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DANIEL TWARDOWSKI Das blaue Siegel

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Daniel TwarDowski

Das blaue siegel

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Buch

indien 1866: Der amerikanische Detektiv John Gowers soll die rätselhaf-ten Morde aufklären, die das königshaus der oudh erschüttern. Durch die ermordung des letzten Prinzen der Familie, der unter falscher identität in Delhi lebte, wurden fünf Jahrhunderte Mogulherrschaft an einem Tag be-endet. Die einzigen Überlebenden sind die alte königin Zinat Mahal Be-gum und deren nichte und schwiegertochter Zamani von oudh, die keine

weiteren nachfahren mehr bekommen können.Gowers übernimmt den Fall, und damit beginnt für ihn eine abenteuerli-che reise, die ihn quer durch indien und nach lakhnau, zur alten residenz der oudh, wo Zamani lebt, führen wird. als Unterstützung wird ihm die hübsche Dienerin ishrat zur seite gestellt, der er schon bald näherkommt, obwohl er ihr nicht traut. kurz darauf entgeht er jedoch nur knapp einem Mordanschlag. Gowers kann erkennen, dass der potentielle Mörder ein ein-tätowiertes blaues Zeichen am Hals trägt, das Zeichen der Gwalior-Dynas-

tie, der erzfeinde der oudh.John Gowers glaubt nun, die richtige spur gefunden zu haben, denn es ist offensichtlich, dass die Familie der Gwalior hinter den Morden steckt. aber die genauen Hintergründe der Taten bleiben Gowers zunächst verborgen.

Und so bringt er sich – und seine auftraggeber – in tödliche Gefahr …

Autor

Daniel Twardowski, geboren 1962, studierte literatur- und Medienwissen-schaften. nach diversen Tätigkeiten, unter anderem als Universitäts-Do-zent, lebt der autor heute als freier schriftsteller in Marburg. 2003 erhielt er den Förderpreis zum literaturpreis ruhrgebiet, 2005 das DaimlerChrysler-stipendium der Casa di Goethe in rom, 2006 den oberhausener literatur-preis und 2007 den Deutschen kurzkrimipreis für »nachtzug«. Für seinen ersten John-Gowers-roman, »Tod auf der northumberland«, wurde er für den Glauser-Preis nominiert. Daniel Twardowski wird von der agentur-

literatur Gudrun Hebel vertreten

Von Daniel Twardowski außerdem bei Goldmann lieferbar:

Tod auf der northumberland. roman (46776)

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Daniel TwardowskiDas

blaue siegelroman

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Zert.-Nr. SGS-COC-001940

Verlagsgruppe random House fsc-deu-0100Das fsc-zertifizierte Papier München Super für dieses Buch

liefert arctic Paper Mochenwangen GmbH.

originalausgabe august 2010Copyright © 2010

by wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe random House GmbH

Umschlaggestaltung: Uno werbeagentur MünchenUmschlagfoto: Porträt von Casimir Perier (1777–1832),Gemälde, anonym, Musée de la révolution Française,

Vizille ©Bridgemanart.comredaktion: Gerhard seidl

BH · Herstellung: str.satz: omnisatz GmbH, Berlin

kartografie: e-map studio, Margret PrietzschDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyisBn: 978-3-442-47144-7

www.goldmann-verlag.de

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The red Mist of Doing has thinned to a cloudrudyard kipling, A Song of Kabir

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Pr. Albert Halbinsel

Prince ofWales Island

Somerset

Island

Devon

Boothia

KingWilliam Island

Leopold I.

Princess Royal I.

PrincePatrick L.

Wollaston Halbinsel

Victor ia Is land

BanksIs land

MelvilleBathurst

ByamMartin I. Cornwallis

Island

DundasHalbinsel

Island

Island Island

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851

HMS Investigator 1853/54

HMS Enterprise 1852/54

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Pr. Albert Sound

Minto Inlet

Simpson Strait

Walker Bay

Bay of Mercy

Pr i

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Dease Strait

Coronation Gulf

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Wynniat Bay

Dolphin & Union Strait Cambridge Bay

Armstrong Pt.

Hay Pt.

Hearne Pt.Winter Harbour

Kap Walker

Dealy I.

Berkeley Pt.

Russell Pt.

Pemmikan Pt.

Kap P. RichardsPt.

Kap WollastonKap Nelson Head

Kap Kellett

Kap Alfred

Kap Hotham

BeechyIsland

Kap Bathurst

0 100 200 300 km

Die Nordpassage 1850 - 1854

N

OW

S

Die hellgrau dargestellten Bereiche waren Mitte des 19. Jhd. noch unerforscht

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Pr. Albert Halbinsel

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HMS Investigator 1853/54

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Die Nordpassage 1850 - 1854

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Die hellgrau dargestellten Bereiche waren Mitte des 19. Jhd. noch unerforscht

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Gandak

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Kalkutta/R

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Su r a t /Bombay

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Meerut

AsiwanFarackabad

Ethawa Sarai

Kanpur

Agra

Jaunpur

Dehli

Benares (Varanasi)

Patna

Mughal

Lakhnau

Gwalior

Allahabad

Faizabad

Mirmau

Gaghara

Gomati

Gaghara

Djumna

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PRADESH

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Old Trunk Road

0 50 100 150 km

Indien 1866

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Teil eins

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1.

Für jemanden, der auf ein schiff nach england wartete, war das Gefängnis von Delhi ein ausgesprochen unpassender auf-enthaltsort. es lag außerhalb der stadtmauer, an der straße, die in die nördlichsten ausläufer der aravalliberge und von dort in die wüste Tharr führte.

John Gowers hatte im Büro des kommandanten nur ei-nen kurzen Blick auf die karte werfen können, die über dem schreibtisch und neben dem Porträt königin Viktorias hing, sich aber diese Gegebenheiten mit dem sicheren instinkt des ausbrechers eingeprägt. Vor ihm, über die lächerlich nied-rige Mauer und die straße hinweg, ragte die Zitadelle von Feroz schah in einen wolkenlosen Himmel. Dahinter lagen die Djumna und eine Flussfahrt von rund tausend Meilen bis nach kalkutta.

obwohl er kein riese war, überragte Gowers die beiden sepoys, die ihn abführten, um fast eine kopflänge. ohne dass es ihm anzusehen war, zählte er seine schritte, während sie gingen, und registrierte sogar, dass ein offensichtlich lausiger Baumeister die Gänge, durch die man ihn führte, nicht recht-winklig hinbekommen hatte. Über mehrere Treppen mit stark ausgetretenen stufen ging es weit hinunter, und er fürchte-te schon, in irgendein unterirdisches Verlies aus der Mogul-zeit geworfen zu werden, als man ihn plötzlich wieder trepp-auf führte. wollten sie ihn verwirren, oder kannten sich diese kerle hier am ende selbst nicht aus? in seinem kopf nahm

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die risszeichnung des weitläufigen kerkers jedenfalls immer deutlicher Gestalt an.

auf der nächsten der schwach beleuchteten Treppen stol-perte er, fiel gegen den kräftigeren seiner beiden Bewacher und hielt eine sekunde später etwas in der Hand, das er zu-nächst für einen leeren Tabaksbeutel hielt, dann aber als die Geldbörse des offenbar mehr als dürftig besoldeten Mannes identifizierte.

sie bogen noch um einige ecken, bis die sepoys offen-bar glaubten, ihren Gefangenen zur Genüge irregeführt zu haben. Gowers wusste, dass er sich jetzt beinahe wieder zu ebener erde und ziemlich genau in der nordwestlichen ecke des Gefängnisses befand. eine Viertelmeile hinter der hier beginnenden rückwärtigen Mauer lagen die ruinen des alten Delhi, von Tamerlan oder sonst einem Großen der Geschich-te asiens in den jetzigen kläglichen Zustand versetzt. Dort musste ein halbwegs geschickter Mann sich eigentlich auch bei Tage gut verbergen können.

ein niedriger, langgestreckter saal, nicht unähnlich den englischen schuldgefängnissen des 18. Jahrhunderts, erwar-tete ihn. Der erbärmliche Gestank einer eingesperrten Men-schenmenge schlug ihm entgegen, und in wenigen sekunden musste er all seine Pläne entsprechend ändern. Hier bewach-ten die Gefangenen einander gegenseitig, ähnlich wie damals in andersonville. aber dort musste man nur die eingeschleus-ten spitzel und gedungenen Zuträger fürchten und war an-sonsten unter den kameraden der nordarmee.

Hier dagegen gab es nicht einmal richtige kriminelle, mit denen man Geschäfte hätte machen können. stattdessen glücklose räuber oder ungeschickte Diebe, allzu aufdring-liche Bettler und tatsächlich schuldner, gepfändete Bauern; darunter, zu seinem ungläubigen erstaunen, auch Frauen und

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Mädchen, zahlreiche kinder, Gefangene in der zweiten Ge-neration sozusagen.

Gowers’ Überraschung resultierte daraus, dass es, abgesehen von den spanischen sklavenschiffen, in den Gefängnissen der zivilisierten westlichen welt schon seit hundert Jahren keine räumlichkeiten mehr gab, die Männer und Frauen sich tei-len mussten. Zu wüst waren die ausschreitungen gewesen, die dort vorgekommen waren. Hier jedoch machte das kas-tensystem, das er immer noch nicht völlig durchschaut hatte, viele der Frauen ohnehin unberührbar.

Dies alles kam ihm nicht sehr entgegen, schon weil er auf den ersten Blick ein Viertel der insassen für spitzel hielt, die ihn, den Nasrany, den Ungläubigen, natürlich besonders im auge behalten würden. Verbindlich lächelnd zog er deshalb die jetzt schon etwas besser gefüllte Börse des aufsehers her-vor und reichte sie dem völlig verdutzten Mann mit den wor-ten: »Das haben sie wohl verloren, mein lieber. ich wäre ih-nen übrigens dankbar, wenn sie in nächster Zeit den amerika-nischen konsul aufsuchen und von meiner lage in kenntnis setzen könnten. es wird ihr schaden nicht sein.«

Dann schloss sich die kleine Tür klirrend, und John Gowers war so allein, wie es ein weißer Mann unter den gegebenen Umständen nur sein konnte.

2.

Die Jagd hatte raksha, die Dämonin, weit weg geführt von ihrem lager in den Hügeln über dem Fluss. weit weg von den fetten grünen Tälern hatte sie getötet, ihren Hunger gestillt. sie schleppte noch an den Überresten des kleinen Bocks, trug ihn für ihre kinder, als sie es roch. Verbranntes

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Gras, dessen asche,der wind ihr entgegentrug auf dem weg zum Fluss.

ihr graues Haar sträubte sich, als sie immer tiefer in den üblen wind hineinlief, den Gestank, der schnell zu rauch wurde und ihre sinne betäubte. Bald würde es nur noch diesen Gestank geben, würde sie nichts sonst mehr riechen können in der welt, keine Beute und keinen Feind. Dennoch ließ sie den Bock nicht los, dessen Blut längst geronnen war in dem jämmerlich kurzen Fell und der nichts mehr von den Hügeln wusste, in die raksha ihn trug.

sie hatte schon einmal brennendes Gras gerochen, in ihrer Jugend, und wusste, dass es die Bauern waren, die das land verbrannten bis an die wurzeln, bis die Hügel kahl waren und so grau wie rakshas Haar. Damals waren sie einfach fort-gelaufen, rasch wie schatten und weit in den wald von Teriani hinein. niemand war zurückgeblieben, auch die alten nicht. aber diesmal wusste sie, fühlte, dass ihre kinder noch nicht so weit und schnell laufen konnten.

als sie den Fluss sah, rot glänzend in der untergehenden sonne, ließ sie die Beute fallen. sie kannte das land nicht mehr, stutzte. ihre goldenen augen suchten die Hügellinien, die Bäume, Merkzeichen. Das land blieb fremd und grau in der Dämmerung. langsam lief sie los. Hinter ihr fielen die Geier aus dem Himmel wie große steine, stürzten sich auf den Bock, den raksha geschlagen hatte. sie kümmerte sich nicht darum, das Hacken, reißen, das heisere Geschrei.

Der Boden unter ihren nackten Füßen wurde heiß, brann-te noch hier und da in kleinen, kriechenden Flammen. asche drang zwischen ihre Zehen bei jedem schritt. Dann sah sie den schakal, der mit blutigem Maul davonschlich, den schwanz eingeklemmt, lief, was er laufen konnte, vor rakshas Zorn. Und nun waren die Geier auch vor ihr. wo die Höhle

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gewesen war, lag die erde in Fetzen, aufgerissen wie eine gro-ße wunde. Hier hatten die Bauern gegraben.

sie vertrieb die Geier mit einigen raschen sätzen und stand dann vor dem Festmahl der aasfresser, der ratten, ameisen, die sich nahmen, was die Hunde der Bauern übrig gelassen hatten von rakshas kindern. Die kleinen körper waren kalt, als sie sie anstieß, schnüffelte, leckte, wie sie es so oft getan hatte. eines hatte verkohlte Füße, alle waren zerrissen von Zähnen, stöcken und eisernen klauen. sie waren in der si-cheren, tiefen Höhle erstickt, verbrannt und schließlich er-schlagen worden, als sie herauskamen, ganz zuletzt, blind vor schmerz. in der nähe fand raksha einen zerbrochenen stock, frisch zugespitzt von den Bauern, aber an der spitze blutig und zerbissen. ihre kinder hatten sich gewehrt bis zum ende.

in den Dörfern am Fluss hörten die Bauern drei nächte hindurch einen großen wolf heulen. ist uns entwischt, mein-ten sie und lachten hinter ihren festen Mauern aus lehm. Die kinder zitterten. Das ist nur ein wolf, sagten ihre Mütter und lachten über die Feiglinge. seine Totenklage.

aber es war raksha, die Dämonin, die ihr rachelied sang.

3.

es war vor allem das stillsitzen, das ihn nach fünf Tagen all-mählich zermürbte. seit er new York verlassen hatte, war er fast ständig in Bewegung gewesen. Mit der Northumberland nach Bombay. Dort in sachen reginald wedderburn gut zwei wochen lang in den höchst unterschiedlichen kreisen, in de-nen der Verstorbene verkehrt hatte – von den Villen und bri-tischen Herrenclubs auf Malabar Hill bis hinunter ins Bor-dellviertel Tardeo. Danach hatte ihn ein beinahe schon mit-

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telalterlich anmutender küstensegler nach surat gebracht, wo er von lady wedderburn das vereinbarte Honorar einforder-te. Dummerweise hatte er sich dort von einer angeblichen erkrankung der Dame ein paar Tage hinhalten lassen und zu spät festgestellt, dass sie vor ihrem Gläubiger und seiner wahrheit nach Delhi geflohen war.

Für eine achthundert-Meilen-Verfolgungsjagd hatte sein Geld da schon nicht mehr gereicht, nur für eine gemächli-chere reise im ochsenkarren nach Ujjain, dann auf einem langen, schmalen Mussola oder Flussboot den Chambal hi-nunter bis Dholpur und von dort noch einmal fünfzig Meilen zu Fuß bis nach Delhi. Das erlebnis dieser reise durch das Hochland von Malwa und vor allem das dumme Gesicht der lady, als er da plötzlich auf der Veranda ihres landhauses stand, war jeden schritt wert gewesen. aber sein Geld hatte er wieder nicht bekommen und war am nächsten Tag ent-sprechend heftig geworden. er hatte sogar über eine mögliche Veröffentlichung seiner erkenntnisse über den ehrenwerten sir reginald gesprochen – und das hatte dem rechtsbeistand der hartnäckigen Villenbesitzerin lady wedderburn, Colo-nel outram, der mit einer sechsköpfigen sepoy-abteilung im nebenzimmer auf der lauer lag, für eine inhaftnahme aus-gereicht.

nach fünf endlosen Tagen neigte John Gowers allmählich der auffassung zu, dass es in Delhi überhaupt keinen offiziel-len Vertreter der amerikanischen regierung gab. Damit lag er auch insofern richtig, als von der tatsächlichen existenz eines entsprechenden konsuls pro tempore nur wenige eingeweihte etwas wussten. Dieser Mensch, seines Zeichens Baumwoll-großhändler, war eigentlich britischer staatsbürger, bekleide-te sein amt allein aufgrund gewisser Handelsbeziehungen zu den früheren südstaaten und war infolgedessen noch von Jef-

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ferson Davis ernannt und nie von seinem Posten abberufen worden. Vermutlich wäre er auch der Meinung gewesen, dass ein Yankee im Gefängnis genau dort war, wo er hingehörte.

Der große, niedrige raum lag nur wenig unter dem ni-veau der ebenen erde. in kopf-, für Gowers in Brusthöhe be-stand die gesamte äußere längswand aus einer vergitterten Öffnung, die auf den westlichen innenhof des Gefängnisses führte. Hier zirkulierte die heiße luft, hier fand die »Fütte-rung« statt, indem die wachen zweimal täglich die erhobe-nen Blechschüsseln, näpfe oder auch nur die hohlen Hände der Gefangenen mit lauwarmem reis- und Hirsebrei füllten. Hier waren auch nachts die besten schlafplätze, es sei denn, die kinder der im Gefängnis lebenden aufseher machten sich einen spaß daraus, aus ihrer ungewohnt erhabenen stellung auf die schlafenden Gefangenen zu pissen.

Tagsüber saßen draußen vor diesem Gitter die Besucher, die angehörigen der eingesperrten armen Teufel, mitunter ganze Familienverbände, die sie mit Trost, wasser und halb-wegs frischen lebensmitteln versorgten. wie von dem welt-umspannenden system, das britische Ökonomen zur Perfek-tion gebracht hatten, nicht anders zu erwarten war, nutzten die Menschen sogar noch diese Gegebenheiten, um Geschäf-te mit den Bedürfnissen ihrer Mitmenschen zu machen. Da-bei wäre vielleicht eine kleine säge zu erstehen, und die Git-terstäbe sahen alles andere als stabil aus. Durch eine neuerli-che Bestechung der aufseher konnte er vielleicht auch in der Verkleidung eines abtrittentleerers die entscheidenden Türen passieren.

Für beide Möglichkeiten brauchte er jedoch innerhalb des großen Gefängnissaals einen Mitstreiter mit so viel natürlicher autorität, dass er einen Fluchtalarm von seiten der insassen oder der spitzel wenigstens so lange verhindern würde, bis Go-

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wers über die Mauer und in den ruinen des alten Delhi war. er versuchte also, sich mit einem jungen Mann anzufreunden, der sauberer und intelligenter aussah als die Mehrheit der Ge-fangenen; der ihm in einem kurzen Gespräch aber lediglich zu verstehen gab, dass das leben ohnehin nur ein Traum und da-her nicht zu ändern sei: »Das ist die Maya, der weltentrug, du, ich, alles. Handeln ist wie ein rauch im wind, ein roter nebel vor der sonne, der unser Denken verwirrt.«

Mit seinem abgeklärtesten lächeln zog Gowers sich zu-rück und hielt ausschau nach einem gemeinen, schmutzigen kerl, mit dem mehr anzufangen wäre. er hatte sich den ent-sprechenden Mann bereits ausgeguckt, als am Morgen des sechsten Tages vor dem Gitter sein name gerufen wurde.

4.

rote ashokablüten bedeckten den kleinen leichnam ihrer Hoffnungen, Mirza innuzzar Baht, den letzten ihres Ge-schlechts. seine schönheit, das bleiche kindergesicht, von den Blüten umrahmt, schnitt in ihr Herz. Für einen augen-blick zerbrach ihre stärke, und sie sackte an der schlecht ge-schnitzten Totenbahre zusammen, aber ihre knie berührten den Boden nicht.

als die Frauen ihr beispringen wollten, hatte sie sich schon wieder in der Gewalt, seufzte ohne Tränen, küsste die kal-ten lippen ihres enkelsohns und zog dann das leichentuch über sein Gesicht. es war wie aus wind gewebt, fein wie der abendtau, Produkt einer dreitausendjährigen Tradition der Tuchherstellung. Der leiseste atemhauch hätte es fortgeweht, aber der Junge atmete nicht mehr. sie befestigte es im nacken des Toten, der nun aussah wie eine alabasterstatue, für deren

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Vollendung einer der alten Bildhauer nur noch wenige zarte schläge gebraucht hätte.

sie trat langsam zurück, die Frauen nahmen die Bahre hoch und trugen den erben des letzten Mogulkaisers hinaus, durch marmorne Hallen mit silbernen Decken. Die Blüten fielen wie helle Blutstropfen auf Mosaike aus Halbedelsteinen, von den leichten Tritten der Frauen und Mädchen der Zenana in Jahrhunderten nicht abgenutzt. kein Geräusch, kein klage-lied begleitete die Prozession, außer dem leisen Plätschern der springbrunnen, die ihre glitzernden weißen wasserper-len versprühten.

Durch Gänge mit goldenen wänden, schimmernd im Fa-ckellicht, ging es hinaus in den letzten lebenden Garten, tief verborgen im roten Fort. Hierher war nie ein Feind gekom-men, kein engländer hatte diese erde betreten. Dennoch wa-ren die ashokabäume nun abgeschlagen und ihr duftendes Holz zu dem scheiterhaufen geschichtet, auf dem die Frauen die Bahre niederlegten.

Die Fackeln verblassten im licht des langsam heraufdäm-mernden aprilmorgens, als sie zu agni betete, dem Feuer-gott, leben des windes, leib der Pflanzen, der die welten erschafft und wieder zerstört. Dann legte sie selbst das Feu-er unter den niedrigen Holzstoß. Öl und weißes kashagras gaben den Flammen nahrung, bis sie das Fleisch von ih-rem Fleisch erreicht hatten und agni ihre letzte und schöns-te Frucht verzehrte. ihre Züge wurden hart und kalt, als der rauch in den Himmel stieg, und tief in ihr schrie eine stim-me. sie öffnete den Mund, etwas wildes, altes in ihren au-gen, und seltsam dunkel klang es aus ihrer kehle.

»oUDH!«so hatten könige vor ihr gerufen, von älterem Blut als alle

Briten, Moguln, Muslime, in schlachten, die vor der Zeit ge-

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schlagen wurden, als Vyasha jung war und die welt nur ein Traum. Die Frauen nahmen den ruf auf.

»oUDH!«wie krieger grüßten sie das versunkene königreich und

streckten ihre nackten arme in den Himmel, als wollten sie den rauch festhalten. aber ein wind kam auf, wühlte in den Flammen, spielte mit dem rauch, blies asche in ihre Gesich-ter und griff heiß unter ihre Gewänder, bis sie sich abwandten und flohen.

agni lachte. Und der wind aus der wüste Tharr trieb den letzten erben von oudh und Delhi wie grauen staub um die stümpfe der geschlachteten Bäume, aus denen noch immer saft austrat. Der rote ashoka, unter dem der Buddha gebo-ren wurde, war kama Devas Gewächs, eine Frucht der liebe. seine Blüten galten als Heilmittel gegen jeden kummer und alle arten von Traurigkeit. aber die blutenden stümpfe der Bäume im letzten Garten des roten Forts von Delhi waren ein Zeichen, dass hier eine Trauer wohnte, die nie mehr ge-heilt, die nur noch gerächt werden konnte.

5.

»Gowers, John Gowers, John Gowers!«eine seltsam hohe, näselnde stimme wiederholte seinen

namen so eintönig, als sei er ein Mantra. Vor dem Gitter trabten dabei zwei stelzenartige Beine in staubigen schuhen und einer speckig glänzenden Hose auf und ab. Gowers hat-te auf einem Jahrmarkt auf Coney island mal vor einem drei Meter großen Uncle sam gestanden, an den er sich in sei-ner Froschperspektive nun erinnert fühlte. er trat an das Git-ter und schützte gleichzeitig seine augen vor der gleißenden

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Helle des Gefängnishofs, indem er eine kleine Brille mit run-den blauen Gläsern aufsetzte.

»Ja?«Der inhaber der monotonen stimme und der stelzenbeine,

ein schlotterdürrer dunkelhäutiger inder von höchstens fünf-undzwanzig Jahren, beugte sich zu Gowers hinunter, indem er eine Hand auf ein knie stützte.

»sie sind John Gowers, amerikaner?«»Ja. Und wer sind sie?«statt einer antwort fiel ein schlaffes, schäbiges Gaddi, ein

mit Troddeln verziertes kissen, auf den Boden und wirbelte eine kleine staubwolke auf, die Gowers mitten ins Gesicht bekam. als er wieder aufschaute, hatte der junge Mann bereits Platz genommen, saß im schneidersitz vor dem Gitter und streckte ihm zwischen den beängstigend spitz aufragenden knien seine schmale, dunkle Hand entgegen.

»Mein name ist Masjid Jawaharlal Mu kho pad hya ya. ich bin rechtsanwalt.«

»sehr erfreut!« Gowers schüttelte die ihm angebotene Hand und konnte dabei nicht umhin, sich diesen namen per-spektivisch vorzustellen. Dann erst kam er endlich zu der Fra-ge, die ihm seit fünf Tagen auf den lippen brannte: »Haben sie zufällig was zu rauchen?«

»Bedaure«, sagte Mu kho pad hya ya, ohne eine Miene zu ver-ziehen, und nahm Bleistift und Papier aus seiner abgegriffe-nen aktenmappe. »lassen sie uns zur sache kommen!«

an seiner ganzen Haltung, vor allem an der gelassenen routine, mit der er vor ihm, über ihm im staub saß, erkannte Gowers, dass der junge Mann nicht zum ersten Mal vor die-sem Gitter mit einem Mandanten verhandelte.

»wer hat sie hergeschickt?«, fragte der Gefangene miss-trauisch.

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Daniel Twardowski

Das blaue SiegelEin Fall für John Gowers

ORIGINALAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 480 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-47144-7

Goldmann

Erscheinungstermin: Juli 2010

Ein actionreicher historischer Kriminalroman, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Indien spielt Indien 1866. Der amerikanische Detektiv John Gowers soll rätselhafte Todesfälle im Königshausder Oudh aufklären. Hatte die britische Kolonialregierung ihre vielen Hände im Spiel? Es beginnteine abenteuerliche Reise quer durch Indien, bei der ihm die hübsche Leibwächterin Ishrat zurSeite steht. Rasch kommt er ihr näher, aber von ihrem wahren Auftrag ahnt Gowers nichts. Kurzdarauf entgeht er nur knapp einem Mordanschlag. Der Täter trug eine blaue Tätowierung imNacken, das Zeichen der Könige von Gwalior – doch deren Dynastie gilt seit Jahrzehnten alsausgestorben …