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Eike-Christian Hornig Nomos Die Parteiendominanz direkter Demokratie in Westeuropa

Das Buch erfüllt eine doppelte Funktion. Es wird der ... · Demokratie entweder nur direkt oder nur repräsentativ möglich.9 Marshall spricht in diesem Zusammenhang treffend von

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Eike-Christian Hornig

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Die Parteiendominanz direkter Demokratie in Westeuropa

ISBN 978-3-8329-5658-5

Das Buch erfüllt eine doppelte Funktion. Es wird der Ansatz der Parteiendominanz direkter Demokratie eingeführt, der die Lücke zwischen Parteienforschung und Theorie der direkten Demokratie schließt. Seine Anwendung zeigt im westeuropäischen Vergleich, wie Plebiszite in repräsentativen Demokratien funktionieren: nach der Logik der Parteien.

Zum Autor:Dr. rer. pol. Eike-Christian Hornig, Jahrgang 1978, studierte Politik, Geschichte und Medienwissen-schaften an der Universität Osnabrück und an der Università degli studi Roma Tre. Von 2006 bis 2009 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück, Promotion 2009. Nach einem Jahr an der FernUniversität Hagen ist er seit Oktober 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt.

2.Auflage

Die Parteiendominanz direkter Demokratie in Westeuropa

Nomos

Eike-Christian Hornig

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1. Auflage 2011© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rech-te, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zugl.: Osnabrück, Fachbereich Sozialwissenschaften, Univ., Diss., 2010Betreuer: Prof. Dr. Ralf Kleinfeld, Prof. Dr. Matthias Bohlender

ISBN 978-3-8329-5658-5

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Inhaltverzeichnis

Vorwort 5

Abkürzungsverzeichnis 7

Inhaltverzeichnis 11

1. Einführung 15

2. Die drei Subdimensionen der Partyness of Direct Democracy PoDD 33

2.1. Parteiendominanz und Abstimmungsauslösung 342.1.1. Idealtypische Typologien direktdemokratischer Verfahren 352.1.2. Umstände der Einleitung einer Abstimmung 42

2.2. Parteiendominanz und Abstimmungsverhalten 492.2.1. „Blackbox Referendum“ 512.2.2. Indikatorenbildung und Operationalisierung 60

2.3. Parteiendominanz und die Verbindlichkeit direkter Demokratie 652.3.1. Indikatorenbildung: Stufen der Verbindlichkeit 652.3.2. Die Operationalisierung 66

2.4. Der Bewertungsmaßstab 68

3. Dänemark 69

3.1. Obligatorisches Verfassungsreferendum (DK A) 693.2. Fakultatives Zustimmungsreferendum (DK B) 713.3. Zustimmungsreferenden Souveränitätsübertragung (DK C) und (DK D) 74

3.3.1. EG-Beitritt 1972 (DK D) 753.3.2. Maastricht 1992 773.3.3. Edinburgh 1993 813.3.4. Amsterdam 1998 843.3.5. Einführung Euro 2000 85

3.4. Referendum Wahlalterreduzierung (DK E) 883.4.1. Reduzierung auf 23 Jahre 1953 893.4.2. Reduzierung auf 21 Jahre 1961 893.4.3. Reduzierung auf 18 Jahre 1969 903.4.4. Reduzierung auf 20 Jahre 1971 913.4.5. Reduzierung auf 18 Jahre 1978 92

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3.5. Ad hoc-Referendum (DK F) 943.6. Fazit Dänemark 963.7. Kurzzusammenfassungen 99

4. Frankreich 105

4.1. Das Verfassungsreferendum (F A) 1064.1.1. Gründung der 5. Republik 1958 1064.1.2. Verkürzung Präsidentschaftsdauer 2000 109

4.2. Präsidentielles Referendum (F B) 1114.2.1. Selbstverwaltung Algerien 1961 1124.2.2. Unabhängigkeit Algerien 1962 1144.2.3. Direktwahl Präsident 1962 1174.2.4. Regionen und Reform des Senates 1969 1194.2.5. Erweiterung EG 1972 1214.2.6. Unabhängigkeit Neu-Kaledonien 1988 1234.2.7. Vertrag von Maastricht 1992 1254.2.8. Vertrag einer Europäischen Verfassung 2005 127

4.3. Fazit Frankreich 1324.4. Kurzzusammenfassungen 134

5. Großbritannien 137

6. Niederlande 147

7. Italien 153

7.1. Verfassungsreferendum ITA (A) 1547.1.1. Dezentralisierung 2001 1547.1.2. Regionalisierung 2006 157

7.2. Das abrogative Referendum (ITA B) 1597.2.1. Die erste PoDD-Subdimension 1617.2.2. Die zweite PoDD-Subdimension 1657.2.3. Die dritte PoDD-Subdimension 175

7.2.3.1. Formal unverbindliche Entscheidungen 1757.2.3.2. Formal verbindliche Entscheidungen 180

7.2.4. Zwischenfazit abrogatives Referendum 1917.3. Ad hoc-Referendum (ITA C) 1937.4. Fazit Italien 1957.5. Kurzzusammenfassungen 198

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8. Schweden 205

8.1. Rentensystem 1957 2068.2. Atomausstieg 1980 2088.3. EU-Beitritt 1994 2128.4. Europäische Einheitswährung 2003 2178.5. Zwischenfazit Schweden 222

9. Schweiz 225

9.1. Fakultatives Referendum (CH A) 2299.1.1. Die erste PoDD-Subdimension 2309.1.2. Die zweite PoDD-Subdimension 2349.1.3. Die dritte PoDD-Subdimension 2399.1.4. Zwischenfazit fakultatives Referendum 248

9.2. Verfassungsinitiative (CH B) 2489.2.1. Die erste PoDD-Subdimension 2499.2.2. Die zweite PoDD-Subdimension 2549.2.3. Die dritte PoDD-Subdimension 2609.2.4. Zwischenfazit Verfassungsinitiative 261

9.3. Obligatorisches Verfassungsreferendum (CH C) 2629.3.1. Die erste PoDD-Subdimension 2629.3.2. Die zweite PoDD-Subdimension 2639.3.3. Die dritte PoDD-Subdimension 2679.3.4. Zwischenfazit Obligatorisches Verfassungsreferendum (CH C) 267

9.4. Fazit Schweiz 2689.5. Kurzzusammenfassungen 272

10. Österreich 277

10.1. Obligatorisches Verfassungsreferendum (Ö A) 27710.2. Zustimmungsreferendum (Ö B) 28210.3. Fazit Österreich 285

11. Norwegen 289

11.1. Beitritt EG 1972 29011.2. Beitritt EG 1994 29411.3. Zwischenfazit Norwegen 299

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12. Ergebnisse 303

12.1. Die Subdimension PoDD1 30312.2. Die Subdimension PoDD2 31212.3. Die Subdimension PoDD3 31812.4. Gesamt-Partyness of Direct Democracy 321

13. Konklusion 329

Literaturverzeichnis 337

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1. Einführung

Volksabstimmungen fungieren als ergänzende Mechanismen der Entscheidungs-findung inzwischen in den meisten nationalen politischen Systemen Europas. Jung spricht von einer weltweiten Renaissance von Volksabstimmungen in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die besonders in den Ländern Mittel- und Osteuropas statt gefunden hat.1 Hager bemüht Dahls Begriff der „participatory revolution“, um eine tiefer liegende gesellschaftliche Modernisie-rungsdynamik hin zu mehr individueller, politischer Selbststimmung zu kenn-zeichnen. Direkte Demokratie soll demnach dem gestiegenen Partizipationsbe-dürfnis der Bürger, durch einen zusätzlichen Transfer gesellschaftlicher Anforde-rungen in das politische System Rechnung tragen und dessen Legitimation erhöhen.2

„Die im Zuge der Bildungsexpansion und Tertiarisierung erweiterten Möglichkeiten einer selbstbestimmten individuellen Lebensgestaltung haben nicht nur das Bedürfnis nach mehr und anspruchsvollerer Partizipation geweckt, sondern auch die Erwartungen an die Responsivität des politischen Systems erhöht.“3

Dieser Erwartung wird insofern zunehmend entsprochen, als dass die Implemen-tierung oder Anwendung direktdemokratischer Verfahren oft in Reaktion auf Legitimations-Krisen geschieht. Gerade das Zusammenwachsen Europas hat gezeigt, wie unterschiedlich die Wirkung von direkter Demokratie ausfallen kann. Ruft man sich in Erinnerung was Macht bedeutet4, nämlich die Durchset-zung von Interessen auch gegen Widerstände, dann ist direkte Demokratie längst nicht mehr als Lappalie abzutun. Volksabstimmungen müssen aber nicht zwangsläufig mit Demokratie verbunden sein, oder einem demokratischen Zweck dienen. Neben den historischen Beispielen aus Nazi-Deutschland oder der Sowjetunion, belegen dies auch jüngst Abstimmungen in Venezuela (2004, 2007) oder Weißrussland (2004). Andererseits konnte durch Abstimmungen aber auch der Weg hin zum demokratischen Wandel bestritten werden, wie z.B. in Chile. Freien Volksabstimmungen kommt nicht zuletzt ein großes Maß an Sym-bolwirkung zu, die aus demokratischer Sicht an normativem Gewicht kaum zu

1 Vgl. Jung, Die Logik direkter Demokratie, Wiesbaden 2001, S. 9. 2 Vgl. Hager, Wie demokratisch ist direkte Demokratie?, Wiesbaden 2005, S. 1. 3 Decker, Die Systemverträglichkeit der direkten Demokratie, Zeitschrift für Politikwissen-

schaft 2005, Heft 4, S. 1103-1148, S. 1108. 4 Vgl. Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart, Wiesbaden, S. 194.

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überbieten ist. In jedem Fall spielen direktdemokratische Mechanismen eine zunehmend große Rolle in repräsentativen Demokratien und stehen dabei im Einklang mit Veränderungen im politischen Partizipationsverhalten der Bürger.

Dabei stehen das direkte und das repräsentative Demokratieprinzip ideenge-schichtlich in einem antagonistischen Verhältnis zueinander. Die Idee der direk-ten Demokratie als Organisationsprinzip von Herrschaft hat eine tausende Jahre alte Traditionslinie mit drei historischen Entwicklungspunkten.5 Der Ausgangs-punkt ist Athen im 5. und 6. Jahrhundert v. Chr., wo die Entscheidung über we-sentliche politische Fragen in der Volksversammlung allen berechtigten Bürger zukam.6 Das theoretische Fundament der direkten Demokratie lieferte Rousseauim 18. Jahrhundert mit der Volkssouveränität. Diese ist aufgrund ihrer Unüber-tragbarkeit nicht mit der Repräsentation vereinbar, da Gemeinwesen nur durch sich selbst repräsentiert werden können.7 Diese von Rousseau am Ideal der Anti-ke entworfene Identität von Regierenden und Regierten läuft durch die diskursi-ve Beteiligung aller Bürger am Entscheidungsprozess auf die Aufhebung von Herrschaft hinaus. Drittens ist die Pariser Kommune von 1871 zu nennen, die von Marx als unmittelbare demokratische Selbstherrschaft, Beitrag zum revolu-tionären Akt der Zerschlagung der Klassenherrschaft und Einsetzung einer Re-gierung der Arbeiterklasse dargestellt wurde. Die Pariser Kommune ist die einzi-ge kurzzeitige Realisierung reiner direktdemokratischer Herrschaft in der Mo-derne, wodurch sie direkt an Rousseau und weniger an die Polis in Athen anknüpfte. Die Pariser Kommune basierte als Reinform direktdemokratischer Herrschaft auf einer Fusion der Staatsgewalten, wodurch sie ihren totalitären Charakter bekam.8 Parteien, die sich als Vorboten einer neuen Zeit etablierten, waren in der Pariser Kommune verboten. Während auf der Seite der reinen Di-rektdemokratie schon Rousseau und Marx erwähnt wurden, stehen die Klassiker der Repräsentation von Locke bis Schumpeter gegenüber. Für beide Seiten war Demokratie entweder nur direkt oder nur repräsentativ möglich.9 Marshallspricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „Zwei-Reiche-Theorie“.10

In der Realität hat sich dieser Antagonismus aber de facto erledigt, denn di-rekte und repräsentative Demokratie bestehen wie beschrieben weitgehend flä-chendeckend nebeneinander. Damit ist das direktdemokratische Prinzip in seine

5 Vgl. Massing (Hrsg.), Direkte Demokratie, Schwalbach i. Taunus 2005. 6 Allerdings spielten neben der Versammlung auch die Wahl in Ämter und das Losverfah-

ren eine Rolle. Vgl. Manin, Kritik der repräsentativen Demokratie, Berlin 2007, S. 39. 7 Vgl. Herb, Verweigerte Moderne. Das Problem der Repräsentation, in: Brandt/Herb

(Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staats-rechts, Berlin 2000, S. 167-188, S. 170.

8 Vgl. Schmidt, Demokratietheorien. 3. Auflage, Opladen 2006, S. 167. 9 Vgl. Ranney, Nouve pratiche e vecchia teoria, in: Caciagli/Uleri (Hrsg.), Democrazie e

Referendum, Rom 1994, S. 31. 10 Marshall, Ist das unmittelbare Personenvotum ein "direktdemokratisches" Verfahren?,

Zeitschrift für Politikwissenschaft 1997, Heft 3, S. 845-862, S. 846.

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vierte und auch letzte Entwicklungsstufe eingetreten. Wie schon im antiken Athen bilden in dieser vierten Phase das direktdemokratische und das repräsenta-tive Prinzip eine Mischform als Endpunkt der Entwicklung. Eine pluralistische Massen-Demokratie heutiger Tage allein über den direktdemokratischen Weg zu organisieren ist absurd. Auf der anderen Seite ist ein Abbau direktdemokrati-scher Verfahren dort, wo sie einmal installiert sind, unwahrscheinlich. Das reprä-sentative Prinzip wird immer prägend für die Struktur bleiben, doch findet die direkte Demokratie in einer ergänzenden Funktion ihren festen Platz. Die reprä-sentativen Akteure verlieren durch die „institutionellen Verdopplung des ent-scheidungspolitischen Prozesses“ ihr formales Entscheidungsmonopol.11 Der prinzipielle Antagonismus hat sich mit der vierten Phase also in der Praxis über-holt – und in der Theorie?

Auf der analytischen Ebene ist die Einsicht eingekehrt, dass eine Implemen-tierung direktdemokratischer Verfahren in repräsentative Systeme durch die Steigerung der Inklusivität, Responsivität, Legitimität oder Transparenz positive Effekte bringen kann. Direkte Demokratie wird dabei in die Schublade der parti-zipatorischen Demokratietheorie eingeordnet.12 Zwar weist Jung 2001 darauf hin, dass die Gegenüberstellung von repräsentativer und direkter Demokratie nach wie vor einer der wesentlichen Gründe ist, dass die Politikwissenschaft das Thema direkte Demokratie bislang nicht adäquat behandelt hat.13 Es gibt aber kaum noch Erörterungen, die noch die prinzipielle Unvereinbarkeit der Prinzi-pien hochhalten. Boehl steht allein mit seiner These, dass in einer hochkomple-xen und in einem ständigen Wandel begriffenen Welt, direkte Demokratie unan-gemessen ist.14

„Der Rationalität eines parlamentarischen Verfahrens mit institutionalisierter Beteiligung des in der Gesellschaft vorhandenen Sachverstandes, öffentlicher Diskussion, Begrün-dungspflicht, Kompromisssuche, Folgenabschätzung und parlamentarischer Verantwort-lichkeit ist ein Akklamtionsverfahren aus den Kindertagen der Demokratie keineswegs überlegen. (…). Wenn man nach dem schlechten Ruf des Plebiszites fragt, lässt sich nicht an den Nazi-Plebisziten der dreißiger Jahre vorbeisehen.“15

Dass die Nazi-Plebiszite der 1930er Jahre in einen Kontext mit der heutigen Praxis in pluralistischen Demokratien gestellt werden ist ohne Frage problema-tisch. Nichtsdestotrotz ist die deutsche Publizistik in ihrer ablehnenden Haltung

11 Vgl. Luthardt, Direkte Demokratie: Ein Vergleich in Westeuropa, Baden-Baden 1994, S. 163.

12 Schmidt, 2006, S. 251. 13 Vgl. Jung, 2001, S. 15. 14 Vgl. Boehl, Demos oder Plebs. Warum mit den bürgerlichen nicht gut Plebiszite machen

ist, Die politische Meinung 2006, Heft 3, S. 53-58, S. 58. 15 Ebenda, S. 55.

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lange viel hartnäckiger gewesen, da hier die so genannten Weimarer Erfahrungen als Ablehnungsargument nachwirkten. Schiffers hat aber gezeigt, dass diese Argumente gegen eine Implementierung von Volksabstimmungen in der Bun-desrepublik überbewertet und vorgeschoben waren.16 Eine sehr elegante Lösung zur Überwindung der Zwei-Reiche-Theorie hat Steffani gefunden. Er hat den Gegensatz schlichtweg deshalb für aufgehoben erklärt, da Volksabstimmungen im Prinzip Entscheidungen sind, die auch nur stellvertretend für die Allgemein-heit getroffen werden, die nicht an der Abstimmung beteiligt ist, also z.B. Kin-der. Direkte Demokratie ist demnach eine andere Form der repräsentativen De-mokratie, die ohne das Parlament auskommt.17 Diese Umetikettierung löst aber weder die Fragen und Probleme auf noch trägt die den historischen Entwick-lungsläufen besonders viel Rechnung.

Die demokratietheoretische Einordnung führt weiter zum eigentlichen Kern der Implementierung direktdemokratischer Verfahren in repräsentative Systeme: Was ist ihre Funktionslogik? Zur Beantwortung liegt 2001 ein großes Werk von Jung vor. Ihre vergleichende Analyse trägt den entsprechenden Titel „Die Logik direkter Demokratie“. Jung hat die logische Kompatibilität der meisten Arten von politischen Systemen mit den meisten Formen von direktdemokratischen Verfahren bewiesen und damit die Zwei-Reiche-Theorie widerlegt. Es wurde den Fragen nachgegangen, ob erstens ein systematischer Zusammenhang zwi-schen bestimmten direktlegislativen Verfahren und Demokratietypen besteht, ob zweitens bestimmte Verfahren besser mit bestimmten Demokratietypen logisch kompatibel sind und drittens, welche realen Effekte zu erwarten sind. Es wurden vier Demokratietypen differenziert und deren Charakteristika und Funktionswei-sen mit den idealtypischen direktdemokratischen Formen in Beziehung gesetzt, so dass sich Prinzipienpaare bildeten.18

„Zunächst diskutiert sie für jedes Prinzipienpaar getrennt die logische Inkompatibilität zwischen Gestaltungsprinzip und Verfahrenstyp. Ein Verfahren kann zu den institutionel-len Implikationen eines Prinzips gehören, ihm widersprechen und sich zu ihm neutral oder ambivalent verhalten. Anschließend analysiert sie nacheinander die praktischen Inkompa-tibilitäten zwischen den acht Demokratietypen und den direktdemokratischen Verfahren. Die Idee dabei ist, dass die Wirkungen direktdemokratischer Verfahren letztendlich vom

16 Die strukturelle Schwäche der Weimarer Republik und ihre Auflösung waren das Ergeb-nis eines Ursachengeflechtes. „Dementsprechend war der sporadische Gebrauch der Volksrechte nicht so sehr Ursache der Krise, sondern vielmehr deren Ausdruck“, Schif-fers, „Weimarer Erfahrungen“, Heute noch eine Orientierungshilfe?, in: Schil-ler/Mittendorf (Hrsg.), Direkte Demokratie, Wiesbaden 2002, S. 65-75, S. 75.

17 Vgl. Steffani, Das magische Dreieck demokratischer Repräsentation: Volk, Wähler und Abgeordnete, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1999, Heft 3, S. 772-793, S. 774.

18 Vgl. Jung, 2001.

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systemischen Kontext abhängen; logisch Inkompatibilitäten führten nicht automatisch auch zu praktischen.“19

Das Ergebnis ist, dass einige direktdemokratische Verfahren besser zu bestimm-ten Demokratietypen passen, in anderen aber Funktionsprobleme erzeugen. Ent-scheidend ist der systemische Kontext. Jung kommt damit unzweifelhaft der Verdienst zu, in einem groß angelegten, systematischen Vergleich, Grundbedin-gungen der Funktion direkter Demokratie in repräsentativen Systemen herausge-arbeitet zu haben. Kritisch angemerkt wird, dass die Überprüfung des erarbeite-ten Konzeptes anhand der Realität sich aber schwierig gestaltete. Dazu schreibt Ganghof:

„Obwohl Jungs Demokratietypologie für ihre Schlussfolgerungen von zentraler Bedeutung ist, bleibt die Autorin einen Praxistest der Typologie schuldig. Dieser hätte zeigen müssen, dass die Autorin anhand der von ihr spezifizieren Kernimplikationen der jeweiligen Ges-taltungsprinzipien alle demokratischen Systeme eindeutig und befriedigend klassifizieren kann. Die Autorin begründet jedoch die Klassifikation einzelner Länder in der Regel nicht, sondern verweist lediglich in Fußnoten auf zusammenfassende Einschätzungen anderer Autoren, deren Kriterien und Begründungen im Dunkeln bleiben – und zwar in offensicht-lich problematischen Fällen.“20

Die Arbeit von Jung zeigt dennoch, dass sich die Perspektive in der wissen-schaftlichen Auseinandersetzung ohne Frage von dem ob hin zum wie gewandelt hat. Die Demokratietypen hierbei ins Visier zu nehmen ist ohne Zweifel ein sehr grundlegender Ansatz. Es ist aber nur ein Bereich. Decker hat drei Bereiche ausgemacht, die für die Systemverträglichkeit direkter Demokratie (in der Bun-desrepublik) essentiell sind: Die verfassungsrechtliche Kompatibilität, das par-lamentarische System und der Parteienwettbewerb und drittens der Föderalis-mus. Diese drei Aspekte determinieren, wie ein direktdemokratisches Verfahren aufgebaut sein muss, damit es systemverträglich funktioniert.21 Damit stellt De-cker im Gegensatz zu Jung explizit die Polity22- und Politics-Dimension als Determinanten nebeneinander und bezieht die zentralen Akteure der vierten Entwicklungsphase der direkten Demokratie, nämlich die politischen Parteien, mit ein.

19 Ganghof: ohne Titel, von: www.mpi-fg-koeln.mpg.de/people/ga/Dok/Jung_final.pdf 20 Vgl. Ebenda. Ähnlich wie im Fall Frankreichs, der hier von Ganghof gemeint ist, be-

gründet Jung ihre Einschätzung Italiens in einer Fußnote. Vgl. Jung, 2001, S. 257. 21 Vgl. Decker, 2005, S. 1127-1138. 22 Zahlreiche englische Begrifflichkeiten, wie Polity, Politics oder auch Partyness werden

hier nicht in Anführungszeichen gesetzt, da sie als Fachbegriffe auch in der deutschen Politikwissenschaft Geltung haben.

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Die zentrale Rolle von Parteien ist für moderne, pluralistische, europäische Demokratien das wesentliche Kennzeichen. Parteien dominieren das politische Geschehen. Als das Fleisch und Blut der Repräsentation sind sie aus den gesell-schaftlichen Modernisierungs- und Differenzierungsprozessen im Europa des 19. Jahrhunderts hervor gegangen. An ihnen führt zumindest in parlamentarischen Demokratien (eigentlich) kein Weg vorbei, auch wenn Rolle und Selbstverständ-nis einem Wandel unterliegen (Stichwort Parteienkrise, Ende der Mitgliederpar-tei23). In Europa leisten Parteien nach wie vor die Aggregation und Bündelung von Interessen, die Personalselektion und Entscheidungsfindung im parlamenta-rischen Prozess. Als in Verfassungen (soweit vorhanden) vorgesehene politische Institutionen sind sie wesentlicher Teil der Polity, durch die Interessenaggregati-on der eigentliche Träger des demokratischen Wettbewerbs (Politics), und ent-scheiden als „Parties in Government“ über politische Inhalte (Policies).24 Diese Rolle ist nicht nur das Hauptcharakteristikum parlamentarischer Demokratien westeuropäischen Zuschnitts, sondern auch ihr demokratietheoretisches Stand-bein. Analytisch ist es also dringend geboten, eine Untersuchung der Kompatibi-lität von direktdemokratischen Verfahren und repräsentativen Systemen auf die Rolle von Parteien zu beziehen.

Der folgende kurze Überblick zeigt, dass das Wissen um das Verhältnis von Parteien und direkter Demokratie ohne eine theoretische Anbindung zum Teil widersprüchlich, zersplittert oder einseitig ist. Wenn de Vreese daraufhin weist, dass es allgemein als bekannt gilt, dass Parteien durch direkte Demokratie ge-schwächt werden25, dann scheint sich die „Zwei-Reiche-Theorie“ hier teilweise zu halten. Wie ist also das Verhältnis von direktdemokratischen Verfahren und politischen Parteien in repräsentativen Demokratien? Müssen Parteien durch die Implementierung direktdemokratischer Verfahren in repräsentative Systeme Einbußen in ihrem Status hinnehmen? Wird die öffentliche Debatte betrachtet, scheint dies ausgemacht. Dabei steht weniger die systemische Frage von Jung im Vordergrund, als dass direkte Demokratie als Heilmittel gegen die Auswüchse des Parteienstaates und all seinen Defekten hingestellt wird.26 Die starke norma-

23 Vgl. Wiesendahl, Das Ende der Mitgliederpartei. Die Parteiendemokratie auf dem Prüf-stand, in: Dettling (Hrsg.), Parteien in der Bürgergesellschaft. Zum Verhältnis von Macht und Beteiligung, Wiesbaden 2005, S. 23-42; Wiesendahl, Mitgliederparteien am Ende? Eine Kritik der Niedergangsdiskussion, Wiesbaden 2006. Hornig, Die Spätphase der Mitgliederparteien in Westeuropa, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2008, Heft 1, S. 45-62.

24 Decker, Parteien und Parteiensysteme im Wandel, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1999, Heft 2, S. 345-361, S, 345f.

25 Vgl. De Vreese, Political parties in dire Straits? Consequences of National Referendums for political parties, Party Politics 2006, Heft 5, S. 581-598, S. 581.

26 Vgl. Hages, Politik ohne Parteien. Die Überwindung des Parteienstaates, Würz-burg/Boston 2002; Martin, Die Europafalle: Das Ende von Demokratie und Wohlstand, München 2009.

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tive Komponente verleiht der Diskussion für Decker dabei „bisweilen die Züge eines Glaubenskriegs“.27 Es handelt sich nicht um die Frage, ob die repräsentati-ve Demokratie durch eine direktdemokratische ersetzt werden soll. Vielmehr wird ein Gegensatz zwischen direkter Demokratie und politischen Parteien als den handelnden Akteuren aufgemacht. Auch Vereine wie „Mehr Demokratie e.V.“ fordern Volksabstimmungen als Korrektiv zum Parteiensystem, wenn auch weniger populistisch.28 Direkte Demokratie muss auch als Zugpferd und Legiti-mation für monothematische Splittergruppen herhalten, wie z.B. die „Wählerge-meinschaft Für Volksentscheide“, die bei der Europawahl 2009 in vier Wahlkrei-sen in Bayern angetreten ist und gezielt gegen die etablierten Parteien polemi-siert hat.29 Kritiker des repräsentativen Polit-Betriebes, wie der Österreichische Europaabgeordnete Hans-Peter Martin, fordern schon lange mehr Volksabstim-mungen auf Europäischer Ebene. Direkter Demokratie wird die Funktion eines Korrektivs gegenüber den repräsentativen Eliten zugewiesen, mit dem auch vermeintlich unangenehme Entscheidungen getroffen werden können. Als Bei-spiele gelten die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden 2005, mit denen die Europäische Verfassung abgelehnt wurde. Sie werden als Denkzettel-abstimmungen wahrgenommen. Direkte Demokratie bekommt als Analysege-genstand in Bezug auf Europa und die deutsche Debatte einen politischen Cha-rakter. In der öffentlichen Debatte wird direkte Demokratie also eher als Ge-schütz gegen die Parteienherrschaft in Position gebracht. Ist das Ende der „Zwei-Reiche-Theorie“ vielleicht ein wenig zu früh ausgerufen worden? Tatsächlich geht der Aufstieg der direkten Demokratie in den vergangenen 20 Jahren mit dem zunehmenden Abstieg der Parteien einher. Die nachlassende Responsivität und Inklusivität der Parteien als klassische intermediäre Strukturen, rücken die direktdemokratischen Verfahren unwillkürlich in ein helleres Licht. Die Frage ist nur, wie der Zusammenhang ist.

„In der Bewegungsforschung wird argumentiert, dass [durch die Implementierung direkt-demokratischer Verfahren] induzierte Öffnung des politischen Systems Organisationsfähi-gen Außenseitern wie Interessengruppen und sozialen Bewegungsakteuren zu Gute kom-

27 Vgl. Decker, 2005, S. 1114. 28 Vgl. die Pressemitteilung „Parteipolitik genügt nicht - Mehr Demokratie fordert bundes-

weite Volksentscheide“ vom 5. Mai 2009. http://www.mehrdemokratie.de/752.html?&tx_ttnews[tt_news]=5142&tx_ttnews[backPid]=275&cHash=d949680072

29 So ist auf der Homepage über die Ablehnung einer Gesetzvorlage über Volksabstimmun-gen im Bundestag die Pressemitteilung vom 11.02.09 zu lesen: „Warum hat die „Koaliti-on des Stillstands“ so entschieden, obwohl selbst aus den eigenen Reihen immer lautere Forderungen nach mehr direkter Bürgerbeteiligung vernehmbar sind? Wovor hat diese Koalition Angst? Vor dem Verlust von Macht, Einfluss und unerlässlich sprudelnden Ressourcen aus Steuermitteln? Oder vor „bildungsfernen“ Schichten, die sie meint lenken zu müssen, da sonst alles im Chaos versinkt?“. Vgl. http://www.fuervolksentscheide.de/

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me und diese den Zugang zum Entscheidungsprozess erleichtere (Kriesi et al. 1995; Gi-ugni 2006). Leidtragende hingegen – so die traditionelle Lehrmeinung – seien die Partei-en, welchen das Monopol politischer Entscheidung entzogen wird und die dadurch weiter geschwächt würden. Obwohl an letzterer These in jüngster Zeit empirisch fundierte Kritik angebracht wurde (Ladner und Brändle 1999), bleibt dennoch eine „rather mystifying sympathy“ (ebd.: 288) für sie wirkungsmächtig.“30

Das liegt daran, dass deutsche oder internationale politikwissenschaftliche Arbei-ten, die die Aspekte systematisch miteinander verbinden, kaum vorhanden sind. Dabei hat Fraenkel 1958 schon auf die plebiszitäre Komponente in repräsentati-ven Demokratien hingewiesen.31 Unter den vielen internationalen Arbeiten zur direkten Demokratie nehmen die Untersuchungen von EU-Abstimmungen, die auch einige Modelle über das Abstimmungsverhalten produziert haben, immer mehr zu.32 Ihre gemeinsame Aussage ist, dass Parteien eine wichtige Rolle als Determinante im Abstimmungsverhalten spielen und somit direktdemokratische Entscheidungen nicht isoliert von der repräsentativen Sphäre stattfinden. Die Methoden und Indikatoren sind aber wechselnd. Außerdem ist die Abhängigkeit von Umfragedaten ausgeprägt und der Radius der Untersuchungen dementspre-chend oftmals klein.

Es ist aber auch eine Zunahme der Beschäftigung mit der direkten Demokratie in Deutschland zu verzeichnen, wie zuletzt die Bestandsaufnahmen von Frei-tag/Wagchal33 oder Marxer/Pállinger/Kaufmann/Schiller34 gezeigt haben. Diese

30 Höglinger, Verschafft die direkte Demokratie den Benachteiligten mehr Gehör? Der Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf die mediale Präsenz politischer Akteu-re, Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2008, Heft 2, S. 207-243, S. 209.

31 Vgl. Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958.

32 Vgl. Svensson, Voting Behaviour in European Constitution Process, in: Marxer/Pállinger/ Kaufmann/Schiller (Hrsg.): Direct Democracy in Europe. Develop-ments and Prospects, Wiesbaden 2007, S. 163-173; Le Duc, Opinion change and voting behaviour in referendums, European Journal of Political Research 2002, Heft 6, S. 711-732; Binzer Hobolt, Direct Democracy and European Integration, Journal of European Public Policy 2006, Heft 1, S. 153-166; Binzer Hobolt, How Parties affect vote choice in European Integration referendums, Party Politics 2006, Heft 5, S. 623–647; Bützer/Marquis, Public opinion formation in Swiss federal referendums, in: Far-rell/Schmitt-Beck (Hrsg.), Do Political Campaigns matter? Campaign effects in elections and referendums, New York/Abingdon 2002, S. 163 – 182; Wagschal, Diskurs oder Machtpolitik: Welche Interessen setzen sich in der Direktdemokratie am erfolgreichsten durch?, in: Freitag/Wagschal (Hrsg.), Direkte Demokratie. Bestandsaufnahmen und Wir-kungen im internationalen Vergleich, Münster 2007, S. 303-330.

33 Vgl. Freitag/Wagschal (Hrsg.), Direkte Demokratie. Bestandsaufnahmen und Wirkungen im internationalen Vergleich, Münster 2007.

34 Vgl. Marxer/Pállinger/Kaufmann/Schiller (Hrsg.): Direct Democracy in Europe. Devel-opments and Prospects, Wiesbaden 2007.

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lösen den Band von Schiller/Mittendorf 35 als deutsche Darstellung des aktuellen Forschungsstandes ab. Auch der direkten Demokratie auf subnationaler Ebene ist neuerdings einige Aufmerksamkeit zugekommen.36 In die Jahre gekommen ist inzwischen der Vergleich von Luthardt von 1994.37 Im Zentrum der Aufmerk-samkeit steht die Analyse der Schweiz, wobei auch hier die Parteien nur eine Rolle am Rande spielen, was auf ihre Schwäche zurück geführt wird. Ergiebiger sind da die Arbeiten über Italien, wie etwa von Capretti über das abrogative Referendum und dessen Rolle im Übergang von der 1. zur 2. Republik.38 Die erste ausführliche Arbeit über das Referendum wurde 1998 von Schaefer vorge-legt, der die Veränderungen im Parteiensystem auf die Wirkung des Referen-dums zurückführte.39 Hornig hat 2005 im Zusammenhang von Abstimmungs-vorgaben und -beteiligung auf das große Einflusspotential der Parteien im Ab-stimmungsprozess hingewiesen und von einer Blockade durch die Parteien gesprochen.40 Vorher war schon Uleri zu dem Schluss gekommen, dass die Par-teien in der 2. Republik das abrogative Referendum kontrollieren.41 Die These einer Schwächung der Parteien und die These einer Schwächung der direkten Demokratie scheinen sich die Waage zu halten. Die Arbeiten sind aber unver-bunden geblieben und Ergebnisse und methodische Ansätze kaum übertragbar.

35 Vgl. Schiller/Mittendorf (Hrsg.), Direkte Demokratie, Wiesbaden 2002. 36 Vgl. Kost (Hrsg.), Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung,

Wiesbaden 2005. 37 Vgl. Luthardt, 1994. 38 Capretti konnte anhand ausgewählter Fallbeispiele zeigen, dass die Referenden über die

Wahlrechtsänderungen 1991 und 1993 zu einem Aufbrechen der blockierten Demokratie und dem Zusammenbruch der „Partitocrazia“ beigetragen haben. Trotz ihrer Errungen-schaften bekommt die Analyse durch die Beschränkung auf nur vier Fälle einen tautolo-gischen Charakter. Indem vier, in der Wirkung identische Beispiele ausgewählt wurden, kommt das gewünschte Ergebnis zu Stande, das aber nicht automatisch für die anderen 55 Fällen übernommen werden kann. Die eigentliche Kernfrage einer pluralismustheore-tischen Analyse, also ob das Referendum selbst eine offene Machtstruktur ist, wird unter Hinweis auf den quantitativen Charakter einer solchen Untersuchung ausgeblendet. Vgl. Capretti, Die Öffnung der Machtstrukturen durch Referenden in Italien, Frankfurt am Main 2001.

39 Im Mittelpunkt stehen die Initiativen, die das Wahlrecht und damit den Parteienwettbe-werb verändert haben. Obwohl diese Arbeit ein wichtiger Baustein in der Gesamtschau der Funktionen des Referendums darstellt, erscheint sie bereits teilweise veraltet. Denn die Machtfülle, die Schaefer dem Verfahren zuschreibt, wird u.a. von dessen Unanfällig-keit für den Einfluss der Parteien abgeleitet. Vgl. Schaefer, Referenden, Wahlrechtsre-formen und politische Akteure im Strukturwandel des italienischen Parteiensystems, Münster 1998, S. 101.

40 Vgl. Hornig, Wieder scheitert das Italienische Referendum an der Blockade der Parteien, KAS-Auslandsinformationen 2005, Heft 10, S. 22-29.

41 Vgl. Uleri, On referendum voting in Italy: YES, NO or non-vote? How Italian parties learned to control referendums, European Journal of Political Research 2002, Heft 6, S. 863-884.

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Darüber hinaus werden Detailfragen direkter Demokratie analysierte, z.B. von Hüller anhand der Quoren.42

Wichtige Anknüpfungspunkte für die weitere Erforschung des Verhältnisses von Parteien und direkter Demokratie hat Decker anhand der direktdemokrati-schen Praxis in den deutschen Bundesländern unter dem Oberbegriff der Sys-temverträglichkeit geliefert. Die Wechselwirkungen des repräsentativen und direkten Demokratieprinzipes laufen demnach eher auf eine Stärkung der Partei-en und eine Aushöhlung der direktdemokratischen Verfahren hinaus. Allerdings hängt dies von den konkreten Ausgestaltungen beider Seiten ab.43 Der Punkt bei Decker ist die Vereinnahmung direkter Demokratie im Sinne des Parteienwett-bewerbes. So wäre das obligatorische Referendum am konfliktärmsten, weil die Auslösung automatisch erfolge. Eine Stärkung der Parteien ist dagegen bei Refe-renden zu erwarten, die von Regierung, Parlament oder Staatspräsident angesetzt werden. Decker nennt Motive, die hinter einer Auslösung einer Abstimmung stehen könnten: Die interne Spaltung einer Partei oder die Auflösung von Ent-scheidungsblockaden. Auch die Initiative, kann hinsichtlich der Rolle der Partei-en zu unerwarteten Effekten führen.

„Diese kann vom Volk autonom betrieben und somit auch gegen die repräsentativen Or-gane eingesetzt werden, weshalb die Parteien nichts unversucht lassen bleiben dürften, ih-re Nutzung zu kontrollieren. Institutionell ergibt sich daraus eine paradoxe Situation: „Je höher der Grad […] an Parteienstaatlichkeit […], desto notwendiger erscheinen direktde-mokratische Korrektive, um die Responsivität des Systems zu erhöhen – und desto leichter fällt es den Parteien, die betreffenden Instrumente zu vereinnahmen und damit zu entwer-ten“ (Abromeit 2003: 110). Volksinitiativen und Volksbegehren führen also nicht dazu, dass die Parteien ihre Rolle als Träger des politischen Willen- und Entscheidungsbil-dungsprozesses einbüßen, sondern erweitern deren Tätigkeitsfeld lediglich vom Parlament in eine andere politische Arena.“44

Auch Morel hat Handlungsmuster von Parteien und Regierungen bei Volksab-stimmungen klassifiziert. Auch wenn die Argumentation eigentlich auf den Französischen Staatspräsidenten abzielt, wurden wichtige Funktionen und In-strumentalisierungsweisen von direktdemokratischen Verfahren durch Regierun-gen herausgearbeitet.45 Dass Parteien der direkten Demokratie nicht hilflos ge-

42 Vgl. Hüller, Herrschaft des Quorums? Ein Vorschlag zur Lösung eines Problems direkter Demokratie, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2006, Heft 4, S. 823-833.

43 Vgl. Decker, 2005; Decker, Direkte Demokratie im deutschen „Parteienbundesstaat“, Aus Politik und Zeitgeschichte 2006, Heft 10, S. 3-10; Decker, Parlamentarische Demo-kratie vs. Volksgesetzgebung. Der Streit um ein neues Wahlrecht in Hamburg, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2007, Heft 1, S. 118-133;

44 Decker 2005, S. 1133. 45 Vgl. Morel, The Rise of ‘Politically Obligatory’ Referendums: The 2005 French Refer-

endum in Comparative Perspective, West European Politics 2007, Heft 5, 1041-1067.

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genüber stehen hat auch Höglinger anhand der medialen Präsenz von politischen Akteuren in den USA, der Bundesrepublik und der Schweiz gezeigt. Die Frage war, ob sich institutionelle Eigenheiten auf die Erfolgschancen der Akteure zur massenmedialen Kommunikation auswirken. Höglinger stellt fest, dass durch direkte Demokratie keine Schwächung der Parteien in der öffentlichen Arena, sondern eine Stärkung erfolgt. Ursächlich ist die zusätzliche Möglichkeit sich zu profilieren. Parteien können durch gelungene politische Kommunikation system-immanente Nachteile ausgleichen.46 Die Arbeiten von Decker, Höglinger oder Morel werden im Folgenden aufgenommen und weiter entwickelt.

Ausgangspunkt dieses neuen Ansatzes ist die zentrale Rolle politischer Partei-en in modernen, repräsentativen Demokratien in Europa. Dies ist der gegebene Handlungsrahmen für die Funktionsweise von ergänzenden direktdemokrati-schen Verfahren. Katz, Wildenmann et al. haben der normativen, funktionalen und dynamischen Rolle der Parteien in modernen Demokratien Rechnung getra-gen und hierfür das Konzept des Party Government (PoG) entwickelt.47 Das Konzept des Party Government benennt und kategorisiert Ausprägungen der Rolle der Parteien im Regierungsprozess. Trotz der „Responsible Parties Doctri-ne“48 als normativer Basis, ist das Modell deskriptiv und klassifikatorisch und dient der Einschätzung des Parteieinflusses auf die Politik. Die graduelle Per-spektive auf demokratisches Regieren von Parteien versteht Party Government und Party als Ideale, an die sich politische Systeme in der Realität annähern.

„Party Government is an abstraction of European parliamentary Democracy in the era of mass suffrage. Although most clearly based on academic interpretations of British prac-tice, the Party Government model is an intellect construct whose logic is far more coherent than is the actual operation of any real Government.”49

Die Partyness of Government als Grad des Parteieneinflusses beruht auf drei Bedingungen. Regierungsentscheidungen müssen von Personen getroffen wer-den, die durch den Parteienwettbewerb in ihr Amt gekommen sind und nicht über die Verwaltung. Zweitens werden die umgesetzten Inhalte nicht nur von gewählten Vertretern, sondern auch entlang von Parteilinien getroffen. Die Re-gierungspartei muss sich mit ihrem Programm durchsetzen und zugleich inhalt-lich verantwortlich gemacht werden können. Drittens wird die Personalauswahl

46 Vgl. Höglinger, 2008, S. 207-243. 47 Vgl. Katz, A Rationalistic Conception, in: Castles/Wildenmann (Hrsg.), Visions and

Realities of Party Government, Berlin/New York 1986, S. 31-76; Katz, Party Govern-ment and its Alternatives, in: Katz (Hrsg.), Party Governments: European and American Experiences, Berlin/New York 1987, S. 1-26.

48 Vgl. Ranney, The Doctrine of Responsible Party Government, Urbana 1962. 49 Katz, 1986, S. 43.

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innerhalb der Parteien getroffen. Die Parteien müssen entscheidend für den Zu-gang zu Ämter sein und das Scharnier, über das ein Austausch stattfindet.

Dass Parteien in Demokratien das Regierungshandeln bestimmen wollen, ord-net Katz in den Rahmen des Rational-Choice-Paradigmas ein. Unterstellt wird ein zielgerichtetes rationales Handeln, was bei kollektiven Akteuren wie Parteien allerdings zu logischen Schwierigkeiten führt. So müssen Parteien eher als ein „they“ denn als ein „it“ betrachtet werden. Zu deutlich sind Strömungen, Flügel und Verbindungen zu anderen Organisationen, z.B. Gewerkschaften. Obendrein agieren in Parteien Individuen mit persönlichen Ambitionen. Daher ist weder ein eindeutiges Ziel noch eine uneingeschränkt tonangebende Instanz in Parteien vorhanden. Parteien variieren hinsichtlich der Umsetzung ihrer Funktionen, Geschlossenheit, Durchsetzungskraft und Verantwortungsbereitschaft. Refer-enzpunkt ist die ideale Partei, die sich durch „cohesive team behaviour“, „orien-tation towards winning control over the totality of power“ und „claiming legiti-macy on the basis of electoral success“ auszeichnet.50

„This implies that one should be concerned with the level of Partyness of a group, that is with the degree to which a group approximates the Party ideal type, rather than with the dichotomous choice of whether or not to call the group a Party.”51

Zwischen der Partei als Einheit und als Summe ihrer Mitglieder liegt die Realität verortet. Amerikanische Parteien sind mehr lockere Organisationen mit starken Mechanismen der direkten Personenauswahl („Primaries“), wohingegen in Westeuropa die organisierte Massenmitgliedschaft dominiert.

Abromeit/Stoiber haben das Party Government-Konzept aufgegriffen und un-ter dem Aspekt der Parteiendominanz weiterentwickelt. Sie haben die Geschlos-senheit der Parteien als eine weitere Kategorie neben die Partyness of Govern-ment gestellt und als Partyness of Organisations (PoO) bezeichnet. Über die Veto-Spieler-Theorie nach Tsebelis52 kommen Abromeit/Stoiber zur ihrem Ver-ständnis vom Gewicht der Parteien in repräsentativen Demokratien. Demnach…

„…prägen die politischen Parteien das Zusammenspiel und die Machtrelationen der insti-tutionellen Vetospieler, und zwar auf unterschiedliche Weise. In einem Fall sorgen sie für eine Machtkonzentration an unvermuteter Stelle, im anderen Fall schaffen sie Blockadesi-tuationen, mit denen man bei bloßer Betrachtung des Institutionen-Ensembles nicht rech-nen würde, im dritten Fall erzeugen sie Machtdispersion und Instabilität. Verantwortlich

50 Vgl. Katz, 1986, S. 37- 41. 51 Katz, 1986, S. 52. 52 Vgl. Tsebelis, Veto Players. How political Institutions work, New York/Princeton 2005.

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für diese unterschiedlichen Effekte sind zumeist die Struktur des Parteiensystems sowie die Handlungsimperative, die sich für die einzelnen Parteien daraus ergeben.“53

Die Kontrolle der Veto-Spieler durch Parteien verleiht der Parteiendominanz zusätzlichen Ausdruck, allerdings in keiner eigenen Partyness-Dimension. Wich-tig ist die Unterscheidung von institutionellen, situativen oder entscheidenden Veto-Spieler. Neben der Erhebung der Partyness of Organisations zu einem Kriterium für Parteiendominanz, wird noch ein drittes Kriterium hinzu gefügt.

„Ein zusätzlicher Indikator ergibt sich aus der Partyness of Society. Die liegt nicht erst dann vor, wenn die Parteien Einfluss auf andere situative Vetospieler wie die Verbände oder auch auf weitere gesellschaftliche Akteure (wie z.B. die Medien) nehmen können, die zwar nicht als Vetospieler einzustufen sind, aber doch Einstellungen und Verhalten der Bürger wesentlich mitprägen. Sie ist ansatzweise schon dann gegeben, wenn Politiker eng mit ihrer Klientel verbunden sind und sie dank hoher Mitgliederzahlen oder enger Partei-bindungen auch direkt erreichen können.“54

Diese Dominanz in gesellschaftlichen Bereichen, ist bei Katz kein explizites Kriterium gewesen; wird aber von Abromeit/Stoiber zu einem solchen erhoben. Zusammen ergeben sich drei unterschiedliche, an das Party Government-Konzept angelehnte, Dimensionen von Partyness: Die Partyness of Government, wie sie von Katz ausführlich dargestellt wurde, die Partyness of Organisations, wie sie von Katz implizit dargestellt wurde und die Partyness of Society, die bei Katz nur am Rande Erwähnung findet. Bei der Partyness of Government kom-men wieder die Subdimensionen von Katz zum Tragen (Ämterbesetzung, Poli-tikinhalten, Personalselektion). Für die Parteiendominanz nach Abromeit/Stoibersind die drei Partyness-Dimensionen gleichwertig, während bei Katz ursprüng-lich nur die Partyness of Government zählte.

„In Modifikation des Katz’schen Konzepts, das auf Amtsinhaber und Politikinhalte ab-hebt, werden wir die Existenz von Parteien-Dominanz dann vermuten, wenn Parteien von bestimmendem Einfluss auf das Verhalten der wichtigsten oder gar aller institutionellen Vetospieler sind.“55

Ein hohes Maß an Party Government muss nicht unbedingt mit einem hohen Maß an Parteiendominanz verbunden sein. Während in Schweden, Italien, den Niederlanden, Finnland, Deutschland und Österreich eine Parteiendominanz vorliegt, ist diese in der Schweiz nur schwach vorhanden und in Frankreich gar

53 Abromeit/Stoiber, Demokratien im Vergleich, Wiesbaden 2006, S. 152.54 Abromeit/Stoiber, 2006, S. 155. 55 Ebenda, S. 155.

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nicht. In Großbritannien besteht Party Government ohne nennenswerte Parteien-dominanz.

Der Ausgangslage einer Parteiendominanz in den politischen Systemen West-europas muss sich auch die Analyse der Funktion von direktdemokratischen Verfahren in repräsentativen Systemen stellen. Aus ihr geht die Vermutung her-vor, dass das, was für ein politisches System als solches gilt, auch für die darin zu findenden direktdemokratischen Verfahren gilt. Anhand dieser Beschreibung und angesichts des Ansatzes von Katz et al. können schon Zweifel aufkommen, ob die rein institutionelle Sichtweise von Jung auf die Funktionsweise direkter Demokratie in repräsentativen Systemen wirklich den Kern der Sache trifft. Die Grundannahme ist, dass politische Parteien auch die direktdemokratischen Pro-zesse in „ihrem“ jeweiligen politischen System dominieren. Es ist realistisch zu erwarten, dass Parteien ihre privilegierte Stellung nutzen, um direktdemokrati-sche Verfahren nach ihren Interessen zu beeinflussen. Dies steht der vermeintli-chen Schwächung von Parteien durch direkte Demokratie entgegen. Wenn der politische Wettbewerb in Europa in der Hauptsache durch Parteien eingerahmt wird, muss erwartet werden, dass Parteien auch im Kontext von Referenden ein besonderes Gewicht zukommt, so Binzer Hobolt.56 Daher wird im Folgenden der Einfluss der politischen Parteien auf die direktdemokratische Praxis als alternati-ve Erklärung überprüft. Es geht dabei nicht primär um die Analyse von Parteien-systemen, Parteientypen oder von Parteienstaatlichkeit, sondern um die Frage, ob und wenn ja wo und warum direkte Demokratie von Parteien bestimmt wird.

Dazu wird im zweiten Kapitel eine Erweiterung des Parteiendominanzansat-zes auf den Funktionsbereich der direkten Demokratie entwickelt, als neue vierte Säule. So wie den Institutionen des politischen Systems fallweise eine Partyness attestiert werden kann, kann auch die Funktionsweise direktdemokratischen Verfahren fallweise von einer Partyness gekennzeichnet sein: Die Partyness of Direct Democracy (PoDD). In der Operationalisierung wird die PoDD in drei Subdimensionen zerlegt, die sich an einem vereinfachten, logischen Ablauf eines direktdemokratischen Prozesses orientieren. Für alle Subdimensionen werden Bewertungsmaßstäbe entwickelt. Die erste Subdimension PoDD1 stellt die Ein-leitung einer Abstimmung in den Mittelpunkt. Verschiedene Typologien idealty-pischer direktdemokratischer Verfahren zeigen, dass diese in der Regel anhand der Kompetenzen für Auslösung und Urheberschaft als Kernkriterien unterschie-den werden. Daher werden alle Einflussmöglichkeiten der Parteien darauf er-schlossen und durch eine Berücksichtigung der Umstände der Auslösung einer Abstimmung in der Realität, ergänzt. Zusammen ergibt sich eine gemeinsame Bewertungsskala für den formalen und den realen Einfluss politischer Parteien auf die erste Phase eines idealtypischen direktdemokratischen Prozesses. Dieser wird anhand eines PoDD1-Wertes wieder gegeben.

56 Vgl. Binzer Hobolt, 2006, S. 628.

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Der Vorgang der Abstimmung markiert die zweite Subdimension der Party-ness of Direct Democracy (PoDD2). Anhand der aktuellen Forschung über das Abstimmungsverhalten der Bürger bei direktdemokratischen Entscheidungen wird gezeigt, dass es nur begrenzt möglich ist, den tatsächlichen Einfluss der Parteien herauszufiltern. Zu viele Faktoren kommen in der „Blackbox Referen-dum“ zum Tragen. Daher werden die Abstimmungen vom Ergebnis her betrach-tet. Die dazu entwickelte Stimmenpotential-Analyse zeigt auf eine einzelne Stimme genau, wie sehr ein Abstimmungsergebnis von dem von den Parteien favorisierten Ergebnis abweicht. So kann bemessen werden, welche Abstim-mung wirklich einen Denkzettel-Charakter hatte und welche im Sinne der Partei-en ausgefallen ist. Unabhängig von Umfragedaten, die nicht in jedem Fall ver-fügbar sind, kann zwar nicht die Ursache der Ergebnisse, aber ihr Störpotential im repräsentativen System quantifiziert werden. Die vorliegenden Umfragen zu einer Abstimmung werden erklärend hinzugezogen, fließen aber nicht in den PoDD2-Wert mit ein.

Die dritte Subdimension PoDD3 betrifft die Verbindlichkeit der direktdemo-kratisch getroffenen Entscheidungen und damit die letzte Phase im logischen Ablauf eines direktdemokratischen Prozesses. Während Jung festhält, dass Volksabstimmungen zwar nicht immer de jure aber de facto letztentscheidend sind57, ergibt die Realität der direktdemokratischen Praxis in Europa auf nationa-ler und subnationaler Ebene ein differenziertes Bild. Es gibt auch Beispiele für eine de facto-Verbindlichkeit von Volksabstimmungen, die de jure nicht bindend waren.58 Für die dritte Subdimension werden Kriterien für den Bestand von Ent-scheidungen und/oder die Abänderung durch repräsentative Akteure entwickelt und anschließend operationalisiert. Im Vordergrund stehen die formalen Rege-lungen. Der Einfluss der Parteien hierauf wird in einem PoDD3-Wert wiederge-geben.

Nach der Ausarbeitung des analytischen Konzeptes folgt in den Kapiteln drei bis elf die Übertragung des Partyness of Direct Democracy-Konzeptes auf die direktdemokratischen Praktiken in neun Untersuchungsländern. Das Party Go-vernment-Konzept beschränkte sich ursprünglich auf Westeuropa und Nordame-rika, da nur dort in den 1980er Jahren gefestigte Demokratien zu finden waren. Inzwischen hat sich das nach der Öffnung des Ostblocks geändert, doch unter-scheiden sich die Parteiensysteme in West- und Osteuropa nach wie vor. Die osteuropäischen Parteiensysteme haben sich durch die verkürzte Demokratisie-rungsphase schneller und dynamischer gewandelt. Nach einer anfänglichen In-

57 Vgl. Jung, 2001, S. 85. 58 Die Abstimmung in Portugal vom Februar 2007 steht für eine sich etablierende Tradition,

dass Abstimmungen trotz der Verfehlung des Beteiligungsquorums von den jeweiligen Regierungen als verbindlich angesehen werden. Vg. Freire/Baum, Referenda voting in Portugal 1998: The effects of party sympathies, social structure and pressure groups, European Journal of Political Research 2003, Heft 1, S. 135-161.

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stabilität konstatiert Thieme zu letzt eine Entwicklung weg von der starken Fluk-tuation hin zu gefestigten Konstellationen.59 Zwar haben in den neuen Demokra-tien Osteuropas direktdemokratische Verfahren große Berücksichtigung gefun-den und Litauen und Slowenien verfügen inzwischen über eine ausgeprägte Abstimmungspraxis. Doch wird die Untersuchung auf Westeuropa aus arbeitsor-ganisatorischen Gründen beschränkt. Unter dem Oberbegriff der konsolidierten Demokratien lässt sich so zumindest eine Auswahl ähnlicher Fälle herstellen. Auch wenn das ursprüngliche Party Government-Konzept den europäischen parlamentarischen Demokratien nachempfunden ist, weist Katz daraufhin, dass es keine entscheidende Rolle spielt, ob es sich um ein parlamentarisches oder ein präsidentielles, ein Verhandlungs- oder ein Mehrheitsdemokratisches System handelt, da das Party Government-Konzept mit allen kompatibel ist.60 Die USA fallen allerdings weg, da es dort keine direktdemokratische Praxis auf nationaler Ebene gibt. Aus demselben Grund fallen in Westeuropa des Weiteren die Bun-desrepublik, Belgien und Griechenland weg. Die Partyness of Direct Democracy auf subnationaler Ebene und ihr Unterschied gegenüber der nationalen Ebene ist zwar eine relevante Forschungsfrage, soll aber angesichts der höheren Bedeu-tung der nationalen Ebene hier nicht weiter verfolgt werden.

Aus der restlichen Gruppe westeuropäischer Staaten ergeben sich als Untersu-chungsländer Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Schweiz, Ös-terreich, Schweden und Norwegen, während Irland, Spanien, Luxemburg, Portu-gal und Finnland nicht berücksichtigt werden. Qualitative Überlegungen, d.h. die Gestaltung von nationalen Verfahren, spielen als Kriterien bei der Länderselekti-on keine Rolle, da es darum geht eine möglichst breite Basis für die These der PoDD zu bilden. Daher können auch Spanien, Portugal und Finnland vernachläs-sigt werden, da ganz ähnliche Fälle bereits im Untersuchungsraster vertreten sind.61 Einzig die Auslassung von Irland ist eine Leerstelle. Irland verfügt über die quantitativ drittintensivste direktdemokratische Praxis in Europa. Seit der Einführung der irischen Verfassung mit einer Volksabstimmung im Jahr 1937 haben 28 Abstimmungen stattgefunden - allein 12 im Zeitraum von 1995 bis einschließlich 2005. Allerdings konnte der Fall Irland aufgrund seiner umfang-reichen Praxis nicht mit berücksichtigt werden. Dennoch bietet die Auswahl von neun Ländern mit vielen und wenigen Abstimmungen, mit offenen und geschlos-

59 Vgl. Thieme, Wandel der Parteiensysteme in den Ländern Ostmitteleuropas: Stabilität und Effektivität durch Konzentrationseffekte?, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2008, Heft 4, S. 795-809, S. 809.

60 Vgl. Katz, 1986, S. 45. 61 In Spanien hat es bislang zwei nationale Abstimmungen gegeben, die 1986 den Beitritt

des Landes zur NATO und 2005 den Vertrag über eine Verfassung für Europa betrafen. In Portugal wurde über die Legalisierung der Abtreibung (1998 und 2007) und die De-zentralisierung des Landes abgestimmt. In Finnland wurde 1994 dem Beitritt des Landes zur EU zugestimmt.

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senen Verfahren und mit unterschiedlichen Ausprägungen von Parteiendomi-nanz, eine ausreichend breite Basis für die Untersuchung. Die Gesamterländer-gebnisse werden im zwölften Kapitel gebündelt dargestellt und im 13. Kapitel abschließend theoretisch diskutiert. Für eine vergleichend angelegte Studie liegt das vorliegende Buch mit neun Untersuchungsländern im Bereich eines mittel-großen Vergleichs. Es wird durch die Einbettung der Argumentation in die be-stehende Theorie und zugleich die Generierung neuer theoretischer Kraftfelder ein qualitativer Ansatz verfolgt.

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