8
Das Experimental- Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009 von Mercedes-Benz Von 1970 bis 1974 beteiligte sich die damalige Daimler-Benz AG mit 24 Erprobungs- trägern am Programm der Experimental-Sicherheits-Fahrzeuge (ESF). Darin wurden viele Systeme zur Verbesserung der passiven und aktiven Sicherheit entwickelt, die sich heute in nahezu allen neuen Pkw wiederfinden. Im ESF 2009 will Mercedes-Benz die Potenziale mit heutiger Technologie machbarer neuer Lösungskonzepte zeigen. Dazu integrierte Daimler auch Systeme, deren Serieneinsatz derzeit noch nicht möglich ist, um erforderliche Technologieentwicklungen zur Diskussion zu stellen. VERKEHR + UMWELT VDI-Jahrbuch 2010 80 Integrierte Sicherheit Berlin

Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009von Mercedes-BenzVon 1970 bis 1974 beteiligte sich die damalige Daimler-Benz AG mit 24 Erprobungs-trägern am Programm der Experimental-Sicherheits-Fahrzeuge (ESF). Darin wurden viele Systeme zur Verbesserung der passiven und aktiven Sicherheit entwickelt, die sich heute in nahezu allen neuen Pkw wiederfinden. Im ESF 2009 will Mercedes-Benz die Potenziale mit heutiger Technologie machbarer neuer Lösungskonzepte zeigen. Dazu integrierte Daimler auch Systeme, deren Serieneinsatz derzeit noch nicht möglich ist, um erforderliche Technologieentwicklungen zur Diskussion zu stellen.

VErkEHr + UMwELT

VDI-Jahrbuch 201080

Integrierte Sicherheit Berlin

Page 2: Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

1 Einführung und Motivation

Die damaligen Fahrzeuge, Bild 1, behan-delten bereits gemeinsam die Themen der aktiven und passiven Sicherheit. Dieser integrale Sicherheitsansatz auf Basis damaliger Technologie zeigte ei-nen Ausblick zu den Verbesserungsmög-lichkeiten der Fahrzeugsicherheit. Heu-te befinden sich die meisten der einst re-volutionären Systeme in den Serienfahr-zeugen fast aller Hersteller. Seit 1974 wurden weltweit keine weiteren Experi-mental-Sicherheits-Fahrzeuge aufgebaut und im Rahmen der ESV-Konferenz vor-gestellt.

Mercedes-Benz möchte mit der Neuauf-lage eines Experimental-Sicherheits-Fahr-zeugs anregen, das Thema Fahrzeugsicher-heit erneut ganzheitlich zu diskutieren.

Hierbei sollen auf Basis heutiger Tech-nologien neue Lösungskonzepte darge-stellt und deren Potenziale gezeigt wer-den. Dabei sind auch bewusst Systeme in-tegriert worden, deren Serieneinsatz aus heutiger Sicht noch nicht möglich ist, um die erforderlichen Rahmenbedin-gungen und Technologieentwicklungen zur Diskussion zu stellen.

2 Beschreibung der Themenschwerpunkte

Die insgesamt 26 Themen aus sechs The-menfeldern können in diesem Aufsatz nicht umfassend erläutert werden. Stell-vertretend für die Themenfelder werden deshalb ausgewählte Systeme detaillier-ter vorgestellt. Die folgenden Themen-felder wurden im ESF 2009 berücksich-tigt, sortiert nach dem integralen Si-cherheitsansatz [1], also von der Unfall-vermeidung und die Pre-Safe-Phase über den Schutz der Verkehrsteilnehmer beim Unfall bis hin zu Maßnahmen nach dem Unfall.

2.1 Systeme zur verbesserten WahrnehmungInsbesondere die verbesserte Fremd- und Eigenwahrnehmung des Verkehrsum-felds erschließt Potenziale zur Minde-rung der Unfallzahlen.

Zur erweiterten differenzierten Sicht-barkeit anderer Verkehrsteilnehmer für den Fahrer liefert das Thema Spotlight einen Lösungsvorschlag. Die Gefahren-

markierung findet mit dieser Technolo-gie direkt innerhalb der Verkehrssitua-tion statt. Zur Verbesserung der Sichtbar-keit des eigenen Fahrzeugs durch fremde Verkehrsteilnehmer soll insbesondere im seitlichen Bereich die technische Lösung am ESF 2009 ein Beispiel darstellen. Es wurde hierbei die seitliche Eigensicht-barkeit durch passive Rückstrahlmaß-nahmen verbessert.

Beide Themen werden in der weiteren Vorstellung näher erläutert. Ergänzend wird das Thema Intelligent Night View zur aktiven Nachtsichterkennung und Hervorhebung von Fußgängern und Tie-ren am Fahrzeug thematisiert.

2.2 FahrzeugkommunikationSysteme zur Fahrzeugkommunikation zwecks Unfallvermeidung oder Rettung werden auf dem Weg zum sicheren Fah-ren einen wesentlichen Beitrag leisten. Vor allem in Situationen, die durch eine frühe Warnung hinreichend entschärft werden können, oder wo eine vorhande-ne fahrzeugautonome Sensorik zum Bei-spiel in verdeckten Situationen keinen Mehrwert bieten kann, liefert die Kom-munikation zwischen Fahrzeugen einen wichtigen Mehrwert. Eine solitäre Her-stellerlösung kann an dieser Stelle je-doch nicht zum Ziel führen, vielmehr sind der erfolgreiche Verbund vieler Her-steller zur Vereinheitlichung der Stan-dards und ein Modell zur schnellen Marktpenetration der Technologien er-forderlich. Aus diesem Grund wurde dieses wichtige Thema in dem Fahrzeug platziert.

Die Autoren

Ulrich Mellinghoff ist Leiter Mercedes-Benz Cars Development Safety, NVH und Tes-ting der Daimler AG in Stuttgart.

Prof. Dr. Thomas Breitling ist Centerleiter Aktive Sicherheit, Fahrdyna-mik und Energiema-nagement der Daimler AG in Stuttgart.

Prof. Dr. Rodolfo Schöneburg ist Centerleiter Passive Sicherheit, Betriebsfes-tigkeit und Fahrzeug-funktionen der Daimler AG in Stuttgart.

Hans-Georg Metzler ist Centerleiter Fahrer-assistenzsysteme und Fahrwerk der Daimler AG in Stuttgart.

Bild 1: ESF 13 von 1972

VDI-Jahrbuch 2010 81

Page 3: Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

2.3 FahrerassistenzsystemeSysteme zur Unfallvermeidung und Auf-prallschwereminderung stellen einen we-sentlichen Stützpunkt zukünftiger Ent-wicklungen zur Verbesserung der Fahr-zeugsicherheit dar. Auf der Basis verbes-serter und erweiterter Umfeldsensorik (Radar und Stereokamera) werden neue Assistenzfunktionen möglich, die den Fahrer zum Beispiel auch in kritischen Kreuzungssituationen unterstützen.

Die Assistenten im ESF 2009 adressie-ren die Themen Längsführung, Querfüh-rung und Wahrnehmungsverbesserung:– Der Totwinkelassistent kann nicht

nur eine Warnung absetzen, sondern auch über Einzelradbremsungen dro-hende Kollisionen mit Fahrzeugen im toten Winkel vermeiden helfen.

– Der erweiterte Spurassistent umfasst ebenfalls eine Warnstufe und bei er-kannter Gefahr des kritischen Fahrspur-

verlassens einen spurkorrigierenden Eingriff über Einzelradbremsung. In einer weiteren Ausbaustufe können auch erkannte Kollisionsobjekte zu einem spurkorrigierenden Eingriff führen.

– Verkehrszeichenassistenz zur Visuali-sierung der momentan vorherrschen-den Geschwindigkeitsbeschränkung.

2.4 Virtuelle SchutzzoneSysteme zur Unterstützung des Fahrers bei hoher Gefahr eines Auffahrunfalls halten derzeit in Fahrzeuge mehrerer Hersteller Einzug. Mercedes-Benz hat mit der Einführung der Pre-Safe-Bremse in 2006 und der Erweiterung um die Voll-bremsfunktion in 2009 die vorerst letzte Ausbaustufe zur Entschärfung des längs eskalierenden Verkehrs in den Markt ge-bracht. Pre-Safe-Bremse kombiniert akus-tische und optische Warnungen, adap-tive Bremsassistenz und autonome Teil- und Vollbremsung und bietet so ein um-fassendes Paket zur Vermeidung eines Unfalls beziehungsweise zur Energiere-duktion vor einem möglichen Unfall. Au-ßerdem werden Funktionen zum vorbeu-genden Insassenschutz aktiviert. Die Nut-zung der unmittelbaren Phase vor einer Kollision für den Insassenschutz kann zur weiteren deutlichen Reduzierung der Unfallfolgen für die Betroffenen füh-ren. Es erfolgt hier die Erweiterung der

Bild 2: Unfallverteilung nach Lichtverhältnissen 2007 in Deutschland

Bild 3: Verbesserung der seitlichen Sichtbarkeit durch Side Reflect

VErkEHr + UMwELT

VDI-Jahrbuch 201082

Integrierte Sicherheit Berlin

Page 4: Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

passiven Sicherheit auf einen Zeitbereich vor dem Unfall, der so genannten „Neu-en Passiven Sicherheit“ [2]. Eine weitere Ausbaustufe stellt der Braking Bag des ESF 2009 dar, der in einem späteren Ka-pitel näher erläutert wird.

2.5 Voranstoßende innovative InsassenschutzsystemeDie bisherige Entwicklung der Insassen-schutzsysteme war in den vergangenen Jahren vor allem durch die Erweiterung des Schutzraums und Adaptivität ge-prägt. Eine erweiterte Airbagausstattung bis hinab in den Kleinwagenbereich so-wie eine Entwicklung des Gurts mit Straffung und Kraftbegrenzung konnten die Insassenbelastungen in Unfällen stark herabsetzen. In den letzten Jahren ist jedoch eine asymptotische Entwick-lung in der Reduzierung der Belastun-gen bei den vorgegebenen Lastfällen zu verzeichnen. Betrachtet man konventio-nelle Rückhaltesysteme, beurteilen selbst Experten die weiteren Entwicklungsmög-lichkeiten als gering.

Unter der Berücksichtigung der Vor-unfallphase lassen sich jedoch in der Kombination zwischen reversiblen und konventionellen Insassenschutzsyste-men Verknüpfungen schaffen, die im Zu-sammenwirken erweiterte Potenziale er-öffnen. Ein Beispiel hierfür ist das voran-stoßende Insassenschutzsystem Pre-Safe-Pulse, welches in einem späteren Kapitel vorgestellt wird.

Ein weiteres Gebiet zur Verbesserung des Insassenschutzes stellt die Fondsitzrei-he mit ihren von der vorderen Sitzreihe abweichenden Erfordernissen dar. Einer-seits findet dort häufig der Kindertrans-port statt, Insassenschutzsysteme müssen also diesen Anforderungen gerecht wer-den. Weiterhin sind die Ansprüche an ei-ne Chauffeurlimousine wie im vorlie-genden Oberklassesegment durchaus un-terschiedlich bezüglich des Insassen-schutzes. Die vorgestellten Lösungen zur Kindersicherheit und der Beltbag sollen erweiterte Schutzeinrichtungen darstel-len und werden im Rahmen der Fahrzeug-vorstellung vertieft.

Zur Verbesserung des Zielkonflikts von Struktursicherheit, Karosseriesteifig-keit und Leichtbau wird das Thema Pre-Safe-Structure im ESF 2009 thematisiert und gesondert in einem späteren Kapitel vorgestellt.

3 Technische Beschreibung ausgewählter Systeme

3.1 Side Reflect – Verbesserung der seitlichen Sichtbarkeit bei NachtDämmerung und Dunkelheit bergen ein großes Gefahrenpotenzial. Über ein Vier-tel der Unfälle ereignet sich unter diesen Lichtverhältnissen. Der Schweregrad der Verletzungen nimmt unter diesen Licht-verhältnissen zu. 40 % der Unfälle mit Getöteten ereignen sich nachts [3], Bild 2.

Die (aktiven) Beleuchtungstechniken wurden in den letzten Jahren kontinuier-lich verbessert. Dennoch bleiben viele Si-tuationen mit erhöhtem Gefahrenpoten-zial wie zum Beispiel ein liegen gebliebe-nes, unbeleuchtetes Fahrzeug auf einer Landstraße oder plötzlich querender Ver-kehr in Kreuzungen.

Side Reflect hat zum Ziel, die seitliche Sichtbarkeit des Fahrzeugs zu erhöhen, um dieses Unfallrisiko bei Nacht zu redu-

zieren. Hierzu werden die seitlichen Re-flexionseigenschaften erhöht, Bild 3. Ei-ne Komponente bilden Reflexionsstrei-fen auf den Reifen (wie bereits seit eini-gen Jahren bei Fahrradreifen üblich).

Eine weitere Komponente, die bei-spielhaft am ESF 2009 dargestellt wurde, sind die Türdichtungen mit einem Rück-strahleffekt. Hierzu werden die Türdich-tungsgummis mit einer speziellen Folie im Außenbereich beschichtet, die sich positiv in das Design des Fahrzeugs inte-griert. Durch diese reflektierenden Tür-dichtungen wird die Fahrzeugkontur be-tont und das Fahrzeug kann bei Nacht besser wahrgenommen werden.

3.2 LED-Pixel-Scheinwerfer für GefahrenlichtNachtsichtsysteme sind eine große Hilfe für den Fahrer: mit dem Nachtsichtassis-tenten kann er auch bei Gegenverkehr im-mer noch die eigene Fahrspur sowie den

Turning System Expertise into ValueDie ESG ist Ihr Experte für Automobilelektronik mit Leistungen entlang des gesamten Lebenszyklus:

Elektroniksystementwicklung und ‑integration

Individuelle Beratungsleistungen

Kundenbezogenes technisches und nicht‑technisches Training

Logistikdienstleistungen

After‑Sales Lösungen

ESG Elektroniksystem und Logistik-GmbH4www.esg.de Frankfurter Ring 211480807 München4Tel. +49 89 9216‑1831

Page 5: Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

rechten Fahrbahnrand mit einem „elek-tronischen Fernlicht“ ohne Gefahr von Blendung erkennen. Fortschritte in der Kameratechnik und in der Bildverarbei-tung ermöglichen mittlerweile auch die Erkennung von potenziellen Gefahren im Bereich auf und dicht neben der Fahr-bahn. Diese können in einem geeigneten Display besonders hervorgehoben werden, um den Fahrer zu warnen. Wünschens-wert ist es dabei, den Fahrer direkt im Ver-kehrsraum auf eine potenzielle Gefahr hinzuweisen – ohne Zeitverlust durch Blick auf ein Display. Diese Funktion wird im Folgenden als Spotlight bezeichnet.

Im ESF 2009 realisiert ist ein festste-hender Scheinwerfer mit elektronisch steuerbarer Lichtverteilung, da es bei ei-ner Spotlight-Funktion, Bild 4, auf Sekun-denbruchteile ankommt. Prinzipiell gibt es für die mechanikfreien Systeme zwei Ansätze: die Verwendung eines Videopro-jektors [4] oder Ähnliches oder die Ver-wendung eines elektronisch adressier-baren LED-Arrays [5]. Im ESF wurde der zweite Ansatz bevorzugt. Ein solches Ar-ray besteht im Wesentlichen aus einer An-zahl von einzelnen LED-Chips, die in Rei-hen und Spalten angeordnet sind. Für die Realisierung eines Fahrzeugscheinwerfers werden zirka 40 bis 100 LED-Pixel benö-tigt (je nach gewünschter Auflösung und nach maximal auszuleuchtendem Be-reich). Im ESF 2009 werden 96 Pixel in vier Zeilen angeordnet mit unterschied-lich vielen Pixeln pro Zeile. Jedes dieser 96 Pixel ist in 256 Stufen dimmbar und kann innerhalb von wenigen Millisekunden eingeschaltet werden.

Neben dem Spotlight ist es möglich, mit diesem LED-Array auch adaptive Licht-funktionen wie Kurvenlicht und Teilfern-licht zu realisieren. Gemeinsam mit der Bildauswertung können im ESF unter-

schiedliche Möglichkeiten der Fahrerwar-nung getestet werden, wobei andere Ver-kehrsteilnehmer nicht geblendet werden dürfen. Bei Fußgängern beispielsweise ist ein Anleuchten bis zur Gürtellinie oder die Projektion eines „Lichtzeigers“ auf die Fahrbahn eine potenzielle Lösung. Wäh-rend die technischen Probleme zum groß-en Teil gelöst sind, sind hier noch weitere Untersuchungen sowie Anpassungen der gesetzlichen Regelung erforderlich.

3.3 Virtuelle Schutzzone Braking BagIn der aktuellen E-Klasse Modelljahr 2009 findet erstmals die vorerst letzte Ausbau-stufe eines automatischen Notbremssys-tems Einzug. Die bereits in Serienfahrzeu-gen von Mercedes-Benz realisierte Voll-bremsfunktion im Bereich unvermeid-barer Kollision im eskalierenden Längs-

verkehr nimmt zusätzlich nochmals zirka 6 bis 8 km/h Geschwindigkeit aus der fol-genden Fahrzeugkollision. Hierzu wird zirka 0,6 s vor der Kollision das bereits teil-bremsende Fahrzeug in eine Vollbrem-sung übergeleitet. Eine zusätzliche Eskala-tionsstufe muss die Verzögerungsenergie über die der Radbremse steigern, da das Fahrzeug vorher bereits bis zur Schlupf-grenze vollverzögert wird.

Hierzu hat Mercedes-Benz das Konzept des Braking Bags entwickelt. Dazu wurde die vordere Unterbodenverkleidung einer serienmäßigen S-Klasse durch einen Air-bag mit Standard Fahrer-Airbag-Gasgene-rator erweitert. Diese Verkleidung ist dop-pelwandig ausgelegt, so dass der Airbag zwischen den beiden Wandungen ausge-breitet gelagert werden kann. Bei der Akti-vierung des Airbags expandiert dieser und stützt sich an der Oberseite des vorderen Integralträgers ab, Bild 5. Die Unterseite ist mit einem für eine optimale Verzögerung ausgelegten Reibbelag ausgestattet. Zur Überleitung der Reibkräfte, die bei der Ab-stützung des Fahrzeugs auf der Fahrbahn entstehen, ist dieser vorne am Querträger des Fahrzeugs befestigt.

Erfolgt die Aktivierung des Braking Bags im eskalierenden Frontalverkehr, also nach der Warnung bei zirka 2,6 s vor dem Kollisionszeitpunkt, nach der Einleitung der Teilbremsung bei zirka 1,6 s und nach der Einleitung der Vollbremsung bei zirka

Bild 5: Schnitt Braking Bag

Bild 4: Funktion Spotlight

VErkEHr + UMwELT

VDI-Jahrbuch 201084

Integrierte Sicherheit Berlin

Page 6: Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

0,6 s vor dem Beginn der Kollision, so führt dies zu einem schnellen und kurzzeitigen Verzögerungsanstieg mit einer Wirkdauer von zirka 75 bis 100 ms und einer Verzöge-rung von zirka 20 m/s2, Bild 6.

Der Anstieg der Verzögerung wird vor allem durch die Anhebung des vollbrem-senden Fahrzeugs im Momentanschwer-punkt beeinflusst. Expandiert der Air-bag, so hebt er das Fahrzeug kurzzeitig um zirka 80 mm an. Dabei wirkt in die-sem Zeitraum eine um den Faktor der Massenbeschleunigung und der Gesamt-fahrzeugmasse größere Normalkraft auf den Reibbelag des Braking Bags.

Diese stärkere Normalkraft führt zu ei-ner kurzzeitig ansteigenden höheren Ver-zögerung, Bild 7, als dies mit einer norma-len Radbremse erzeugt werden kann. Da-bei ist es wichtig, dass die Vorhersage über den genauen Kollisionszeitpunkt exakt bestimmt wird, da sich der Vorgang nach einem bestimmten Zeitpunkt umkehrt, es somit zu einer Entlastung und zu einem negativen Einfluss auf die Verzöge-rungsleistung kommt.

Folgende Effekte sind weiterhin zu beob-achten: Durch die Fahrzeugbewegung nach oben wird im Weiteren die Bremsnickbewe-gung kompensiert und somit die geomet-rische Kompatibilität des bremsenden Fahr-zeugs verbessert. Eine Anpassung der Defor-mationsstrukturen an die ursprüngliche Konstruktionslage stellt sich ein.

Durch die Anhebung des Fahrzeugs ist eine Heranführung der Sitzstruktur an den massenträgen Insassen ebenfalls zu beobachten. Dieser in Versuchen gemes-sene Wert beträgt zirka 20 mm, das heißt, eine Kompression des elastischen Sitz-schaums und die Annäherung der Sitz-rampe an den Körper der Insassen führen zu einer verbesserten Ankopplung im nachfolgenden Crash. Gleichermaßen gilt dies für die Ankopplung an den in der Pre-Safe-Phase bereits gestrafften Gurt. In der Eskalation zum Unfall wird bei 1,6 s der Insasse dort durch eine reversible Straffung fixiert und auf die nachfol-gende Vollbremsung vorbereitet.

Die Vollbremsung erzeugt am Gurt durch die dann wirkenden Trägheitskräf-te nochmals eine Steigerung auf zirka 400 bis 600 N. Die durch den Braking Bag er-zeugte Verzögerung von zirka 20 m/s2 ver-stärkt diese Gurtvorspannung nochmals auf zirka 800 bis 1200 N und trägt damit bereits vor der pyrotechnischen Gurtstraf-

ferzündung zu einer optimalen Verzöge-rungsankopplung bei.

3.4 Voranstoßendes InsassenschutzsystemKonventionelle Rückhaltesysteme kön-nen allenfalls als reaktive Insassenschutz-systeme bezeichnet werden. Ein Kraftauf-bau und eine damit verbundene Energie-umsetzung erfolgen zum Beispiel inner-halb des Gurtsystems erst, nachdem der Insasse durch seine Vorverlagerung im Frontalaufprall nach einer bestimmten Zeit einen notwendigen Weg zurückge-legt hat. Zu diesem Zeitpunkt ist jedoch bereits wertvoller Deformationsraum

nur zur Fahrzeugverzögerung, nicht aber zur Insassenverzögerung genutzt worden. Die Funktionsweise eines Air-bags erfolgt analog zu der oben beschrie-benen Arbeitsweise des Gurts. Erst nach-dem sich genügend Innendruck durch eine Vorkompression des Bags durch den Insassen eingestellt hat, kommt es zu ei-ner Verzögerung beziehungsweise beim Seitenaufprall zu einer Beschleunigung und damit zu einer Energieumsetzung am Insassen.

Der maßgebliche Stellhebel zur Redu-zierung der Belastungswerte beim Seiten-aufprall ist der Abstand zwischen Insasse und Tür. Je größer dieser Abstand ist, desto

Bild 6: Verzögerungsverlauf bei Auslösung des Braking Bags

Bild 7: Geschwindigkeitsreduktion bei Auslösung des Braking Bags

VDI-Jahrbuch 2010 85

Page 7: Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

geringer ist die Geschwindigkeit, mit der die Tür den Insassen über das Insassen-schutzsystem beschleunigt. Dieser Abstand ist jedoch durch die mögliche Fahrzeug-größe und Komfortmaße beschränkt. Die Kontaktgeschwindigkeit der intrudieren-den Tür mit dem Insassen wird vor allem durch die Maßnahmen an Rohbau und Tür beeinflusst. Auch hier bestehen Ein-schränkungen durch Limits bei Fahrzeug-gewicht und Package. Bisherige Maßnah-men zur Verbesserung beim Seitenschutz wurden vor allem am Fahrzeug umgesetzt, das heißt, eine Beeinflussung des Insassen wurde bisher nicht in Betracht gezogen.

Ein voranstoßendes Insassenschutzsystem, wie es im ESF 2009 am Beispiel des Seiten-aufpralls dargestellt ist, nutzt bereits die frühe Information über den unvermeid-baren Aufprall zur vorbereitenden Ener-gieumsetzung am Insassen. Diese Pre-Safe-Pulse genannten Systeme beschleunigen den Insassen zeitnah am Unfallgeschehen in die sich durch die Aufprallenergie ein-stellende Bewegungsrichtung, Bild 8, und setzen somit bereits frühzeitig das Energie-delta zwischen Fahrzeug und Insasse her-ab. Die Energie wird nicht alleinig bei einem Aufprall umgesetzt, vielmehr ver-teilt sich die Gesamtenergie auf einen

leichten Voranprall und einen reduzierten Hauptanprall.

Am Beispiel Seitenaufprall kann dies einfach erläutert werden: Der Sitz wurde zur Erzeugung des Voranstoßes am Insas-sen mit der fahrdynamischen Sitzkompo-nente des Multikontursitzes ausgestattet. Dort befinden sich in der Wange der Sitz-lehnen von Fahrer und Beifahrersitz Luft-polster, die durch Befüllung den Seiten-halt in Kurven verbessern. Diese Polster wurden bezüglich Größe und Befüllcha-rakteristik modifiziert, so dass sie durch eine pulsartige Befüllung einen Stoß der Insassen in Richtung Fahrzeugmitte er-zeugen können. Dieser Vorgang ist rever-sibel und kann wiederholt werden.

Durch die Bewegung in Richtung Fahr-zeugmitte vergrößert sich der Abstand zwischen Insasse und Tür. Eine sicherere Entfaltung des Sidebags kann erfolgen. Der Kontaktzeitpunkt zwischen Tür und Insasse mit dem Rückhaltesystem erfolgt später, also mit geringerer Intrusionsge-schwindigkeit. Zusätzlich bewegt sich der Insasse bereits mit einer gewissen Ge-schwindigkeit in die Stoßrichtung, diese Geschwindigkeit muss nicht mehr über den Kontakt mit Sidebag und Tür umge-setzt werden. In Simulationsuntersuchun-gen wurde im Mittel eine um 30 % geringe-re Rippenintrusion nachgewiesen, Bild 9.

3.5 Pre-Safe-Struktur Auch die Crasheigenschaften von Fahr-zeugstrukturen wie Karosserie- oder Tür-rohbaukomponenten lassen sich intelli-gent auf das bevorstehende Unfallgesche-hen adaptieren. Strukturen schlagartig mit hohem Innendruck zu beaufschla-gen, ist hierzu ein möglicher Lösungsan-satz, der im Rahmen von intensiver For-schungs- und Entwicklungsarbeit unter-sucht wurde.

Generell lassen sich die Entwicklungs-ansätze auf zwei Grundprinzipien zu-rückführen:1. Änderung der Verformungseigen-

schaften durch Druckbeaufschlagung unter Beibehaltung der ursprüng-lichen Bauteilgeometrie. Hierbei muss das maximale Druckniveau sorgfältig auf den Werkstoff, die Verbindungs-technik und die ursprüngliche Bau-teilgeometrie abgestimmt werden.

2. Änderung der Verformungseigenschaf-ten durch Vergrößerung des Bauteil-querschnitts. Der Bauteilquerschnitt

Bild 9: Rippendeflektion im Lastfall FMVSS 214 (neu)

Bild 8: Auslenkung des Insassens

VErkEHr + UMwELT

VDI-Jahrbuch 201086

Integrierte Sicherheit BerlinD

OI:

10.1

365/

s357

78-0

10-0

377-

1

Page 8: Das Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 2009

vergrößert sich durch die Druckbeauf-schlagung schlagartig von einem klei-neren, packaging-optimierten Quer-schnitt, zu einem größeren Querschnitt mit einem deutlich höheren Verfor-mungswiderstand, Bild 10.

Je nach Anwendungsfall ist eine kurzzei-tige Druckbeaufschlagung, verantwort-lich für die gewünschte Geometrieände-rung, ausreichend, oder aber eine längere Druckbeaufschlagung, die sicherstellt, dass der erforderliche, hohe Innendruck über den gesamten Verformungszeitraum anliegt, notwendig. Die Druckbeaufschla-gung und Verformung der Bauteile ist nach zirka 10 ms bis 20 ms abgeschlossen. Die Crashvorgänge im Fahrzeug laufen im Allgemeinen innerhalb von maximal 100 ms ab. Durch dichte Strukturkomponen-ten kann der Druck über diesen Zeitraum recht konstant aufrechterhalten werden.

Theoretische und experimentelle Un-tersuchungen wurden an unterschied-lichen Fahrzeugstrukturen durchgeführt. Sowohl axial belastete wie auch biegebe-lastete Bauteile wurden bewertet.

Für Längsträgerstrukturen wurde nach-gewiesen, dass das Kraftniveau um 20 kN bis 40 kN erhöht werden konnte und sich die Crashlänge im Fahrzeug theoretisch um 10 mm bis 100 mm verkürzte.

Das Konzept der crashaktiven Türauf-prallträger sah eine Erfüllung der sta-tischen FMVSS214-Anforderungen ohne Aktivierung der Träger vor, Bild 11.

Bei einer In-Crash-Aktivierung variier-te das mittlere Kraftniveau, je nach Posi-tion des Gasgenerators, zwischen 7,5 kN und 12 kN. Gegenüber den Referenzbau-teilen wurde eine Gewichtsreduktion von zirka 500 g pro Bauteil nachgewiesen.

Durch eine gezielte Vorauslösung der Türkomponenten ist eine zusätzliche Stei-gerung des mittleren Kraftniveaus um bis zu 50 % möglich.

Crashaktive Strukturen in der seit-lichen Fahrzeugstruktur bieten das hohe Sicherheitsniveau von Serienbauteilen bei reduziertem Strukturgewicht. Über Simu-lationen wurden darüber hinaus, je nach Bauteilgeometrie, deutlich reduzierte In-trusionsgeschwindigkeiten ermittelt.

4 Zusammenfassung

Das ESF 2009 hat zum Ziel, neue Ansatz-punkte zur Steigerung der Fahrzeugsi-

cherheit aufzuzeigen. Hierzu wurden teil-weise neue, bisher noch nicht veröffent-lichte Ansätze gewählt. Ein starkes Funda-ment ist die Nutzung möglichst genauer und belastbarer Informationen zur Ver-kehrsumgebung. Durch die Erfassung mittels Strahlsensorik, aber auch die Ver-netzung der Fahrzeuge durch neue Kom-munikationstechnologien, werden in Zu-kunft weitere Unterstützungsmaßnah-men zur Unfallvermeidung oder -schwere-minderung bringen.

Die Verbesserung der Wahrnehmungs-sicherheit fremder Verkehrsteilnehmer durch innovative Lichttechnologien, aber auch die Erkennbarkeit des eigenen Fahr-zeugs, vor allem im seitlichen Bereich stel-len weitere Säulen zur Verfolgung der Vi-sion vom unfallfreien Fahren dar. Auf dem Weg dorthin kann die Nutzung der Infor-mation über einen drohenden, unver-meidbaren Unfall weitere Potenziale im Insassen- und Partnerschutz erschließen. Ein Baustein hierzu ist die Nutzung des Voranstoßes und damit die Verteilung der Aufprallenergie auf mehrere Impulse.

Die erweiterte Abdeckung des Bereichs zwischen den Insassen zum Schutz vor In-sasseninteraktionen sowie die Adaptivität von Größe und Absorptionsvermögen der Airbags wurden in diesem Paper nicht kon-kretisiert, stellen jedoch einen wichtigen Beitrag zum Unfallschutz im ESF dar.

Intelligente Fahrzeugstrukturen, die ihre Steifigkeits- und Verformungseigen-

schaften auf das Crashgeschehen anpas-sen können, bieten langfristig das Potenzi-al, Strukturantworten zu optimieren und dies mit merklichen Packaging- und Ge-wichtsvorteilen. Innendruckbeaufschlag-te Fahrzeugstrukturen sind hierzu ein möglicher Lösungsansatz.

Das ESF 2009 zeigt einen tiefen Einblick in die derzeitigen Vorentwicklungspro-jekte zum Thema Fahrzeugsicherheit bei Mercedes-Benz. Es stellt damit auch ein ge-wisses Risiko für das Unternehmen dar. Es ist jedoch wichtig, neue – unter Umstän-den auch unkonventionelle – Wege zur Verbesserung der Sicherheit innerhalb der Fachwelt zu diskutieren und damit zielge-richtet zu entwickeln. Hierzu sollen die In-halte im ESF 2009 Gelegenheit bieten.

Literaturhinweise[1] Schöneburg r., Breitling T.: Enhancement of

Active and Passive Safety by future PrE-SAFE® Systems, 2005 ESV Conference, washington DC Paper 05-0080

[2] Schöneburg r.: Die “Neue Passive Sicherheit” – Steigerung der Insassensicherheit durch Nutzung der Vorunfallphase, VDA – 11. technischer kon-gress, wolfsburg, 2009

[3] www.destatis.de Statistisches Bundesamt Germany[4] M. Enders: Pixel Light, Proc. Int. Symposium on

Progress in Automobile Lighting, Darmstadt 2001, pp. 234-239

[5] M. Griesinger, H. Hoffmann, M. Holz, J. Moisel, T. Schaal, E. Zeeb: Multifunctional Use of Semicon-ductor Based Car Lighting Systems: Potentials and Challenges, Proc. Int. Symposium on Automotive Lighting, Darmstadt 2005, pp. 73-81

Bild 10: Querschnittserhöhung eines Seitenaufprallträgers

Bild 11: FMVSS214-Pfahlaufprall

VDI-Jahrbuch 2010 87