diesem Zusammenhang über-
haupt nicht angegangen wird.
Habermas
ist sich
durchaus darüber
klar,
daß
eine zirku-
läre Erklärung vorliegt,
wenn das Moralische auf das
»Heilige«
und dieses auf
kollektive Vorstellungen von ei-
ner Entität zurückgeführt
wird, die
ihrerseits aus einem
System verpflichtender Normen bestehen soll. Wenn er
trotzdem vom
»Heiligen« spricht,
als sei es dessen auto-
gene Grundlage, dann hat er nur noch halb an der wissen-
schaftlichen Beschäftigung mit dem »Heiligen« teil. Halb
aber tritt er denen, welche direkt neue Ansprüche im Na-
men des Heiligen stellen, zur Seite, indem er dasselbe
durch Wissenschaft tut. Das ist eher >>das Heilige heute«.
Diese Sätze sind nicht ironisch gemeint.)
XIv Verbreiterung der Phänomenenbasis in empirischer
Unbefangenheit Evidenzen und Vorbehalte
Will
Eliade
einen ontologischen, so will Habermas einen
soziologischen Ausweg aus der Schwierigkeit, die Phäno-
menologie in der Balance zwischen Aussagen über das
Spekulieren oder das Sein und solchen über das kommu-
nikative Handeln oder die Gesellschaft zu halten.
Beide
Versuche, und sie stehen ja für
viele, kann man, ganz wie
77
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man
will eine Flucht nach vorn oder eine Flucht nach
rückwärts
nennen. Hier soll nun die Verbreiterung der
Phänomenenbasis
helfen
fester
auf ihr
zu
bleiben.
Es
hieße wohl den Kritizmus zu weit zu treiben wollte man
die Phänomene als solche leugnen; denn wenn man einer
Wissenschaft auch ihre Voraussetzungen noch nimmt
dann muß man sie ganz aufgeben. Diese Konzession ist
aber nur zu rechtfertigen wenn man sich bei der Verbrei
terung folgendermaßen beschränkt:
Auf das »Phänomen des Heiligen stößt man überhaupt
nur wenn man sich irgendwie phänomenologisch ein
stellt. Stellt man sich wissenschaftlich anders ein etwa
funktionalistisch
sozialanthropologisch oder logisch
analytisch
dann kommt
etwas ganz anderes heraus.
Die
dergestalt angelegten Wissenschaften sofern sie
sich
auch mit Religion befassen beweisen es indem sie zum
Heiligen nichts zu sagen haben selbst wenn sie konven
tionellerWeise mit »heiligen« Einzelheiten operieren.
Wenn
man
sich phänomenologisch
einstellt
dann
er
scheint das Heilige als eine extrem zusammengesetzte
Kategorie. Unter gar keinen Umständen darfman mißver
stehen es handele sich hier um ein umgrenztes ontisch
stabiles Scheidemittel das man handhaben kann um wie
mit einer Wünschelrute seinesgleichen irgendwo aufzu
spüren. RudolfOtto hatte soweit ist er Neukantianer bis in
seine affirmativen Aussagen geblieben den kategorialen
und als solchen synthetischen Charakter des Heiligkeits
begriffes bereits richtig erkannt und hervorgehoben. Bei
ihm waren es die beiden-von ihm wechselnd zueinander
in
Beziehung
gesetzten-
Paare des Numinosen
und
Irra
tionalen des Sittlichen
und des Rationalen welche die
Synthesis ergeben sollten. Wir müssen heute phänome
nologisch weiter greifend teilweise mehr teilweise ande
res hineinnehmen.
Auf die
Phänomene werden wir geführt durch
die
Diffe
renz zwischen Selbst-
und Fremddefinition und den se-
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mantischenAbstand beider von ihren Gegenständen. Die
Selbstdefinition haben wir in denWörtern der fremden al
ten
Sprachen
oder in
dort
sinnentsprechenden
Zusam
menhängen; der Fremddefintion befleißigen wir uns in
diesem Essay. Selbstdefinitionen, Wörter, Semasiologie,
Philosophie waren nur am Rande Gegenstand unserer
Überlegungen. So sei hier das Wichtigste nachgetragen.
»Heilig« = Fremddefinition; Selbstdefinition nur nach
dem deutschen
Wort) stellt sich
im germanischen
Bereich
sowohl als etwas Heiles, Ganzes als auch als etwas Darge
brachtes Geweihtes, von den Göttern den Menschen
oder umgekehrt) dar. Etymologisierend findet man bis
heute besonders gern m Ganzheitlichen den verbindli
chen
»heilenden« Sinn.)
Im
indo-iranischen
und
teilweise
im griechischen Bereich nennen wir das Anschwellende,
Kräftige, Fruchtbare so. Die Melanesier haben uns das
Wort für das Mächtige dazugegeben noch G van der
Leeuw baut seine »Phänomenologie der Religion« in be-
stürzender
Ausschließlichkeit ganz
auf der
»Macht« auf),
die Polynesier das Wort für das Verbotene. Im alten Israel
und im alten Rom finden wir das Heilige im Abgetrennten
wieder, an verschieden Stellen derWelt im Unreinen oder
m Reinen. Das sind nur die wichtigsten Konnotationen
für uns geworden.
Stellen
wir uns nun
vor:
In einem
urzeitliehen Paradies
garten vorausgesetzt sie wären alle in denselben gekom
men und beherrschten gleich gut die Sprache der Engel-
unterhalten sich ein Germane, ein Arier oder ein Grieche,
ein Melanesier, ein Polynesier, ein Jude oder ein Römer
die
beiden könnten
sich gegenseitig vertreten)
mit
Be
nutzung der genannten Wörter über ihre aus dem Leben
und aus der Welt des Alltags herausführenden Orientie
rungen. Hinzu kommen einige nordamerikanische Wald
landindianerund erklären wir können ihnen hier, wie in
Teil
V wieder nur
unterstellen,
was
die
moderne
Ethnolo
gie über ihre vermeintlichen mana-Begriffe sagt ihrm
79
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nitu schlicht als das, was dem gesamten außermenschli
chen Bereich eigen ist, und ihr wakonda und orenda als
Geister, die
in
Objekte hineinschlüpfen
und
sie
dadurch
seltsam, ungewöhnlich, bemerkenswert machen. Viel
leicht sitzen noch Pseudo-Longinos und seine vielen Rezi
pienten aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhun-
dert im Kreise
drumherum und werfen über
»die Höhe«
hypsos) oder »das Erhabene« hin und wieder etwas ein.
Hätte man sich verstanden? Es mußte doch wohl erst der
neunmalkluge Wissenschaftler von heute kommen, um
sie alle unter einen Hut zu bringen. Es wird heute tatsäch
lich ohne die Synthese, die er zustande bringt, nicht mehr
gehen. Man kann sogar noch mehr in sie aufnehmen,
nämlich
zeitgemäße Normen, Werte, Postulate, Maximen,
in die sich heute ebendasselbe Sittliche entfalten muß,
mit dem zusammen erst das Numinose zum Heiligen
wird. Aber damit tut man mehr, als frühere Generationen
tun konnten, und muß sich dennoch fragen, ob man ge
nugtut.
So zusammengesetzt und synthetisch man das Heilige
auch konzipiert, man kann es sinnvoll nur tun, wenn man
es außerdem noch von irgend etwas unterscheidet. Das
gilt sogar dann, wenn in grauerVorzeit »alles Religion« ge
wesen sein sollte. Auch da muß es sich von etwas unter
schieden haben; denn daß »heilig« oder das, wofür es
steht, und »religiös« dasselbe seien, sagt damals wie heute
ja niemand. Erst recht unterscheidet es sich von etwas,
wenn nicht mehr) »alles Religion« ist. Ob das, wovon es
sich unterscheidet, eines seiner Teile ist etwa das Sittli
che
etc.,
oder
das Mächtige etc.)
oder
etwas
anderes
etwa das Profane et {., oder das Magische etc.), interes
siert in diesem Zusammenhang nicht. Nur eins ist wich
tig: Mit »das ganz Andere« kommt man nicht mehr durch.
Das hatte seinen Sinn in der Sprache der Empfindsamkeit.
In
der
Sprache
der
Wissenschaft,
wenn man
damit sagen
will, das Heilige sei gerade nicht das Übermächtige,
So
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Schauerliche, Faszinierende, Profane, franszendente
oder was immer, sondern eben »das ganz Andere«, ist es
ein frick.
Es
wäre
grundsätzlich die Lexikographie der wichtigen
Wissenschaftssprachen nebeneinander zu hinterfragen,
und zwar auf die Voraussetzungen hin, unter denen sie
mannigfache Wörter in rund drei Dutzend Religionsspra
chen übersetzen. Hier bestehen ja sogar, wie schon gesagt
(Teil
V), zwischen denWorterbüchern der modernen
Wis
senschaftssprachen Äquivalenzprobleme. Und in der All
tagssprache: Wo die Deutschen und die Israelis (Germa
nismus im Iwrit?) sagen: »Der Zweck heiligt die Mittel«,
da sagen die Engländer, die Franzosen, die Italiener und
die Spanier: »Der
Zweck
rechtfertigt die Mittel«.
Auch der philosophische Sprachgebrauch hat eine Klä
rung nötig. Das
numinose
Gefühl sollte bei Otto keine sub-
jektive Befindlichkeit sein, sondern eine eigene Erkennt-
nisart; denn der Gefühlsbegriff implizierte schon die Be
ziehung
auf
ein reales
Objekt. Falls
damit eine
Stiftung
na-
türlicher
Theologie - als Evidentmachung des Offenbar
ten mit Hilfe des emotional empfundenen Heiligen - be-
absichtigt war, so haben die dialektische Theologie und
die neuartige Brutalität heutiger Erfahrungen, die den
Menschen absolut in sich selber festbannen, dariiber hin-
ausgeführt. Die
Erkenntnistheorie aber könnte das
Ideo
gramm des Heiligen noch »aprioristischer« fassen, wenn
sie es noch klarer zur Kategorieapriori formalisiert.
5
Die Phänomene, die bisher statisch als heilig bestimmt
wurden, müssen z.T aus ihren sozialen und historischen
Kontexten
heraus
neu
interpretiert werden;
also
der
hei-
lige Gegenstand, das Naturobjekt, der Ort, die Zeit, die
Zahl, die Handlung, das Wort, die Schrift, der Mensch, die
Gemeinschaft. Zum Teil ist dieses in Untersuchungen
über die Griechen oder über das Neue Testament
50
, viel
leicht auch anderswo schon geschehen.
8t
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XV Unvollständigkeit der begrifflichen Erfassung des
Heiligen aus ethischem Defizit
Einheit
der Forderungen
nach
Synthese
und
Moral)
Auf eine merkwürdige Weise hängen >>das Heilige als
höchste Form des Sittlichen« und >>das Heilige in der
Kunst<< zusammen. Beide Themen haben Tradition.5
3
Man
schlägt willkommene Brücken über bestimmte Hand-
lungsweisen und über ihre Begründung, über etwa darge-
stellte Gegenstände und über das Stilistische hinaus,
wenn das, wohin sie führen, als das Heilige gelten darf.
Gilt das wirklich so? In einer Zeit, in welcher die Legiti
mität des Rationalen, Materiellen oder Immanenten neu
in
Frage steht, besinnt
man
sich
gern auf
das Irrationale,
Spirituelle oderTranszendente und freut sich, es dort wie-
derzufinden, wo keine klerikale Institution sich anmaßen
kann, es zu verwalten. So weit, so gut. Aber erfordert die
neu entdeckte Wirklichkeit, wenn sie denn schon nachge-
wiesen werden
kann, zwingend,
durch
das
Heilige si
gniert zu sein? Warum nicht durch das Hypermoralische,
das Magische, das Mythische alles gibt es sowohl heilig
als auch profan) oder das Religiöse dies ist nicht immer
heilig und kann in der ethischen Entscheidung der Ge
wohnheit, der Rationalität, Materialität oder Immanenz
jedenfalls drinstecken)?
Weiter: Wo immer man das eine und das andere konsta-
tiert,
man darf es nicht pauschal tun, sondern muß dasVer
hältnis zwischen beiden quantifizieren. Es wird manchen
wundern, daß der wegen seiner Hochschätzung des Irra-
tionalen vielgeschmähte Rudolf
Otto
es
war,
welcher
ein-
mal die Forderung nach >>Religionsmessung<< erhob.54 Otto
meinte damit zwar die vergleichende Abwägung des
»Feingehalts« mystischen, ethischen und anderen »Son
dergeistes« in den verschiedenen Religionen selbst, aber
prinzipiellläßt
sich das
auf
die Abwägung des
Religiösen,
Heiligen oder wessen auch immer) im Säkularen, Profa-
82
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nen oder wo auch immer) übertragen. Wen das zu
schwierig dünkt, der sei daraufhingewiesen, daß so etwas
schon vor anderthalb
Jahrtausenden
von einfachen Leu
ten verlangt wurde. Im Codex Theodosianus 16.w,8)
heißt es in einem Edikt vom 30.Nov. 382: >Wir bestimmen
kraft Autorität des Staatsrates, daß der Tempel ständig of-
fen ist, welcher dem Volke einstmals nur) für häufige
oder: zahlreiche) Versammlung en) bestimmt war und
nunmehr auch
allgemein zugänglich) ist, und) in wel
chem Standbilder aufgestellt gewesen sein sollen, welche
jetzt) nach dem Wert ihrer Kunst statt nach ihrer göttli-
chen Natur gemessen werden müssen.« Wer sich also mit
dem Handeln oder mit der Kunst beschäftigt, der sehe zu,
daß
er
es
so
weit irgend
möglich
rtis pretio
qu m
divini-
t te metiend tue, und beherzige, daß der alte Gesetzge
ber es nicht zulassen wollte, daß »erschlichene Orakel die
ser Sache hinderlich seien<< 55
Der oben als paradox aufgewiesenen Möglichkeit, vom
Heiligen
auch in der
nicht-religiösen Sphäre
zu
sprechen,
muß weiter nachgegangen werden. In der Sprache der
Empfindsamkeit siehe Teil VII) liegt vielleicht gar keine
Säkularisation des pietistischen Gefühlslebens vor; denn
etwas Ähnliches gibt es schon bei Homer. Wenn man von
»heiligem Raum<< und »heiliger Zeit« spricht und sich dazu
irgendwie besonders verhält, soll das heißen, daß ein
in
sich geordneter, vollkommener Raum und eine erfüllte, in
sich geordnete Zeit als solche bereits ins Heilige überge
hen? Durkheim hätte geantwortet: »Die Natur ist doch im
mer und überall sich selber gleich. Ganz gleich, ob sie
sich in
die Unendlichkeit ausdehnt: jenseits
der
Grenzen,
bis wohin mein Blick dringt, unterscheidet sie sich nicht
von der Natur, die innerhalb dieser Grenzen liegt. Der
Raum, den ich mir jenseits des Horizonts vorstelle, ist dem
Raum gleich, den ich sehe. Die Zeit, die endlos fließt, be
steht aus
den
gleichen
Augenblicken, die
ich
gelebt habe.
Der Raum und die Dauer wiederholen sich unendlich.
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Wenn die Teile die
mir zugänglich sind nicht selbst
dieses Merkmal des Heiligen haben wie sollen es die an
deren haben?
Die
Tatsache daß
ich
sie
nicht direkt sehe
genügt nicht um sie zu verwandeln.Wenn eineWelt profa-
ner Dinge auch unendlich ist bleibt sie doch profan<< 5
6
Die Fragen nach der >>Heiligkeit des Totalen<< im Gesamt
kunstwerk und im totalen Krieg stellen sich
analog.57
Das neue Interesse am Heiligen kommt aus der natürli
chenTheologie aus Krisenbewußtsein und aus manchem
anderen. Es ist heute so aktuell geworden wie es in der
Wissenschaft kein 1g68er im Alltag kein Kriegsversehrter
kein Strahlengeschädigter kein Arbeitsloser kein Hun
gernder kein Flüchtling kein Verzweifelter für möglich
gehalten hätte. Das
neue
Interesse
kann und darf
deshalb
keine nostalgische Rückkehr zu großen Geistesahnen
aber auch kein Wiedereintauchen in mythische Ur-
sprünge sein. Die Restauration die dadurch in der theolo
gischen in der religionserforschenden und in jeder neu
hinzukommenden
Wissenschaft
in unserer
sozialen wie
in unserer politischen Existenz zustande käme können
wir uns nicht leisten.
Die neue Beschäftigung mit >>dem Heiligen<< kann aber
auch ein Mittel zum Weiterdenken Weiterfühlen Weiter-
glauben und Weiterhandeln sein. Das ist
freilich nur
innerhalb derselben Synthese möglich die durch Hinein
nahme der außer-abendländischenAusdrücke die Grund
lage für einen modernen und bis auf weiteres gültigen
Begriff des Heiligen schafft. Es bedeutet keinen inhaltlichen
Eurozentrismus es ist
vielmehr methodisch-wissen
schaftlich
gar nichts anderes
möglich als dies
aus abend
ländischer Tradition zu tun gleichermaßen befähigt
durch das Heilige besser: den Heiligen der Bibel und
durch die
aristotelische
Möglichkeit mehreren Gegen
ständen denselben Begriff zukommen zu lassen. Die
Theorie des Ganzen wird sich dabei dennoch von Grund
auf ändern vielleicht in einem Maße daß sie einen neuen
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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Zauber der Welt reflektiert der dem vergleichbar ist des
sen sie lange verlustig ging. Die Erweiterung der Syn-
these durch
Aufnahme
neuer
Werte-
und Worte -
gehört
dazu, und zwar wiederum gerade solcher die nicht
abendländische Völker stets besser gekannt haben als wir
die wir froh sein müssen, wenigstens die handlungs
theoretischen Traditionen bewahrt zu haben, die uns zu
gewinnen ermöglichen, was heute not tut: ein neues mo
ralisches Verhältnis zur Schöpfung oder zur Natur. Aber in
dem wir es gewinnen, müssen wir wissen, daß wir damit
etwas tun, was spätzeitlich bedingt, nicht was absolut oder
zeitlos richtig ist.
Es läuft heute vieles zusammen, was früher getrennt war.
Erkennt man
das
dann kann man auch den
Menschen an
erkennen, der von uns getrennt bleiben will weil er das
Heilige« so wie es uns überliefert und weiter zu ent
wickeln oder zu erfahren möglich ist selbst nicht kennt,
sondern andere Werte und Worte hat. Vielleicht ist dies in
einer
Spätzeit wie
der
in welcher wir
leben, sogar
die
ein
zige Chance, sie nicht zu einer Endzeit werden zu lassen.
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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ANMERKUNGEN
Anmerkungen wurden bewußt sparsam gehalten und beschrän
ken sich auf Spezialuntersuchungen und Grundtexte zu den dis
kutierten Theorien. Für angrenzende Fragen findet man die ein
schlägigen Texte und weitere bibliographische Nachweise bei
C. Colpe Hrsg.), Die Diskussion um das »Heilige« WF305), Darm
stadt 1977, und bei J.Waardenburg, ClassicalApproaches to the
studyoj eligion RR3 und 4), 2 Bde., den Haag 197?/74· -Abkür
zungen:AF = Archivio di Filosofia;ARW=Archiv ür Religionswis
senschaft; BThZ =
Berliner
Theologische Zeitschrift; EKL =
Evangelisches Kirchenlexikon, hrsg. von E. Fahlbusch; ER = The
Encyclopedia ofReligion, hrsg. von M.Eliade; HrwG =Handbuch
religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hrsg. von H. Cancik
und B. Gladigow; HWbPh = Historisches Wörterbuch der Philoso
phie, hrsg. von J.Ritter und K.Gründer, bisher 7 Bde., Basel/
Stuttgart 1971-1989; ND= Nachdruck; NHL = Neues Handbuch
der Literaturwissenschaft; NZsThRph = Neue Zeitschrift für sy
stematische
Theologie
und
Religionsphilosophie;
RR
= Religion
and Reason; ThBT = Theologische Bibliothek Töpelmann; ThR =
Theologische Rundschau; ThWbAT =TheologischesWörterbuch
zum Alten Testament, hrsg. von H.-J. Fabry und H. Ringren; TF =
Texte zur Forschung; UTB =Uni-Taschenbücher; WF =Wege der
Forschung.
1 Die Diskussion dokumentiert W.Lütterfelds Hrsg.), Trans-
zendentale oder evolutionäre Erkenntnistheorie? Darmstadt
1987·
2
Das
zeigt auch,
eher
gegen seine
Absicht,
A.R
Lurija, Die histo-
rische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse russisch:
Moskau 1974), Berlin-Weinheim 1986: Aufzwei Forschungsex
peditionen nach Mittelasien 193IUnd 1932 wird durch Befra
gen ungeschulter, z. T. analphabetischer Usbekenmit Syllogis
men Kategorien, Klassifikationen usw. »experimentiert«. Die
Befragten, die in unentwickelte ökonomische, kulturelle und
gesellschaftliche Lebensformen eingebunden sind, versagen
während diejenigen, die an Vergesellschaftung derWirtschaft,
Einführung
der
Schrift usw.
teilnehmen den Übergang vom
»Situationsgebundenen« zum »begriffiichen« Denken schaf
fen. Sie beweisen damit zwar, ,.daß in primitiven Lebensfor
men ein besonderes Denksystem mit eigenständiger Struktur
vorliegt«, und daß der »Wandel der ökonomischen Bedingun
gen« auch eine ,.komplexere Denkform« mit sich bringen
kann. Sie beweisen vielleicht auch daß das in dieser Denk
form sich abspielende »Behalten, Vergleichen, Verallgemei
nern Abstrahieren« und die »Herstellung von Zusammenhän
gen zwischen
Symbolen« »psychische Tätikeiten« sind,
der
eine »gesellschaftlich-historische Entstehung der Psyche« zu-
86
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
http://slidepdf.com/reader/full/colpe-carsten-ueber-das-heilige-anton-hain-1990-98pp 89/98
grunde liegt. Aber die Gültigkeit oder Richtigkeit dieser Tätig
keiten- derselben, auf der ja auch das experimentalpsycholo
gische Programm der Befrager beruht- haben die Befragten
in sich nicht heranwachsen lassen oder produziert.
3
Goethes Werke
Ausgabe Insel-Verlag,
Frankfurt/M.
1965, Bd.4,
hsg. v. H.-J. Weitz, S.47. Oder S. 37: »Sie ist mir heilig. Alle Be
gier schweigt
in ihrer Gegenwart. Ich weiß nie, wie mir ist,
wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen
Nerven umkehrte.« S.53: »Könntest du unsere Eintracht se
hen, liebe Heilige du würdest mit dem heißesten Danke den
Gott verherrlichen, den du mit den letzten, bittersten Tränen
um die Wohlfahrt deiner Kinder batest.«
4
Am
überzeugendsten
folgt dies
aus
einer zu wenig gewürdig
ten Abhandlung von lvar Paulson, Vom Wesen und aus der Ge
schichte der Religion Papers of the Estonian Theological So
ciety in Exile 2), Stockholm 1963. Mit der Übernahme dieser
historischen Sicht bleibe ich zugleich bei der Gassirersehen
Fassung des Symbolbegriffes in der Weiterführung durch Su
sanne Langer, Philosophy in a New Key Cambridge/Mass.
1942, deutsch Philosophie ufneuemWege Frankfurt/M. 1965,
weil hier ein formaler Apriorismus gewahrt wird, der über
tragbar ist
und
vorzeitige
inhaltliche Festlegungen verwehrt.
Die Erfahrung, für deren Möglichkeit damit die Bedingung ge
nannt wird, kann dann im Handeln wie im Denken darin be
stehen, daß sie einen zwar rationalen, aber vorbegriffiichen
Inhalt hat. Der Weg von da zum Begriff wäre in diesem Falle
der zur Prägung eines Wortfeldes führende, das heute siehe
Teil XV vom Begriffdes »Heiligen<< umfaßt werden kann (des
halb steht es in diesem Essay meist in»<< . Diesen frühen Pro
zeß sollte man eher >>symbolisierende« als »symbolische
Transformation<< (so
Langer S.34-6o
u.ö.)
nennen; und was
transformiert wird, sind nicht bereits »Erfahrungsdaten<<, son
dern z. B. »Sinnesempfindungen als Anzeichen der Dinge<<, so
inkonsequenterweise beides S. 51. Da Zeichen nur bezeich
nen, Symbole aber repräsentieren - vgl. H.-G. Kippenberg,
»Religionssoziologie ohne Säkularisierungsthese: E.Durk
heim und M. Weber aus der Sicht der Symboltheorie<<,
NZsThRph 27, 1985, S.177-193 -,ist oben von Repräsentation
die Rede. In den Artikeln von F.Kambartel, »Erfahrung«;
H.Holzhey, »Analogien der Erfahrung«; G.Knauss, >>Innere Er
fahrung«; H.Mey, >>Erfahrungswissenschaft<<; U.Claesges,
»Transzendentale Erfahrung«, in HWbPh 2, 1972, Sp. 609-624,
wird diese wichtige Variante des neukantianischen Erfah
rungsbegriffs nicht behandelt.
5 Ich gewinne die Voraussetzung, unter die der hier verwendete
Erfahrungsbegriff zu stellen ist, mit dem Hineinholen des
Apriori in die innere Erfahrung durch J.F.Fries. Dies und das
in
Anm. 4 Aufgezeigte
muß hier aus der früheren Forschung
vor allem Teil IV unter die Voraussetzungen aufgenommen
werden.
6 Genaueres, mit Wortmaterial aus den Quellen- und Wissen
schaftssprachen, in meinem Art. »heilig (sprachlich)<<, in
HrwG 2, 1990.
7 Kritik der praktischen Vi?rnunft
hrsg.
von K. Vorländer, Harn
burg 1952 ( 9.Aufl. 1929), S. 140 u. S. 38 ( 1. Aufl. 1787, S. 220
u.
S.
58 .
Vor
diesem Zitatist
mit dem
»Dynamisch-Erhabenen<<
siehe Teil VIII) und anderem die Sprache der Kritik der Ur-
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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teilskrajt 1. Aufl. 1790, 2. Aufl. 1793; 3· Aufl. 1799; hier nach
Hrsg. K. Vorländer, Leipzig 1924) aufgenommen.
8 Von G. König und L. Geldsetzer mit Recht als Bd. 1 und Bd. 2
1981) ihrer Neuausgabe J. F Fries, Sämtliche Schriften, Aalen
1967fl)
vor die Neue ... Kritik der U;rnunjt dort jetzt
Bd.
4-7,
1967) gesetzt. ·
g Selbstrezensionen der »Neuen (oder anthropologischen) Kritik
der U;rnunjt« von 1808 und 1829) Sämtliche Schriften 4,
1967, S.14.
10 Bd. 1: 1906, Bd. 2: 1907; 2. revidierte Aufl. beider Bände Bd. 1
außerdem um die Einleitung über die griechische Philosophie
gekürzt, Bd. 2 um wo Seiten erweitert): Ign; Bd. 3: 1920, 2.
Aufl.
1923
alles bei Bruno
Cassirer, Berlin);
ND
von
Bd.
1-3;
Darmstadt 1971; Bd. 4 zuerst englisch New Haven 1950, dann
deutsch Stuttgart 1957, ND Darmstadt 1973. Die in Teil Vund Vl
und sogar die in Teil VII referierten Forschungen sind ohne
Auseinandersetzung mit Cassirer vonstatten gegangen und
haben die Neufassungen des Erkenntnisproblems seit Fries
auch sonst nicht berücksichtigt, obwohl »das Heilige« als eine
Art Erfahrungs- oder Erkenntnisgrund oft zwischen den Zei
len steht.
n Julien Ries, Le sacre comme approche de Dieu et comme res-
source de l homme, Louvain-la-Neuve 1983, S.7; ders. Hrsg.),
L expression du sacre dans l s grandes religions, 3 Bde., Lou
vain -la-Neuve 1978-1986.
12 Erschienen Paris 1864, ND in 1 Bd. ebd. 1927, in 2 Bden. ebd.
1g8o; deutsche Übers. von P.Weiss I.-M.Kreffi: Chr. Marek Der
antike Staat, Stuttgart 1981, mit wichtiger Einleitung von
K.Christ.
13
Zur
religionsgeschichtlichen Frage, die in diesem Essay ganz
am Rande steht, nur folgende Bemerkung, Ulll Mißverständ
nissen vorzubeugen: Wenn alle Religionen auf den gemein
samen Nenner »des Heiligen• gebracht werden, entsteht ge
schichtslose Vereinerleiung; besteht man, um das Heilige
»nachzuweisen<<, auf einer einschlägigen Terminologie, ent
steht historischer Positivismus. Es gilt, einen Mittelweg zu fin
den. EinAnsatz dazu findet sich z. B. schon in Schleiermachers
fünfter
Rede
über
die Religion,
wo
er
über
die
»vorgezogene•,
»herrschende<< oder »Zentralanschauung• der einzelnen Reli
gion spricht Ausgabe siehe Amn.42, dort S. 176f.), wenn er da
mit auch eine der möglichen Formen der »Anschauung des
UniversUllls« meinte, welche nach der zweiten Rede der »Mit
telpunkt• der Religion überhaupt ist a. a. 0., S.48-64).Aber es
ist damit möglich geworden, für jede Religion eine Siffilffiitte
Rudolf Otto: »Sondergeist<<, siehe Teil XV) zu suchen, wie es
de facto ja auch die religionsgeschichtliche Einzelforschung
anstrebt. Daß diese für
die
römische
Religion,
unerachtet ih
rer Heiligkeitsterminologie und deren Einfluß auf die heu
tigen Wissenschaftssprachen, nicht das Heilige ist, zeigen
ungewollt z.B. WolfAly, »Über das Wesen der römischen Reli
giosität•, ARW 33, 1936, S.57-74, und Marcel Le Glay, La reli-
gion romaine, Paris 1971. Aly verweist zu Anfang S. 59 Anm. 2)
auf Otto, Das Heilige siehe Teil VII), und hat damit, wie es sich
gehört, das Numinose, Heilige o. ä. als das hinter allem Lie
gende aufgewiesen, sieht aber dann dasWesen der Religion der
Ackerbürgerstadt Rom
in der
kalendarischen
Ordnung, die ge
rade nicht wie ein Sacrum von einem projanum getrennt ist.
88
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Le Glay S. 11 Anm. I geht von einer Definition Eliades siehe
Teil XII) aus •Le sacre = le reel par excellence, a a fois puis
sance, efficience, source de vie et de fecondite•) und kümmert
sich dann im ganzen Buch, das sonst gute Darstellungen von
Institutionen
und
Entwicklungen enthält, nicht mehr
darum.
Beide Autoren überlassen es dem Leser, jeweils •das Heilige<<
herauszudestillieren, und zwingen ihn damit, sich ein ganz
verzerrtes Bild zu machen, gerade weil die Heiligkeitstermi
nologie innerhalb des römischen Ritualsystems noch etwas
Besonderes meint. Nimmt man eine solche Terminologie zum
Anlaß, das Heilige zum universalen Interpretament zu ma
chen, kann es zu einem Titel kommen wie Haralds Biezais,
•Die heilige Entheiligung des Heiligen•, in: H. P Duerr Hrsg.),
alcheringa oder die beginnende
Zeit
Festschrift
für Mircea
Eliade), 1983, S.165-189, den ich als nicht mehr aussagekräf
tig empfinde derTitel wird klar aus dem Schluß desAufsatzes,
wo die Zerstörung der Wohnstätten lettischer Hausgötter
durch einen lutherischen Pfarrer i.J. 1856 beschrieben wird).
Biezais beantwortet im übrigen eingangs die Frage, ob •der
Begriff des Heiligen als eine Kategorie von universaler Gültig
keit anzusehen<< ist S. 165), ähnlich kritisch wie ich. Daß diese
Kategorie
damit ganz hinwegdisputiert wird,
braucht
man
nicht zu befürchten. Im alten China fehlt •das Heilige<< zwar
ganz, aber im alten Rom und im alten Hellas macht es einen
wichtigen Teilbereich aus und fächert sich vielfach auf, und
im alten Israel ist es zentral. Man braucht es Rudolf Otto des
halb gar nicht immer mühsam nachzuweisen, daß er •als
Theologe• die Religionen mit jüdisch-christlichen Begriffen
miß)interpretiere. Otto ist sich darüber bis in den Sprachge
brauch hinein klar in Das Heilige S. 15 sagt erz.B. unumwun
den:
•Im Deutschen haben wir das
>Heilige<
dem
Sprachge
brauch der Bibel nur nachgebildet.«). Mehr dazu bei Biezais S.
171-173·
14 So verkürzt aus R.H. Codrington, The Melanesians Oxford
1891 S. u8 f. übersetzt von G. van der Leeuw, Phänomenologie
der Religion 4.AuflageTübingen 1977 S.4 hier= 1.Aufl. 1955)
und mit dem oben als übernächstem folgenden Satz interpre
tiert. P Radin, Die religiöse rfahrung der Naturvölker Zürich
1951 macht S. 12 f und S. 120 Amn. 5 auf die Auslassungen auf
merksam und
zeigt,
daß van
der Leeuw
die endgültige Theo
rie Codringtons von 189Iim Sinne eines von diesem 15 Jahre
früher 1878) an Max Müller geschriebenen Briefes entstellt.
Codrington zitiert diesen offensichtlich, um zu dokumentie
ren, wie anerkennenswert schon diese seine ältere gegenüber
der dann im Buchkapitel entwickelten war.) Dementspre
chend kritisiert Radin inhaltlich van der Leeuw und so auch
Cassirer, ohne aber bei letzterem die Verwendung falscher Hy
pothesen und überholter
Informationen,
die
ja
auch einem
transzendental ansetzenden Neo-Kantianer widerfahren
kann, von seiner natürlich ebenso auf zuverlässiges Material
anwendbaren Methode zu unterscheiden. Neuere Forschung:
H.-J.Greschat, Mana und Tapu. Die Religion der Maori auf
Neuseeland Berlin 198o; F Steiner, Taboo Harmondsworth
1967.
15 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen Bd. 2 2. Aufl.
Darmstadt 1955 S.96f. Nach diesem distanzierten Referat
folgt
eine
Kritik
an der
damals üblich gewordenen
Bestim
mung des Mana-Begriffs.
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16 DeutscherTitel des in der übernächsten Anmerkung genann
ten Hauptwerkes von 9 ~ 2 gleich folgender Text darin S.5o-
53). Die dort kritisierte Ubersetzung ist auch an dieser Stelle
= S. 62-65) mit Vorsicht zu genießen, deshalb oben mehrfach
verändert.
Wer französisch
ungern
liest, ist
mit der
amerikani
schenAusgabevon JosephWard Swain, The Elementary Forms
ofReligious Life NewYork 1915 ND NewYork u. London 1965;
Text hier S. 52-54 immer noch am besten bedient.
17 Französisch S. 304, englisch S. 243, deutsch S. 293·
18 Emile Durkheim, Lesformes etementaires de la vie religieuse
Ausg. Paris 1968,S. 50; deutsche Übers. vonL. Schmidts, Frank
furt 1981, S. 62: »Alle bekannten religiösen Überzeugungen,
wie
einfach
oder
komplex sie
auch
seien,
haben den
gleichen
Zug: Sie setzen eine Klassifizierung der realen oder idealen
Dinge, die sich die Menschen vorstellen, in zwei Klassen, in
zwei entgegengesetze Gattungen voraus, die man im allge
meinen durch zwei
unterschiedliche
Ausdrücke bezeichnet
hat, nämlich durch profan und heilig. Die Aufteilung der Welt
in zwei Bereiche, von denen der eine alles umfaßt, was heilig
ist, und der andere alles, was profan ist: das ist Unterschei
dungsmerkmal des religiösen Denkens: die Überzeugungen,
die Mythen, die Erd) Geister, die
Legenden sind entweder
die
Darstellungen oder die Systeme von Darstellungen, die die
Natur der heiligen Dinge ausdrücken, die Tugenden und die
Kräfte, die ihnen zugeschrieben werden, ihre Geschichte, ihr
Beziehungen untereinander und mit den profanen Dingen.«
Diese Übersetzung muß zitiert werden, um deutlich zu ma
chen, wie mit der Auslassung der Relativkonstruktion »que
traduisent assez bien les mots ...«, die ein Korrelat zu »que se
representent les hommes« ist, die Eigenart der Benennung
von
Eigenschaften
durch
Begriffsübersetzung
neben der ganz
anderen Gesetzen unterliegenden phänomenologischen Na
mengebung unkenntlich wird. Außerdem ist der französi
sche Druckfehler »gnogmes« - statt »dogmes«, so die älteren
Ausgaben; oben berichtigt- als »gnomes« gedeutet worden.)
19 Die Kritik von Claude Levi-Strauss, Das Ende des lbtemismus
1962), Frankfurt 1965, wird hier nicht weiter verfolgt, weil es
diesem nur um dasTotem, nicht um das Heilige geht, das ja bei
Durkheim zu einem
Oberbegriff wird,
unter den außer dem
Totem
auch noch andere
Dinge fallen.
20 J.-J.Rousseau, Gontrat Social ou Principes du Droit Politique
Paris o.J. Librairie Garnier Freres), S. 331. 334f. Übersetzung
in Anlehnung an J.-J-R., Politische Schriften 1, übers. von
L.Schmidts, Paderborn 1977 UTB 667), S.201. zo6f.
21 Gut informiertT.Schöfthaler, Civil Religion in: EKL I, Göttin
gen 1986, Sp. 754-761.
22 Mehr bei a a r d ~ n b u r g wie Anm. o), Bd. 2: Bibliography. Texte
der
drei
in
der
Überschrift
Genannten bei
Colpe wie Anm. o ),
S. zg-u6.
23 Ges. Schriften 14: Leben Schleiermachers 2 Bde. hrsg. von
M.Redeker, Berlin u. Göttingen 1966.
24 Nachweise zu Söderblom bei Biezais S.166-169; zum oben zi
tiertenWort dort S. 181 Anm. 21. Der lebendige Gott im Zeugnis
der Religionsgeschichte München 1942) ist ein Verlegertitel.
25 E. Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie
Berlin 1904; Psychologie und Erkenntnistheorie in der Reli-
gionswissenschaft
Tübingen
1905;
ur
Frage des religiösen
Apriori 1909), in: Ges. Schriften 2, Tübingen 1922 ND Aalen,
go
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
http://slidepdf.com/reader/full/colpe-carsten-ueber-das-heilige-anton-hain-1990-98pp 93/98
1961), S. 754-768; Der Historismus und seine Probleme= Ges.
Schriften 3 wie 2), S. 371-464: Die historische Dynamik des
Positivismus: St. Simon, Comte, Mill, Spencer, Fouillee, Her
bartianer, Wundt; Zur Religionsphilosophie. us nlaß des Bu
ches
von
Rudolph Otto über
» as
Heilige«,
in: Karrt
-Studien
23,
1919, s.Gs-76.
26 R. Otto, Vom
J Jlege, in: Die christliche Welt 25, 19u, Sp. 705-710,
dort Sp. 709.
27 Eine Darstellung kann so ausführlich, wie es nötig wäre, an
dieser Stelle nicht erlolgen. Verwiesen sei auf die Behandlung
der drei oben genannten hebräischen Grundwörter von
W.Kornfeld/H.Ringgren, ThWbAT 6, 1989, Sp. u79-1204;
W.Dommershausen,
ThWbAT
2,
1977, Sp. 972-981;
N.Lohfink
ThWbAT 3, 1982, Sp. 192-213.
28 Erschienen in ThR 13, 1910. Neufassung von 1932 abgedruckt
bei Colpe S. 257-501, danach zitiert.
zg Ich halte mich an Formulierungen in der ausgezeichneten
Untersuchung von H.-W. Schütte, Religion und Christentum in
der Theologie Rudolf Ottos ThBT 15), Berlin 1969, S.45-6o;
dort S. 50 auch die Nachweise zu Troeltsch und Tillich.
30 Die gekennzeichneten Worte passim bei Otto in ThR 13 wie
Anm. 28
und in
Das Heilige.
Beobachtungen
zur
Terminolo
gie: U.Bianchi, »Uuso delle parole >religione< e >sacro<<<, in: AF
1974, S. 87-98. Texte von Feigel und Caillois bei Colpe S. 380-
405 und 447-460.
51 Svend-Aage Jorgensen, »Klassische Romantik der Dänen«, in:
K.R.Mandelkow Hrsg.), Europäische Romantik I NHL 14),
Wiesbaden 1982, S.461-481, dort S.465; Jochen Schmidt, Die
Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur
und
Politik
I7JO-I94J, Bd.
1, Darmstadt
1985,
S.
61-68
u.
pas
sim; H.Emmel, »Empfindsamkeit«, HWbPh 2, 1972, Sp. 455f.
52 August E.Hohler, Das Heilige in der Dichtung.Klopstock/Der
junge Goethe, Zürich 1954.
55 Isabella Papmehl-Rüttenauer, Das Wort HEILIG in der deut
schen Dichtersprache von Pyra bis zum jungenHerder, Weimar
1957, s.so.
54 NHL 14 wieAnm. 51), S. 198,215,455, 465ff., 471; K.Heitmann
(Hrsg.),Europäische Romantikll NHL 15), S. 53f., 50, 175, 185.
55
P
Tillich,
Systematische Theologie
I,
Stuttgart
1956,
S.
196-198
und 251-254. Die beiden folgenden Zitate dort S. 251 und S. 197.
56 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen, Griechisch und Deutsch
von R.Brandt TF 37), Darmstadt 1985. Zum »ungeheuren<<
Einfluß dieser Schrift siehe dort das Vorwort S.23-26 und
R.Sühnel, »Pietas Litterata: Das Vorbild der Antike«, in: H.
J.Müllenbrock Hrsg.), EuropäischeAujklärung II NHL 12),
S.55-90, dort S.56f., sowie mehrlachirr deninAnm. 51 und 54
genannten
Werken.
57 Das Heilige S. 21 f., 27f., 35 u. ö. Benutzt ist die 51. bis 55· Auf
lage, München 1965.
38 C.G.Jung, Aion. Untersuchungen zur Symbolgeschichte, Zü
rich 1951 darin »IV. Das Selbst<<, S. 44-62). Hier zitiert nach:
Gesammelte Werke Bd. 9 2 Untertitel im Einverständnis mit
dem Autor abgewandelt zu Beiträge
zur
Symbolik des Selbst),
Freiburg 1976, S. 57·
39 G. Schmid,lnteressant und heilig, Zürich 1971.
40
W.
Burkert,
»Glaube
und
Verhalten.
Zeichengehalt
und
Wir
kungsmacht von Opferritualen<<, in: J. Rudhardt und 0. Rever-
91
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
http://slidepdf.com/reader/full/colpe-carsten-ueber-das-heilige-anton-hain-1990-98pp 94/98
din (Hrsg.), Le sacrifice dans l antiquite Entretiens Fondation
Hardt 27), Vandoeuvres-Genf 1981, S. 91-125, dort 105f. und 114.
41 Früherer Titel: Gotha 1925, späterer Titel: München 1951. Zu
Troeltsch
und
Tillich
siehe
Anm.
25
und
29, Text
von
Geyser bei
Colpe S. 502-556.
42 Einleitung zu Fr. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an
die Gebildeten unter ihren T-erächtern (Berlin 1799), hrsg. von
R. 0., 5· Aufl. Göttingen 1926 (ND 1967), S.15.
45 Walter Baetke, Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942,
Zweiter Teil (S.47-226). Der erste Teil S.1-46) ist in dem in
Anm. o zitierten WF-Sammelband wieder abgedruckt S.557-
579).
44 So z.B.
Hohler
(wie Anm. 52)
S.
54-45:
•Das
Heilige
als das
Ganze.« Im übernächsten Absatz ist gedacht an C. Schmitt, -
setz und Urteil (1912), 2. unveränd.Aufl. München 1969.
45 Dafür wäre methodologisch einzubeziehen das noch unaus
gewertete Spätwerke von E. Husserl, Die Krisis der europäi
schen Wissenschaften unddie transzendentale Phänomenologie
Husserliana 6, hrsg. von W. Biemel), den Haag 1976.
46 Das folgende ist verpflichtet der Arbeit von A.Diemer, •Die
Trias Beschreiben, Erklären, Verstehen
in historischem und
systematischem
Zusammenhang<< in: ders. (Hrsg.),
Der Metho
den- und Theoriepluralismus in den Wzssenschajten, Meisen
heim 1971, S. 5-24, insbesondere dem Endlichkeitspostulat
•Nur in den Grenzen der Phänomengegebenheit sich bewe
gen<< S. 15). Das Inhaltliche mußte sehr kurz ausfallen, Nach
weise hier genauso kurz: M. Mauss, Die Gabe (französ. 1925),
Frankfurt 1968; J. G. Frazer, Der goldeneZweig (engl. Kurzfas
sung 1922), Köln- Berlin 1968; S.A. Tokarew, Die Religion in
der Geschichte der Völker,
Berlin
1976;
Wilhehn Wundt siehe
Teil VI, dazu M. Douglas, Reinheit und Gefährdung (engl.
1966), Frankfurt 1988; S. Freud, Studienausgabe, hrsg. v A. Mit
scherlieh u.a., Bd. 9: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der
Religion, Frankfurt 1974; R. Girard, Das Heilige und die Gewalt
(französ. 1972), Zürich 1987; Titel von A.Lang (1844-1912), W.
Schmidt (1868-1954), E.B.'fYlor (1852-1917), R.R.Marett
(1866-1943), K.Th.Preuß (1869-1958) bei F.Gölz, Der pri
mitive Mensch und seine Religion, Gütersloh 1965, S. 12-89;
von
J.
T.
Beck ( 1804-1878)
bei
E. Hirsch,
Geschichte der neuren
evangelischen Theologie Bd. 5, Gütersloh 1951, S. 150-140 u.
217-220; A. SchlaUer (1852-1958), Das christliche Dogma 2.
Aufl. Stuttgart 1925, §§ 85-85; G. W. Stocking, •Codrington,
R.H. (1850-1922), in: ER 5, 1987, S. 558; J.Waardenburg,
»Leeuw, Gerardus van der<< ( 1840-1950 , in: ER 8, 1987, S. 495-
495· (Siehe auch Anm. 14); Text von S. Acquaviva bei Colpe
s. 461-491.
47 Dieser Teil methodisch ebenfalls nach Diemer siehe vorige
Anm.),
inhaltlich
u. a.
nach
C. Colpe,
>>Ekstase<<,
in: EKL 1,1986,
Sp. 1007-09; E. 0. James, The Cult oftheMother-Goddess, New
York 1959; J.F. Sprockhoff, >>Die Alten im alten Indien«, in: Sae
culum 50, 1979, S. 574-455; P Brown, Religion and Society in
theAge ojSt.Augustine, NewYork 1972.
48 Ioan P.Culianu, Mircea Eliade, Assisi 1977; Donglas Allen,
Structure and Creativity in Religion. Hermeneulies in Mircea
Eliade s Phenomenologyand newDirections RR 14), Den Haag
1978. Festschriften siehe oben Anm. 5 sowie H.-P.Duerr
(Hrsg.),
Die Sehnsucht nach
dem
Ursprung,
Frankfurt/M. 1985;
ders. (Hrsg.), Die Mitte der l t Frankfurt M. 1984. Die oben
92
7/25/2019 Colpe, Carsten - Über das Heilige (Anton Hain, 1990, 98pp)
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geführte Auseinandersetzung is t eingegangen in C. Colpe, »Sa
cred and the Profane, The«, in: ER 12, 1987, S. 511-526 Passa
gen aus S. 515, 519, szof., 521-523 sind hier in die TeileVII, V XI,
X übernommen). Eliade hat diesen Artikel als Herausgeber
vor seinem
Tode
22.
April1986)
noch
approbiert.
Seine
eigene
Position faßten er und L. E. Sullivan unter »Hierophany<< in: ER
6, 1987, S. 313-317 zusammen, während die Sicht von Rudolf
Otto von W.G.Oxtoby unter >>Holy, Idea ofthe<<, ebendaS. 431-
438 dargestellt wurde.
49 D. Kamper/Chr. Wulf, Das Heilige. Seine Spur in der Moderne,
Frankfurt 1987. Unter dem Titel •Die wissenschaftliche Be
schäftigung mit >dem Heiligen< und >das Heilige< heute<< war
ein Grundstock des hier vorgelegten Essays das erste Kapitel
des
ersten
Hauptteiles
•Der Einspruch der
Wissenschaften•
S. 33-61).
50 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2:
Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981,
s 69-170.
51 Ansgar Paus, Religiöser Erkenntnisgrund. Herkunft undWesen
derAprioritheorieRudoifOttos, Leiden 1966.
52 Ausgezeichnet A. Dihle, •heilig<<, in: Reallexikon für Antike
und Christentum 14, 1988, Sp. 1-62; M. Lattke, >>Heiligkeit III«,
in:
Theologische
Realencyclopädie
14,
1985,
S.
703-708.
53 G. van der Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957
Übers. von Wegen en grenzen. Studie over de verhouding van
religie en kunst, Amsterdam [zuerst 1932, revidierte Aufl. 1948
und] 1955). Eine wissenschaftstheoretisch auf den Punkt ge
brachte Darstellung dieser Methode, Phänomenologie zu trei
ben, gibt H.G.Hubbeling, Divine presence in ordinary life
Ge-
rardus van der Leeuw's twofold method in his thinking on art
and
religion
(Mededelingen
der
koninklijke NederlandseAka
demie van
Wetenschappen, Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks
9h ), Amsterdam/Oxford NewYork 1986.
54 Rudolf Otto, V Schnu-Narayana, 2. Aufl. Jena 1923, S. 220-222.
55 H. Cancik, •Nutzen, Schmuck und Aberglaube. Ende und
Wandlungen der römischen Religion im 4· und 5· Jahrhun
dert«, in: H. Zinser (Hrsg.),Der Untergangvon Religionen, Ber
lin 1986, S. 65-90, zifiert S. 77 diese Stelle für die Ästhetisie
rung und Entsakralisierung von Bauten und Statuen.
56
Französ.
S.
120,
deutsch
S. 124;
siehe
J.P.Brereton,
>>Sacred
Space•, in: ER 12,1987, S. 526-535; B.C.Sproul, •SacredTime•,
ebendaS. 535-544.
57 Bazon Brock, >>Der Hang zum Gesamtkunstwerk•, im Katalog
Der Hang zum Gesamtkunstwerk, Aarau und Frankfurt Main
1983, S. 22-39, bes. S. 22ff. (interessante Hinweise auch in an
deren Beiträgen dieses Katalogs); C. Colpe, •Zur Bezeichnung
und Bezeugung des Heiligen Krieges•, BThZ 1, 1984, S. 45-58.
189-214.
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»Der Fuchs w iß vi l Dinge
aber der Igel
w iß in große Sache.«
Archilochos
or derZukunft sindwirgemeinsam dumm
In dieser Situation scheint es ratsam den Sinnjfir das
Mögliche zu schärfen unddie Gedanken an ihrenFolgen zu
messen. Anstöße
dazu
möchte diese Reihe der Thesen
und Ideen geben.
NUMMER 1 S0REN KIERKEGAARD DER EINZELNE
»In diesen Zeiten ist alles Politik«: Gedan-
ken eines Einzelnen über seine Wirksam-
keit als Schriftsteller.
NUMMER z PETER SCHNEIDER: DER BÜRGERSTAAT
»Helft
euch
selbst
Gerechtigkeiterwartet
nicht vom König.« Ein Jurist
über
Recht
und Staat Widerstand und Bürgerpflicht in
Schillers Wllhelm Tell.
NUMMER 5 CARSTEN COLPE: ÜBER DAS HEILIGE
Der Ort des Heiligen in der entzauberten
Welt: Über die wissenschaftliche Bewälti-
gung eines irrationalen Phänomens.
NUMMER 4 PHILIPPE ARlES
GESCHICHTE IM MITTELALTER
n der Zeit als Treue die vornehmste
Tugend war und Gewohnheit Recht
begründete
warenJetzt lind Damals eng
verbunden
NUMMER 5 WOLFGANG EICHHORN: _
DAS MAGISCHE NEUNECK
Umwelt und Sicherheit in einer
Volkswirtschaft
Vom klassischen Viereck derVolkswirt-
schaftslehre zum magischen Neuneck:
ökonomische Modelle
und
wirtschaftspoli-
tische Ziele.
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NUMMER 6 ROLF-PETER HORSTMANN:
WAHRHEIT US DEM BEGRIFF
Der Begriff des Hundes bellt- natürlich
nicht.
Eine Einführung in
Hegels Pro
gramm derwissenschaftlichen Erkenntnis
der Wahrheit.
NUMMER 7 K RL M RKUS MICHEL:
GESICHTER
Physiognomische Streifzüge
Das Gesichterlesen ist unsere Leiden
schaft
aber nicht unsere
Stärke.
Der
wis
senschaftliche Eifer von einst das Gesicht
zu vermessen um den Menschen zu
ermessen ist längst verflogen. Doch
unbeirrt halten wir daran fest: Gesichter
sind verräterisch.
NUMMER 8
IS I H
BERLIN:
DER NATIONALISMUS
Heute scheint eine politische Bewegung
nur dannAussieht auf Erfolg zu haben
wenn sie sich mit dem Nationalgefühl ver
bindet. Überlegungen zur Macht des
Nationalismus.
NUMMER g MICHAEL POLLAK:
R SSENW HN UND WISSENSCHAFT
Thesen zur Entstehung der unheilvollen
Allianz zwischen Anthropologie Biologie
und Recht im Nationalsozialismus.
NUMMER 10 STEPHEN MENNELL:
DIE MEISTERKÖCHE
Wie der Feinschmecker seinen Meister
koch fand und die französische Küche die
teuren Restaurants eroberte.