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DA S M AG A Z I N D E R B E RT E L S M A N N S T I F T U N G
W W W.C H A N G E - M AG A Z I N . D E 1 | 2 0 1 7
www.change-magazin.de/schulen-im-silicon-valley
DIE PROGRAMME
- Deutschland und Asien
- Europas Zukunft
- Integration und Bildung
- Zentrum Internationale Foren
und Trends
- Kompetenzzentrum
Führung und Unter-
nehmenskultur
- Lebendige Werte
- LebensWerte Kommune
- Lernen fürs Leben
- Musikalische Förderung
- Nachhaltig Wirtschaften
- Unternehmen in der
Gesellschaft
- Versorgung verbessern –
Patienten informieren
- Wirksame Bildungs-
investitionen
- Zukunft der Demokratie
- Zukunft der Zivilgesellschaft
- CHE Centrum für
Hochschulentwicklung
DIE STIFTUNGSORGANISATION
Die Geschäftsführung der Stiftung durch ihre Organe
muss mit dem Ziel erfolgen, den Stifterwillen zu erfüllen.
DIE BERTELSMANN STIFTUNG
Die Bertelsmann Stiftung wurde 1977 von Reinhard Mohn
errichtet und verfolgt ausschließlich und unmittelbar
gemeinnützige Zwecke. Sie ist eine operative Stiftung, die
alle Projekte eigenständig konzipiert, initiiert und sie bis
zur Umsetzung begleitet.
DIE THEMEN
WWW.BERTELSMANN-STIFTUNG.DE SERVICE PIKTOGRAMME
Unser Profil
bildung verbessern
demokratie gestalten
wirtschaft stärken
gesellschaft entwickeln
gesundheit aktivieren
kultur leben
2 P RO F I L | C H A N G E | 1 2 0 1 7
X
Dr. Brigitte
Mohn
Liz
Mohn
Aart
De Geus
Dr. Jörg
Dräger
Autorwww.facebook.com/
BertelsmannStiftung
www.youtube.com/user/
BertelsmannStiftung
@BertelsmannSt
www.xing.com/companies/
bertelsmannstiftung
Kontakt
E-MailFotograf
Standort Weblink
BlogsDatum
Zusätzliche Inhalte auf
www.change-magazin.de
3 E D I TO R I A L | C H A N G E | 1 2 0 1 7
Liebe Leserinnen und Leser,
Veränderungen. Meistens bringen sie uns vorwärts –
im Leben, im Beruf und in der Gesellschaft. Sie
bedeuten Bewegung, neue Erkenntnisse und können
große Chancen beinhalten. Aber sie zwingen auch
zum Handeln und können ganz schön anstrengend
sein. Deshalb halten wir oft allzu gerne an vermeint-
lich Altbewährtem fest. Doch gerade eine Welt, wie
wir sie heute erleben, fordert durch ihre komplexen
Entwicklungen und häufigen Umbrüche neues und
flexibles Denken von uns. Reinhard Mohn hat schon
in den Siebzigerjahren des letzten Jahrtausends den
„steten Wandel der Gesellschaft“ zu seinem Thema
gemacht. Mit der Gründung der Bertelsmann Stiftung
verfolgte er das Ziel, die Menschen dabei zu unter-
stützen, an der Gestaltung ihrer eigenen Zukunft
teilzuhaben und den Wandel selbst mit zu gestalten.
Auch unser Magazin „change“ ändert sich. Mit dieser
neuen Ausgabe, die in unserem 40-jährigen Jubi-
läumsjahr erscheint, wurde nicht nur der optische
Auftritt aufgefrischt. Mit unseren Themen wollen wir
stärker in die Zukunft schauen, über die Herausforde-
rungen für unsere Gesellschaft schreiben. Menschen
stehen dabei im Mittelpunkt, ihre Geschichten sind
für uns Inspiration und Ansporn. Erfahren Sie in die -
ser Ausgabe, wie Flüchtlinge in einer Fußballmann-
schaft bei München Gemeinschaft, Freundschaft
und Zuversicht gefunden haben. Erleben Sie mit,
wie Studierende und Lehrende mit ungewöhnlichen
Methoden in Bochum erforschen, wie ein Stadtteil
mit hohem Migrationsanteil seinen Bewohnern ein
gesünderes Umfeld und mehr Lebensqualität bie-
ten. Und lesen Sie im Interview mit Prof. Dr. Harald
Welzer, wie wir es als Gesellschaft schaffen können,
den lauten, aber zahlenmäßig unterlegenen Gegnern
unseres demokratischen Systems etwas entgegen-
zusetzen.
Wir wollen Fragen stellen und Antworten liefern, wir
wollen zeigen, wie wir gemeinsam etwas bewegen,
Ihnen Menschen aus der Stiftung vorstellen und
spannende Informationen bieten. In jeder Ausgabe
finden Sie ein Poster zu einem aktuellen Thema mit
einer Übersicht über die Projekte der Stiftung.
„change“ erscheint in gedruckter Form zweimal
im Jahr und jederzeit als lebendiges, buntes Online-
magazin mit Extrageschichten und Videos auf
www.change-magazin.de. Was wir nicht verändert
haben, ist der Name: Für ein Magazin der Bertels-
mann Stiftung gibt es kein treffenderes Motto als
„change“!
Ich würde mich freuen, wenn Sie sich für das neue
„change“ begeistern und uns auch Ihr Feedback zu-
kommen lassen: [email protected].
Lassen Sie uns in Bewegung bleiben oder „be the
change“ – wie junge Menschen es in unserer Ge-
schichte über Schulen im Silicon Valley formulieren!
Ihre
Malva Kemnitz
Kai Uwe OesterhelwegDr. Malva Kemnitz
Alles bleibt anders
4 I N H A LT | C H A N G E | 1 2 0 1 7
02 UNSER PROFIL
03 EDITORIAL
Alles bleibt anders
Den Wandel wagen, den Blick in die
Zukunft richten: „change“ im neuen Look
06 AUSBLICK
09 MEGATRENDS
Soziale Ungleichheit: Der Weg aus der
Armut wird immer schwieriger
10 IMPULS
Die Welt, die Gesellschaft und der Mensch im Wandel
Der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung
im Interview
14 KOMMUNE
Kiez der Wissenschaft
In Bochum forschen junge Menschen mitten im
Stadtteil zum Thema Gesundheitsversorgung
24 DIGITALISIERUNG
Ganz schön smart ...
Über den Wandel der Metropolregion
Amsterdam zur „Smart City“
32 ESSAY
34 INTEGRATION
Integration auf dem Bolzplatz
In München gibt der Fußball geflüchteten
Menschen eine neue Perspektive
AmsterdamGanz schön smart ...
Seite 24
LissabonVision Europe Summit
Seite 64
USALernen und Lehren im Silicon Valley
Seite 46
Neue Geschichten entdecken. Wo wir für Sie unterwegs waren.
5 I N H A LT | C H A N G E | 1 2 0 1 7
66 PRAXISCHECK
Gute Karten
Kompetenzkarten helfen bei der Integration
von Geflüchteten
70 DER LETZTE MACHT DAS LICHT AUS
71 IMPRESSUM / THEMENPOSTER
44 VISION
Was uns verbindet
Liz Mohn über Wertebildung
46 BILDUNG
Lernen und Lehren im Silicon Valley
Innovative Schulen an einem innovativen Ort
56 DEMOKRATIE
Der Mehrheit eine Stimme geben
Ein Gespräch mit dem Sozialpsychologen
Prof. Dr. Harald Welzer
62 KOMMENTAR
64 BLICK ÜBER DEN ZAUN
Vision Europe Summit 2016
EstlandSmart Country
Seite 08
MünchenIntegration auf dem Bolzplatz
Seite 34
Preetz, Kreis PlönGute Karten
Seite 66
HannoverDer Mehrheit eine Stimme geben
Seite 56
BochumKiez der Wissenschaft
Seite 14
6 AU S B L I C K | C H A N G E | 1 2 0 1 7
Jubiläum: Seit 40 Jahren setzt sich
die Bertelsmann Stiftung für eine
gerechte Teilhabe aller am gesell-
schaftlichen Leben ein. Sie will
Bildung verbessern, Demokratie
gestalten, Gesellschaft entwi-
ckeln, Gesundheit aktivieren, Kul-
tur leben und Wirtschaft stärken.
Durch ihr Engagement möchte sie
alle Bürger ermutigen, sich für das
Gemeinwohl einzusetzen.
Am 8. Februar 1977 errichtete
Reinhard Mohn die gemeinnützi-
ge Bertelsmann Stiftung, die am
14. März 1977 genehmigt wurde.
Damit setzte er das gesellschafts-
politische, kulturelle und soziale
Engagement der Inhaberfami-
lien Bertelsmann und Mohn in
institutionalisierter Form fort.
40 Jahre Bertelsmann Stiftung
MENSCHEN BEWEGEN. ZUKUNFT GESTALTEN.
Zugleich sollte die Stiftung die
Unternehmenskontinuität sichern.
Deshalb machte Reinhard Mohn
die gemeinnützige Stiftung zur
Mehrheitseigentümerin des Unter-
nehmens Bertelsmann.
Motive und WerteEigentum verpflichtet - das war
das Leitmotiv von Reinhard Mohn,
um 1977 neben der Sicherung der
Kontinuität des Unternehmens
die gemeinnützige, unabhängige
Bertelsmann Stiftung zu gründen.
Als Bürger und Unternehmer war er
der Überzeugung, der Gesellschaft
etwas zurückgeben zu wollen. Diese
soziale und gesellschaftliche Ver-
antwortung gehört nicht nur zu
Philosophie und Kultur des Un-
ternehmens, sondern wird durch
die Familien Bertelsmann/Mohn,
die Liz Mohn nun in der fünften
Generation repräsentiert, seit 182
Jahren gelebt.
Mit der Bertelsmann Stiftung hat
Reinhard Mohn eine Institution
geschaffen, in der aktuelle He-
rausforderungen analysiert, Me-
gatrends der Zukunft vorgedacht
und an praxisnahen Lösungen
aktiv gearbeitet wird.
Die Stiftung hat sich im Laufe der
Jahre kontinuierlich weiterent-
wickelt, so auch die Themen, mit
denen sich die Stiftung beschäf-
tigt. In vier Jahrzehnten haben
sich die politischen, gesellschaft-
lichen, wirtschaftlichen und tech-
nologischen Rahmenbedingungen
Der Vorstand der Bertelsmann Stiftung (v. l.) Dr. Jörg Dräger, Dr. Brigitte Mohn, Liz Mohn (stellv. Vorsitzende) und Aart De Geus (Vorsitzender).
7
Projekte für morgenHeute arbeiten rund 380 Mitarbei-
ter weltweit zusammen mit vielen
Partnern an der Realisierung zahl-
reicher Projekte. Derzeit arbeitet
die Bertelsmann Stiftung an mehr
als 60 Projektinitiativen.
Für das Jubiläumsjahr sind viele
Aktivitäten geplant. Höhepunkt
wird am 3. Mai 2017 der Festakt im
Theater Gütersloh sein.
AU S B L I C K | C H A N G E | 1 2 0 1 7
„In einer Demokratie muss der Staat auf die Initiative und Einsatzbereitschaft seiner Bürger zählen können.“
Reinhard Mohn, Stifter († 2009)
Weblink:
www.bertelsmann-stiftung.de/
40jahre
40JA H R EY E A R S
in der Welt verändert – die Welt ist
in Bewegung geraten!
Globalisierung und Digitalisierung
haben mit ihren Konsequenzen für
die Menschen ebenfalls Auswir-
kungen auf die Arbeit der Stiftung.
Mit der Bertelsmann Foundation in
Washington, dem Büro in Brüssel
und der Fundación Bertelsmann
in Barcelona ist die Bertelsmann
Stiftung heute einer der führenden
Think Tanks in Europa und welt-
weit hervorragend vernetzt.
„Von der Welt lernen“ war eben-
falls ein Motiv Reinhard Mohns
und bildet die Grundlage für den
ständigen Austausch mit den
wichtigen Akteuren und Entschei-
dungsträgern in der ganzen Welt.
Das Gespräch mit den Menschen
suchen und den Dialog zur inter-
nationalen Verständigung fördern,
Kulturen kennenlernen und
mit Respekt begegnen, gemein-
sam nach Lösungen suchen und
interdisziplinär Projekte entwi-
ckeln – damit möchte die Bertels-
mann Stiftung auch in Zukunft
einen Beitrag für die Gesellschaft
leisten. Gemäß unserer Werte von
Solidarität, Menschlichkeit und
Freiheit möchten wir weiterhin
Menschen bewegen und Zukunft
gestalten.
8 AU S B L I C K | C H A N G E | 1 2 0 1 7
Weblink:
www.reinhard-mohn-preis.de
Kontakt:
Dr. Kirsten Witte
kirsten.witte@
bertelsmann-stiftung.de
Carsten Große Starmann
carsten.grosse-starmann@
bertelsmann-stiftung.de
Petra Klug
petra.klug@
bertelsmann-stiftung.de
Der ehemalige estnische Staats
präsident Toomas Hendrik Ilves
erhält den diesjährigen Reinhard
Mohn Preis. Ilves wird als Vordenker
der Digitalisierung in Regierung,
Verwaltung und Bildung geehrt
und nimmt den mit 200.000 Euro
dotierten Preis am 29. Juni 2017
in Gütersloh entgegen.
Ehrung: Während seiner zehn-
jährigen Präsidentschaft von 2006
bis 2016 machte Toomas Hendrik
Ilves die digitale Transformation in
Estland zur Chefsache und trieb sie
ebenso konsequent wie umsichtig
voran. Estland gilt heute weltweit
als digitale Vorzeigenation. So sind
für die Esten Behördengänge eine
absolute Ausnahme. Bereits seit
2002 erlaubt ihnen eine elektroni-
sche Identifikation samt digitaler
Unterschrift, nahezu alle notwen-
digen Schritte online zu erledi-
gen. Als erste Nation ermöglichte
Estland 2005 seinen Bürgern die
elektronische Stimmabgabe bei
landesweiten Wahlen. Selbst Aus-
länder können im baltischen Staat
eine virtuelle Identität beantragen.
Damit lassen sich Firmen gründen,
Steuererklärungen einreichen und
Bankgeschäfte erledigen.
Bereits während seiner Amtszeit
als estnischer Botschafter in den
USA initiierte Toomas Hendrik
Ilves 1995 ein wegweisendes Pro-
jekt, das digitale Kompetenzen in
seiner Heimat fördert. Das „Tiger
Leap Program“ gab in Estland den
Startschuss für eine Reihe digitaler
Großprojekte, die das Internet in
allen gesellschaftlichen Bereichen
zum Standard-Werkzeug machen
sollten. Angefangen wurde bei den
Jüngsten: Schulen bekamen Inter-
netanschluss, wurden mit Hard-
und Software ausgestattet, und die
Lehrer erhielten Schulungen. Im
Anschluss verankerte Estland das
e-Learning im täglichen Stunden-
plan. Nach den Schulen wurde das
Programm auf die Hochschulen
ausgeweitet. Heute können alle
Schüler, Eltern und Lehrer eine
nationale Online-Lernplattform
nutzen.
Smart Country – Vernetzt. Intelligent. Digital.
„Estland ist auch für die Digitalisierung in Deutschland ein richtungs weisen des Beispiel. Toomas Hendrik Ilves hat die Digi talisie rung in die Schulen und in den Unterricht gebracht – zehn Jahre vor der Erfindung des Smartphones.“
Dr. Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung
Der ehemalige estnische Staatspräsi-dent Toomas Hendrik Ilves erhält den Reinhard Mohn Preis 2017.
REINHARD MOHN PREIS 2017
M E G AT R E N D S | C H A N G E | 1 2 0 1 7 9
Soziale Ungleichheit, Digitalisierung, Globalisierung und demographischer Wandel – diese vier
Megatrends hat die Bertelsmann Stiftung identifiziert. Sie bestimmen unseren Alltag, unser wirt-
schaftliches, politisches und kulturelles Leben. Die Projekte der Bertelsmann Stiftung nehmen diese
Trends in den Blick und berücksichtigen deren Auswirkungen auf die Teilhabechancen der Men-
schen. „change“ wird in jeder Ausgabe an dieser Stelle einen der Megatrends näher vorstellen. X
Megatrends
Soziale UngleichheitDie Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Zudem
ist der Weg aus der Armut in Deutschland in den
letzten Jahren immer schwieriger geworden. Das ist
besonders problematisch, da sich Menschen in Armut
oftmals in einer Negativspirale befinden: Sie können
weniger in ihre Gesundheit und Bildung investie-
ren und haben schlechteren Zugang zu politischer
Beteiligung oder Kultur. Schließlich sind auch ihre
Chancen am Arbeitsmarkt geringer.
Dieser Teufelskreis der Armut setzt sich vielfach in
nachfolgenden Generationen weiter fort. Denn auch
die Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern
haben geringere Bildungschancen, sind häufiger ge-
sundheitlich belastet und erleben soziale und kultu-
relle Ausgrenzung. Soziale Ungleichheit wird dadurch
verfestigt und Kindern die Chance auf Bildung und
Teilhabe genommen. ➜ siehe Seite 14, 24, 46 und 56
I M P U L S | C H A N G E | 1 2 0 1 710
Deutschland steht vor großen Herausforderun-
gen, die aus der Globalisierung, der Entwicklung
zur Wissensgesellschaft, dem demographischen
Wandel und wachsender Heterogenität der Be-
völkerung resultieren. Die Bertelsmann Stiftung
setzt sich dafür ein, dass alle Menschen an der
zunehmend komplexen Gesellschaft teilhaben
können – politisch, wirtschaftlich und kulturell.
Wir fragten den Vorstandsvorsitzenden der
Bertelsmann Stiftung, Aart De Geus, wie das
gelingen kann.
change | Herr De Geus, Großbritannien möchte nicht mehr
Mitglied der EU sein, wir haben einen neuen US-Präsi-
denten, der stark auf Protektionismus setzt, wieder neue
Schutzwälle hochziehen möchte. Wir stehen in Europa vor
einem Wahljahr. Wo steht die Demokratie?
aart de geus | Auf dem Prüfstand, würde ich sagen.
Unsere pluralistische Demokratie ist im Kern
herausgefordert durch Populisten, die anti-pluralis-
tisch denken: Trump, Orbán und andere sehen ihre
Meinung – und ihre Wahrheit - als die einzig gültige.
Die Welt, die Gesellschaft und
der Mensch im Wandel
Meinungsfreiheit, der offene Diskurs, der Streit um
Ideen, all dies muss hinten anstehen. Mindestens die
Rhetorik des amerikanischen Präsidenten geht in die
Richtung, dass er es nicht so genau mit demokrati-
schen Grundwerten nimmt. Inwieweit seine Rhetorik
auch Praxis sein wird, ist noch weitgehend offen. Wir
sehen aber, dass der amerikanische Präsident eigent-
lich ziemlich genau das tut, was er sagt.
Was bedeutet das für Europa?
Zunächst müssen wir uns mehr um unsere
eigene Sicherheitspolitik kümmern. Insofern wirken
die Aussagen Trumps wie ein „Weckruf“ für Europa.
Zweitens wird es Folgen für die Weltwirtschaft geben.
Durch eine national orientierte Handelspolitik und
Protektionismus wird die Globalisierung stagnieren.
Und das Dritte ist natürlich die Frage, wie sich der
Wandel in den USA politisch auf Europa auswirken
wird, also ob der Erfolg Trumps wie ein Dominoeffekt
den europäischen Populismus weiter stärkt. Oder ob,
wenn Trump enttäuscht und in Amerika Chaos ent-
steht, eine Gegenreaktion kommt, und die demokra-
tischen Kräfte wieder die Oberhand gewinnen.
Kai Uwe OesterhelwegDr. Malva Kemnitz und Katrin Wißen
Gütersloh Februar 2017
11 I M P U L S | C H A N G E | 1 2 0 1 7
Der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Aart De Geus, sieht in den Äußerungen Donald Trumps einen Weckruf für Europa.
I M P U L S | C H A N G E | 1 2 0 1 712
Sechs Themenfelder, vier große Trends – Aart De Geus möchte die Herausforderungen der Gegenwart erkennen und Lösungen für die Zukunft finden.
Die Bertelsmann Stiftung feiert ein Jubiläumsjahr. Seit
40 Jahren bemüht sich die Stiftung um Teilhabe aller
Menschen, getreu ihrem Leitmotiv „Menschen bewegen.
Zukunft gestalten“. Wo sehen Sie die Rolle der Stiftung
im Gesamtgefüge von Politik, Bevölkerung und Zivil-
gesellschaft?
Wir befassen uns mit den Teilhabechancen der Men-
schen in sechs Feldern: Wirtschaft, Bildung, Gesund-
heitswesen, Kultur, Gesellschaft, Demokratie. Diese
Themenfelder folgen den Vorgaben unseres Stifters
Reinhard Mohn. Dazu spielen vier große Trends eine
wichtige Rolle: Globalisierung, Digitalisierung, soziale
Ungleichheit und demographischer Wandel. Wir in
der Bertelsmann Stiftung versuchen, diese Trends
zu verstehen, mit allen Auswirkungen, Wechselwir-
kungen und Herausforderungen. Globalisierung und
Digitalisierung haben große Auswirkungen auf die so-
ziale Teilhabe der Menschen in der Wirtschaft, in der
Bildung, im Gesundheitswesen, um nur einige Felder
zu nennen. Mit Hilfe unserer rund 380 Mitarbeiter,
mit Unterstützung der Wissenschaft suchen wir nach
Lösungen und guten Praxisbeispielen und tauschen
uns dazu mit allen gesellschaftlichen Akteuren, wie
beispielsweise Kommunen, Vereinen, und auch den
Medien, aus. Als unabhängige Stiftung haben wir
viele Möglichkeiten, um zu forschen und zu experi-
mentieren. Unsere Vorschläge sind aber am Ende nur
sinnvoll, wenn sie auch von anderen übernommen
werden. Sie in die öffentliche Debatte einzubringen,
gehört zur DNA unserer Stiftung.
Zur DNA der Stiftung gehört auch, nicht auf Trends auf-
zuspringen, sondern auch langfristig Wirkung zu erzielen.
Aktuell befasst sich die Stiftung mit der Flüchtlingskrise
in Deutschland und Europa und arbeitet dazu an einer
Vielzahl von Projekten.
In unseren insgesamt mehr als 60 laufenden Projek-
ten denken wir die Integration von Flüchtlingen in
fast der Hälfte der Projekte immer mit. Dann gibt es
acht Projekte, die sich sehr konkret für die Verbesse-
rung der Situation von Flüchtlingen engagieren. Ich
nenne zwei Beispiele: Es gibt ein Projekt zum Erken-
nen der Kompetenzen von Flüchtlingen in Zusam-
menarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit. Damit
können Beratungsstellen, Jobcenter und Arbeitgeber
feststellen, ob jemand bestimmte informelle Qualifi-
kationen hat, um zum Beispiel in einem Krankenhaus
zu arbeiten oder im technischen Bereich tätig zu sein.
Das zweite Projekt ist „Musik – Sprache – Teilhabe“.
Musik ist eine Sprache, die jeder versteht. Wenn
Kinder miteinander in einer Schulklasse singen und
Freude an Musik erleben, dann ist das eine emotionale
Komponente von Integration, die von sehr großem
Wert ist.
I M P U L S | C H A N G E | 1 2 0 1 7 13
Vorsitzender des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung
Aart De Geus war 2002 bis 2007 Minister für Arbeit und
Soziales in der niederländischen Regierung Balkenende und
wurde danach stellvertretender Generalsekretär der OECD.
Seit 2011 ist er Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann
Stiftung und seit 2012 dessen Vorsitzender. Aart De Geus
verantwortet u. a. die Programme Nachhaltig Wirtschaften,
Europas Zukunft, Zentrum Internationale Foren und Trends
sowie Zukunft der Demokratie.
Kontakt:
@aartjandegeus
Sie sind Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung,
Sie waren Politiker, Sie waren in der OECD, sind aber
auch Vater und Großvater. Wenn Sie auf die Zukunft Ihrer
Kinder und Enkelkinder schauen, was glauben Sie, wie
wird deren Leben sich verändern?
Die Zukunft unserer Kinder sehe ich sehr positiv. Sie
haben eine Ausbildung, die Arbeit ermöglicht und
gute Lebensperspektiven schafft. Für unsere Enkel-
kinder ist das schon etwas anderes, weil wir nicht
genau wissen, wie sich zum Beispiel die Digitali-
sierung auf die Arbeitschancen in einigen Dekaden
auswirken wird. Für die nächsten Generationen
stellen sich große Fragen: Wie geht es weiter mit dem
Klimawandel, mit Sicherheitsfragen, mit Integration
und kultureller Vielfalt? Unsere Enkelkinder gehen
in Schulen, wo die Vielfalt immer größer wird, und
sie wachsen in einer Zeit auf, in der es womöglich
genauso viele Personen über sechzig wie unter sechzig
Jahren gibt. Tröstlich dabei ist es zu wissen, dass alle
bisherigen Veränderungen der Gesellschaft stets
immer mehr Wohlstand, immer längere Zeiten von
Frieden, immer bessere Gesundheit, immer bessere
Bildung gebracht haben. Der menschliche Geist wird
immer nach Verbesserung streben. Das wird auch mit
der Generation meiner Enkelkinder so sein.
AART DE GEUS
Die Bertelsmann Stiftung möchte mit ihrer Arbeit den
Menschen auch Zuversicht mit auf den Weg geben. In
welchen Projekten, in welchen Themenfeldern, geben
Sie den Menschen in Deutschland, in Europa, in der Welt
Zuversicht?
Zuversicht ist wichtig, aber genauso wichtig ist die
Einsicht, dass es uns heute sehr gut geht. Die These,
dass früher die Zeiten viel sicherer waren und dass
es mehr Zuversicht gab, bestreite ich. Sicher gab es in
den Nachkriegsjahren durch den Wiederaufbau mehr
Konsens über die Grundwerte der Gesellschaft und
vielleicht auch mehr Hoffnung. Aber es ist nicht so,
dass es jetzt mehr rationale Gründe für Ängste gibt als
früher. Jede Zeit hat ihre eigene Unsicherheit. Aber wir
wissen jetzt viel genauer und viel mehr darüber, was
in der Welt vorgeht. Unsere Aufgabe ist es, Menschen
wieder stärker an unserer Gesellschaft zu beteiligen.
Was macht die Stiftung da konkret?
Zum Beispiel schlagen wir vor, junge Menschen ab 16
wählen zu lassen. Wenn in der Schule über Demokratie
und Politik gesprochen wird, dann wird da politisches
Interesse geweckt. Daher ist es wichtig, den Gedanken
der demokratischen Teilnahme so früh wie möglich
zu verankern. Darüber hinaus schlagen wir die Mög-
lichkeit zum Wählen per Internet sowie neue Formen
von Bürgerbeteiligung vor. Das Funktionieren von
Demokratie und die Teilhabe von Menschen in der
Demokratie müssen wir anders denken, sonst wächst
da kein Vertrauen. Wir müssen unsere Demokratie
neu denken und gestalten, oder wir verlieren sie.
Sie sagen, die Stiftung will von der Welt lernen. Die De-
mokratie auf nationaler Ebene ist das eine. Was lernen Sie
von der Welt?
Es ist mir ein großes Anliegen, dass wir das Credo von
Reinhard Mohn „Von der Welt lernen“ immer ernst
nehmen. Unsere Gesellschaft ändert sich so schnell,
wir haben zu wenig Zeit, um nur aus unseren eigenen
Fehlern zu lernen. Wir müssen davon lernen, was
andere gut oder vielleicht falsch gemacht haben. Das
erforschen wir mit unseren Experten in der Stiftung,
und das bringen wir dann in die politische und in die
internationale Debatte ein. Dafür müssen unsere
Experten angedockt sein an internationale Diskussi-
onen. Wir haben hier in der Stiftung eine weltoffene
Kultur getreu unserem Motto „learn - connect -
transfer“. So lernen wir zum Beispiel ganz gezielt von
den besten Einwanderungssystemen der Welt und
tragen diese Erkenntnisse dann an Entscheidungsträ-
ger in Deutschland und Europa heran. Unser Ziel ist
dabei, dass die weltweit besten Konzepte in konkrete
Problemlösungen umgesetzt werden.
Studierende mitten im Bochumer Wohngebiet Hustadt, das sie mit ihrem Seminar erforschen wollen.
KO M M U N E | C H A N G E | 1 2 0 1 714
Kiez der Wissenschaft
Wie leben Menschen unterschiedlicher Nationalitäten in einem Stadtteil zusammen? Wie können sich alle wohlfühlen? Und welche Bedeutung hat das Umfeld für die Ge-sundheit? Die Bochumer Professorin Christiane Falge verlegte einen Teil ihrer Seminare in ein Quartier mit hohem Migrationsanteil – Forschung und Leben vor Ort.
Tanja Breukelchen Sebastian Pfütze Bochum September 2016
Prof. Dr. Christiane Falge (46) ➜ siehe Seite 21 schiebt
ihr Fahrrad über den Brunnenplatz, schließt es ab und
kramt im Rucksack nach dem Schlüssel zum Seminar-
raum. Keine langen Gänge, kein Geklapper aus der
Mensa. Nur der frische Wind, der über den Platz fegt.
Und der Kaffeeduft aus dem geöffneten Fenster des
Bürgertreffs HUkultur nebenan. Christiane Falge ist
genau da, wo sie am liebsten ist: mittendrin. Sie hat
in afrikanischen Flüchtlingscamps gelebt, an den
Universitäten Hamburg und Halle/Saale Ethnologie
und in Addis Abeba „Social Anthropology“ studiert
und später in einer WG in den USA mit ehemaligen
Kindersoldaten gewohnt. Damals forschte Falge
über die südsudanesischen Nuer-Flüchtlinge. Jetzt
steht sie vor ihrem Seminarraum, mitten in Bochum.
Mitten in der Hustadt. Bochums jüngstem Stadt-
teil. Ein Ort mit 3.000 Menschen aus weit mehr als
40 Nationen. Ein Ort, in den Christiane Falge ein-
tauchen, den sie erfahren und erforschen möchte.
Sie ist Professorin für „Gesundheit und Diversity“ im
gleichnamigen Studiengang an der Hochschule für
Gesundheit (hsg) in Bochum, ihr Schwerpunkt ist die
gesundheitliche Ungleichheit, die unter anderem bei
Menschen mit Migrationshintergrund entsteht. Sie
forscht über deren Bedürfnisse und ihren Zugang zum
Gesundheitssystem. Und genau das ist die schwie-
rigste Aufgabe, denn Vertrauen von sogenannten
vulnerablen Gruppen gewinnt man nur schwer.
KO M M U N E | C H A N G E | 1 2 0 1 716
Zwischen zwei Welten: Prof. Dr. Christiane Falge steigt vor der Hochschule aufs Rad und macht sich auf den Weg zur Hustadt.
KO M M U N E | C H A N G E | 1 2 0 1 7 17
Man gewinnt es schon gar nicht, wenn man im stillen
Kämmerlein brütet, weiß Falge. Vor ein paar Jahren
lernte sie den Londoner Professor David Napier ken-
nen. Einen Medizinethnologen, der eine große Studie
zu den Auswirkungen von Diabetes auf Megastädte
durchführt. Außerdem erfuhr sie von einem Stadt-
teillabor in Birmingham, fuhr hin und hatte seitdem
den Traum, an einem Ort zu forschen, wo die Men-
schen sind. „Es ist mein wichtigstes Projekt, in das
ich all meine Energie stecke“, sagt sie und legt ihre
Unterlagen auf den Tisch im Seminarraum, den ihre
Mitarbeiterin und sie neben den eigentlichen Räumen
an der Uni nutzen. Dort unterrichtet sie nicht nur
ihre Studierenden, sondern auch Anwohner und am
Thema Interessierte. „Wir forschen kollaborativ. Das
bedeutet, dass Wissenschaftler und Nicht-Wissen-
schaftler auf Augenhöhe miteinander neues Wissen
produzieren, das nicht nur auf Wissenschaftlichkeit
beruht, sondern zugleich die Stadt als Labor des
Wissens sieht.“
Deshalb erlernen alle zunächst die gleichen Grund-
lagen, darunter Fragetechniken und die Auswertung
von Fragebögen. Danach geht man „ins Feld“, spricht
mit den Menschen vor Ort. „Die Menschen wissen so
viel über ihre eigenen Ressourcen. Wissen, das wir
nutzen können, um die Lebensqualität zu verbessern.
Wenn ich als Ethnologin forschen will, brauche ich
ein oder zwei Jahre, um das Vertrauen der Menschen
zu haben. Die Menschen, die wir hier ausbilden, haben
bereits dieses Vertrauen im Stadtteil und verfügen
vor allem über Wissen.“
Einer von ihnen ist Faruk Yildirim (42). 1979 kam
der Kurde aus der Türkei nach Deutschland: „Heute
besuchen meine drei Kinder den gleichen Kinder-
garten und die gleiche Schule wie ich damals. Doch
als ich Kind war, war die Bevölkerung noch anders.
In der Hustadt lebte höchstens eine Hand voll
Migranten.“ Die sogenannte Innere Hustadt war in
den Sechziger- und Siebzigerjahren gebaut worden.
Isra (links) studiert im fünften Semester „Gesundheit und Diversity“ und berichtet im Seminar über ihre Forschung im Quartier.
KO M M U N E | C H A N G E | 1 2 0 1 718
Eine Großwohnsiedlung mit rund 1.100 Wohnungen
in vier- bis vierzehngeschossigen Häusern, die im
Zuge des Baus der Ruhr-Universität entstanden war.
Damals wohnte auch der Wirtschaftswissenschaftler
Prof. Dr. Christian Uhlig in einer der großen, neuen
Wohnungen der Hustadt. „Wir kamen aus Hamburg.
Viele Familien waren neu und zogen aus allen mögli-
chen Orten in Deutschland hierher. Auch das war eine
Art von Integration.“ Denn auch zwischen Hamburg
und dem Ruhrgebiet können Welten liegen. „Meine
Frau und ich wunderten uns zum Beispiel, warum
wir auf unseren Spaziergängen am Wochenende fast
ausschließlich Frauen im Kostüm und Männer mit
Hut und Krawatte sahen. In Hamburg trug man Parka
und Gummistiefel. Bald wurde uns klar, dass man in
Hamburg ja unter der Woche im Anzug ins Büro ging
und sich am Wochenende über die legere Kleidung
freute. Im Ruhrgebiet war es umgekehrt: Die Men-
schen arbeiteten in den Fabriken und putzten sich für
ihren Sonntagsspaziergang heraus.“ Genau solche
Beobachtungen und die eigene Erfahrung, selbst als
junger Mann vom Osten in den Westen Deutsch-
lands geflüchtet zu sein, sind es, die Uhlig das Thema
Integration schon immer etwas anders sehen ließen.
Und als er sich, wie viele andere Professoren auch, in
den Neunzigerjahren ein Haus am Rande der Hustadt
kaufte und wegzog, blieb er dem Ort treu – bis heute
als Vorsitzender vom „Förderverein Hustadt e. V.“
Das QuartierFamilien wie die von Faruk Yildirim sind damals
geblieben. Und weil so viele Wohnungen plötz-
lich leer standen, wurden sie zu Sozialwohnungen.
Immer mehr Familien mit Migrationshintergrund
zogen in die Hustadt. „Viele sind Flüchtlinge, damals
wie heute“, erklärt Faruk, der es sich auf seinem
Lieblingsplatz, einer Bank vor der HUkultur, gemüt-
lich gemacht hat und über den Brunnenplatz schaut.
„Menschen aus Somalia, Eritrea, aus der Mongolei,
Syrien, Afghanistan. Wir interessieren uns dafür,
welche Sorgen sie haben, welche Gründe sie hatten,
nach Deutschland zu gehen.“
Aus Interesse sprach Faruk vor einigen Jahren
Matthias Köllmann (45) an. Der arbeitete ehrenamt-
lich mit den Anwohnern und freute sich, dass Faruk
ihm bei seinen Projekten helfen wollte. Heute ist
Matthias Geschäftsführer von HUkultur und HUlabor
und Faruk Quartiersmanager der Hustadt. Ein gutes
Team. Auch für die Zusammenarbeit mit Christiane
Falge. „Man lernt voneinander“, sagt Köllmann.
„Wir sind hier ansässig, machen unsere Basisarbeit,
WEGWEISER KOMMUNE Das Datenportal www.wegweiser-kommune.de stellt allen
Kommunen Deutschlands mit mehr als 5.000 Einwohnern
Daten, Bevölkerungsprognosen und konkrete Handlungs-
konzepte für die kommunale Praxis zur Verfügung. Dieses
vielfältige Informationssystem ermöglicht einen Blick auf die
Entwicklung in den Politikfeldern demographischer Wandel,
Finanzen, Bildung, soziale Lage und Integration. Als effektives
Informations- und Frühwarnsystem unterstützt es Kommunen
dabei, die Veränderungen des demographischen Wandels zu
verstehen, die Zukunftsfähigkeit ihrer Stadt nachhaltig zu
sichern und sie im Sinne ihrer Bürger weiterzuentwickeln.
Weblinks:
www.wegweiser-kommune.de
https://blog.wegweiser-kommune.de
Kontakt:
Dr. Kirsten Witte
PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG
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Bevölkerungsvorausberechnung – Alterung
Anteil der ab 65-Jährigen (%)
Bochum
Faruk Yildirim, Quartiersmanager, Matthias Köllmann, Leiter des Bürgertreffs in der Hustadt, Ariya Fehrest- Avanloo, Student, Prof. Dr. Christian Uhlig, Wirtschafts-wissenschaftler (von links oben im Uhrzeigersinn).
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In der Küche des Bürgertreffs kochen Frauen aus der Hustadt, bereiten frischen Kaffee und planen gemeinsam mit dem Quartiers-management ein Angebot, mit dem sie künftig Veranstaltungen, aber auch Flüchtlingsunterkünfte beliefern wollen.
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haben die Bindung zu den Menschen vor Ort und die
Kontakte. Ich bin dankbar für das mir entgegenge-
brachte Vertrauen. Das will ich täglich bestätigen und
niemanden enttäuschen.“
Christiane Falge vertraut Matthias. „Wir forschen
im Schneeballprinzip“, beschreibt sie ihre Methode.
„Wir lernen jemanden kennen, befragen ihn, und
über ihn fragen wir dann andere. Das Zufallsprinzip
funktioniert hier nicht, weil man ohne Vertrauen
die Leute nicht erreicht.“ Über die Menschen in der
Hustadt gibt es keine Studien, betont Falge: „Wir
wissen nichts über sie. Würde man hier Fragebögen
verschicken, landeten die meisten im Mülleimer.
Also fragen wir direkt – nach den Strukturen vor Ort,
nach Bedürfnissen und Sorgen.“ Ihr Ziel: „Wir wollen
durch diese Vulnerabilitätserhebung Präventionskon-
zepte entwickeln, eine neue Evidenzbasis aufbauen.“
Die ForschungAuch wenn das Projekt im vergangenen Jahr erst
begonnen hat – die ersten Erkenntnisse stimmen
nachdenklich: „Ganz wenige wissen etwas über
ihre Rechte oder die Gesundheitsversorgung. Viele
fühlen Scham, weil sie schlecht Deutsch sprechen,
und fragen daher nicht nach.“ Häufig gebe es aber
auch andere Gründe, gar nicht erst zum Arzt zu
gehen: „Viele kurdische Bauern haben in der Türkei
schlechte Erfahrungen mit Ärzten gemacht, sind
diskriminiert worden. Darüber wissen wir hier in
Deutschland häufig gar nichts, weil wir es nicht
schaffen, Kultur und Gesundheit zusammenzubrin-
gen. Die kontinuierliche Ignoranz von Kultur im
Gesundheitswesen ist die größte Barriere zur Ent-
wicklung weltweit höchster Gesundheitsstandards.“
Dass in der Hustadt so viele Menschen mit Migra-
tionshintergrund und so wenige Deutsche leben, sei
Teil der Ambivalenz, mit der man heute konfrontiert
sei: „Es gibt eine Frau, die gesagt hat, sie fühlt sich
hier total wohl, hat aber nicht das Gefühl, dass sie in
Deutschland lebt, weil hier ja auch nicht viel Deutsch
gesprochen wird.“ Und doch: Eben diese Gemein-
schaft in der Fremde ist es auch, die Netzwerke schafft.
Und gesünder macht: „Wir haben Ergebnisse, die
zeigen, dass Migranten in Isolation früher sterben.
Gemeinschaft macht gesund. Deshalb würde ich
einen Ort mit 80 Prozent Migrantenhintergrund nicht
problematisieren, sondern eher sagen, die helfen
sich gegenseitig aus einer starken Solidarität, die sehr
wichtig für ihre Gesundheit ist. Dass die Leute hier
unter anderen Migranten leben, heißt ja nicht, dass
sie keine Querverbindungen zur Gesellschaft sonst
haben. Nur müsste man diese Verbindungen ausbau-
en. Unsere Gesellschaft war nicht besonders gut auf
PROF. DR. CHRISTIANE FALGE
Dozentin an der Hochschule für Gesundheit
Studium: Social Anthropology – Addis Abeba
Ethnologie – Universitäten Hamburg und Halle/Saale
Prof. Dr. Christiane Falge ist seit 2014 Professorin für
Gesundheit und Diversity am Department of Commu-
nity Health der Hochschule für Gesundheit in Bochum.
Sie forscht und lehrt zum Thema Diversität und
unterschiedliche Lebenswelten im Gesundheitswesen.
Dazu gehört auch der Aufbau des Quartierlabors in der
Hustadt als Ort permanenten Forschens und Lernens
zum Thema quartiersnahe Gesundheitsversorgung
in Bochum.
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mit zehn Leuten geteilt.“ Und jetzt ist es ein Cate-
ring mit multikulturellem Essen und die Idee, mit
Geflüchteten zu kochen und Flüchtlingsheime zu
beliefern. Drei Köchinnen sind bereits angestellt.
Das könnten bald mehr werden. Zur Probe hatte die
HUkultur ein Flüchtlingsheim bekocht, das Probleme
mit dem sahnigen deutschen Essen hatte. Dann kam
das Küchenmobil aus der Hustadt – „und den Men-
schen ging es gut, man konnte geradezu spüren, wie
sich auch Aggressionen legten.“
„Egal, wo auf der Welt ich war, in das Leben der Menschen einzutauchen war immer Voraussetzung für meine Forschung.“Prof. Dr. Christiane Falge
Auch wieder etwas, das man nur erfährt, wenn man
mitten im Leben forscht. Christiane Falge packt
ihren Rucksack. Das Fahrrad braucht sie jetzt nicht.
Sie geht einen Häuserblock weiter und betritt eine
Mietwohnung. Dort, in einem Kinderzimmer mit rosa
Prinzessinnen-Gardine, legt sie ihren Rucksack ab.
Danach setzt sie sich an den Abendbrottisch. An den
drei Tagen in der Woche, in denen Christiane Falge,
die mit Mann und Kindern in Bremen lebt, in Bochum
ist, wohnt sie bei einer aus Syrien geflüchteten Familie.
Eine Freundschaft. Und ein schöner Ort, um nach
einem stressigen Tag zur Ruhe zu kommen. Christiane
Falge zieht das kleine Mädchen, deren Zimmer sie
an zwei Nächten in der Woche bewohnen darf und das
für die Zeit ins Elternschlafzimmer zieht, auf ihren
Schoß: „Egal, wo auf der Welt ich war, in das Leben
der Menschen einzutauchen war immer Vorausset-
zung für meine Forschung.“ X
Weblinks:
Hochschule für Gesundheit: www.hs-gesundheit.de
HUkultur: www.huisthu.de
die letzten 50 Jahre Einwanderung vorbereitet. Die
fehlenden Integrationskonzepte machen sich jetzt
bemerkbar. Wir brauchen bessere Strukturen, damit
mehr Menschen gleiche Chancen haben. Wir brau-
chen Vorbilder, die den anderen zeigen: Ihr könnt es
schaffen!“
Die MenschenLangsam füllt sich ihr Seminar. Isra (24), die im fünf-
ten Semester „Gesundheit und Diversity“ studiert,
berichtet über ihre Forschung. Ariya (30) aus dem
Iran, der sein Studium der Islamwissenschaft und
Arabistik, Geschichte und Sozialwissenschaft an der
Ruhr-Universität Bochum abgeschlossen hat und sich
als Stadtteilforscher ausbilden lässt, wird von einer
Kommilitonin interviewt. Er ist eines dieser Vorbil-
der: „Alles, was ich erreicht habe, habe ich meiner
Mutter zu verdanken. Sie wusste, was Bildung bedeu-
tet“, sagt er. Eigentlich war sie 1978 mit ihrem Mann
zum Studium nach Bochum gegangen. Als er starb,
blieb sie mit den Kindern, machte eine Ausbildung
zur Industriekauffrau. Sie lebten in der Hustadt. Und
mussten erleben, wie ausgerechnet Lehrer Schüler
mit Migrationshintergrund am Aufstieg hinderten.
Doch Ariya und seine Schwester schafften es, gingen
aufs Gymnasium, studierten. „Viele meiner Freunde
hatten dieses Glück nicht, wurden fallengelassen,
einige gerieten auf die schiefe Bahn. Dabei waren
sie klug.“ Ariya spricht Arabisch, Persisch, Deutsch,
Englisch und Französisch. Er kümmert sich in seiner
Moschee um die Pressearbeit, organisiert Sprach- und
Integrationskurse und übersetzt in Flüchtlingsunter-
künften. Außerdem plant er seine Promotion.
Das sind die Erfolgsgeschichten, die Christiane Falge
meint. Und die sich nebenan im Bürgertreff HUkultur
fortsetzen. Dort duftet es inzwischen nach Kräutern
und Gewürzen. Das neueste Projekt von Geschäfts-
führer Matthias Köllmann (45). Der studierte Kultur-
manager schafft es immer wieder, die Menschen zu
beteiligen. Zuerst war es der Bau eines Pavillons auf
dem Brunnenplatz: „Jedes Kind, das eine Schraube in
den Pavillon geschraubt hat, hat das Ding beschützt
wie seinen Augapfel.“ Dann war es Urban Gardening
vor dem Bürgertreff: „Die erste Erdbeere haben wir
Rosa Prinzessinnen-Gardine: Wenn Prof. Dr. Christiane Falge in der Hustadt ist, wohnt sie drei Tage die Woche bei einer syrischen Familie in einem Kinderzimmer.
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Menschen in Bewegung, Konzepte für die Zukunft: Amsterdam ist als „Smart City“ eine Stadt im Aufbruch.
Seit 2008 wandelt sich die Metropolregion Amsterdam schrittweise zur „Smart City“. Und mit ihr die 2,4 Millionen Einwohner mit ihren Ideen und einem ganz neuen Blick auf Gemeinschaft und Demokratie.
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Ganz schön smart ...
Axel MartensJohannes von Dohnanyi Amsterdam Januar 2017
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© AMS Institute (2016)
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Photovoltaik-Anlagen (oben) und das führerlose „Roboat“, das bald die erste Testfahrt macht: All das gehört zum Konzept der „Smart City“ Amsterdam.
Amsterdam im Januar. Sturmtief „Egon“ drückt das
Wasser den Nordseekanal hinauf zur Stadt und in ihre
Kanäle. „Ohne die Schleusen an der Mündung wäre
jetzt alles überflutet“, sagt Jan de Jong und steuert
seine Barkasse durch das kabbelige Hafenwasser:
„Wenn es darum geht, den Naturgewalten zu trotzen,
sind wir Holländer ziemlich smart.“ Wie sonst hätte
es auch gehen sollen? Seit dem Mittelalter haben sie
dem Meer große Flächen abgetrotzt. Gut ein Viertel
des Landes liegt unter dem bei Amsterdam fixierten
Meeresspiegel null. Mit 408 Menschen pro Quadrat-
kilometer sind die Niederlande einer der dichtest
besiedelten Staaten der Welt. Fast 3.000 Kilometer
Deich sollen vor der rauen Nordsee schützen. Doch
angesichts des Klimawandels und der wirtschaftli-
chen Globalisierung, sagt Jan Egbertsen vom Inno-
vationsteam der Hafenverwaltung und schaut einem
containerbeladenen Feederschiff hinterher, „reicht es
nicht mehr, dass Einzelne von uns smart sind.“
Durch die Gischt deutet sein Kollege Jelle Paulusma
auf die Reste einst stolzer Werften: „Alles Arbeits-
plätze, die wir an China und Südkorea verloren
haben.“ Backbord voraus tauchen die riesigen Tank-
anlagen des weltgrößten Umschlagplatzes für Rohöl
auf. „Und wenn auch noch die fossile Brennstoff-
Ära endet?“, fragt Paulusma. „Was dann?“
Erneuerbare EnergiequellenDann will Amsterdam gerüstet sein. Ein Antrag auf
den Bau neuer Brennstoff-Terminals wurde abge-
lehnt. Stattdessen soll sich die Industrie auf den
Aufbau erneuerbarer Energiequellen in der Nordsee
stürzen. Mit Wind und Algenfarmen könnten dort
in den nächsten Jahrzehnten bis zu 300 Mrd. Euro
verdient werden.
Angesichts des Klimawandels und der oft chaotischen
Entwicklungen der wirtschaftlichen Globalisierung
sehen Egbertsen und Paulusma nur einen Ausweg:
das 2008 beschlossene Ziel, die Metropolregion
Amsterdam mit ihren rund 2,4 Millionen Einwohnern
schrittweise in eine „Smart City“ zu verwandeln.
Vielleicht sind die Holländer ja wirklich so smart wie
von Barkassenkapitän de Jong behauptet. Bis 2021 will
Amsterdams zweiter Main Innovation Fund (MFI II)
18 Millionen Euro Risikokapital in nachhaltige
Infrastrukturprojekte, Konnektivität, Mobilität,
Energie, das Internet der Dinge und die Auswertung
von Big Data investieren.
„Wir versuchen proaktiv, die Chancen technologi-
scher und industrieller Trends zu nutzen“, beschreibt
Hafen-CEO Koen Overtoom die neue Philosophie
seines Unternehmens, das für die Stadt jährlich rund
50 Millionen Euro erwirtschaftet. Weil der Hafen
mehr als 20.000 Menschen Arbeit gibt, verlangt
Overtoom von seinen Innovatoren den ständigen
Blick über den Rand der Hafenbecken hinaus. „Statt
wie früher nur in Tonnage denken wir heute in inno-
vativen Mehrwerten für die ganze Stadt.“ Schließlich
gebe es „auch in den Niederlanden Bürger, die sich
von der Entwicklung abgehängt fühlen. Die dürfen
wir nicht vergessen.“
Smarte LösungenDas Ergebnis: Früher hätten Paulusma und Egbert-
sen die Vorteile alternativer Energieversorgung
vermutlich nur mit den im Hafen angesiedelten
Unternehmen besprochen. Heute sind sie stolz auf
ihr „Nebenprodukt“: eine von Solarstrom und Wind-
energie gespeiste Pilotstrecke eines Radwegs, der nur
beleuchtet wird, wenn er auch benutzt wird.
Oder auf das mit niederländischen Forschern und
dem Massachusetts Institute of Technologies (MIT)
entwickelte führerlose „Roboat“, das schon bald
in einem abgelegenen Hafenbecken getestet wer-
den wird. Die „smarten“ Wasserfahrzeuge sollen in
Zukunft Passagiere transportieren, Waren ausliefern
oder sich als selbstständig „denkender“ Schwarm
auch zu Behelfsbrücken oder Event-Pontons verbin-
den. „Wir machen auf dem Wasser das, was Google
mit fahrerlosen Autos versucht“, beschreibt Paulus-
ma das Projekt. „Hoffentlich“, brummt Barkassen-
kapitän de Jong, „bin ich dann schon in Rente.“
„Natürlich werden ‚smarte‘ Lösungen erst einmal
Arbeitsplätze vernichten“, gibt Roon van Maanen auf
dem Weg in seine Lagerhalle zu. „Aber dann entste-
hen immer auch neue Beschäftigungsfelder.“ Täglich
beobachte er, „dass die Einführung neuer Tech-
nologien das Denken der eigentlich konservativen
Hafen-Community verändert.“
D I G I TA L I S I E RU N G | C H A N G E | 1 2 0 1 728
Der studierte Jurist van Maanen, der fest an die Seg-
nungen des Fortschritts glaubt, brauchte keine große
Überzeugungskraft, um das Innovatorenteam Paulus-
ma und Egbertsen von seinem Incubator „Prodock“
zu überzeugen. Anfang 2015 stellte er seine Idee
zum ersten Mal vor. Nur acht Monate später war die
Lagerhalle umgebaut und die erste Bewerbungsrunde
abgeschlossen. „Ich hätte nie gedacht, dass das so
schnell gehen würde.“
Inzwischen produziert eine bei Prodock aufgestellte
Pilotanlage aus Holzresten besonders energiereiche
Pellets. „30 Mhz present“ entwickelt Sensoren für die
Internetüberwachung der kritischen Infrastruktur des
Hafens. Andere „Spione“ warnen vor Glutbränden in
den schwarzen Bergen des Kohlehafens oder melden
Umweltgefahren. Ein Drohnen-Start-up will Anlagen
wie Öltanks oder Rohrleitungen aus der Luft inspizie-
ren. Nebenan wird an Programmen für den 3D-Druck
wichtiger Ersatzteile getüftelt.
„Das Gesicht des Hafens hat sich in wenigen Jahren verändert.“Koen Overtoom, CEO
Das Beste an Prodock, sagt van Maanen, seien die
kurzen Kommunikationswege: Einer beschreibt den
Stand seines Projekts. Einem Zuhörer fällt eine
andere Anwendungsmöglichkeit der Technologie
ein. – „Und schon ist eine neue Idee entstanden.“
„Immer mehr Menschen wollen mitmachen“,
beobachtet Vivienne Bolsius von der Internet-Pro-
jektbörse „Amsterdam Smart City“. Gerade in
Amsterdam gebe es „so viele Menschen mit tollen
und manchmal genial unkonventionellen Ideen. All
diese Talente nicht an Bord zu holen, wäre angesichts
der Aufgabe einfach nur dumm.“ Um das Ausmaß
dieser „Aufgabe“ zu begreifen, reicht ein Blick auf die
von der Politik identifizierten „Problem-Bereiche“:
Infrastruktur und Technologie. Energie, Wasser und
Abfälle. Mobilität, zirkuläre Wirtschaft, Verwaltung
und Bildung. Bürger und urbanes Leben. Die an fast
jeder Ecke aufgestellten Stromzapfstellen für Elektro-
autos sind nur ein kleiner Schritt. „Für die Smart
City“, heißt es in dem eigens geschaffenen Büro des
„Chief Technology Officer“, „müssen wir all diese
Bereiche neu erfinden.“ Über 100 innovative Projek-
te haben sich mittlerweile auf „Amsterdam Smart
City“ vorgestellt. Es geht um Anregungen und Kritik,
aber natürlich auch um Partner und Sponsoren. „In
Amsterdam“, beschreibt Vivienne Bolsius den „Smart
City“-Ansatz, „erfolgen Veränderungen nicht durch
Anordnungen von oben, sondern durch die Akzeptanz
der Bürger von unten.“
FreiheitUnd weil es manchmal wichtiger sein kann, die Men-
schen einfach mal machen zu lassen, hat die Verwal-
tung der Einrichtung von vier „rechtsfreien“ Räumen
in der Stadt zugestimmt. Während der zweijährigen
Pilotphase sind viele der städtischen Vorschriften
aufgehoben. Anwohner und Geschäftsleute sollen in
dieser Zeit versuchen, ihr eigenes Regelwerk zu ent-
wickeln. Und so entstehen neue Wochenmärkte und
kleine Gärten ohne behördliches Plazet. Ein Kleider-
geschäft kann sich für einen Tag in eine Disko ver-
wandeln. Tempolimits werden lokal ausgehandelt. So
verwandelt sich „Smart City Amsterdam“ zusehends
in eine Internet-mitmach-Plattform. Das Spektrum
der Projekte reicht vom privaten Zusammenschluss
einzelner Straßenblocks zu autarken Energieselbst-
versorgern über „intelligente“ Beleuchtungssysteme
in Risikozonen der Stadt bis hin zu elektrisch betrie-
benen Kleinlastwagen, die den Einzelhandel in der
engen Altstadt mit Waren versorgen sollen.
Ein viel beachtetes Projekt will Flüchtlinge und Asyl-
bewerber schneller und auf die individuellen Talente
zugeschnitten in den Alltag, das Bildungs- und Be-
rufsleben von Amsterdam integrieren. Möglich sind
sogar finanzielle Starthilfen in die berufliche Selbst-
ständigkeit. Der „regelfreie“ Hafen hat attraktive
Wohn- und Büroviertel hervorgebracht. Seit sich an
der Wasserfront einer ehemaligen Industriebrache
internationale Modelabels angesiedelt haben, pulsiert
dort urbanes Leben. „Das Gesicht des Hafens“, sagt
CEO Overtoom stolz, „hat sich in wenigen Jahren
verändert.“
Es sei wichtig gewesen, beschreibt Vivienne Bolsius
die um sich greifende Aufbruchstimmung, „den Men-
schen für die Suche nach tragbaren Kompromissen
wieder mehr Verantwortung zu übertragen.“ Viele
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bezeichnen die „rechtsfreien Räume“ als das derzeit
wohl aufregendste Experiment: „So entsteht neues
Vertrauen in die Politik. Und, wer weiß, vielleicht eine
neue Form einer partizipativen Demokratie.“ Und
immer wieder geht es um den großen Traum einer
zirkulären Wirtschaft, die nichts der knappen Res-
sourcen unserer Welt mehr verschwendet.
„Die absolute zirkuläre Wirtschaft mag eine Vision
sein“, gibt Mark Tiemen ter Hoeven zu. Aber seinen
Beitrag zum Ende der Wegwerfgesellschaft will der
Maschinenbauingenieur dennoch leisten. Seine Stadt
erlebe „gerade eine grundlegende Veränderung“. Für
viele junge Holländer sei „Geld allein nicht mehr al-
les“. Arbeit müsse auch sinnstiftend sein, beschreibt
er die Sehnsucht nach einer neuen Work-Life-Ba-
lance. Sie soll sozial und nachhaltig sein. „Und dafür
übernehmen wir dann gerne auch unternehmerische
Verantwortung.“
GründerDeshalb gründeten ter Hoeven und sein Freund Mark
Groot Wassink „Roetz Bikes“: eine kleine Manu-
faktur, die wenigstens einem Teil der jährlich eine
Million für den Schrottplatz bestimmten Fahrräder
ein zweites Leben einhauchen will.
Es ist ein pfiffiges Geschäftsmodell: „Roetz Bikes“
gehört einer von ter Hoeven gemeinsam mit Wassink
und einigen Sponsoren gegründeten Stiftung. Spen-
den decken zumindest einen Teil der Personalkosten
ab. In einer Reihe von Gemeinden darf Roetz beson-
ders beliebte und als robust geltende Fahrradtypen,
die sonst auf dem Schrott landen würden, kostenlos
einsammeln und ins eigene Lager bringen. Dort
werden sie demontiert, der Rahmen kontrolliert und
neu lackiert – und erst auf Bestellung zu einem „Wie-
neu-Rad“ zusammengesetzt. Das Roetz-Ziel: Die
Wiederverwertungsquote der eingesammelten Räder
soll von derzeit knapp 40 auf über 90 Prozent steigen.
Die über 20 Beschäftigten – Langzeitarbeitslose,
ehemalige Sträflinge, Drogen- und Alkoholabhängige
und Menschen mit leichten geistigen Behinderungen
– hätten auf dem normalen Arbeitsmarkt wohl keine
Chance mehr gehabt. „Wir geben ihnen“, sagte
Hoeven, „das Wichtigste überhaupt zurück: ihre Wür-
de.“ Lange habe es gedauert, sagt der Roetz-Gründer,
bis die zuständigen Institutionen das begriffen hät-
ten. „Aber inzwischen übernehmen sie einen Teil der
Gehälter.“ Und unter den Amsterdamer Radlern ist es
so schick geworden, auf einem Roetz-Bike unterwegs
zu sein, dass Ingenieur ter Hoeven inzwischen sogar
ein selbst entworfenes E-Bike anbietet.
Da ist er, der große Zukunftstraum einer zirkulären
Wirtschaft, in der im Idealfall nichts mehr verloren
geht. „Rotie“ zum Beispiel verfolgt dieses Ziel und
bringt Biomüll und Alt-Frittieröl in den Hafen zur
neuen Raffinerie von „Amsterdam Biodiesel“, wo
Vivienne Bolsius (links) von der Internet-Projektbörse „Amsterdam Smart City“ brennt für die vielen Ideen.
Rechts: Überall in Amsterdam gibt es Stromtankstellen für Elektroautos.
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SMART COUNTRY Smart Country adressiert die Herausforderungen des
21. Jahrhunderts. Intelligente Technik und Vernetzung soll
helfen, die Teilhabe aller zu ermöglichen, und gleichwertige
Lebensverhältnisse in Stadt und Regionen sichern. Der digi-
tale Wandel muss offensiv gestaltet und in seinen positiven
Facetten nutzbar gemacht werden, um eine digitale Spaltung
der Gesellschaft und damit auch eine weiter zunehmende
soziale Spaltung zu verhindern. Grundlage ist der Zugang zu
leistungsfähigem Internet. Dann sind digitale Möglichkeiten
geeignet, negative Folgen des demographischen Wandels
sowie räumliche und soziale Unterschiede in Regionen und
Bevölkerungsgruppen abzufedern und sogar ins Positive zu
wenden. An dieser Stelle soll der Reinhard Mohn Preis 2017
nachhaltige Impulse setzen in der Diskussion über mehr Teil-
habemöglichkeiten für alle Menschen.
daraus jährlich bis zu 150.000 Tonnen Biotreibstoff
und 50.000 Tonnen Glycerin für die Pharmaindustrie
produziert werden. Ein wichtiges Leuchtturmprojekt,
findet Mediencoach und Produzent Joris Hoebe.
Aber um zu beweisen, dass es oft nur der Wiederbe-
lebung einer uralten smarten Idee bedarf, lädt Hoebe
zur Verkostung ein: Seit Sommer 2016 sammelt er
Regenwasser und braut aus diesem in Amsterdam
reichlich vorhandenen Rohstoff – Bier.
Schon die Brauer des Mittelalters taten nichts
anderes, entdeckte der 36-Jährige durch eine Spiel-
zeug-„Micro-Brauerei“ unterm Weihnachtsbaum.
Hoebe beriet sich mit den Freunden des Micro-
Brauhauses de Prael, brachte sein Regenwasser mit
diversen Filtern auf die verlangte Trinkwasser-
qualität, kaufte Hopfen und Malz aus biologischem
Anbau – und legte los. Tausend Liter „Hemelwater“
stellt Hoebe jetzt wöchentlich her. Der Genehmi-
gungsantrag für mehr Regenwasserbehälter läuft.
In nur wenigen Monaten ist sein „Himmelswasser“
in der Gunst der Amsterdamer Biertrinker weit nach
oben geschossen. Offenbar bedient sein „Blondes“
nicht nur den Geschmack der Menschen, sondern
auch ihre Sympathie für einen, der einfach mal was
Verrücktes versucht. Und der jetzt plant, Hopfen
und Malz künftig auf den Flachdächern Amsterdams
anzubauen.
Professor Willem van Winden und seinem Forscher-
team an der Amsterdamer Universität für Angewandte
Wissenschaften wird bei so viel Auf- und Umbruch-
stimmung fast schon schwindelig. Bei weitem nicht
alle Projekte seien bis zu Ende gedacht, warnten die
Wissenschaftler im Herbst 2016. Amsterdam habe
sich zwar zu einer „Innovationsprojekt-Fabrik“
entwickelt. Doch immer wieder stelle sich am Ende
einer scheinbar erfolgreichen Pilotphase heraus, dass
die Ergebnisse im besten Fall lokal, nicht aber groß-
flächig angewandt werden könnten. Für den Erfolg
des „Smart City“-Konzepts insgesamt brauche es
daher sorgfältigere Planung, detaillierte Zwischen-
Evaluierungen und ständige Zielabstimmung unter
den Partnern.
Solche Kritik prallt bislang an den Amsterdamern ab.
Sie glauben sich auf dem besten Weg, altbewährte
Traditionen und innovative Ideen erfolgreich zu
einem ständigen Pulsieren, zu mehr Lust auf Neues
und größerer Wagnisbereitschaft zu vermischen. Sie
kennen keinen smarteren Weg, als den Herausforde-
rungen der Zukunft mit Neugier und Optimismus
zu begegnen.
Weblink:
www.amsterdamsmartcity.com
Weblinks:
www.bertelsmann-stiftung.de/smart-country
www.reinhard-mohn-preis.de
Kontakt:
Dr. Kirsten Witte
Carsten Große Starmann
Petra Klug
PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG
D I G I TA L I S I E RU N G | C H A N G E | 1 2 0 1 7 31
Die kleine Manufaktur „Roetz Bikes“ restauriert schrottreife Fahrräder.
Mediencoach und Produzent Joris Hoebe braut aus Regen-wasser Bier. Sein neuester Plan ist es, auf den Flachdächern der Stadt Hopfen und Malz anzubauen.
32 E S S AY | C H A N G E | 1 2 0 1 7
Smart Country kann von großen Datenmengen
enorm profitieren. Doch das geht nur, wenn es
endlich überall schnelles Breitband-Internet
gibt, meint Marco Maas.
Zu Anfang muss ich etwas zugeben: Ein Teil von mir,
wenn auch nur ein winziger, ist ein Technologie-Ver-
weigerer. Ich habe nämlich kein Whatsapp. Normale
Menschen machen alles mit Whatsapp, verabreden
sich, konsumieren Nachrichten, bestellen schon bald
Waren über den Messenger. Sogar meine Mutter nutzt
Whatsapp. Ich nicht. Der Grund: Ich war von Anfang
an höchst besorgt, dass Whatsapp meine privaten
Daten nicht richtig schützt. Doch heute boykottiere
ich den Dienst, wenn ich ehrlich bin, eher aus Un-
wissenheit und Trotz - und aus Tradition. Ich könnte,
nein, ich müsste es besser wissen.
„Viele Regionen sind vom schnellen Internet regelrecht abgeschnitten, was für die Menschen dort enorme gesellschaftliche Nachteile mit sich bringt.“Marco Maas
Das Internet und ich, wir sind gemeinsam groß
geworden. Mittlerweile sind wir so miteinander
verwachsen, dass ich wortwörtlich im Internet der
Dinge lebe, in einem Smart Home. 130 intelligente
Geräte kommunizieren hier täglich miteinander, ich
steuere sie per Sprache und Apps. Seit ich in dieser
„Sensoren-Residenz“ lebe, sehe ich jeden Tag, was
technisch alles möglich ist - und: Welche Nachteile
ich hätte, wenn ich all die Daten meiner Geräte nicht
in einer Cloud speichern würde. Wenn ich mich einer
nützlichen Technologie verweigern würde.
Eine weitere nützliche Technologie, meines Erachtens
die wichtigste, ist das Breitband-Internet. Ich lebe in
Hamburg, die Stadt ist gut vernetzt. Wenn ich aber,
wie rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland,
nicht in einer Großstadt leben würde, sähe das anders
aus. Viele Regionen sind vom schnellen Internet
regelrecht abgeschnitten, was für die Menschen dort
enorme gesellschaftliche Nachteile mit sich bringt.
Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Denn ohne
schnelles Netz können vielfältige digitale Anwen-
dungen nicht genutzt werden. Anwendungen, die im
Sinne des Smart-Country-Ansatzes für viele Men-
schen in ländlichen Regionen hilfreich sein könnten,
Anwendungen mit hohem Datenvolumen.
Was wäre nicht alles möglich? Nur ein kleiner
Schwenk in Richtung Zukunft: Da wären zum Beispiel
Sensoren, die mit Hilfe von Algorithmen Standorte,
Aktionen und Interessen vieler Menschen messen
können. Liest jemand auf seinem Smartphone bei
Apothekenumschau.de mehrere Artikel über Heu-
schnupfen, würde ihm daraufhin die geographisch
nächste Apotheke angezeigt, die die passenden Medi-
kamente parat hat. Oder CO2-Sensoren, die im Notfall
Alarm schlagen, wenn ein älterer alleinstehender
Mensch in seiner Wohnung auf dem Land womög-
lich nicht mehr atmet. Oder der Pendler, der mit der
Bahn in die Stadt fährt, von dort mit dem Fahrrad
zum Arbeitsort, mit dem Auto zu einem Termin – und
das alles bequem über eine App bucht. Auch selbst-
fahrende Autos könnten im ländlichen Raum wichtig
werden und den dort hoch defizitären Busverkehr
ablösen. So könnten Menschen viel flexibler von
einem zum nächsten Ort gelangen. Würde dies noch
geschickt mit den Lieferketten der Supermärkte ver-
bunden, könnte ein Großteil der Transportwege auf
dem Land optimiert werden. Auch im Informations-
bereich ließen sich vielfältige Szenarien entwickeln:
So könnte die Nachricht der Lokalzeitung den Leser
genau in dem persönlichen Kontext erreichen, in dem
er sie braucht. Individualisierte Stau- oder Unwetter-
warnungen sind da erst der Anfang.
Keine Frage, wir müssen bei all diesen Beispielen
über Privatsphäre und Datenschutz reden. Denn
momentan herrscht große Unsicherheit darüber,
welche Daten erhoben und gespeichert werden.
Daraus erwächst oft eine diffuse Angst, manchmal
Carl ZiegnerMarco Maas
Big Data, Smart Country
33 E S S AY | C H A N G E | 1 2 0 1 7
MARCO MAAS
Marco Maas arbeitet seit 1999 als Journalist in Hamburg.
Er war u. a. an der Entwicklung des mit dem Grimme Online
Award ausgezeichneten ZDF-Parlameters beteiligt. Für die
G8-Berichterstattung auf gipfelblog.de erhielt er den CNN
Journalist Award. Seit 2009 beschäftigt er sich mit dem
Themenkomplex Open Data/Linked Data. Er ist Geschäfts-
führender Gesellschafter der Agentur OpenDataCity.
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sogar Technologie-Feindlichkeit, die ich vor allem
bei älteren Menschen immer wieder spüre. Klar ist
jedoch: Ohne eine Art anonymisierte „Datenspende“
eines jeden, der von den Smart-Country-Technolo-
gien profitieren möchte, werden wir nicht auskom-
men, wenn wir die Verhältnisse der Gemeinschaft
verbessern wollen. Klar ist aber auch, dass wir dafür
einen möglichst transparenten und einfachen Dialog
benötigen, den auch Menschen ohne Informatik-
oder Jurastudium verstehen. Wir brauchen also eine
gesellschaftliche Debatte darüber, welche Daten für
die Gesamtheit wichtig sind und was besser privat
bleiben sollte. Aber um das Land mit all diesen Ideen
und techno logischen Möglichkeiten wirklich smart zu
machen – „smart“ nicht nur im Sinne von vernetzt
und intelligent, sondern von ganzheitlichen Perspek-
tiven, nachhaltigen Strategien und der Zusammen-
arbeit verschiedenster Akteure vom Anbieter bis zum
Nutzer und seiner oder ihrer Umwelt –, benötigen
wir den lückenlosen Ausbau des Breitband-Internets.
Mit flächendeckendem WLAN, wie es bald in eini-
gen Städten vorhanden sein wird, ist es nicht getan.
Das kann höchstens eine Brückentechnologie sein.
Die Zukunft liegt in 5G, der nächsten Generation des
Mobilfunks mit Datenraten von bis zu einem Gigabit
pro Sekunde.
Hören wir also auf, Menschen aus geographischen
Gründen zu benachteiligen, hören wir auf, uns der
Zukunft zu verweigern. Auch ich werde meinen Teil
dazu beitragen. Bei Fragen hierzu können Sie mich
gern kontaktieren. Allerdings nicht über Whatsapp.
So modern bin ich dann auch wieder nicht.
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Gemeinsam stark: Obaidullah Ahadi und Asadullah Azizi (von links) vom ESV Neuaubing
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Integration auf dem Bolzplatz
Im Münchener Stadtteil Neuaubing schafft es der Fußball, was anderswo kaum gelingen mag: Menschen zu integrieren, aufzufangen, ihnen Halt, neuen Mut, Trost und Freundschaft zu geben. Ein Besuch vor Ort.
Arne WeychardtGero Günther München Dezember 2016
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Jeden Mittwoch und Freitag trainieren die Teams des ESV Neuaubing. Die meisten der Spieler sind Geflüchtete. Das Training und der Teamgeist geben ihnen Halt und Motivation für den Alltag.
Kurz vor dem Training herrscht Gewusel in der Kabine.
Heiß ist es hier drinnen, stickig und eng. Trotzdem
scheinen die Jungs es nicht besonders eilig zu haben,
auf den Fußballplatz zu traben. Erst mal müssen sie
sich ausgiebig begrüßen. Das gehört bei den beiden
Flüchtlingsmannschaften des ESV Neuaubing zum
Ritual. Verschiedenste Formen des Abklatschens,
Umarmens und Schulterklopfens kommen dabei zum
Einsatz. „Wie läuft’s in der Arbeit?“, will der eine wis-
sen. „Hast du was von zuhause gehört?“, der andere.
Die Kommunikation unter den Spielern läuft erstaun-
lich gut, wenn man bedenkt, wie viele unterschiedli-
che Kulturen hier auf engstem Raum versammelt sind.
Afghanen, Somalier und Eritreer, Jungs aus dem Irak
und Iran sitzen auf den schmalen Holzbänken neben-
einander. Man unterhält sich auf Deutsch; in seltenen
Fällen werden ein paar Sätze Englisch eingestreut,
oder man hakt einfach geduldig nach.
Die MotivationDiese Sportler, das spürt man sofort, bilden eine Ge-
meinschaft. Nicht erst, wenn sie ihre Vereinstrikots
überziehen. Jeden Mittwoch und Freitag trainieren
die beiden Kreisklasse-C-Teams des ESV Neuaubing,
und jeden Mittwoch und Freitag versammeln sich
30 bis 40 junge Männer auf dem Ascheplatz am
Münchner Stadtrand. Die allermeisten von ihnen sind
Geflüchtete, aber ein paar wenige Deutsche mit und
ohne Migrationshintergrund sind auch dabei. Hoch
motiviert sind die Spieler trotz der beträchtlichen
Kälte an diesem Abend. „Wir wollen vorankommen,
uns verbessern“, sagt Amar Omar Jado, der Kapitän
der ersten Mannschaft: „Fußball ist für die meisten
hier das Wichtigste im Leben.“
Das Flutlicht taucht das Feld in dunkles Orange. Alle
paar Minuten flitzt die S-Bahn als heller Pfeil vorbei.
Die Männer sitzen auf dem sandigen Boden und deh-
nen sich. Baukräne ragen hinter den Spielfeldern des
Sportvereins in die Höhe. Im Nordwesten der baye-
rischen Landeshauptstadt gibt es noch Brach- und
Bauland. Neuaubing steckt mitten in einem Verände-
rungsprozess. Tausende von neuen Wohnungen
werden gerade gebaut, ein komplettes Viertel soll hier
entstehen.
Im Umbruch befindet sich auch der örtliche Sport-
verein, dessen fußballerische Abteilung sich aufgrund
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Wieder ein Training geschafft. Wieder etwas mehr angekommen. Wieder etwas mehr zusammengewachsen.
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TEAMUP! WERTEBILDUNG DURCH FUSSBALLFußball ist weit mehr als nur ein populärer Mannschaftssport,
bei dem die Erfolge zählen. Fußball verbindet und ist ein wich-
tiger Schlüssel für den Zusammenhalt. Kinder und Jugendliche
lernen Werte wie Respekt, Fairness und Toleranz und ent-
wickeln soziale Kompetenzen. Das geschieht aber nicht von
allein: Wichtige Bezugspersonen sind dafür die Trainer und
Jugendleiter, die oft eine besondere Vorbildrolle innehaben.
Im Modellprojekt TeamUp! lernen Jugendleiter und Trainer
aus Fußballvereinen, wie sie Jugendliche in ihrer Wertebil-
dung unterstützen können. Die Bertelsmann Stiftung führt das
Projekt mit Unterstützung des Fußball- und Leichtathletik-
verbandes Westfalen durch.
Weblink:
www.bertelsmann-stiftung.de/teamup
Kontakt:
Julia Tegeler
PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG
von massivem Mitgliederschwund ganz aufgelöst
hatte. Als Olaf Butterbrod, der Initiator und Leiter
der Flüchtlingsmannschaft, mit seinen Spielern 2015
beim ESV Neuaubing anklopfte, wurde er mit offenen
Armen empfangen. Eine Win-win-Situation. „Die
Sache hat sich rasant herumgesprochen“, erzählt der
46-Jährige. Aus den beiden Container-Unterkünften,
die in Sichtweite des Sportgeländes liegen, stießen
etliche weitere junge Geflüchtete zu seinem Team.
Bis heute leben fünf der Spieler in den benachbarten
Gemeinschaftsunterkünften.
Die AnfängeAngefangen hatte alles auf einem Firmensportgelände
im Englischen Garten. Ganz ohne Vereinsstrukturen.
Damals kickte Olaf Butterbrod mit Jugendlichen, die
unbegleitet nach Europa geflüchtet waren. Viele von
ihnen waren gerade erst in München angekommen
und freuten sich über die regelmäßige Beschäftigung.
Der engagierte Journalist sammelte Sportkleidung
und Schuhe für seine Schützlinge. „Wir haben bei
Wind und Wetter trainiert“, erzählt Butterbrod.
Unterstützt wurde er dabei von seinem Arbeitgeber,
der Bayerischen Landesbank.
Manche seiner Spieler hatten bisher nur auf der
Straße gebolzt oder auf staubigen Steinplätzen. Mit
selber gebastelten Bällen, zusammengeschnürt aus
Müll. Andere hatten in ihren Heimatländern bereits
regelmäßig im Verein gespielt. Schnell wuchs die
bunt zusammengewürfelte Truppe zu einer Gemein-
schaft zusammen. „Es bildeten sich Freundschaften
unter Jugendlichen, die anfangs kaum miteinander
kommunizieren konnten“, erzählt Butterbrod.
Fußball, so viel stand fest, war besser als untätiges
Herumsitzen in der Massenunterkunft, sorgte für
Erfolgserlebnisse und Struktur. Sich auf dem Platz
zu verbessern, setzte den Jungs erreichbare Ziele.
Anfang 2015 waren Butterbrods Teams die ersten
Mannschaften aus Geflüchteten, die im regulären
bayerischen Ligabetrieb mitmischten. Ehrgeiz,
Fairplay und hervorragender Teamgeist wurden den
Fußballern attestiert. „Wir sind in der Normalität
angekommen“, konstatiert Butterbrod, „jetzt geht es
um den Alltag, darum, Teil der Gesellschaft zu wer-
den.“ Auch Kapitän Amar Omar Jado bezeichnet sein
Team als „ganz normale Mannschaft“. Der 22-Jährige
ist Jeside und stammt aus dem kurdischen Teil im
Norden Iraks. Jado spricht ausgezeichnet Deutsch, hat
eine deutsche Freundin, eine eigene Wohnung und
eine abgeschlossene Ausbildung in einem Münchner
Kaufhaus. „Ich fühle mich absolut wohl in München“,
sagt der smarte Iraker.
Die SchicksaleGenauso wie Ali Rezai, der in einer Drogerie arbeitet
und viele deutsche Freunde hat. „Deutschland ist
jetzt mein Zuhause“, sagt der 25 jährige. Er isst gerne
Brezen und Rindswurst und verehrt Philipp Lahm.
Von Normalität kann bei dem Afghanen aus der
Volksgruppe der Hazara trotzdem keine Rede sein.
Rezai, dessen Vater auf offener Straße von den
Taliban ermordet wurde und der mit seiner Mutter
in den Iran geflüchtet war, hat Angst. Angst, dass er
Deutschland plötzlich verlassen muss, obwohl er sich
ein Leben in Afghanistan unter keinen Umständen
mehr vorstellen kann. Immer wieder muss Rezai
das Gespräch unterbrechen, seine Stimme stockt, er
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Olaf Butterbrod ist Chefredakteur Corporate Publish-
ing der Bayerischen Landesbank und trainierte seit
Februar 2012 ehrenamtlich Flüchtlinge in München.
Im Sommer 2015 meldete er mit dem ESV Neuaubing
eine der bundesweit ersten Integrationsmannschaften
im Ligabetrieb des Deutschen Fußballbundes an.
Inzwischen hat er das Training abgegeben, kümmert
sich aber weiterhin um die Spieler, um ihre Sorgen
und Probleme.
Weblink:
www.esv-neuaubing.de
OLAF BUTTERBROD
verbirgt das Gesicht hinter seinen Händen. Eigentlich
möchte er nicht mehr daran denken: die Pogrome
und Schikanen in seiner alten Heimat, die Flucht in
die Türkei. „Eine Woche lang sind wir durch die Berge
gegangen. Es war eiskalt, und wir sind immer nur
gelaufen und gelaufen.“ Nur beim Fußball, sagt der
schmale junge Mann, könne er vergessen. „Wenn ich
nicht auf dem Platz stehe, muss ich immerzu nach-
denken.“
„Die Narben, die jemand mit sich herum trägt, sind auf dem Spielfeld egal.“Olaf Butterbrod
Ali Rezai ist nicht der einzige afghanische Spieler, der
von Abschiebung bedroht ist. Auch Mustafa Niakpay,
ein ebenso gesprächiger wie freundlicher junger
Mann, muss damit rechnen, verhaftet und in ein
Flugzeug gesetzt zu werden. Eine Horrorvorstellung
für den robusten Rechtsverteidiger. Zehntausende
Afghanen werden derzeit von der EU als „ausreise-
pflichtig“ eingestuft. Mitte Dezember kam es am
Frankfurter Flughafen trotz starker Proteste sogar zu
Massenabschiebungen.
„In dieser Hinsicht kann von Normalbetrieb natürlich
nicht die Rede sein“, gibt Butterbrod zu: „Das Thema
Abschiebung hat uns von Anfang an verfolgt.“ Und
so hat der engagierte Mannschaftsleiter schon viele
Petitionen erstellt, Anträge und Briefe geschrieben,
Protestaktionen organisiert.
Die MacherObwohl Olaf Butterbrod die Mannschaft heute nicht
mehr selber trainiert, hat er alle Hände voll mit
seinen Fußballern zu tun. Schließlich kümmert er
sich nicht nur um die sportlichen Belange seiner
Schützlinge. Butterbrod klärt Passangelegenheiten,
kümmert sich um Deutschunterricht, Wohnungen,
Praktikumsplätze, Jobs oder Wochenkarten für die
öffentlichen Verkehrsmittel. Auf seinem Handy
trudeln ununterbrochen Nachrichten ein: Ein Spieler
braucht ein Fahrrad, ein anderer Fußballschuhe, und
dann sind da auch noch die Medienanfragen und
Einladungen. „Wenn wir zur Tagung des Bayerischen
Landes-Sportverbands zum Thema Integration durch
Sport eingeladen werden“, sagt er, „bin ich da natür-
lich mit drei, vier Spielern vertreten.“
Butterbrods Teams waren schon immer mehr als nur
Fußballmannschaften, man geht zusammen in die
Kneipe, ins Kino oder Stadion. Man kocht und feiert
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Mabel Eyob (22) aus Eritrea kämpft mit schrecklichen Erinnerungen und vermisst seine Familie und Freunde, deren Fotos ihn an die Heimat denken lassen. Neben den Bildern an der Wand hängt ein Zettel, der ihn motivieren soll, alles zu geben – im Fußball und im Leben. Die Ethno-login Laura Verweyen schreibt ihre Dissertation über die Integrationsarbeit mit Geflüchteten im Sport.
gemeinsam und freut sich, wenn der Kamerad endlich
einen Job gefunden hat. Alltag eben. „Wir diskutieren
in unserer Mannschaft nicht jede Woche über den
Islamischen Staat oder darüber, was in den Her-
kunftsländern der Jungs aktuell gerade passiert“,
erklärt Butterbrod: „Die Narben, die jemand mit sich
herumträgt, sind auf dem Spielfeld egal.“
Im Fall von Mabel Eyob sind die Narben sowohl kör-
perlicher als auch seelischer Natur. Der 22-Jährige
Eritreer hat Schlimmes durchgemacht, ehe er nach
Deutschland flüchten konnte. Als Teenager wurde
Eyob auf der Straße aufgegriffen und inhaftiert.
In den Gefängnissen, in denen er ohne Begründung
festgehalten wurde, gab es kein Tageslicht, kaum
Essen. Monatelang ernährte sich der Jugendliche nur
von Tee und trockenem Brot. Eyob musste Zwangs-
arbeit leisten und wurde auf unbestimmte Zeit zum
Militärdienst eingezogen. Er floh und wurde im Sudan
von einer Bande professioneller Kidnapper entführt.
Unter Lebensgefahr entkam der Junge seinen Erpres-
sern. „Meine Familie hatte kein Geld, um mich frei-
zukaufen“, sagt er. „Was sollte ich tun?!“ In Libyen
wurde er schließlich monatelang unter menschenun-
würdigen Bedingungen festgehalten.
„Die Fußballmannschaft übernimmt für viele Geflüchtete Funktionen, die zuhause die Großfamilie hatte.“Laura Verweyen
Mabel Eyob möchte über all das eigentlich nicht
mehr sprechen. Er murmelt, flüstert, schweigt.
Seine Leidensgeschichte erzählt der Eritreer nur sehr
widerwillig. Selbst die Familienfotos, die er stets bei
sich trägt, zeigt er nur ungern her. Albträume und
Heimweh plagen den jungen Mann. Nur beim Sport,
sagt er, könne er vergessen. Immer wieder dieser
Satz. Kein Wunder, dass der Fußball einen so großen
Stellenwert in Eyobs Leben spielt, kein Wunder,
dass an der Wand seines Zimmers ein Poster des
ivorischen Stürmerstars Didier Drogba hängt.
Es ist natürlich nicht nur das Vergessen, das die
jungen Männer auf dem Bolzplatz suchen. „Die
Fußballmannschaft übernimmt für viele Geflüchtete
Funktionen, die zuhause die Großfamilie hatte“,
sagt die Ethnologin Laura Verweyen. „Fast alle diese
Jugendlichen stammen ja aus festen familiären
Strukturen und stehen hier plötzlich allein da.“
Die UnterstützerinIm Rahmen ihrer Dissertation über die Integrations-
arbeit mit Geflüchteten im Sport besucht die Wis-
senschaftlerin das Neuaubinger Team regelmäßig.
Nah dran zu sein, gehört zu ihren Forschungsme-
thoden. Über Monate hat Verweyen die Spieler genau
beobachtet. Beim Training, bei Turnieren, während
gemeinschaftlicher Freizeitaktivitäten. Verweyen
studiert, wie die Mannschaft Sprachprobleme meis-
tert, wie sich die kulturellen Hintergründe der Spieler
bemerkbar machen und wie Konflikte gemeistert
werden. „Die kulturellen Unterschiede werden in
Neuaubing sehr gut überbrückt“, findet die Ethnolo-
gin. „Was zählt, ist die Gemeinschaft.“
Probleme habe sie als Frau unter so vielen Männern
nie gehabt. Stets wurde sie freundlich und respektvoll
behandelt. „Interessant ist auch, wie verschieden
Spieler auf das Handgeben und Augenkontakt reagie-
ren. Für einige ist diese Form der Begrüßung und des
Kontakts zwischen Frauen und Männern noch unge-
wohnt.“ Integration versteht Verweyen als ein Geben
und Nehmen. „Was dabei entsteht, ist etwas Neues.
Für denjenigen, der kommt, aber auch für denjenigen,
der hier ist.“ Wichtig sei ihrer Einschätzung nach
deshalb, dass Geflüchtete früher oder später auch als
Übungsleiter und Trainer im Verein mitwirken und
mitbestimmen. Einige Spieler beim ESV haben bereits
angekündigt, dass sie sich ein solches Engagement in
Zukunft gut vorstellen könnten.
Und so ist es kein Wunder, dass die Ethnologin immer
wieder gerne in den Münchner Westen kommt. „Viele
Vereine“, findet Laura Verweyen, „könnten sich an
Neuaubing ein Vorbild nehmen.“ X
Stellv. Vorsitzende des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung
Nach dem Tod ihres Mannes Reinhard Mohn repräsentiert
Liz Mohn die fünfte Generation der Eigentümerfamilien
Bertelsmann/Mohn. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des
Vorstandes und des Kuratoriums der Bertelsmann Stiftung.
Liz Mohn verantwortet u. a. die Programme Deutschland und
Asien, Führung- und Unternehmenskultur, Lebendige Werte,
Musikalische Förderung sowie Unternehmen in der Gesellschaft.
Kontakt:
Was uns verbindet
44 V I S I O N | C H A N G E | 1 2 0 1 7
LIZ MOHN
Unsere Gesellschaft hat sich tiefgreifend verändert.
Sie ist heute komplexer und vielfältiger als noch vor
dreißig Jahren. Dazu beigetragen haben globale Völ-
kerwanderungen und Einwanderung. Sie sind jedoch
nur eine Facette der zunehmenden Verflechtung und
Vernetzung in Europa und weltweit. In Deutschland
leben heute Menschen mit unterschiedlicher kul-
tureller und religiöser Prägung, mit verschiedenen
Wertvorstellungen, Überzeugungen und Lebens-
stilen. Diese Vielfalt ist, davon bin ich überzeugt,
eine großartige Bereicherung und hat uns als Land
weitergebracht. Aber sie ist auch eine Herausforde-
rung: Sie kann Spannungen erzeugen, die den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt auf die Probe stellen. Die
Flüchtlingszuwanderung in den letzten zwei Jahren
hat uns dies vor Augen geführt: Auf der einen Seite
erleben wir eine Willkommenskultur, die zeigt, dass
für viele Menschen die offene, kulturell vielfältige
Gesellschaft längst eine Selbstverständlichkeit ist.
Andererseits greift Verunsicherung um sich, Ängste
und Vorbehalte gegenüber Fremden werden von Po-
pulisten geschürt und münden leider oft auch in Ge-
walt. Wir müssen uns daher fragen: Wie können wir
dauerhaft in einer vielfältigen Gesellschaft friedlich
zusammenleben? Was verbindet uns bei aller Unter-
schiedlichkeit? Was gibt uns Orientierung? Konsens-
fähige Antworten darauf halte ich heute für wichtiger
denn je. Sie zielen auf die ideellen Grundlagen unse-
rer Gesellschaft, unsere Werte. Deswegen brauchen
wir für ein friedliches Miteinander ein Fundament
geteilter Grundwerte. Dazu gehören Freiheit und
Gerechtigkeit, Respekt und Anerkennung, Toleranz
und Offenheit, Friedfertigkeit und Menschlichkeit.
Diese Werte schließen die Bereitschaft ein, mit
Unterschiedlichkeit respektvoll umzugehen. In einer
offenen und vielfältigen Gesellschaft ist das entschei-
dend. Denn in ihr können Zusammenhalt, Vertrauen
und Solidarität nicht allein auf Ähnlichkeit beruhen.
Meiner Ansicht nach ist es von grundlegender Be-
deutung für unsere Demokratie, dass schon junge
Menschen die für unser Zusammenleben zentralen
Werte verinnerlichen. Deshalb ist Wertebildung so
wichtig. Sie braucht vor allem zweierlei: starke Vor-
bilder sowie Begegnung und Austausch. Das gilt umso
mehr unter den Bedingungen kultureller Vielfalt.
Ängste und Vorurteile lassen sich am besten abbau-
en, wenn man miteinander spricht und gemeinsam
etwas unternimmt. Freundschaft kann über kulturelle
und religiöse Grenzen hinweg entstehen. Deswegen
ist gerade auch der Sport – genau wie die Musik – ein
hervorragendes Feld der Wertebildung.
Die Bertelsmann Stiftung engagiert sich für mehr
Toleranz und Verständnis in unserer Gesellschaft:
Wir stellen Wissen bereit, erarbeiten gemeinsam mit
Praktikern und Experten Orientierungshilfen und
führen Projekte wie TeamUp! durch. Dabei geht es uns
nicht darum, Werte vorzugeben, sondern die Ausei-
nandersetzung damit zu fördern und Kompetenzen zu
stärken, die Kinder und Jugendliche für den gelingen-
den Umgang mit Vielfalt benötigen. An einer solchen
Wertebildung müssen alle mitwirken: Eltern, Lehrer,
Erzieher, Trainer und Jugendarbeiter – und natürlich
die Kinder und Jugendlichen selbst. Gemeinsam sind
wir gefordert, unsere freiheitlich-demokratischen
Grundwerte zu verteidigen und unsere Welt in ihrer
Vielfalt ein Stück menschlicher, gerechter und fried-
licher zu machen.
Jan VothLiz Mohn
45 V I S I O N | C H A N G E | 1 2 0 1 7
B I L D U N G | C H A N G E | 1 2 0 1 746 B I L D U N G | C H A N G E | 1 2 0 1 746
In den Klassenzimmern herrscht Aufbruchstimmung, so wie hier in der Millennium School in San Francisco.
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Lernen und Lehren im Silicon Valley
Von visionären Unternehmern gegründete Schulen versuchen, im Silicon Valley Modelle für das Bildungswesen des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Drei Beispiele für Innovationsfreudigkeit.
47 B I L D U N G | C H A N G E | 1 2 0 1 7
David MagnussonSteffan Heuer Silicon Valley Januar 2017
B I L D U N G | C H A N G E | 1 2 0 1 748
Wenn es um die Wahl der richtigen Schule geht, stehen
Eltern im Ballungsraum zwischen San Francisco und
Silicon Valley vor einer ebenso verwirrenden wie
frustrierenden Vielfalt. Neben hunderten von öffent-
lichen Einrichtungen, die annähernd 300.000 Kinder
von der Vorschule bis zur 12. Klasse mit oft gemischten
Ergebnissen besuchen, entstehen immer mehr Privat-
schulen. Allein in San Francisco besuchen 12.000 oder
jedes sechste Kind eine Privatschule – mehr als an
jedem anderen Ort in Kalifornien.
Viele dieser neuen Schulen werden als ehrgeizige
Experimente von prominenten Hightech-Millionä-
ren finanziert, die Mängel des staatlichen Angebots
mit alternativen Angeboten korrigieren wollen.
Sie versprechen eine moderne Erziehung, die dank
Software und Datenanalyse besser an die Bedürfnisse
und Fähigkeiten des Einzelnen angepasst sei. Und
sie erhoffen sich eine Signalwirkung auf den Rest des
Bildungsbetriebs, sollte sich herausstellen, dass ihre
Modelle nicht nur bessere Leistungen produzieren,
sondern Kinder und Jugendliche auch besser auf die
Anforderungen der Wissensgesellschaft vorbereiten.
Trotz privater Trägerschaft stehen diese Schulen auch
Familien offen, die sich jährliche Gebühren von bis zu
35.000 Dollar nicht leisten könnten. Durch Steuergel-
der finanzierte „Charter Schools“ verteilen ihre Plätze
im Losverfahren, während andere Neugründungen
vom Einkommen der Eltern abhängige Stipendien
vergeben, die oft jedem zweiten Schüler zugutekom-
men. Der Experimentierfreude sind von offizieller
Seite wenig Grenzen gesetzt. Jede neue Schule hat
fünf Jahre Zeit, die Tauglichkeit ihres Models unter
Beweis zu stellen, bevor die Behörden Statistiken
verlangen, um die Zulassung zu verlängern.
An viel beachteten Experimenten herrscht deshalb
kein Mangel. Die Primary School in East Palo Alto
etwa nimmt seit Herbst 2016 die Kinder armer
Familien auf, die im Schatten der Hightech-Industrie
leben. Finanziert haben sie Facebook-Gründer Mark
Zuckerberg und seine Frau Priscilla Chan. Aus der
ersten Klasse mit 51 Kindern zwischen vier und fünf
Jahren soll mit der Zeit eine komplette Kita plus
Schule mit 700 Plätzen werden, die Gesundheits-
erziehung großschreibt.
„change“ hat sich an drei neuen Schulen im Silicon
Valley umgesehen, die jede auf ihre eigene Weise
belegen, wie Unternehmergeist Konzepte moderner
Bildung vorantreiben und in neue Bahnen lenken
kann, so dass Innovation allen Bevölkerungsgruppen
zugutekommt.
AltSchool: Die digitale Montessori-SchuleEs gibt keine Tafeln, sondern vernetzte Whiteboards;
es gibt keine Klassenzimmer, sondern ein Großraum-
büro, das an eine Mischung aus jahrgangsübergrei-
fender Dorfschule und Start-up erinnert. Wände und
Decken sind mit Mikrofonen und Webcams gespickt,
die Hausaufgaben heißen „Playlist“ und bestehen aus
einem Online-Feed. So sieht der Alltag für Grund-
schüler an der AltSchool in San Franciscos Dogpatch-
Viertel aus.
Schon das Logo signalisiert, dass es hier anders
zugeht als im normalen Klassenzimmer. Es ist das
abgerundete Viereck mit dem Wörtchen „Alt“, das
sich auf jeder Computer-Tastatur findet. Im Falle der
drei Jahre alten Schule in San Francisco soll es doku-
mentieren, dass hier Programmierer auf Augenhöhe
mit Lehrern nach Alternativen suchen, die Wissens-
arbeiter von morgen heranzuziehen.
Die AltSchool entstand aus der Frustration des ehe-
maligen Google-Managers Max Ventilla, der für seine
Tochter keine geeignete Grundschule finden konnte
und deshalb einfach selber eine gründete. „Unser
Leben ändert sich so schnell, dass sich auch Erzie-
hung schneller wandeln muss“, beschreibt Ventilla
seine Beweggründe, und spricht dabei bewusst von
Erziehung und nicht nur von Bildung. Für ihn ähnelt
schulische Innovation der Software-Entwicklung, bei
der eine schnelle Abfolge von Versuch und Irrtum für
Vielfalt und bessere Ergebnisse sorgt.
Für das Konzept, an mehreren Standorten kleine,
überschaubare Mikro-Schulen zu eröffnen, die alle
Kinder in San Francisco besuchen eine Privatschule
12.000
Gespräche im Schulkreis und statt Klassenzimmer Räume, die eher an ein Großraumbüro erinnern – die vor drei Jahren in San Francisco gegründete AltSchool ist eine Mischung aus Dorfschule und Start-up, aus digitaler Welt und Montessori-Schule.
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Chris Balme, Schulleiter MilleniumSchool, Kristin Uhlemeyer, Lehrerin an der AltSchool, Danny Etcheverry, Direktor der Rocketship Mosaic Elementary (von links)
am selben Softwarenetz hängen und deren Teams
komplett digitalisiert sind, begeisterte Ventilla die
örtliche Tech-Elite: Facebook-Chef Zuckerberg,
Netscape-Erfinder Marc Andreessen, Steve Jobs’ Witwe
Laurene Powell und eBay-Gründer Pierre Omidyar
sind unter den Financiers, die mehr als 130 Millionen
Dollar investierten.
„Unser Leben ändert sich so schnell, dass sich auch Erziehung schneller wandeln muss.“Max Ventilla
Heute betreibt AltSchool acht Schulen mit 50 Erzie-
hern und mehr als 400 Schülern vom Vorschulalter
bis zur achten Klasse. Jeder vierte Schüler bekommt
finanzielle Unterstützung, um die jährlichen Gebüh-
ren von 33.600 Dollar bezahlen zu können. Offizielle
Ergebnisse zur akademischen Leistung des Modells
liegen indes noch nicht vor. „Technologie ermöglicht
es, ein Netzwerk zu bauen, das Erzieher, Eltern und
Schüler verbindet, um eine personalisierte, ganzheit-
liche Erziehung anzubieten“, beschreibt AltSchool
ihren Ansatz. Dazu gehört auch, dass ein Team von
50 Programmierern eine eigene Software-Plattform
entwickelt, um Lernfortschritte jedes Kindes Klick für
Klick, Wort für Wort aufzuzeichnen und auszuwerten.
Statt Noten und Zeugnissen gibt es Streams und
Charts, die man sonst aus Management-Präsentatio-
nen kennt. Und Service-Orientierung, so dass Eltern
die eigenen Ferientermine per App bestimmen und
gute Lehrer-Updates aus dem Klassenzimmer mit
einem „Like“ versehen können. Funktioniert die
datengetriebene Lehre, will AltSchool sein Software-
paket an öffentliche wie private Schulen vermieten.
Die ersten drei US-Schulen haben bereits entspre-
chende Verträge unterschrieben, aber zum langfris-
tigen Überleben braucht das Start-up mehr zahlende
Kunden.
Trotz aller Technisierung ist die Schule immer noch
ein buntes Gemisch aus Handwerk und Hardware,
Büchern und Tablets. Die Lehrer versuchen, Erst-
und Zweitklässler optimal auf die kollaborative Welt
vorzubereiten, indem sie jedes Thema als dreiteiligen
Kreislauf aus einer provokativen Frage, Recherche
und Präsentation aufbauen. „Wir glauben, dass Er-
ziehung keine gerade Linie von A nach B ist, sondern
dass jedes Kind seinen eigenen Weg gehen sollte, um
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DIGITALISIERUNG DER BILDUNGDie digitale Welt verändert das Lernen wie kaum eine
gesellschaftliche Entwicklung zuvor. Was bedeutet das für
die Bildung der Zukunft? Wie können Schüler, Studenten
und Pädagogen von den Möglichkeiten der Digitalisierung
profitieren? Und wo ist Vorsicht geboten? Fragen nach den
Folgen, Chancen und Risiken der Digitalisierung berühren
den pädagogischen Alltag von der Schule über die Ausbildung
und Hochschule bis hin zur beruflichen Weiterbildung. Die
Online-Plattform digitalisierung-bildung.de bündelt unsere
entsprechenden Aktivitäten von der Schule bis zum lebenslan-
gen Lernen und bietet mit ihren regelmäßigen Blogbeiträgen
ein Forum zum gegenseitigen Austausch.
zum Ziel zu gelangen“, erklärt Schulleiterin Annette
Bauer. „Technologie spielt eine wichtige Rolle, aber
sicher nicht die wichtigste.“
Rocketship Mosaic Elementary: Stolz ans ZielJeden Morgen um zehn vor acht sind die 583 Schüler
an der Rocketship-Mosaic-Grundschule in San Jose
bereit für den Start in den Tag. Je nach Wetter stehen
sie in Uniform auf dem Schulhof in Reih und Glied
oder bilden im Klassenzimmer einen Kreis, um auf
Anleitung von Direktor Danny Etcheverry den Eid auf
die US-Fahne zu leisten und das Motto der Schule zu
rezitieren. „Ich bin ein Rocketeer und trage Verant-
wortung für meine Erziehung“, rufen die Kinder.
Sie bekennen sich zum „Weltbürgertum“, bevor sie
mit ihren Lehrern zu einem Video des Teenie-Hits
„Fight Song“ tanzen.
Mit diesem Modell, das Elemente einer militärischen
Grundausbildung mit der steten Betonung akademi-
scher Exzellenz und intensiver sozialpädagogischer
Betreuung verbindet, hat Rocketship ein erfolgreiches
Netzwerk von landesweit 16 Schulen aufgebaut, zehn
davon in der Heimatregion rund um San Jose. Alle
Einrichtungen werden als Charter Schools betrieben,
die von der Kommune zugelassen und durch Steuer-
gelder finanziert werden und so mit den öffentlichen
Schulen konkurrieren.
Allerdings kann Rocketship nach zehn Jahren für sich
in Anspruch nehmen, bessere Ergebnisse zu pro-
duzieren. Obwohl neun von zehn seiner Schüler aus
armen Familien stammen und deswegen ein staatlich
subventioniertes Frühstück und Mittagessen in der
Schule einnehmen, liegen die Rocketship-Schulen in
den beiden Testfächern Mathe und Englisch unter den
Top-zehn-Prozent aller nach denselben Standards
getesteten Schulen in Kalifornien.
„Wir wollen unsere Schüler praktisch und gedanklich
darauf vorbereiten, später aufs College zu gehen –
als Erste in ihrer ganzen Familie“, sagt Direktor
Etcheverry. Dazu setzt das Unternehmen nicht nur
auf personalisiertes Lernen, bei dem Lehrer und
Schüler intensiv Werkzeuge wie Laptops, Tablets
und Cloud-Software benutzen, um Lesen, Schrei-
ben und Rechnen zu lernen. Ebenso wichtig ist für
Etcheverry die kontinuierliche Lehrerfortbildung
von rund 300 Stunden im Jahr. Das geschieht durch
Weblink:
www.digitalisierung-bildung.de
Kontakt:
Ralph Müller-Eiselt
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Julia Behrens | [email protected]
PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG
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wöchentliche Seminare und einen dreiwöchigen
Intensivkurs während der Sommerferien. Außerdem
will Rocketship die Eltern in die Erziehung einbinden
und der ganzen Familie Hilfe bei pädagogischen und
psychologischen Fragen bieten. Aus gutem Grund:
Jeder achte Schüler an Mosaic ist obdachlos, jeder
zehnte bedarf des Sonderschulunterrichts, und für
zwei Drittel ist nicht Englisch, sondern Spanisch,
Vietnamesisch oder Chinesisch die Muttersprache.
Etcheverry zieht ein ernüchterndes Fazit der Heraus-
forderungen für seine tägliche Arbeit: „Die Mehrheit
unserer Schüler kommt aus traumatisierten Familien,
die systematisch benachteiligt werden. Sie bedürfen
besonderer Unterstützung.“ Dazu gehört auch der
Ansatz, Grundschülern keinen festen Klassenlehrer
zuzuteilen. Stattdessen sind Lehrerinnen wie Maya
Barua nur auf ein Fach wie Englisch spezialisiert.
„Ich habe fast 60 Kinder, aber da ich nur ein Fach
unterrichte, ist das überschaubar, und ich kann jedes
Kind optimal fördern“, sagt sie.
Eine private Organisation wie Rocketship, so Etche-
verry, kann Innovationen schneller umsetzen, die
allen Bevölkerungsschichten zugutekommen. Das
fängt mit vermeintlich kleinen Dingen an – etwa den
Wimpeln von College-Mannschaften, die in jedem
Klassenzimmer und Flur hängen. „So soll jeder
Schüler immer daran denken, dass er oder sie eines
Tages studieren wird“, sagt Etcheverry, während eine
persönliche Lernbeziehung – digitale und analoge
Bildung sind also keine Gegensätze, sondern eine
sinnvolle Ergänzung zueinander.
Wie stellen Sie sich das vor?
Digitale Hilfsmittel werden Lehrer und Professo-
ren nicht ersetzen, aber sie bekommen eine neue
Rolle – vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter.
Dadurch haben sie mehr Zeit für das Wesentliche:
den einzelnen Schüler. Sie können individuelle
Fragen beantworten, statt nur Standardwissen
zu vermitteln.
In deutschen Schulen dominieren bisher eher Tafel
und Buch als Tablet und Software. Was müsste bei uns
passieren?
Es geht nicht darum, alle Schüler mit einem Laptop
auszustatten. Damit digitales Lernen positiv wirken
kann, brauchen wir vielmehr eine Qualifizierungs-
offensive für Pädagogen. Wir brauchen flächen-
deckend zuverlässiges WLAN an unseren Schulen.
Und wir brauchen verlässliche Rahmenbedingun-
gen für alle: von Datenschutz und – souveränität
für Schüler bis hin zur Lehrverpflichtung für
Professoren. Damit all das gelingt, muss die Politik
die Digitalisierung als Chance begreifen. Denn:
Der digitale Wandel ist kein Problem, sondern Teil
der Lösung für mehr Chancengerechtigkeit.
Drei Fragen an Dr. Jörg Dräger
change: Herr Dr. Dräger, Sie sagen, die Zukunft ist
digital – auch in der Bildung. Wie wird sich unsere
Bildungslandschaft verändern?
dr. jörg dräger | Digitalisierung verändert unsere
pädagogischen Möglichkeiten – nicht nur unsere
technischen: Lernprogramme und Onlinekurse
helfen, viele Schüler und Studenten gleich-
zeitig in ihrem individuellen Lerntempo zu
unterrichten. Das kann kein einzelner Lehrer
mit 30 Schülern und auch kein Professor mit
200 Studenten leisten. Gleichzeitig wissen wir,
dass nichts den Lernerfolg so steigert wie eine
Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung
Durch individuelles Lernen per Laptop möchte die Rocket- ship-Mosaic-Grundschule jedem Kind, egal welcher Herkunft, Bildung ermöglichen.
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Schüler an der Millennium School feilen mit ihren Lehrern am Abschlussprojekt. Die Schule arbeitet mit Neurologen, Entwicklungspsychologen und Pädagogik-Experten zusam-men und setzt stark auf Lehrerbildung.
Gruppe Zweitklässler in Reih und Glied an ihm vor-
beimarschiert. „Stolz sein“, ruft er ihnen zu.
Millennium School: Das Labor der AchtsamkeitHeute ist ein besonderer Tag für die Sechstklässler
der Millennium School mitten in San Francisco. Sechs
Wochen haben sie an ihrem jüngsten Projekt gear-
beitet, um Neues rund um Naturwissenschaften oder
kurz STEM (Science, Technology, Engineering, Math)
zu lernen. Die Aufgabe der 23 Schüler lautete, zum
Thema „Transformation“ ein persönliches State-
ment zu entwickeln, das sie am Abend in einer nahe
gelegenen Galerie vorstellen werden. Die Jungen und
Mädchen haben Gemälde, Collagen, Manuskripte
und selbstgedrehte Videos über ihre Gedanken zur
Pubertät vorbereitet.
Millennium School, die im August 2016 die Türen
für den ersten Jahrgang öffnete und sukzessive eine
sechste, siebte und achte Klasse bedienen will, ver-
steht sich in gleich mehrfacher Hinsicht als unge-
wöhnliches Experiment. Die Mittelschule sammelte
drei Millionen Dollar von privaten Geldgebern ein, die
absichtlich anonym bleiben wollen. „Wenn man sich
prominente Investoren ins Boot holt, die an Rendite
denken, entsteht ein unnötiger Erwartungsdruck.
Uns geht es beim Stichwort Erfolg um andere Dinge“,
sagt Gründer Jeff Snipes, der vorher Leadership-
Programme für die Manager von Großunternehmen
leitete. „Wir wissen, dass Heranwachsende nicht von
einer herkömmlichen Ausbildung profitieren, die auf
Nummer sicher geht, anstatt Risikobereitschaft zu
vermitteln. Wir wollen eine Balance finden, wie man
die Regeln des Spiels namens „Erwachsen sein“ lernt
und neue Technologie als Werkzeuge benutzt – und
sich nicht blind von der Maschine schlucken lässt.“
Mit der „Maschine“ meint Snipes den Tanz um das
goldene Kalb „Wissensgesellschaft“, bei dem Erzie-
hungsangebote vor allem danach beurteilt werden,
ob sie Jugendliche auf Jobs in der Welt von Apple,
Facebook und Google vorbereiten. Er will stattdes-
sen eine Schule schaffen, die zur Achtsamkeit und
Selbstverwirklichung anleitet. Deswegen beginnt der
Tag mit Meditation; deswegen besteht der Lehr-
plan aus sechswöchigen „Quests“ oder Missionen
mit abschließender Präsentation, die immer einen
engen Realitätsbezug haben. Etwa vor den Wahlen
ein rechtlich wasserdichtes Volksbegehren abzu-
fassen und es vor einer Kommission im Rathaus
zu verteidigen. „Wir haben drei Jahre an diesem
Modell gefeilt und sind zum Schluss gekommen,
dass die sechsten bis achten Klassen der Schlüssel
zum geistigen und sozioökonomischen Wohlergehen
für den Rest des Lebens sind“, erklärt Schulleiter
Chris Balme. „Jugendliche müssen ihren Platz in der
Welt finden und ihren eigenen Wert erkennen. Die
täglich gelebte Erfahrung ist immer stärker als der
Content im Lehrplan.“
Deshalb arbeitet Millennium mit Neurologen, Ent-
wicklungspsychologen und Pädagogik-Experten an
Elite-Unis wie Stanford und Berkeley zusammen.
Sie liefern neueste wissenschaftliche Erkenntnisse
und können im Gegenzug Konzepte im „lebenden
Klassenzimmer“ (living classroom) ausprobieren.
Da die Schüler keine Noten erhalten, sondern über
drei Jahre hinweg 30 Projekte präsentieren, gehen
sie nach der achten Klasse mit einem „digitalen
Portfolio“ zur High School über. Snipes vergleicht es
mit einem Linked-In-Profil für Jugendliche, die ihre
eigenen Erfolge und Stärken beständig aktualisieren
und redigieren.
Die Schule, die je nach Einkommen der Eltern zwi-
schen 500 und 31.500 Dollar im Jahr kostet und die
Hälfte ihrer Familien finanziell unterstützt, versteht
sich im doppelten Sinne als „Innovationslabor“.
Einmal als Ort, an dem Jugendliche ganzheitlich auf
ihrer komplizierten Reise ins Erwachsensein begleitet
werden, und als Einrichtung, die ihre Erkenntnisse
der gesamten Zunft in einer Online-Plattform öffent-
lich zugänglich machen will. „Wir wollen“, formu-
liert Gründer Snipes, „eine neue Lehrergeneration
ausbilden.“
Weblinks:
www.altschool.org
www.rsed.org
www.millenniumschool.org
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Ein Großteil der Deutschen steht für eine offene
Gesellschaft, und doch sind es wenige Populis-
ten, auf die alle Welt schaut. So die These des
Sozialpsychologen Prof. Dr. Harald Welzer. Wir
wollen wissen, wie er auf die These kommt –
und was das für unsere Gesellschaft bedeutet.
change | Sie sagen, die Mehrheit der Bevölkerung
schweigt, während alle Aufmerksamkeit den unzufriede-
nen 20 Prozent gilt. Und das wollen Sie mit der Initiative
Offene Gesellschaft ändern … Wie ist es überhaupt zu
dieser Situation gekommen?
prof. dr. harald welzer | Es ist eine Schieflage in der
politischen Kommunikation entstanden. Die öffent-
lich debattierten Themen werden weitestgehend von
der rechten Seite vorgegeben. Von einer Minderheit,
die durch Grenzüberschreitungen, durch skandali-
sierbare Begriffe die Diskurshoheit erobert. So ent-
steht der falsche Eindruck, dies wären die Themen,
die die Mehrheit umtreiben. Wir wollen dieser Schief-
lage in der politischen Kommunikation gegensteuern
und wagen das paradoxe Unterfangen, der Mehrheit
eine Stimme zu geben.
Aber besteht nicht die Gefahr, dass dabei diejenigen, die
politisch sowieso schon sensibel sind, nur um sich selber
kreisen?
Ja, aber das ist egal. Der größte Teil der Gesellschaft
ist ohnehin unpolitisch. Und war es auch immer.
Es kommt darauf an, wieder eine Themenvielfalt zu
schaffen und solche Themen zu setzen, die tatsäch-
lich etwas mit der Weiterentwicklung von Gesell-
schaft zu tun haben. Und nicht mit dem Rückschritt.
Es stimmt: Man macht gewissermaßen etwas für
die, die ohnehin interessiert sind. Aber es ist eine
Fiktion, dass es jemals anders sein könnte. Am
Ende kommt es darauf an, dass die Leute ihr Kreuz
richtig setzen und nicht selber Teil von totalen
Schwachsinns diskursen werden.
Ein prägendes Bild im vergangenen Jahr war, wie füh-
rende Politiker beim Staatsakt zum Tag der Deutschen
Einheit in Dresden von einem wütenden Mob beschimpft
wurden …
Pegida ist doch ein reines Medienphänomen. Weil
über diese Handvoll Leute wieder und wieder berich-
tet wurde. Die extreme Rechte erreicht durch solche
Aktionen eine enorme mediale Überrepräsentanz.
Der Mehrheit eine Stimme geben
Sozialpsychologe Prof. Dr. Harald Welzer glaubt fest an die Zukunft einer offenen Gesellschaft.
Dezember 2016Achim MulthauptThomas Röbke Hannover
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Das sind ein paar tausend Hanseln aus einem regional
sehr engen Gebiet, mit einer spezifischen Situati-
on – Dresden war in dieser Hinsicht immer schon
ein Problem. Über keine partikulare Gruppe in der
Gesellschaft wurde und wird so viel berichtet wie über
diese Leute. Die könnten eigentlich der deutschen
Presselandschaft die Pegida-Ehrennadel verleihen.
Beschimpfen sie aber als „Lügenpresse“.
Ist die derzeitige Situation also Resultat eines totalen
Medienversagens?
Ja. Medien leben von negativen Nachrichten, und
die meisten Medienmacher haben sich so etwas wie
politische Aufklärung auf die Fahnen geschrieben.
Nur geht die hier komplett daneben, weil selbst die
kritischste Berichterstattung diese Leute medial prä-
sent hält. Dass das Marketing der Rechten exakt darin
besteht, sollte auch kritischen Journalisten langsam
mal einleuchten.
Aber der Gedanke „Wir müssen vor einer heraufziehenden
Gefahr warnen“ ist doch ehrenwert.
Ja. Nur gibt es in diesem Land geradezu eine Para-
noia, dass alles, was rechts ist, den Laden sofort über-
nimmt. Dadurch entsteht dieses Aufklärungsbedürf-
nis, das aber genau das Gegenteil erreicht. Das ist ein
Kollateralschaden gelungenen Geschichtsunterrichts.
Nun ist es doch aber unbestreitbar, dass es soziale Ungleich-
heit gibt. Und die Medienschaffenden haben in ihrem
Alltag keine Berührungspunkte mit denen, die sich gesell-
schaftlich abgehängt fühlen. Muss man die nicht wieder
heranholen? Und Filterblasen zum Platzen bringen?
Das kommt darauf an, über wen man spricht. In
Sachen sozialer Ungleichheit, Arroganz von Eliten
und dergleichen ist allerhand schiefgelaufen. Das
ist aber nicht die neueste Meldung vom Tage, das
war immer wieder Thema. Dieses „Wir haben sie
abgehängt“ ist die typische paternalistische Sozial-
pädagogen-Routine. Wir sind alle unheimlich gut
im Verstehen, im Deuten und Analysieren, aber wir
sind extrem schwach darin, Konsequenzen zu ziehen
im Sinne von: Wie verhalte ich mich denn jetzt?
Meistens bleibt es bei dieser dusseligen Rhetorik:
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„Wir müssen uns um die Abgehängten kümmern“,
egal ob das jetzt Rassisten sind, Sexisten oder sonst
was. Ich würde sagen: Nein! Man muss als Demokrat
eine Haltung zeigen, um deutlich zu machen, dass
bestimmte Formen von Grenzüberschreitungen nicht
toleriert werden. Und wenn wir über Prekarisierung
reden, müssen wir darüber reden, wer die Leute dazu
gebracht hat, dass sie so ticken. Vor allem: So zu
ticken ist ja ein schichtenübergreifendes Phänomen.
Das Welzer’sche Theorem lautet, dass in jeder gesell-
schaftlichen Gruppe der gleiche Anteil von Idioten
anzutreffen ist. Die AfD ist von den Aktiven her auch
eine Mittelstandspartei. Und ihre Mittel sind für
manche Mittelschichts- oder Oberschichtsangehörige
genauso attraktiv wie für Unterschichtsangehörige.
Ein Zuspruch von 20 Prozent für AfD- und Pegida-
Gedankengut erscheint trotzdem nicht unerheblich.
Wir wissen aus jahrzehntelangen Studien zu Einstel-
lungen und Mentalitäten in der Bundesrepublik, dass
es diese Klientel von rund 20 Prozent immer gege-
ben hat. Auch das ist nichts Neues. Antisemitismus,
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Rassismus, Ressentiments gegenüber anderen waren
nie weg. Das ist ein konstanter Wert. Nur gab es
keine Partei, die „wählbar“ war, die NPD war zu sehr
mit der Nazithematik verbunden. Jetzt gibt es eine,
und nun kann sich diese Klientel artikulieren. Hinzu
kommt: Die Unzufriedenen konnten sich früher nur
in ihrer Gruppe, in ihrer Kneipe, artikulieren, das
drang nicht nach außen. Seit es diese antisozialen
Netzwerke gibt, dringt das alles nach außen.
Kann man als Befürworter einer offenen Gesellschaft
etwas tun? Sollte man Hassposts entkräften? Oder lieber
ignorieren?
Es geht denen ja nicht um einen Dialog oder darum,
Meinungen gegeneinander abzuwägen. Es geht um das
In-die-Ecke-Pinkeln. Auf das Niveau sollte man sich
nicht begeben, dann hat man schon verloren.
Sie sagen von sich selbst: „Ich habe zur Entpolitisierung
der Gesellschaft beigetragen.“ Wie meinen Sie das?
Im linksliberalen Spektrum waren wir immer
unglaublich gut im Deuten, Analysieren, Verstehen,
Erklären, aber mit einer Folgenlosigkeit für einen
selbst. Die Suggestion war immer: Es reicht ja schon,
wenn man durchblickt und Adorno zitieren kann. Das
gehobene Feuilleton ist ja auch so ein Durchblicker-
Feuilleton: Man übertrifft sich darin, besonders
schlaue Analysen zu liefern, aber es folgt letztlich
nichts daraus. Das ist mir in den letzten Jahren immer
klarer geworden.
Geht es in der derzeitigen Situation einfach darum, das
Schlimmste zu verhindern? Oder kann daraus auch etwas
Positives entstehen, ein Fortschritt der Gesellschaft?
Klar. Auf das, was jetzt die Initiative Offene Gesell-
schaft macht, hätten wir eher kommen sollen.
Die politische Landschaft hat sich so entwickelt,
dass Politiker immer irgendwas liefern müssen und
dass das demokratische Gemeinwesen ihnen dabei
zuschaut. Symptomatisch dafür ist diese Talkshow-
Kultur, die mit Politik verwechselt wird. Aber so
funktioniert Demokratie auf Dauer nicht.
Man wählt Repräsentanten, die das Geschäft des Regie-
rens übernehmen – das steht doch wohl außer Frage …
Natürlich, aber die eigentliche Idee ist doch: Es gibt
ein lebendiges politisches Gemeinwesen, das Teil hat
an den öffentlichen Angelegenheiten. Das ist über
die letzten Jahrzehnte ganz stark verloren gegangen.
Ich möchte sagen: Es ist geradezu cool, dass wir jetzt
eine Situation haben, in der dem Bürger plötzlich
wieder bewusst wird, wie wichtig Demokratie ist und
dass sie nur dann existiert, wenn genug Menschen für
sie eintreten.
Der Sozialpsychologe ist seit 2012 Professor für
Transformationsdesign an der Universität Flensburg
und Direktor der Stiftung „Futur Zwei“ in Berlin. Die
gemeinnützige Stiftung soll Ideen zu alternativen
Lebensstilen und Wirtschaftsformen generieren,
aufzeigen und vermitteln. Mit der Initiative Offene
Gesellschaft will Prof. Dr. Harald Welzer der Mehrheit
eine Stimme geben, die Menschen zum Denken bringen
und so die Gesellschaft wieder starkmachen.
Kontakt:
PROF. DR. HARALD WELZER
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Wer sich engagieren will, geht auf die Internetseite der
Initiative Offene Gesellschaft – und dann?
Es gibt verschiedene Stufen des Engagements. Das
fängt damit an, sich einfach als Freundin oder Freund
anzumelden. Man kann auch ein Foto oder einen klei-
nen Film hochladen, mit einem Statement, warum
man für eine offene Gesellschaft ist. Wer sowieso bei
einer Organisation oder einem Unternehmen eine
Veranstaltung macht, die mit Demokratie und offener
Gesellschaft zu tun hat, kann sie hier mit einbringen.
Oder selber etwas organisieren, dafür finden sich bei
uns Anleitungen. Es gibt sogar einen kleinen Fonds,
bei dem man bis zu 3.000 Euro zur Finanzierung
beantragen kann.
Offenheit wird begrenzt durch Angst, und Angst entsteht
durch Unwissen – müsste nicht mehr für die Bildung
getan werden, um die offene Gesellschaft zu stützen?
Das ist keine Wissensfrage. Wenn Sie ressentiment-
geladenen Leuten mit Fakten kommen, behaupten die
sowieso, die seien gefälscht. Was Menschen für ihre
Wirklichkeit halten, ist immer emotional grundiert.
Der Umgang mit Welt ist nicht wissensbasiert. Der
hängt ab von den sozialen Beziehungen, die man hat
oder haben möchte; von den Wünschen, die man
an sich selber hat, wie stark man sich orien tieren
möchte, welche Pfeiler man dafür braucht. Wissen
wird total überbewertet.
Eine steile These …
Überhaupt nicht, die habe ich in vielen Büchern
exemplifiziert. Wenn man das extremste Beispiel
nimmt, die Einsatzgruppenmorde 1941, die Leute,
die in den Osten gingen und hinter der vorrückenden
Front Juden umbrachten: Alle Einsatzgruppenlei-
ter waren promoviert, zwei sogar doppelt. Es waren
Geistes- und Naturwissenschaftler, der Traum der
Interdisziplinarität, alles hoch gebildete Leute. Was
hat das Wissen im Sinne der Moralität, der Humani-
tät geholfen? Es hat höchstens ihnen geholfen, sich
Erklärungen zurechtzubauen, warum ihr Handeln
historisch notwendig sei.
Sie weisen darauf hin, dass die bundesdeutsche Gesell-
schaft in ihrer Geschichte großartige Integrationsleis-
tungen vollbracht hat und das weiterhin tun wird. Aber
die Konflikte sind doch unbestreitbar da, es gibt etwa
kriminelle Banden aus der Türkei oder dem Nahen Osten
in vielen Regionen des Landes.
Sicherlich gibt es eine Vielzahl an Problemen. Sicher-
lich gibt es die Fahrlässigkeit, dass man Parallelgesell-
schaften hat entstehen lassen. Natürlich muss
man darüber sprechen, dass es an der Stelle auch
Behördenversagen oder Wegschauen gegeben hat.
Man redet darüber, aber man tut nichts, das ist doch
das Problem. Das ist ein großer Fehler gewesen,
aber solche Fehler sind zu korrigieren. Aber dass ein
Phänomen wie die Kölner Silvesternacht nicht in
München oder Hannover aufgetreten ist, hat etwas
mit einer Verwahrlosungskultur der öffentlichen
Organe zu tun, die spezifisch für diese Region ist.
Eine oft gehörte Klage ist: „Wir da unten und ihr da oben“,
Stichwort Demokratieverdrossenheit. Wie bekommt man
diese Schere wieder zusammen?
Niemals ganz, die ist ja objektiv da. Wir wissen aus
der Sozialpsychologie, dass Menschen relativ wenig
Probleme mit Ungleichheit haben, wenn sie das
Gefühl haben, es ginge trotz allem gerecht zu. Wenn
aber die Supermarktkassiererin entlassen wird, weil
sie einen Pfandbon von ein paar Cent nicht vernünftig
abgerechnet hat, aber ein Herr Winterkorn, obwohl
er ein wichtiges Unternehmen ruiniert, noch ein paar
Millionen Euro Bonuszahlungen bekommt, sagen
die Leute: Das ist ungerecht, das ist nicht fair. Und
werden richtig sauer. Oder sie verlieren das System-
vertrauen und wenden sich ab. Auch da gab es in den
letzten Jahren eine große Fahrlässigkeit im Umgang
mit diesem extremen Anwachsen der Vorstands-
gehälter und der vollständigen Entfernung von den
Gehältern, die jetzt die Facharbeiter oder Ingenieure
bekommen. Das hat nichts mehr mit Leistung zu tun.
Das ist nicht gut für eine Gesellschaft, wenn diese
Diskrepanzen so groß werden. X
Weblinks:
www.die-offene-gesellschaft.de
www.futurzwei.org
62
Warum wählen immer mehr Bürger populistische
Parteien? Von den vielfältigen Erklärungsmustern,
die durch die öffentliche Debatte schwirren, stechen
zwei als besonders dominant hervor: Wertekonflikt
und Angstreaktion. Einige betonen, dass die Verbrei-
tung liberaler Werte wie Ehe für alle, ethnisch-kul-
turelle Vielfalt und Gleichberechtigung für Frauen ein
solches Maß erreicht habe, dass traditionell-konser-
vative Milieus sich entfremdet fühlten und sich poli-
tisch neu orientierten. Gewinner dieser Neuorientie-
rung seien die rechtspopulistischen Parteien. Andere
dagegen stellen die Bedeutung der Globalisierung
und ihre asymmetrischen wirtschaftlichen und ge-
sellschaftlichen Auswirkungen heraus. Sie argumen-
tieren, dass der wirtschaftliche Veränderungsdruck
der vergangenen zwanzig Jahre, plus die multiple
Krisenerfahrung der jüngeren Vergangenheit, plus
die technologische Veränderungserwartung für die
nächsten Jahre Teile der Gesellschaft tiefgreifend
verunsichert hätten. All diese Erfahrungen seien
mit dem Schlagwort Globalisierung verbunden. In
ihrer Verunsicherung suchten Bürger Antworten und
fänden diese bei populistischen Parteien mit ihrem
geschlossenen nationalistischen Weltbild, ihrer
ausschließenden und demokratieverachtenden
Rhetorik und ihrer simplen Gesellschaftsvision. Prof.
Catherine de Vries und die Autorin dieses Kommen-
tars haben beide Erklärungsmuster in einer Studie
mit dem Titel „Wertekonflikt oder Globalisierungs-
angst: Warum Europäer populistische Parteien
wählen“ auf den Prüfstand gestellt. Das Ergebnis ist
eindeutig: In Europa sind Globalisierungsängste die
treibende Kraft hinter der populistischen Revolte.
45 Prozent der Europäer empfinden die Globalisierung
als Bedrohung, während sie von 55 Prozent als Chance
wahrgenommen wird. Und wenn wir untersuchen,
welche Menschen Globalisierung als Bedrohung
empfinden und welche politischen Haltungen und
parteipolitischen Präferenzen sie haben, zeigt sich
ein deutlicher Kontrast. Je niedriger das Bildungs-
niveau, je geringer das Einkommen und je älter die
Menschen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass
sie die Globalisierung als Bedrohung wahrnehmen.
Außerdem misstrauen sie mehrheitlich der euro-
päischen Integration und der Demokratie in ihren
Ländern. Deshalb wenden sie sich in großer Zahl
populistischen Parteien zu. In Deutschland beispiels-
weise haben 78 Prozent der Anhänger der rechts-
gerichteten Alternative für Deutschland Angst vor der
Globalisierung, in Frankreich sind es 76 Prozent der
Wähler des Front National.
Die Auseinandersetzung mit diesen Ängsten gehört
zu den zentralen politischen Herausforderungen
der kommenden Jahre. Nur wer sie aufzulösen weiß,
wird die Quelle trockenlegen können, aus der sich die
rechtspopulistischen Parteien Europas nähren. Das
würde auch der politisch-gesellschaftlichen Horizont-
erweiterung entsprechen, für die Prof. Welzer im
Interview ➜ siehe Seite 56 plädiert. Denn Menschen,
die Globalisierung fürchten, wählen nicht nur
popu listische Parteien. Sie wählen auch die Parteien
der Mitte. Angenommen, es gehörte zu den wichtigs-
ten Aufgaben von Politik, staatliche und politische
Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den meisten
Menschen erlaubten, die Zukunft mit all ihren
Möglichkeiten und Unabwägbarkeiten vertrauensvoll
und resilient anzunehmen, dann täte sich hier ein
verdienstvolles Aktionsfeld für Politiker auf. Keine
Studie kann letztendlich klären, ob diese Rahmen-
bedingungen mehr sozialpolitische oder wirtschafts-
politische oder bildungspolitische oder sicherheits-
politische Interventionen erfordern oder ob es
vielleicht auch der kommunikativen Anpassung
bedarf, die Sorgen und Risiken anerkennt, aber auch
deutlicher von Vorteilen und Chancen spricht. Aber es
ist eine klassische Aufgabe für den parteipolitischen
und demokratischen Wettbewerb.
Weblink:
www.bertelsmann-stiftung.de/globalisierungsaengste
Globalisierungsangst treibt Populisten die Wähler zu
Kai Uwe OesterhelwegIsabell Hoffmann
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Ein Kommentar von Isabell Hoffmann
63 KO M M E N TA R | C H A N G E | 1 2 0 1 7
Isabell Hoffmann ist Projektleiterin von eupinions,
dem europäischen Meinungsforschungsprojekt der
Bertelsmann Stiftung. Davor war sie Zeitungsredak-
teurin, zuletzt im politischen Ressort der „ZEIT“ in
Hamburg. Sie hat ein Studium der Politik- und Wirt-
schaftswissenschaft am Institut d’Etudes politiques
de Paris (Sciences-po) absolviert.
Kontakt:
@ur_echo
DEMOKRATIEMONITORDas Projekt beleuchtet unsere Demokratie in einer systema-
tischen Stärken-Schwächen-Analyse, identifiziert Reform-
bedarf und erarbeitet konkrete Lösungsvorschläge. Unser
8-Punkte-Plan zur Steigerung der Wahlbeteiligung wurde
im Deutschen Bundestag vorgestellt und diskutiert. Unter
anderem schlagen wir die Einführung des Wahlrechts ab
16 Jahren vor.
Weblink:
www.bertelsmann-stiftung.de/demokratiemonitor
Kontakt:
Christina Tillmann
Prof. Dr. Robert Vehrkamp
Weblink:
www.bertelsmann-stiftung.de/wahljahr-2017
Kontakt:
Joachim Fritz-Vannahme
PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG
DOSSIER: DAS WAHLJAHR 2017Wie steht es um die wirtschaftliche Lage, und welche
Antworten gibt es auf die zunehmende soziale Spaltung
der Gesellschaft? Was tun mit den Flüchtlingen, die Europa
erreichen? Wie kann ich in unserer Demokratie mitreden?
Und wohin steuern mein Land und Europa – nicht zuletzt
im Verhältnis zu den USA, China und Russland? Unser
Dossier greift Themen auf, die die Menschen im Wahljahr
2017 bewegen.
ISABELL HOFFMANN
64 B L I C K Ü B E R D E N Z AU N | C H A N G E | 1 2 0 1 7
Vision Europe Summit 2016
Acht Think-Tanks und Stiftungen – und ein großes
gemeinsames Ziel: bessere Antworten auf die Flücht-
lingskrise für ganz Europa. Beim „Vision Europe
Summit“ Ende 2016 trafen 140 Entscheidungsträger
aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus
ganz Europa in Lissabon zusammen: darunter Vertre-
ter von Bertelsmann Stiftung (Deutschland), Bruegel
(Belgien), CASE (Polen), Calouste Gulbenkian Foun-
dation (Portugal), Chatham House (Großbritannien),
Compagnia di San Paolo (Italien), Jacques Delors
Institute (Frankreich) und The Finnish Innovation
Fund Sitra (Finnland).
„Ohne Migration würden die Gesell-schaften Europas nicht funktionieren.“UN-Generalsekretär António Guterres
Dabei unterzeichneten nicht nur Teilnehmer aus
acht Ländern eine Konferenz-Erklärung, die vier
strategische Richtungen aufzeigt, wie eine tragfähige
Flüchtlings- und Migrationspolitik in Europa künftig
gestaltet werden kann. Auch der neue UN-General-
sekretär António Guterres stand als Hauptredner auf
dem Podium und kündigte eigene politische Initiativen
an. Guterres, ehemals Ministerpräsident von Portugal,
war von 2005 bis 2015 als Flüchtlingskommissar der
Vereinten Nationen mit dem Schutz von Flüchtlingen
und Staatenlosen beauftragt und hat zum Jahreswech-
sel als Generalsekretär der Vereinten Nationen die
Nachfolge des Südkoreaners Ban Ki Moon angetreten.
In seiner Rede betonte er, dass Migration, genauso
wie der zunehmende Austausch von Gütern, Dienst-
leistungen und Finanzen, ein Teil der Globalisierung
sei. Und mit Blick auf Probleme wie den demogra-
phischen Wandel und die damit einhergehende älter
werdende Gesellschaft sei Migration auch eine große
Chance. „Ohne Migration würden die Gesellschaften
Europas nicht funktionieren“, erklärte er und betonte:
„Multiethnische, multireligiöse und multikulturelle
Gesellschaften sind damit unvermeidbar.“
Das Problem indes sei ein anderes: Der Staaten-
gemeinschaft sei es bislang nicht gelungen, Migration
angemessen zu organisieren und zu regulieren.
Guterres spitzte dies sogar auf die Aussage zu, dass
November 2016Marcia LessaTanja Breukelchen Lissabon
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Migration derzeit vor allem von Menschenschmugglern
geregelt würde, und appellierte an die Verantwort-
lichen, endlich gegen den Schmuggel von Menschen
vorzugehen und so die Würde und Sicherheit der
Migranten und Vertriebenen zu garantieren. In seiner
neuen Position will der 67-Jährige nicht nur Werte
vertreten, sondern auch konkrete Politikvorschläge
entwickeln und dabei Migration zu einem multilate-
ralen Thema machen.
Mehr Geld für staatliche und zivilgesellschaftliche
Akteure in den Erstaufnahmeländern von Flüchtlin-
gen – dafür wolle er sich einsetzen, betonte er und
erinnerte daran, dass Länder wie Jordanien und der
Libanon derzeit Millionen aus ihrer Heimat Ver-
triebene beherbergen. Weit mehr als die westlichen
Staaten. Die Vertriebenen müssten auch in Regionen
nahe ihrem Herkunftsland Zugang zu überlebens-
wichtigen Gütern, zu Bildung und einem menschen-
würdigen Leben bekommen. Dann müssten sie sich
nicht allein schon aus Mangel am Wichtigsten weiter
auf den Weg nach Europa machen. Sein Wunsch:
Integration von Neuankömmlingen als Gewinn für
unsere Gesellschaft statt Ghettos, Missmanagement
und Ängsten. Flüchtlinge seien ein Gewinn für unsere
Gesellschaft – für ein solches Denken und Handeln
wolle er sich künftig einsetzen.
Als eines der Ergebnisse ihrer zweitägigen Konferenz
gaben die Teilnehmer eine Konferenz-Erklärung
heraus. Zwei Faktoren, nämlich Europas mangelnde
Vorbereitung und die unkoordinierten nationalen
Reaktionen, haben dazu beigetragen, heißt es darin, die
Flüchtlingskrise zu verstärken. Die EU benötige drin-
gend eine gemeinsame, faire, proaktive und effektive
Flüchtlingspolitik. Die strategischen Richtungen:
Die nationalen und europäischen Verantwortlichen
müssen den politischen Willen für eine zukunftsfähige
EU-Migrationspolitik haben. Es müssen kohärente
und faire Mechanismen für ein besseres Management
von Migrationsströmen entwickelt werden.
Integration kann nur über Bildung und die Aufnahme
von Arbeit gelingen. So kann ein Gefühl von sozialer
Zugehörigkeit entstehen. Europäische Gesellschaften
sollen lernen, mit kultureller und ethnischer Vielfalt
so umzugehen, dass die Ausgrenzung bestimmter
Gruppen vermieden wird und die in den Verfassungen
festgeschriebenen Grundwerte die Grundlage für das
Zusammenleben bilden. Das Ziel: die Krise als Chance
nutzen, um Instrumente und Ansätze zu entwickeln,
um für zukünftige Herausforderungen gewappnet
zu sein.
UN-Generalsekretär António Guterres beim Vision Europe Summit in Lissabon.
VISION EUROPE Das Projekt bringt acht führende Stiftungen und Think-Tanks
aus Europa zusammen, um Zukunftsfragen zu bearbeiten.
Vision Europe fördert den Austausch dieser Denkfabriken, die
ein vergleichbares Arbeits- und Themenprofil haben. Es bün-
delt die Ansätze zu einer europäischen Perspektive, um der
Zivilgesellschaft in Europa eine stärkere Stimme zu verleihen.
Weblink:
www.bertelsmann-stiftung.de/vision-europe
Kontakt:
Katharina Bilaine
PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG
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Gute Karten
Sie sehen aus wie bunte Karteikarten. Und
manchmal vollbringen sie kleine Wunder: Die
Bertelsmann Stiftung hat „Kompetenzkarten“
entwickelt, mit denen die berufliche Qualifi ka-
tion von Migranten ermittelt werden kann .
„Payam greift gerne mal zum Telefonhörer“, sagt
Helge Wilters (37) und öffnet die Schachtel mit den
Karten. Er legt die Karten auf den Tisch, sortiert sie
nach Farben. „Payam engagiert sich ehrenamtlich als
Übersetzer. Und wenn andere Leute Hilfe brauchen,
ruft er mich an.“
Seit neun Monaten ist Helge Wilters im Jobcenter in
Preetz (Kreis Plön / Schleswig-Holstein) Ansprech-
partner für Geflüchtete zwischen 18 und 28 Jahren,
die Arbeitslosengeld II beantragen. Payam, auf den
er gerade wartet, war einer seiner ersten Klienten.
„Beim Erstgespräch habe ich gleich die Karten
eingesetzt. Sie sind der beste Einstieg, wenn man
Menschen dazu bringen will, sich über ihre Stärken
Gedanken zu machen. Und darüber zu reden.“
Die Karten – das sind 46 Kompetenzkarten, die die
Bertelsmann Stiftung entwickelt hat. Sie gliedern
sich in die Themenbereiche Sozial-, Personal- und
Fach- und Methodenkompetenz. Außerdem gibt es
elf Interessenkarten, neun Karten mit weiterführen-
den Hinweisen und drei Verstärkungskarten. Jede
Kompetenz wird durch ein Bild illustriert und durch
einen Satz in einfacher Sprache beschrieben, auch in
Englisch, Französisch, Russisch, Arabisch, Türkisch,
Farsi und Tigrinya.
Zuverlässigkeit – das ist zum Beispiel eine dieser
Kompetenzen. Und da geht auch schon die Tür auf,
und Payam tritt ein. Ein schlanker junger Mann von
24 Jahren. Mit wachen braunen Augen. Er spricht flie-
ßend Deutsch. Er schaut die Karten an. Und lächelt.
So wie damals, beim Erstgespräch, sucht er fünf
Karten aus. Flexibilität, Leistungsbereitschaft, Team-
fähigkeit … Warum gerade die? „Ich lerne gerne von
anderen“, sagt Payam. „Und ich bringe gerne anderen
etwas bei.“ Kreativität … „Man muss immer Wege
finden, Ideen haben, die einen weiterbringen.“ Dann
noch die Karte Kommunikationsfähigkeit … Klar,
denn Payam spricht neben Arabisch und Kurdisch
Preetz, Kreis Plön Februar 2017Axel MartensTanja Breukelchen
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KOMPETENZKARTEN FÜR DIE MIGRATIONSBERATUNG Menschen mit Migrationshintergrund haben in Deutschland
noch immer deutlich schlechtere Bildungs- und Berufschan-
cen. Doch viele Neuankömmlinge bringen wertvolle Vorerfah-
rungen und Qualifikationen mit. Um diese schneller erkennen
und nutzen zu können, hat die Bertelsmann Stiftung mit den
Trägern der freien Wohlfahrtspflege und dem Forschungs-
institut Betriebliche Bildung (f-bb) Kompetenzkarten für die
Potenzialanalyse entwickelt, die unter der offenen Lizenz CC
BY SA verfügbar sind. Die Kompetenzkarten sind sowohl auf
die Bedürfnisse der Migranten als auch auf die der Berater
zugeschnitten. Sie sind flexibel einsetzbar, praxisnah und
visualisieren Kompetenzen.
auch Englisch, das hat er in Aleppo an der Universität
gelernt. Außerdem hat er gerade seinen C1-Abschluss
in Deutsch gemacht und in den drei Jahren, die er
auf seiner Flucht in der Türkei verbrachte, seinen
B2-Abschluss in Türkisch. „Jetzt lerne ich Spanisch.
Ich mag die Sprache. Wenn ich Freizeit habe, fülle ich
das mit Spanischlernen aus, bis ich einen Job finde.“
Deshalb ist Payam gerade da. Er möchte mit Helge
Wilters über das Biochemie-Studium reden, das er
zum Wintersemester beginnen wird, und über mög-
liche Nebenjobs. „Vielleicht etwas in einem Café in
der Uni“, sagt Helge Wilters. Payam schaut skeptisch:
„Ich möchte etwas machen, was mein Deutsch ver-
bessert. Am liebsten etwas mit Übersetzungen.“ Und
dann erzählt er von seiner ehrenamtlichen Arbeit
und darüber, wie sie ihn erfüllt: „Gestern war ich als
Übersetzer in Hamburg am Flughafen. Eine Frau hatte
ihre Tochter vor über einem Jahr in Griechenland auf
der Flucht verloren – und jetzt konnte sie sie abholen.
Wir waren mit dabei. Da sind mir die Tränen gekom-
men.“ Ob ihn solche Momente nicht immer wieder
an Aleppo, an den Krieg, an seine eigenen Erlebnisse
erinnern? Payam schüttelt den Kopf: „Das sehe ich
anders. Ich kann helfen. Das bringt mir Freude.“
Wenn er jemanden trifft, der einen Rat braucht, ruft
er bei Helge Wilters in der Jobcenter an. Der ist
immer eine Hilfe. Auch so eine neue Erkenntnis für
Payam: „Vor meinem Erstgespräch hatte ich Angst
vor dem Jobcenter. Ich hatte es mir wie eine Polizei-
wache vorgestellt. Und dann waren alle so nett. Gar
nicht bürokratisch. Ich dachte immer, die Bürokratie
sei in Deutschland so schlimm. Das habe ich ganz
anders erlebt.“
Helge Wilters blättert in seiner Kontakt-Datei, hält
plötzlich inne, schreibt eine Telefonnummer auf:
„Geh mal zum Team Arbeit in Plön. Die suchen
Deutschlehrer. Und dort würdest du mehr Geld
verdienen als im Café.“ Payam nimmt den Zettel
und verabschiedet sich höflich, aber schnell.
Er möchte sofort los, sich vorstellen.
Helge Wilters schaut ihm nach. Lächelt. Zehn Erst-
gespräche hat er pro Woche. Und nicht alle verlaufen
so wie bei Payam. „Viele Menschen haben Schreck-
liches erlebt, haben alles verloren. Ich habe mir
angewöhnt, die Türe meines Büros bewusst jeden
Abend abzuschließen, damit ich diese Geschichten
hier im Büro lasse.“
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Weblink:
www.bertelsmann-stiftung.de/kompetenzkarten
Kontakt:
Dr. Martin Noack
PROJEKT DER BERTELSMANN STIFTUNG
Helge Wilters (links) vom Jobcenter in Preetz (Kreis Plön / Schleswig-Holstein) hat den aus Syrien stammenden Flüchtling Payam mit Hilfe der Kompetenzkarten leichter beraten können.
Die Kompetenzkarten seien ein guter Gesprächsöff-
ner: „Man hat etwas in der Hand. Es ist gar nicht
so wichtig, welche Karten die Leute rausholen. Mir
geht es eher darum, wie sie damit umgehen, wie sie
strategisch vorgehen. Die Angaben, die wir haben,
können alle falsch sein. Aber die Reaktion auf die
Karten ist eindeutig.“ In rund 600 Beratungsstellen
bundesweit werden die Karten eingesetzt und sind
ein riesiger Erfolg, wie Dr. Martin Noack von der
Bertelsmann Stiftung erklärt: „Die Kompetenz karten
wurden inzwischen auch evaluiert. Ein zentrales
Ergebnis: Die Karten schließen eine wichtige Lücke
im Beratungsprozess. Eine wichtige Anregung wird
gerade aufgegriffen: Die Stiftung entwickelt derzeit
Berufekarten als Ergänzung zu den Kompetenzkarten
für eine leichtere Vermittlung in Praktikum, Arbeit
und Qualifizierung.“
Auch die beiden nächsten Kunden von Wilters haben
die Karten kennengelernt. Majd (23) und Mohamad
(21), die in Damaskus und Aleppo an der Universität
waren und dann nach Deutschland flüchteten. Für
sie sei es ein merkwürdiges Gefühl gewesen, als sie
die Karten zum ersten Mal sahen, erinnert sich Majd:
„In arabischen Ländern ist es nicht üblich, zu sagen,
dass man etwas gut kann. Man würde gleich als
arrogant gelten. Hier in Deutschland ist es ja genau
umgekehrt. Wenn man sich auf eine Ausbildungs-
stelle oder einen Arbeitsplatz bewirbt, muss man
sagen, was man gut kann.“
In diesem Moment klingelt das Telefon. Payam ist
dran. Dieses Mal ruft er nicht an, weil ein anderer
Hilfe braucht. Dieses Mal geht es um ihn: Das Team
Arbeit hat ihm eine Probestunde angeboten. Gleich
am nächsten Tag. Helge Wilters schaut auf die Karten,
die da noch liegen: Kreativität, Flexibilität, Leistungs-
bereitschaft, Kommunikationsfähigkeit und Zuver-
lässigkeit. Payam hat es geschafft. X
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change | Sie sind relativ neu in der Stiftung. Wie ist Ihr
Eindruck?
helmut seidenbusch | Ich bin vor allem täglich im posi-
tiven Sinne überwältigt, mit welcher Leidenschaft,
mit welchem Einsatz und mit wie viel Wissen und Er-
fahrung konsequent und konstruktiv an wesentlichen
Fragen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens
gearbeitet wird. Die Dimension der Durchdringung
und der Bereitschaft, verantwortlich zu handeln, war
mir vorher nicht bewusst.
Was wollen Sie durch musikalische Bildung bewegen?
Ich arbeite mit meinen Kollegen daran, die Akzeptanz
für die musikalisch-ästhetische Bildung zu erhöhen
und auch die Aufmerksamkeit dafür zu steigern. Unse-
re erfolgreichen Projekte sollen so für noch mehr Kin-
der und Jugendliche zugänglich werden. Dazu kommen
neue Anwendungsgebiete, zum Beispiel im Hinblick
auf Migration und Digitalisierung, aber vor allem auch
beim Thema kulturelle und gesellschaft liche Teilhabe.
Welche kleinen Wunder kann Musik vollbringen?
Musik ist kommunikatives Handeln. Da Musik in
jedem Kulturkreis vorkommt und viele Grund-
parameter überall gleich funktionieren, bildet sie
eine kulturell für beinahe alle Menschen verfügbare
und verständliche Sprache. In Zeiten, da wir funktio-
nierende Handlungsmuster dringend benötigen, um
interkulturelle Brücken zu bauen, kann die musika-
lische Praxis wertvolle Beiträge leisten. Das ist dann
weniger ein Wunder als mehr die Nutzung eines ganz
alltäglichen Potentials aller Menschen.
Wann haben Sie die Kraft der Musik zuletzt gespürt?
Gerade erst beim Hören im Radio, als unsere
NEUE-STIMMEN-Preisträgerin Nadine Sierra in Paris
als Pamina in der Zauberflöte einen großen Erfolg
verbuchen konnte. In ihrer Arie „Ach, ich fühl’s“
gelang es ihr, in der Musik Mozarts den Sinn und das
Ziel menschlichen Seins sowie der Konflikte, die dieses
Streben mit sich bringt, in großer Schlichtheit zu for-
mulieren und erlebbar zu machen. Die Verbindung der
musikalischen Bildung mit den NEUEN STIMMEN im
Programm ist besonders wertvoll, da wir in der Arbeit
dieser wunderbaren Sänger immer wieder erleben
können, wie scheinbar Kompliziertes unmittelbar
verständlich und klar wird. Und damit unterscheiden
sie sich auch wieder in nichts von der Gruppe fröhlich
singender Kinder in einem unserer Bildungsprojekte.
Kontakt:
Die schönste Brücke der Welt
Helmut Seidenbusch leitet seit September 2016 das
Programm „Musikalische Förderung“ der Bertelsmann
Stiftung. Er hat in Salzburg, Basel und Utrecht Gesang und
in Frankfurt Theater- und Orchestermanagement studiert.
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Kai Uwe OesterhelwegTanja Breukelchen
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Konzeption und DesignwirDesign Berlin Braunschweig
Art DirectorHeike van Meegdenburg
Illustration / ThemenposterPia Bublies
BildnachweiseS. 6 Kai Uwe Oesterhelweg S. 7 Hartmut Blume / Unternehmens-
archiv Bertelsmann AGS. 8 (o.) Rene RiisaluS. 8 (u.) Jan VothS. 9 plainpicture / Lubitz + Dorner
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IMPRESSUM
HerausgeberBertelsmann StiftungCarl-Bertelsmann-Straße 25633311 Gütersloh
VerantwortlichDr. Malva Kemnitz
RedaktionUlrike Osthus
Redaktionelle MitarbeitTanja Breukelchen
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LektoratHelga Berger, Johannes Taubert
Lithografierolf neumann, digitale bildbearbeitung, Brauschweig
Druckoeding print
© Bertelsmann Stiftung, April 2017
4 0 JA H R E
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