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Abb. 1 Hartmut MÜLLER-SOMMER, Vechta Das „Baustoff - Bauplan - Prinzip“ – Ein heuristisches Werkzeug für kreatives Lernen im Geometrieunterricht Durch kreatives Experimentieren mit einem dynamischen Geometriesystem erscheinen Kurven und Figuren unter neuen Blickwinkeln: Wir können sie als „Funktionendepots“ interpretieren. Dabei lassen sich die Funktionen als „Baustoffe“ auffassen, aus denen wir mit einfachen „Bauplänen“ neue Kurven erzeugen können. Der Beitrag stellt dar, wie man einerseits mit Hilfe dieser neuen Kurven überraschende Eigenschaften der Ausgangs- kurven entdecken und andererseits aus den „Baustoffen“ und „Bauplänen“ neue Interpretationsmöglichkeiten für die erzeugten Kurven gewinnen kann. Dass mit dem „Baustoff-Bauplan-Prinzip“ neue Wege zu alten Inhalten des Geometrieunterrichts der Sekundarstufe I eröffnet werden, soll im ersten Teil des Beitrags anhand von unterrichtspraktischen Beispielen gezeigt werden. Der zweite Teil des Vortrags geht über den Unterrichtsstoff der Sekundar- stufe I hinaus und beschreibt überraschende Zugänge zu höheren Kurven. Dabei erweist sich die Idee, gewisse Winkel als Baustoffe zu verwenden und mit einfachen Bauplänen zu verarbeiten, als besonders fruchtbar. Die Kegelschnitte und viele mathematikhistorisch relevante höhere Kurven erscheinen unter neuen Blickwinkeln: Jede dieser Kurven besitzt einen eigenen Bauplan, er ist aber in derselben „Sprache“ abgefasst, da er auf dieselben Baustoffe zurückgreift. Im Weiteren wähle ich für das „Baustoff- Bauplan-Prinzip“ die Abkürzung „BBP“. Die Grundidee In Abb. 1 bewege sich der Punkt C auf einem Thaleskreis über AB . Zu jeder Lage von C gibt es offenbar eine bestimmte Höhe h, bestimmte Kathetenlängen a und b, bestimmte Hypotenusen- abschnitte q und p und bestimmte Winkel α und β. Die Figur lässt sich somit als „Funktionendepot“ auffassen. Die Funktionen dieses Depots sind kennzeichnend für die Figur und beschreiben genau die Eigen- heiten, die in der Figur bzw. Kurve enthalten sind. In einer statischen Figur erscheinen diese Funktionen in einem „eingefrorenen“ Zustand. Erst durch den Zugmodus im DGS wird ihr dynamischer Charakter deutlich.

Das „Baustoff Bauplan Prinzip“ – Ein heuristisches ... · Abb. 2a Abb. 2b Die Elemente des Funktionendepots fassen wir nun als „Baustoffe“ auf, die sich nach bestimmten

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Page 1: Das „Baustoff Bauplan Prinzip“ – Ein heuristisches ... · Abb. 2a Abb. 2b Die Elemente des Funktionendepots fassen wir nun als „Baustoffe“ auf, die sich nach bestimmten

Abb. 1

Hartmut MÜLLER-SOMMER, Vechta Das „Baustoff - Bauplan - Prinzip“ – Ein heuristisches Werkzeug für kreatives Lernen im Geometrieunterricht Durch kreatives Experimentieren mit einem dynamischen Geometriesystem erscheinen Kurven und Figuren unter neuen Blickwinkeln: Wir können sie als „Funktionendepots“ interpretieren. Dabei lassen sich die Funktionen als „Baustoffe“ auffassen, aus denen wir mit einfachen „Bauplänen“ neue Kurven erzeugen können. Der Beitrag stellt dar, wie man einerseits mit Hilfe dieser neuen Kurven überraschende Eigenschaften der Ausgangs-kurven entdecken und andererseits aus den „Baustoffen“ und „Bauplänen“ neue Interpretationsmöglichkeiten für die erzeugten Kurven gewinnen kann. Dass mit dem „Baustoff-Bauplan-Prinzip“ neue Wege zu alten Inhalten des Geometrieunterrichts der Sekundarstufe I eröffnet werden, soll im ersten Teil des Beitrags anhand von unterrichtspraktischen Beispielen gezeigt werden. Der zweite Teil des Vortrags geht über den Unterrichtsstoff der Sekundar-stufe I hinaus und beschreibt überraschende Zugänge zu höheren Kurven. Dabei erweist sich die Idee, gewisse Winkel als Baustoffe zu verwenden und mit einfachen Bauplänen zu verarbeiten, als besonders fruchtbar. Die Kegelschnitte und viele mathematikhistorisch relevante höhere Kurven erscheinen unter neuen Blickwinkeln: Jede dieser Kurven besitzt einen eigenen Bauplan, er ist aber in derselben „Sprache“ abgefasst, da er auf dieselben Baustoffe zurückgreift. Im Weiteren wähle ich für das „Baustoff- Bauplan-Prinzip“ die Abkürzung „BBP“. Die Grundidee

In Abb. 1 bewege sich der Punkt C auf einem Thaleskreis über AB . Zu jeder Lage von C gibt es offenbar eine bestimmte Höhe h, bestimmte Kathetenlängen a und b, bestimmte Hypotenusen-abschnitte q und p und bestimmte Winkel α und β. Die Figur lässt sich somit als „Funktionendepot“ auffassen. Die Funktionen dieses Depots sind kennzeichnend für die Figur und beschreiben genau die Eigen-heiten, die in der Figur bzw. Kurve enthalten sind. In einer statischen Figur erscheinen diese Funktionen in einem „eingefrorenen“ Zustand. Erst durch den Zugmodus im DGS wird ihr dynamischer Charakter deutlich.

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Abb. 2b Abb. 2a

Die Elemente des Funktionendepots fassen wir nun als „Baustoffe“ auf, die sich nach bestimmten „Bauplänen“ weiterverarbeiten lassen. Ein Beispiel: Als Baustoff wird der Hypotenusenabschnitt p ange-sehen. Dieser Baustoff soll nun nach zwei verschieden Bauplänen verarbeitet werden. Bauplan 1: Die Länge von p wird vom Fußpunkt F aus in Richtung von C abgetragen. Bauplan 2: Die Länge von p wird vom Mittelpunkt M aus in Rich-tung von C abgetragen. Der erste Bauplan liefert als Ortskurve ein Streckenpaar (Abb. 2a), der zweite eine Kardioide (Abb. 2b). In der Grundidee zum BBP kommen die drei wesentlichen Aspekte des Funktionsbegriffs zum Tragen: der Aspekt der Zuordnung, die Vorstellung einer dynamischen Abhängigkeit zweier Größen (Kovariationsaspekt) und der Aspekt „Funktion als Objekt“. Mit einem DGS lässt sich der Entstehungsprozess der erzeugten Kurven dynamisch visualisieren. Somit kann das BBP inhaltliche Grundvorstellungen des Funktions-, aber auch des Kurvenbegriffs nachhaltig unterstützen. Eine Unterrichtseinheit

Im Folgenden wird ein Unterrichtsgang skizziert, den ich in einer 9. Klasse eines Mädchengymnasiums durchgeführt habe. Im Vorunterricht wurde der Themenbaustein „Parabel“ behandelt. Die Konstruktionen nach Abb. 2a und 2b bildeten den Einstieg in die Unterrichtseinheit und wurden vom Lehrer am Rechner präsentiert. Mit einem „Zug“ war die einfache Thalesfigur für die Klasse zu einem interessanten Forschungsobjekt ge-worden! Die Schülerinnen wollten wissen, was noch alles in der Figur „drinsteckt“. In einem „Forschungsauftrag“ sollte die Klasse nun auch die übrigen Baustoffe der Figur (Dreieckshöhe h, Kathetenlängen a und b, Hypotenu-senabschnitt q) nach den Bauplänen 1 und 2 bearbeiten.

„Forschungsauftrag“:

a) Stelle die Höhe h und die Kathetenlänge a nach den Bauplänen des Einstiegs- beispiels in Abhängigkeit von der Lage des Punktes C grafisch dar.

b) Übertrage die erzeugten Kurven auf dein Arbeitsblatt und beschreibe die Veränderungen von h und a, wenn du C auf dem Thaleskreis bewegst.

c) Welche Kurven ergeben sich für die Kathete b und für den Hypotenusen- abschnitt q?

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Abb. 3

Abb. 4

Aus Platzgründen beschränke ich mich bei der Vorstellung der Unter-suchungsergebnisse auf die Untersuchung der Kathetenlänge a nach Bauplan 1. Wir erhalten als Ortskurve eine Parabel, die offenbar in dem in Abb. 3 dargestellten Koordinatensystem die Gleichung 2x=y 2r

1 besitzt. Die Koordinaten

x = a und y = p des Parabelpunktes P führen daher auf 2a=p 2r

1 , also auf =a2 2r p = c p.

Dies ist der Kathetensatz für die Kathete a! Analoge Untersuchungen für die Katheten-länge b führen auf den zweiten Kathetensatz

=b2 c q. Die erzeugte Kurve deckt also einen

geometrischen Sachverhalt auf, der den Schülerinnen vorher unbekannt war!

Die Gleichung =a2 2r p zeigt auch, dass ein linearer Zusammenhang zwischen 2a und p besteht: Wenden wir die Baupläne 1 und 2 (vgl. Abb. 2) nicht auf den Baustoff p, sondern auf 2a an, so erhalten wir wieder ein Streckenpaar und eine Kardioide. Hier kommt nur der zusätzliche Streckfaktor c ins Spiel. Diese Ortskurven liefern gleichzeitig einen visuellen Hinweis auf den Satz des Pythagoras! In der Tat: Bauplan 2, angewandt auf 22 b+a , führt auf einen Kreis mit dem Radius 2c (Abb. 4). Eine Schülerin brachte den pythagoreischen Satz auf die Kurzform „Herz + Herz = Kreis“.

Wählen wir in Abb. 4 die Punkte A und B beliebig auf dem Thaleskreis, so liefert der Bauplan 2 als Ortskurve i. Allg. keinen Kreis, sondern eine deformierte Kurve. Die Schülerinnen konnten hier „eigenhändig“ erkennen, dass Kreise nur dann entstehen, also der Satz des Pythagoras nur dann gültig ist, wenn das Dreieck ABC bei C rechtwinklig ist. Immer dann, wenn Baustoffe oder Baupläne variiert werden, kann das BBP seine eigentliche heuristische Kraft entfalten. Verändern wir beispielsweise in Abb. 4 die Lage des Punktes A, und damit den Baustoff 22 b+a , indem wir A vom Thaleskreis lösen, so wird die ursprüngliche kreisförmige Orts-kurve, die nach Bauplan 2 erzeugt wurde, wieder deformiert. Auch diese Deformation lässt sich durch eine zweite Baustoffvariation „reparieren“: Wird nämlich auch der Punkt B vom Thaleskreis gelöst und so verschoben,

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dass A und B punktsymmetrisch zum Mittelpunkt des alten Thaleskreises liegen, so entsteht wieder ein Kreis als Ortskurve. Der Thaleskreis ist also der geometrische Ort aller Dreieckspunkte C, die zu Dreiecken ABC mit konstanter Summe 22 b+a gehören! Hat der Thaleskreis den Radius r = 1,

so gilt 2+b+a 22c=22 . Diese Gleichung beschreibt offenbar eine Verallge-

meinerung des pythagoreischen Satzes!

Kurven unter neuen Blickwinkeln

Fazit

Das BBP stellt ein kreatives Werkzeug für den Geometrieunterricht dar (s. Weth 1999). Als kreative Produkte rücken die erzeugten Kurven in das Zentrum des Interesses und verleihen diesem Werkzeug das eigentliche heuristische Potenzial. Daher unterstreicht dieser Beitrag Forderungen, bereits in der Sekundarstufe I mit der Exploration beziehungshaltiger Kurven zu beginnen (s. Schupp 1998).

Literatur

Schupp, H.: Einige Thesen zur sogenannten Kurvendiskussion. – In: MU 44 (1989), H. 4/5, S. 5-21. Weth, Th.: Kreativität im Mathematikunterricht – Begriffsbildung als kreatives Tun. Hildesheim: Franzbecker 1999