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Startsignal für die musikalische Bildung? Das Projekt „Jedem Kind ein Instrument will Schule machen Kulturwirtschaft als Motor für Deutschland? Künstlerförderung als Basis einer innovationsfreudigen Gesellschaft Musik leben und erleben in Deutschland. m 7,40 DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS 63280 oktober–dezember 2007___4 5. jahrgang

DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS · durch Jazz-Historie Zur 40. Arbeitsphase des Bundesjazzorches-ters ( „BuJazzO“) ging der amerikanische Pia-nist und Jazzp ädagoge Bill

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Startsignal für diemusikalische Bildung?Das Projekt „Jedem Kind einInstrument will Schule machen

Kulturwirtschaft alsMotor für Deutschland?Künstlerförderung als Basis einerinnovationsfreudigen Gesellschaft

Musik leben und erleben in Deutschland.

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S63280

oktober–dezember 2007___45. jahrgang

3MUSIK�ORUM

EDITORIAL

Christian HöppnerChefredakteur

VORSORGE FÜR EIN

„DIE MUSIK SPRICHT FÜR SICH ALLEIN – vorausgesetzt, wir geben ihr eine Chance.“

Das Zitat von Yehudi Menuhin beschreibt in vielfacher Hinsicht die Aufgabenstellung von Musikpolitik:

¨ Räume zu sichern bzw. zu schaffen, in denen sich die Musik um ihrer selbst willen entfalten kann,

¨ Zugänge freizulegen, die es jedem Menschen in unserem Land – gleich welcher sozialen oder

kulturellen Herkunft – ermöglichen, teilzuhaben an dem unermesslichen Reichtum, den unser musik-

kulturelles Erbe und die Musik unserer Zeit eröffnen,

¨ Impulse zuzulassen bzw. zu befördern, die Nährstoff für ein lebendiges Musikleben sein können,

¨ die Wirkungsmöglichkeiten von Musik stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken – in der

Verantwortung für eine humane Gesellschaft.

„Musikpolitik in der Verantwortung“ beschreibt den Spannungsbogen zwischen Event und Kontinuität,

zwischen Gleichmacherei und Vielfalt, zwischen Duckmäusern und kritischen Geistern. Das Zeitfenster,

in dessen Rahmen Bewusstsein für den Wert der Kreativität geschaffen werden kann – es steht weit

offen, doch sicherlich nicht mehr lange. Umso wichtiger ist es, der von Bundeskanzlerin Angela Merkel

beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos propagierten Wissensgesellschaft die zweite Gesichtshälfte hinzu-

zufügen: die Kreativgesellschaft.

Nur wenn sich der Wert der Kreativität in unserem Bewusstsein verankert, gleichsam als unverrück-

bares Fundament im tosenden Meer gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, grenzenloser Märkte

und vermeintlicher Wettbewerbsverzerrungen, nur dann werden die Chancen und Herausforderungen

einer globalisierten Welt in der Balance gestaltbar bleiben. Den Wert kultureller Vielfalt zu erkennen

und zu vermitteln, ist die beste Vorsorge für ein lebenswertes Morgen.

Ihr

Christian Höppner

lebenswertesMorgen

MUSIK�ORUM4

8Musikpolitik in der VerantwortungChristian Höppner über Politik für eine humane Gesellschaft

Befreiung gegen vernebelnde UnterdrückungHanns Werner Heister zum politischen Missbrauch und Gebrauch von Musik

Keine trüben Zeiten für das Medium MusikPolitische Bildungsarbeit via Musik funktioniert, sagt Thomas Krüger

Politik und Musik – politische MusikHelmut Rösing bringt ein komplexes Beziehungssystem nahe

1612

INHALT

18

Schluss mit dem Wettbewerbum jeden Preis!Der Soziologe Tilman Allert plädiert fürmehr Langsamkeit und Sorgfalt in derAusbildung an den Musikhochschulen 50

Startsignal für diemusikalische Bildung?Im Gespräch: die Initiatoren des Projekts„Jedem Kind ein Instrument“, das vorkurzem angelaufen ist und bis zum Jahr2010 Angebot für alle Grundschüler imRuhrgebiet sein soll 54

b i ldung. forschungpor t rä takzente

Komponist mit ZivilcourageZum 100. Todestag von Edvard Grieg:Gespräch mit dem Präsidenten derInternationalen Grieg-Gesellschaft,Patrick Dinslage, über den Komponisten,der Norwegen auf die musikalischeLandkarte setzte 38

„Music is not the problem“Uli Kostenbader berichtet über das engeZusammenspiel des Radio-Sinfonie-orchesters Stuttgart und seines rührigenFördervereins 42

Im „Hirschen“ singt derKoch persönlichEin Restaurant wird zur Konzertbühne:Wie der studierte Bariton Werner Baum-gartner Gesang und Gourmetküche untereinen Hut bekommt 44

Im Dienst der musikalischenAuslandsarbeitEhrlich, virtuos und diplomatisch:Volker Mettig, Geschäftsführer im Goethe-Institut, geht in den Ruhestand 49

Musikpolitik in der Praxis: Präsidiumsmitglieder des Deutschen Musik-rats äußern sich zu Formen der Zusammenarbeit von Musik und Politik ab 11

IM FOKUS:

MUSIK-POLITIKIN DERVERANTWORTUNG

MUSIK�ORUM

5MUSIK�ORUM

fokus

22Von der Musik in der Stadt zur „Musikstadt“„Creative Cities“: Das Marketing großer Städte setzt immer mehr aufKultur – und Musik im Besonderen. Von Alenka Barber-Kersovan

„Deutschland muss patria de la musica bleiben“Martin Maria Krüger definiert Musikpolitik aus Sicht des Deutschen Musikrats

Chorspezialisten gesucht: Dirigentenforum entwickelt sich weiter 27

Die Rückkehr der PolitbardenLutz Kirchenwitz über das „Festival Musik und Politik“

Musik wird politisch – Politik wird musikalischZur CD Politische Oratorien aus der Edition „Musik in Deutschland“

2628

Freundschaftsspiele aufinternationalem ParkettDas Bundesjugendorchester spielt fürein besseres Deutschland 32

Fördern ist ein „ungeheuerschönes Gefühl“Bürgerschaftliches Engagement amBeispiel der Jürgen Ponto-Stiftung 35

DAS

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RATS

oktober –dezember 2007___4

wir t schaf t . rechtKreativwirtschaft als Motorfür Standort Deutschland?Jürgen Thumann über einen bedeutendenProduktions- und Wettbewerbsfaktor –ein Plädoyer für die Künstlerförderung alsNährboden einer innovationsfreudigenKulturgesellschaft 58

neuetöne„…das Beste, was ich jegemacht habe“Zum Fortbildungsseminar „Vocal Jazz& jazzverwandte Chormusik“ 62

rubr ikenEditorial 3Nachrichten 6Rezensionen: CDs und Bücher 63Finale / Impressum 66

dokumentat ion

Lübeck feiert seinen großen BarockkomponistenWie die Hansestadt den 300. Todestag von Dieterich Buxtehude gleich mit einem ganzenFestjahr würdigt und damit ungeahnte Potenziale freisetzt. Die erste Bilanz fällt – allein schonwegen des beachtlichen Medienechos – äußerst positiv aus. 60

30

Zum Titelbild: Mit der im Bau befindlichen Elbphilhar-monie will Hamburg endgültig zur Musikmetropolewerden (siehe Beitrag auf Seite 22).

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MUSIK�ORUM6

Klaus-Dieter Leh-mann (Bild) ist vomPräsidium des Goethe-Instituts einstimmigzum neuen Präsiden-ten gewählt worden.Er folgt damit JuttaLimbach, die ihrAmt zum 31. März2008 abgeben wird.+++ Angesichts der Herausforderungenim Musikmarkt stellen sich die Geschäfts-führungen der Phonoverbände und derGesellschaft zur Verwertung von Leistungs-schutzrechten (GVL) neu auf: Peter Zom-bik wird sich in Zukunft ausschließlich aufdie GVL konzentrieren; er übergab die Ge-

personaliaschäftsführung des Phonoverbandes zum15. September an Stefan Michalk, wirdaber weiterhin als Berater fungieren. +++Der 26-jährige Patrick Lange, seit 2005Stipendiat im Dirigentenforum des Deut-schen Musikrats, wird neuer künstlerischerLeiter beim Orchestre de Chambre deGenève. Mit Beginn der Spielzeit 2008/09tritt er die Nachfolge von Michael Hof-stetter an. +++ Hans-Herwig Geyerwird seine Tätigkeit als Leiter der GEMA-Kommunikation mit dem GeschäftsjahrEnde 2007 auf eigenen Wunsch beenden,um sich neuen beruflichen Herausforde-rungen zu stellen. +++ René Schuh,Dozent und stellvertretender Direktor derBundesakademie für musikalische Jugend-

NACHRICHTEN

bildung Trossingen,wird Anfang 2008das Amt des Direk-tors übernehmen.+++ Mit der Herbst-sitzung 2007 wech-selten vier der achtJury-Mitglieder desFörderprogramms„Konzert des Deut-schen Musikrats“, das Ensembles und Veran-stalter zeitgenössischer Musik unterstützt.Neu dabei sind Orm Finnendahl, Tho-mas Schäfer, Dietmar Wiesner sowieIsabel Mundry (Bild), die gleichzeitigden Vorsitz übernimmt und damit Wolf-gang Rihm ablöst.

Goethe-Institut und DMR wollen enger kooperierenDen Schwerpunkt einer engeren Zusammenarbeit zwischen dem Goethe-Institut und dem Deut-schen Musikrat wird die Förderung des musikalischen Nachwuchses und des Laienmusizierensbilden. Dies ist Inhalt eines Kooperationsvertrages, den der stellvertretende Generalsekretär desGoethe-Instituts, Jürgen Maier, Instituts-Präsidentin Jutta Limbach, der Präsident des DeutschenMusikrats (DMR), Martin Maria Krüger, und DMR-Generalsekretär Christian Höppner (im Bild sit-zend von links) unterzeichneten. Der Vertragsabschluss, dem der Staatsminister im AuswärtigenAmt, Gernot Erler, und der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neu-mann (stehend von links), beiwohnten, soll die Arbeit beider Institutionen wirksamer gestalten.

�Download-Konjunktur:2007 werden die Deutschen soviel Musik – Einzelsongs und

komplette Alben – aus demInternet herunterladen wie nie

zuvor. Einer Studie der GfKzufolge klettert der Umsatz mit

Downloads auf voraussichtlich60 Millionen Euro (25 Prozent

mehr als im Vorjahr). � Popför-derung: Bei der 1. Arbeitsphasedes „PopCamp – Meisterkurs für PopuläreMusik“ in der Bundesakademie Trossingen

wurden fünf Bands durch individuellen Unter-richt, Probenarbeit und Vermittlung von theo-retischen Inhalten gefördert: Gammalapagos

(Leipzig), Kenshiro (Aachen), My New Zoo

(Nürnberg), nulltarif (Stutt-gart) und SoWeiss (Berlin).�Junges Schaffen: Eineneue CD der Reihe „Edition

zeitgenössische Musik“ wid-met sich dem Berliner Komponis-

ten Sebastian Claren (* 1965). Mitden CD-Porträts dokumentiert der Deut-

sche Musikrat seit 1986 das Schaffen jungerdeutscher Komponisten. � SpielerischesSingen: „Canto elementar“, ein neues Sing-programm für Kinder, hat in 31 HamburgerKindergärten begonnen. Dabei begeisterngeschulte Senioren einmal in der Woche alsehrenamtliche Singpaten Kindergartenkinderund ihre Erzieherinnen für das gemeinsamespielerische Singen.�

„Leopold“ empfiehltDer Medienpreis „Leopold“, wichtigste deut-sche Auszeichnung für Musiktonträger fürKinder, geht in diesem Jahr an die CD-Pro-duktionen Jorinde und Joringel – Klassische Musikund Sprache erzählen (Edition See-Igel, Iznang),Das Gespenst von Canterville – ein Orchester-hörspiel (headroom, Köln), Gedanken wollenfliegen – Toni Geiling Kinderlieder (Toni Gei-ling, New Acoustic Collective, Halle), DerSchnabelsteher & Der fliegende Baum (Erzäh-lungen mit Musik; Random House Audio,

Köln) und Alle Wetter (Lieder für Kinder;Rumpelstil, Berlin). Der Verband deutscherMusikschulen (VdM) verlieh den Preis inKooperation mit dem Bundesjugendminis-terium kürzlich im Kölner Funkhaus des WDR.Partner des LEOPOLD sind das KulturradioWDR 3 und die Initiative Hören. Bewertetwurden künstlerische und technische Quali-tät, Fantasie und Originalität. ! Rezensionenvon zwei empfohlenen CDs auf Seite 63.

Für musikalische Fantasie und Originalität:Medienpreis Leopold. © WDR/Thomas Brill

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7MUSIK�ORUM

˜ „Initiative: Musik“ sollDeutsch-Pop stärken

Auf der Popkomm ist der Start der „Initiati-ve: Musik“ durch Staatsminister Bernd Neu-mann verkündet worden.

In einer öffentlich-privaten Partnerschaftwill der Bund gemeinsam mit dem DeutschenMusikrat und den VerwertungsgesellschaftenGVL und GEMA die deutsche Popmusikstärken. Die „Initiative: Musik“ fußt vor al-lem auf drei Säulen: der Nachwuchsförde-rung, der Exportförderung und dem BereichIntegration und Pädagogik. Dieter Gorny, Prä-sidiumsmitglied des Deutschen Musikrates,wurde zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt.Seine Stellvertreter sind Steffen Kampeter,haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und Carsten Schneider,Sprecher der SPD.

˜ Kulturstaatsministertrifft Musikmacher

Im Rahmen eines Empfangs im Bundeskanz-leramt diskutierte Kulturstaatsminister BerndNeumann im Vorfeld der Musikmesse Pop-komm mit Vertretern der Musikbranche dieLage des Musikmarkts.

Themen waren dabei die bemerkenswer-ten Erfolge deutscher und deutschsprachigerKünstler in den letzten Jahren und die Pers-pektiven der Kulturwirtschaft. Unter dengeladenen Gästen befanden sich u. a. dieMusiker Till Brönner und Max Herre, dieSängerinnen Cymin Samawatie und Yvon-ne Catterfeld, die Bands Silbermond und Miasowie Vertreter der Musikwirtschaft.

˜ „BuJazzO“: Reisedurch Jazz-Historie

Zur 40. Arbeitsphase des Bundesjazzorches-ters („BuJazzO“) ging der amerikanische Pia-nist und Jazzpädagoge Bill Dobbins mit demOrchester auf Entdeckungsreise durch die Ge-schichte des Jazz.

„Ich wollte die jungen Musiker ermutigen,sich mit der Tradition von Jazz auseinander-zusetzen“, beschreibt Dobbins sein Ziel, daser sich als künstlerischer Leiter des BuJazzOgesetzt hat. Es sei wichtig, die Meister der Tra-dition wie eine eigene Sprache zu lernen.Dobbins erarbeitete mit dem Orchester einanspruchsvolles Programm mit Stücken vonCount Basie und dem berühmten US-Schlag-zeuger Peter Erskine.

ausgezeichnetBeim ARD-Musik-wettbewerb, Deutsch-lands größtem inter-nationalen Wettbe-werb für klassischeMusik, wurde Johan-nes Fischer ersterPreisträger im FachSchlagzeug. FabriceMillischer (Bild) ausFrankreich erhielt den erstmals in der 56-jährigen Geschichte des Wettbewerbs ver-gebenen ersten Preis im Fach Posaune.Weitere Gewinner: das deutsch-schweizeri-sche Tecchler Trio (Klaviertrio) und derSpanier Ramón Ortega Quero (Oboe).+++ Für sein ehrenamtliches Engagement

als Präsident des Landesmusikrats hat dasLand Niedersachsen Karl-Jürgen Kem-melmeyer, Präsidiumsmitglied des Deut-schen Musikrats, mit dem Verdienstkreuz1. Klasse des Niedersächsischen Verdienst-ordens geehrt. +++ Der mit 10 000 Eurodotierte Musikpreis des Verbands der Deut-schen Konzertdirektionen geht 2007 an dieBand Triband für ihre originellen Arrange-ments zwischen Jazz, Pop und Dance. +++Helmut Calgéer, Ehrenmitglied desDeutschen Musikrats, wurde in Würdigungseiner Tätigkeit als Musikpädagoge undDirigent und seines ehrenamtlichen Engage-ments als Förderer der Jugendmusik undder jugendmusikalischen Ausbildung dasEhrenbürgerrecht von Tübingen verliehen.

Erfolgreiche Popmesse:mehr Business, mehr Musik

Mit insgesamt 886 Ausstellern aus 57 Ländernhat die Popkomm 2007 deutlich zugelegt. Auchbei den Veranstaltungen des Musikfestivals zurMesse war der Andrang in diesem Jahr groß.Nahezu 100000 Besucher kamen an vier Ta-gen zu den Showcases und Konzerten.

Popkomm-Geschäftsführer Ralf Kleinhenzzeigte sich sehr zufrieden: „In den Hallen brumm-te das Geschäft, die Kongress-Panels erfreu-ten sich großer Resonanz, für die Qualität derShowcases in den Festivalclubs gab es viel Lob.“

Beim Popkomm-Kongress diskutierten über200 Vertreter der Musikwirt-schaft und weiterer Kreativ-felder die wichtigsten The-men der Branche. In den 40Panels und Workshops ginges unter anderem um LiveEntertainment, Mobile Mu-sic, Digital Rights Manage-ment, Musik und Film so-wie um das ZukunftsthemaAutomotive Music.

Popkomm-Festival:Kinder fragten im„Kleinen Hörsaal“Klassik-Stars. Der

Meister der Oboe,Albrecht Mayer,

demonstrierte dieBesonderheiten seines

Instruments.© Popkomm

Im Rahmen der Jungen Oper SchlossWeikersheim widmete sich das Bundes-jugendorchester auf seiner diesjährigen

Sommerarbeitsphase Gioacchino RossinisBuffa-Oper La Cenerentola. Unter Leitung

des italienischen Dirigenten Alessandro deMarchi probte, lebte und spielte das Orches-

ter mit Sängern aus vielen Ländern übervier Wochen in Weikersheim. In neun

Openair-Vorstellungen wurde das zauber-hafte Märchen im illuminierten Schlosshof

vor insgesamt 5000 Zuschauern präsentiert.

BJO „übersommerte“mit zauberhaftem Rossini

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FOKUS

MUSIK�ORUM8

Die Szene zeigt: Musikpolitik ist auf demWeg in das öffentliche Bewusstsein einzusi-ckern, aber beileibe noch nicht überall ange-kommen. Die einschlägigen Lexika und Such-maschinen geben nicht viel her. Der Dudenkennt Musikpolitik überhaupt nicht undGoogle beantwortet die Sucheingabe zunächstmit Fundstellen beim Deutschen Musikrat undbei einigen seiner Mitgliedsorganisationen,dann folgt das Thema „Musikpolitik im Natio-nalsozialismus“ und schließlich findet sich derBegriff in unterschiedlichen Kontexten in eu-ropäischen Nachbarländern – u. a. bei dennationalen Musikräten der Schweiz undÖsterreichs.

Der Terminus „Musikpolitik“ ist im Ver-gleich zur „Kulturpolitik“ ein verhältnismä-ßig junger Begriff. Im historischen Kontextist Musikpolitik vor allem ein Mittel totalitärregierter Staaten zur politischen Indoktrina-tion. Die Erkenntnis, dass Musik als barriere-freies Medium, als grenzenlose Weltsprachein besonderer Weise geeignet ist, Geist, Kör-per und Seele des Menschen zu erreichen,ist so alt wie die Menschheitsgeschichte selbstund kein alleiniger Erkenntnisgewinn totali-tärer Regime. Zu allen Zeiten wurde und wirdMusik genutzt, verwertet und instrumentali-

siert. So stand Musikpolitik immer in einemZusammenhang gruppenspezifischer Interes-sen, was die überwiegend isolierte, einge-schränkte und teilweise verdrängte Betrach-tung dieses Begriffs erklärt.

Erst der Deutsche Musikrat hat nach sei-ner überwundenen Existenzkrise und derdaraus folgenden strategischen Neuausrich-tung im Jahr 2003 begonnen, Musikpolitikin einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zustellen. In der (alten) Erkenntnis, dass Musik-politik Gesellschaftspolitik ist und nur danneine breite gesellschaftliche Akzeptanz unddamit Wirksamkeit entfalten kann, wenn siesich nicht in der Verfolgung von Partikular-interessen definiert, hat der Dachverband desMusiklebens einen Paradigmenwechsel voll-zogen. Voraussetzung dafür war, aus dem Er-kennen eigener Potenziale und dem zu ver-stärkenden Bewusstsein heraus, gestaltenderTeil einer Gesellschaft zu sein, die ohne dieMitwirkung der zivilgesellschaftlichen Kräftenicht bestehen kann, den Gesichtskreis aktu-eller und zukünftiger Handlungsfelder zu er-weitern.

So ist die Aufgabe des Konsensprinzips –eine lähmende Fessel jedes Dachverbandes– der Einsicht geschuldet, dass das Ganze mehrals die Summe seiner Einzelteile ist. Auf die-ser Grundlage hat der Deutsche Musikrat eineMusikpolitik entwickelt, die Mitverantwor-tung für das Heute und Morgen in unsererGesellschaft übernehmen will. Mit diesemWandel ist die Voraussetzung gegeben, Mu-sikpolitik aus seinem bisher begrenzten Deu-tungszusammenhang in eine erweiterte De-finition zu überführen.

Musikpolitik ist ein Instrument, um mitund durch die Musik Politik für eine huma-ne Gesellschaft zu betreiben. Aus dieser De-finition ergeben sich die folgenden Schluss-folgerungen:

1. Ein humanes Gesellschaftsbild ist derAusgangspunkt für Musikpolitik.

2. Musikpolitik ist Teil einer Reihe vongesellschaftspolitischen Instrumenten.

3. Musikpolitik ist kein Alleinstellungsmerk-mal von Gruppen oder gar Einzelpersonen.

4. Die Aufgabenstellung von Musikpoli-tik lässt sich nur verwirklichen, wenn sie mitdem höchstmöglichen Anspruch an gesell-schaftspolitischer Wirksamkeit betrieben wird.

Akzeptanz, Selbstverständnisund Umsetzungsvermögen

Die Wirksamkeit von Musikpolitik wirdim Wesentlichen von der gesellschaftlichenAkzeptanz der agierenden Plattformen, vomSelbstverständnis der musikpolitischen Arbeitund vom Umsetzungsvermögen bestimmt:

Die Akzeptanz einer Plattform erhöht sichproportional zu der dort vertretenen Reprä-sentanz gesellschaftlicher Breite, zur demo-kratischen Legitimation, zum Grad der ge-sellschaftspolitischen Grundierung der ange-strebten Ziele und tatsächlichen Wirkungs-grad dieser Plattform.

Das Selbstverständnis, wie Musikpolitikals Teilmenge von Kultur- bzw. Gesellschafts-politik begriffen wird, ist mitbestimmend füreine inhaltliche und personelle Vernetzungund damit für den Wirkungsgrad von Mu-sikpolitik. Dabei darf nicht übersehen wer-den, dass auch der gesellschaftliche Wirkungs-anspruch an Kulturpolitik weit über die all-gemeine Definition hinausgeht.*

Das Umsetzungsvermögen wird – ne-ben den selbstverständlichen handwerklichenVoraussetzungen jeder gesellschaftspolitischwirksamen Arbeit – vor allem durch das Er-kennen und Zusammenführen von Kraftfel-dern und die Fähigkeit bestimmt, die Poten-ziale zivilgesellschaftlicher Strukturen und

„Musikpolitik – was ist denndas?“ entfährt es Bundes-

innenminister Otto Schily imBerliner Konzerthaus währendseiner Laudatio auf den Würth-Preisträger 2005, die Philharmo-nie der Nationen und ihren LeiterJustus Frantz. Beinahe entschul-digend fügt er hinzu, den Begriff„Musikpolitik“ hätten ihm seineBeamten aufgeschrieben.

Wie die Rahmenbedingungen für ein Leben mit Musikzu verbessern sind. Von Christian Höppner

MUSIKPOLITIK IN DER

Verantwortung

9MUSIK�ORUM

Ressourcen zu erwecken und einzubinden.Bürgerschaftliches Engagement ist die wich-tigste Ressource für jede gesellschaftspoliti-sche und damit auch musikpolitische Arbeit.

Eine wirksame Musikpolitik nimmt gesell-schaftliche Entwicklungen auf und setzt siein Bezug zu den definierten Zielen durch einenkontinuierlichen, prozessorientierten Abgleich.Diese erste Orientierungs- und Reaktionsphasebildet die Grundlage für reagierende Hand-lungen. Die zweite Stufe ist die Gestaltungs-phase, bei der durch die Bewertung der ak-tuellen Situation und die Weiterentwicklungin unterschiedlichen Szenarien künftige ge-sellschaftspolitische Entwicklungen prognos-tiziert und in einen agierenden Zusammen-hang gestellt werden können. Der Steuerungs-anteil ist in dieser Phase naturgemäß höherals in der ersten Phase, ebenso wie das Risi-ko der Fehleinschätzungen. Gleichwohl kannder Gestaltungsphase eine seismografische

Funktion zuwachsen, die frühzeitige Entschei-dungsfindungen erleichtert und zu einemhohen Wirkungspotenzial von Musikpolitikführen kann.

Aufgaben undHandlungsauftrag

Für die Musikpolitik ergeben sich drei Auf-gabenfelder:

1. Mitwirkung bei der Entwicklung unse-rer Gesellschaft.

2. Mitsteuerung bei dem Erhalt und derWeiterentwicklung der Rahmenbedingungenim Musikland Deutschland.

3. Impulse für das Musikleben setzen.Daraus kann ein Handlungsauftrag im Sinne

eines zivilgesellschaftlichen Beteiligungspro-zesses erwachsen, wie ihn der Deutsche Musik-rat als Dachverband des Musiklebens wahr-nimmt.

Das Musikleben wird von musikimmanen-ten und gesellschaftspolitischen Themenebenso beeinflusst wie von den zivilgesell-schaftlichen Kraftfeldern und den ordnungs-politischen Entscheidungen der Politik. Bei-spielhaft können dafür die Entwicklung derzeitgenössischen Musik, die Auswirkungenvon Migration und demografischem Wandelund der kürzungsbedingt überproportionalhohe Ausfall von Musikunterricht in den all-gemein bildenden Schulen angeführt werden.Bei dem Abgleich zwischen Ist und Soll hängtdie Wirksamkeit der musikpolitischen Arbeitnicht nur von machtpolitischen, sondern vorallem von gesellschaftspolitischen Faktorenab. Gerade im Musikleben spielt das gesell-schaftliche Verwertungsinteresse eine zuneh-mende Rolle, wobei die Frage „Cui bono?“im Mittelpunkt steht. Der Bewusstseinswan-del zum Beispiel zur Bedeutung der musika-lischen Bildung, der lange von der Diskre-panz zwischen Sonntagsreden und Montags-handeln der Politik getrübt war, beginnt nuntatsächlich erste Früchte im Hinblick auf dieVerbesserung der Rahmenbedingungen zutragen. Allerdings entwickelt sich eine neueEventkultur im Bildungsbereich, die einenPlacebo-Effekt erzeugt.

So richtig und wichtig die zahlreichen Ini-tiativen wie zum Beispiel „Jedem Kind einInstrument“ in Nordrhein-Westfalen oder diebeispielhaften Engagements vieler Orchesterim Bereich der Musikvermittlung sind – siedürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dassdie bildungskulturelle Infrastruktur mit denvorschulischen, schulischen und außerschu-lischen Bildungseinrichtungen zu einem ge-wichtigen Teil dramatisch unterfinanziert bzw.in ihrer Existenz bedroht ist. Initiativen kön-nen Appetit auf mehr machen, nicht aberdie musikalische Bildung, die als lebensbe-gleitender Prozess auf Kontinuität und Qua-lität baut, ersetzen. So bildet folgerichtig diemusikalische Bildung die Fundamentplatte füralle weiteren musikpolitischen Themen.

Das Leitmotiv „Musik bewegt“ beschreibtdie Wirkungskraft der Musik und den An-spruch an die gesellschaftliche Wirksamkeitdes Deutschen Musikrats. Diese Wirksam-

Appetitmacher: Initiativen wie „Jedem Kindein Instrument“ (im Bild der Startschuss desProjekts im Februar mit dem nordrhein-west-fälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgersund Kulturstaatsminister Bernd Neumann;siehe auch Artikel Seite 54) können bei KindernLust wecken zum eigenen Musizieren, ersetzenaber nicht eine kontinuierliche musikalischeBildung mit dem Anspruch der Frühförderung.

© Staatskanzlei NRW, Foto: Sondermann

MUSIK�ORUM10

FOKUS

keit bezieht er zum einen aus der Erfahrung,dem Wissen und dem Engagement seinerMitglieder und zum anderen aus der Orien-tierung seiner musikpolitischen Arbeit an dergesellschaftlichen Entwicklung. Somit ist derDeutsche Musikrat mehr als die Summe sei-ner Mitglieder, weil er die Einzelinteressenin den Zusammenhang seiner gesellschafts-bezogenen Musikpolitik stellt. Dabei steht vorjeder Zieldefinition die Frage: Was nutzt esunserer Gesellschaft? Diese übergeordneteSichtweise gibt dem Dachverband des Mu-siklebens eine viel stärkere Argumentations-basis, da er nicht mit den Lobbyisten von (wirt-schaftlichen) Partikularinteressen in eine Reihegestellt werden kann.

Entscheidend für die gesellschaftspolitischeWirksamkeit ist dabei die Balance von Reak-tion auf aktuelle Entwicklungen und Aktionim Hinblick auf zu erwartende Entwicklun-gen. Mit dem feingesponnenen Netzwerk derMeinungsbildung und Entscheidungsfindungvon Bundesfachausschüssen, Beiräten, der Stra-tegiekommission, dem Präsidium und der Mit-gliederversammlung verfügt der DeutscheMusikrat über eine seismografische Plattformmusik- und damit gesellschaftspolitischer The-men. Musikalische Bildung, interkulturellerDialog, demografischer Wandel, Musikver-mittlung, bürgerschaftliches Engagement undkulturelle Vielfalt sind einige der Themen-schwerpunkte, die der Musikrat in den ver-gangenen Jahren gesetzt bzw. in der öffent-lichen Diskussion mit befördert hat. Die großeSchnittmenge dieser Themen unterstreichtdie Notwendigkeit, die Einzelthemen in denZusammenhang gesellschaftlicher Entwick-lungen zu stellen.

So ist der demografische Wandel in seinenAuswirkungen für unsere Gesellschaft ohnedie Einbeziehung auch der oben genanntenThemen überhaupt nicht hinreichend zubetrachten. Eine wirkungsvolle Strategieent-wicklung zu der Frage, welche Rolle die Musikin einer alternden Gesellschaft spielen kannund welche Maßnahmen dazu umgesetzt wer-den müssen, lässt sich eben nur in der Ge-samtbetrachtung erreichen. Daran mangeltes leider in der öffentlichen Diskussion zu-nehmend. Zum einen ist eine Fragmentierungin tagesaktuelle Splitterthemen bzw. einePauschalisierung großer Themen, zum andereneine Konzentration auf die erwarteten Risi-ken zu beobachten.

Gettofallen

Die Diskussion um den demografischenWandel belegt einmal mehr, dass uns derfragmentierte Blick auf einzelne Lebensab-schnitte in neue Gettofallen steuert. Wir brau-

chen keinen „musikalischen Seniorenteller“,sondern Angebote, die generationenübergrei-fend wirken können. Die Mehrgenerationen-häuser stehen für eine Idee des Brückenbauszwischen den Generationen, wofür die Mu-sik das Fundament bilden kann. Warum alsonicht zum Beispiel bei „Jugend musiziert“ eineneue Kategorie „Familienmusizieren“ einfüh-ren? Warum nicht die Altersbegrenzung inden Musikschulen aufheben, die noch dasPräfix „Jugend“ tragen? Musikschulen sind füralle da – nicht nur für die Jugend.

Für den Deutschen Musikrat ist der de-mografische Wandel in erster Linie eine gro-ße Chance für unsere Gesellschaft – eine Chan-ce für Verbesserungen im Dialog der Gene-rationen und Kulturen, und für das Individu-um eine Chance auf ein sinnerfülltes Lebenin seiner ganzheitlichen Betrachtung. Die aufden ersten Blick nachvollziehbare Konzent-ration auf die ökonomischen und sozialenAuswirkungen des demografischen Wandelsdarf nicht den Blick auf die Chancen diesesVeränderungsprozesses verstellen. Die fort-schreitende Ökonomisierung unserer Gesell-schaft hat dazu geführt, die Zufriedenheit imAlter fast ausschließlich auf materielle The-men zu konzentrieren. Damit ist die Drei-einigkeit von Geist, Körper und Seele in derPerspektivbetrachtung der alternden Gesell-schaft aus den Fugen geraten. Der Deutsche

Musikrat sieht sich in der Mitverantwortungdaran mitzuarbeiten, diese Balance wiederherzustellen und damit das Bewusstsein fürdie kreativen Potenziale in unserer Gesell-schaft zu schärfen. Denn: Bewusstsein schafftRessourcen – Ressourcen, die unser Landauf dem Weg zu einer Wissens- und Kreativ-gesellschaft dringend braucht. Die Musik kanndabei Chancen eröffnen, die kreativen Po-tenziale älterer Menschen in viel stärkeremMaße als bisher zu entfalten und in die Ge-sellschaft einzubringen.

Der Musikrat hat für seine musikpolitischeArbeit zum demografischen Wandel dasLeitbild „Musizieren 50+ – es ist nie zu spät“gewählt, um eine chancenorientierte Diskus-sion zu befördern und deutlich werden zulassen, welche Rolle die Musik als die unmit-telbarste, aber auch flüchtigste aller Künstedabei spielen kann. Der Abbau der Barrie-ren in den Köpfen vieler älterer Menschen,die meinen, für das Musizieren zu alt zu sein,gehört als Thema genauso dazu, wie die Si-tuation der meistens im Erwerbsprozess ste-henden mittleren Generation um die 50 Jah-re, das generationenübergreifende Musizierenund das vierte Lebensalter. Die zentrale Bot-schaft lautet: Es ist nie zu spät, mit dem Mu-sizieren zu beginnen oder es wieder aufzu-nehmen, wenn eine entsprechende fachlicheBegleitung gesichert ist. Neben der Bewusst-seinsarbeit als dem zentralen Element mu-sikpolitischer Arbeit verbinden sich damit diefolgenden Forderungen an die Politik unddie Zivilgesellschaft:

1. Musikalische Bildung alslebensbegleitenden Prozessermöglichen

Jeder Bürger muss, unabhängig von sei-ner sozialen und ethnischen Herkunft, dieChance auf eine qualifizierte und kontinu-ierliche musikalische Bildung erhalten. Dabeikommt der musikalischen Frühförderung einebesondere Rolle zu, denn die musizierendenKinder von heute sind die Alten von mor-gen. Die absehbare Ausbreitung der Alters-armut darf kein Hinderungsgrund für musi-kalische Betätigung sein.

2. Investieren und Generieren

Bund, Länder und Gemeinden sind ge-fordert, mehr Steuermittel in die musikali-sche Bildung (für Pilotprojekte auf Bundes-ebene und Erhalt und Ausbau der bildungs-kulturellen Infrastruktur auf kommunalerEbene) zu investieren und die Anreize fürbürgerschaftliches und mäzenatisches Enga-gement zu erhöhen. Das Generieren von

Es ist nie zu spät: Der Deutsche Musikratsieht den demografischen Wandel alsChance und ermutigt ältere Menschen, mitdem Musizieren zu beginnen oder es wiederaufzunehmen.

A N Z E I G E

Gute Musikpolitik…betreiben – das heißt für alle Beteiligten:Wege des Aufeinanderzugehens zu erpro-ben und unterschiedliche Interessenlagenin positiver Streitkultur auszubalancieren.

Birgit Jank fragte Präsidiumsmitglieder desDeutschen Musikrats, die unterschiedliche Be-reiche unseres Musiklebens repräsentieren:

˜ Welche guten Formen der Zusammen-arbeit von Musik und Politik werden inIhrem Umfeld realisiert?

˜ Welche Defizite und Wünsche gibt es? Und wie sind IhrePositionen zur Musikpolitik generell?

Die Antworten finden Sie verstreut in diesem Heft…

Hans BäßlerVizepräsident des Deutschen Musikrats

Thesen zu Musik und Politik1. Die Musik versteht sich (im Regelfall)

unpolitisch, wird aber dadurch, dass sie imöffentlichen Raum produziert wird, in einenpolitischen Kontext gestellt.

2. Die Politik hat dementsprechend dieAufgabe, der Kunst überhaupt, der Musikim Besonderen, eine Schutz- und Realisie-rungsfunktion zu gewähren, nicht aberAufträge zu erteilen, die zu einer wie auchimmer gearteten Bevormundung und Unter-ordnung von Kunst führen.

3. „Funktionäre der Musik“ sind keineMusikfunktionäre, vielmehr verstehen siesich als Anwälte der Musik im öffentlichenRaum. Sie kämpfen für die Freiheit derMusik gerade dort, wo sie bedroht oder gar

unterdrückt zu werden scheint. Anwälte der Musik beziehen sichauf die künstlerischen Rahmenbedingungen. Sie sind damit in ihrembürgerschaftlichen Engagement diejenigen, die für das kämpfen,was sonst gesamtstaatlich nicht beachtet und damit verhindert würde.

4. Musikpolitik orientiert sich nicht an einer Präferenz für be-stimmte Musiken, sondern schafft Plattformen, damit es jedemBürger möglich ist, Musik in seiner je eigenen Weise als eineMöglichkeit des Selbstentwurfs zu verstehen.

5. Dementsprechend tritt die Musikpolitik immer hinter dieMusik und die Menschen zurück, die Musik in weitestem Sinne„machen“ – als Komponisten, als Interpreten, als Produzenten,als Hörer. Musikpolitik ermöglicht und schützt.

Präsidiumsmitglieder desDeutschen Musikrats äußern sich…

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bürgerschaftlichem Engagement ist nicht nur eine Frage der Eigen-investition, sondern auch eine Frage der öffentlichen Wahrneh-mung und Anerkennung.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass das Aufzeigen von Zu-sammenhängen für eine wirksame musikpolitische Arbeit unab-dingbar ist.

Die perfiden Auswirkungen einer zur Ideologie erhobenen„Musikpolitik“, wie im Nationalsozialismus oder in der DDR, sindVerpflichtung, Geschichte lebendig zu halten und in der erweiter-ten Definition Musikpolitik als einen Mosaikstein zivilgesellschaft-licher Beteiligungsprozesse zu entwickeln. Dieser Anspruch, Mit-verantwortung für die Entwicklung unserer Gesellschaft zu tragen,gewinnt in dem Maß an Glaubwürdigkeit, wie politische, wirt-schaftliche oder weltanschauliche Interessen in einer Balance ge-halten werden können.

Mit dem Bild einer humanen Gesellschaft verbindet sich dieÜberzeugung, dass die Erfahrung mit Musik um ihrer selbst willenals elementarer Bestandteil in jedem Lebensalter ermöglicht wer-den muss. Erst mit dem Bestreben, jedem Menschen kulturelleTeilhabe zu ermöglichen und damit das Individuum in seiner Selbst-äußerung zu stärken, kann so etwas wie eine gesellschaftliche Über-einkunft über die Unverzichtbarkeit kulturellen Lebens entstehen.

Die Rahmenbedingungen für ein ganzes musikalisches Lebenzu verbessern, bleibt eine Aufgabe in öffentlicher Verantwortungund ist zentrales Anliegen jeder musikpolitischen Arbeit.

* Der Duden definiert Kulturpolitik als die „Gesamtheit der Bestrebungen des Staats,der Gemeinden, Kirchen, Parteien, Vereine und Verbände zur Förderung und Erhal-tung der Kultur“.

Der Autor:Christian Höppner ist Generalsekretär des Deutschen Musikrats und stellvertretenderVorsitzender des Deutschen Kulturrats.

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Nicht jede Musik passt freilich zu jedempolitischen Kontext. Da gibt es doch Scham-grenzen. Bei Theodor Heuss beispielsweise,dem ersten Bundespräsidenten, der 1933 auchdem „Ermächtigungsgesetz“ für die Nazis zu-gestimmt hatte, fand es seine Begleitung pein-lich, dass er mit der seinerzeit vor 1933 be-rühmten, oft nur mit einem Bananengürtelbekleideten Nackttänzerin Josephine Bakerauf dem Bundespresseball 1951 Kontakt inder Weise haben sollte, dass sie an Heuss’Tisch sitzen durfte. „Eine Negerin, die nacktsingt, könne man dem Staatsoberhaupt nichtzumuten“, hieß es. Die Begegnung fand da-her standesgemäß hinter den Kulissen statt,wohin einst die Reichen und Regierendenaus Schauspielerinnen und Sängerinnen so-wie dem Corps du Ballet auswählen gehendurften. „In einem hinteren Teil des Saales“,so die Augenzeugin, „haben wir die beidenmiteinander bekannt gemacht.“1

Tatsächlich wäre es – wie die eingangserwähnten Politiker-Beispiele – bereits unterdie Rubrik „politischer Missbrauch der Mu-sik“ gefallen, wenn die afroamerikanische En-tertainerin der frisch renovierten und restau-rierten offiziellen Bundesrepublik Deutschlandals künstlerisches Feigenblatt gedient hätte.Dass sich Musik, oder genauer gesagt: vieleMusizierende oft und gern zu derlei Verhül-lungs- und Verschönerungszwecken gebrau-chen lassen, steht auf einem andern Blatt undist als Faktum ja bekannt und offensichtlich.Nicht selten führt das dann sogar zu derMeinung, Musik sei eine Hure, die zu allem

zu gebrauchen und jedem/r zu Diensten sei.Mit dieser Verachtung kontrastiert die schein-bar gegenteilige Meinung, aller politische Ge-brauch von Musik sei an sich schon Miss-brauch, da Musik prinzipiell unpolitisch sei,„absolut“ und damit rein von den Verstrickun-gen in den Weltlauf.

1. Markt, Hunger, Krieg.Musik als Überwölbung

Der Drang nach dem Schönen und Hö-heren auch bei den Oberen – eben weil Musikals Kunst etwas Höheres, dem gewöhnlichenAlltag Enthobenes und das widersprüchlicheGanze Überwölbendes ist – ist insoweit durch-aus noch kein Missbrauch. Die Verbindungvon Musik und Herrschenden ist in dem Maßelegitim, soweit und solange Herrschaft histo-risch gerechtfertigt ist. Der Traum vom „Frie-densfürsten“ (für den im Christentum nichtzuletzt der Religionsstifter selber stand) istimmerhin dem heutigen Alptraum von Kriegs-präsident oder Kriegskanzlerin an Humani-tät weit überlegen.2

Die Herrschaft des „Markts“ über das Le-ben ist freilich nicht mehr historisch gerecht-fertigt. Denn entgegen allem propagandisti-schen Getöse gerade nach 1989/90 hat die„marktwirtschaftliche“ Gesellschafts- und Welt-ordnung auf der ganzen Linie und Welt ver-sagt. Sie scheitert schon kläglich und tagtäg-lich, wenn es darum geht, einfache und ele-mentare Bedingungen eines menschenwür-digen Lebens und eines erfüllten Friedens auchnur ansatzweise zu erfüllen: dass keiner mehrhungern muss und alle ohne Angst lebenkönnen.

Im Gegenteil: Krieg wurde inzwischen fastschon (wieder) zum normalen Geschäftsver-kehr zwischen den Staaten, jedenfalls nachden Vorstellungen und praktischen Verfah-rensweisen der westlichen Vormacht und ih-

Zum politischen Missbrauch und Gebrauch der Musik.

Blair spielt E-Gitarre, Clinton Saxofon, Schmidt Keyboard usw. – undalle spielen sie sich damit als Kulturträger und Kunstbeflissene auf.

So problematisch das ist – bedenken wir die reale Politik hinter solchenKlangkulissen –, so ist es vielleicht immer noch besser, als wenn z. B. derführende Politiker eines deutschen Stadtstaats ohne jede Scham erklärt,er sei ein „Kulturmuffel“, und das ohne Kritik hingenommen wird.

Klangkulisse: Bewegte sich der Saxofonspielende Bill Clinton schon am Rand despolitischen Missbrauchs von Musik?

AUFKLÄRENDE BefreiungGEGEN VERNEBELNDE

FOKUS

13MUSIK�ORUM

rer Satellitenstaaten, ohne Rücksicht auf völ-kerrechtliche Schranken – von moralischenSchranken ganz zu schweigen.

Und die unter diesen Vorzeichen Regie-renden vertreten in Wirklichkeit keine All-gemeininteressen, sondern Macht- und Herr-schaftsambitionen als Vertreter von jeweilsbesonderen Wirtschafts- und damit Sonder-interessen (Beispiele dafür finden sich min-destens jede Woche im Kleingedruckten derPresse). Auch das provokative „G-8“-Treffenim Frühsommer am Rand der Bundesrepub-lik Deutschland war so überflüssig wie einKropf – nur in seinen Auswirkungen schäd-licher als dieser – und vertrat mitnichten In-teressen der Menschheit und auch nicht der

Von Hanns Werner Heister

Unterdrückung

Bevölkerungsmehrheit der „G-8“-Staaten.Die Musik und andere Künste, die sich

darum herumrankten, zeigten etwas vomSpektrum zwischen Gebrauch und Missbrauch.Sie dienten teils dem Protest, teils der Pazifi-zierung des unmittelbar auf das Treffen be-zogenen Protests, teils der ziemlich ambiva-lenten Wohltätigkeit für die globalen Opferder Politik just jener „G-8“.

Diese Ambivalenz steigerte noch die mild-tätige Mitwirkung der Popmusiker für Afri-ka, zumal insofern, als musikalisch abgehalf-terte Stars eher sich und ihre Konten als Afrikasanierten. Der im Prinzip gute Zweck stehtin der langen Tradition bürgerlicher und vor-bürgerlicher Wohltätigkeit. Sie funktioniert

in der Regel nach dem Lazarus-Prinzip: Die-ser erhält die Brosamen, die vom Tisch desReichen fallen.3

2. Hunger, Angst, Donanobis pacem – religiöserGebrauch und Missbrauchvon Musik

Im Gebrauch werden die Begriffe nichtselten merkwürdig verdreht. Häufig werdengerade politischer Gehalt und Kontextuali-sierung von Musik als „Missbrauch“ denun-ziert. Praktisch nie wird dagegen von dem weitverbreiteten religiösen Missbrauch von Mu-sik gesprochen – nicht zuletzt wohl aufgrundder Annahme, das Religiöse gehöre mehr oderminder zum Wesen der Musik, das Politischedagegen nicht oder verstoße gar gegen ihrWesen.

In Wirklichkeit ist es ungefähr umgekehrt.Lange, bevor Magie und Religion dazukamen– das war etwa in der Größenordnung nach100 000 vor unserer Zeitrechnung mit demfrühen Homo sapiens –, gab es Musik, undauch danach bleibt stets eine säkulare Tradi-tionslinie erhalten. Dennoch ist zwar der herr-schaftskonforme und rückwärtsgewandte, mitWeihrauch, Glocken und Chorälen verne-belnde, Armut und Unterdrückung als gott-gegeben verklärende (so wie der Neolibera-lismus dergleichen Missstände sozialdarwinis-tisch als naturgegeben erklärt) Gebrauch vonMusik Missbrauch. Aber das ist nicht jederreligiös geprägte. Denn er kann auch Anru-fung eines Allgemeinen in anthropomorphis-tischer Projektion sein – d. h. Vater allein,Vater, Mutter und Sohn oder noch größereGötterfamilien am Himmel als Spiegelungmenschlicher Kräfte auf Erden. Diese Formdes Allgemeinen hat eine alte Tradition undist immer noch eine bedeutsame potenzielleGegeninstanz zur Partikularität privatwirtschaft-lich bornierter Interessen.

Auf das elementare und allgemeine, sogardie ganze Menschheit umfassende Bedürf-nis einer Welt ohne Hunger und ohne Angstbeziehen sich bereits grundlegende Bestand-teile der christlichen Liturgie. Nicht zufälligfindet sich die Friedensbitte, das Dona nobispacem, prominent in der Messe, zwar jensei-tig-religiös gefärbt, aber doch durchaus dies-seitig-weltlich deutbar.4 Und den Kampf ge-gen den Hunger meint die tagtägliche Bittedes Paternosters, des „Vaterunsers“ um das„täglich Brot“. Dass es freilich keine über- undaußerweltliche Macht gibt, die in der Lagewäre, tatsächlich solche Bitten zu erfüllen,nötigt letztlich die Menschen dazu, auch dieGläubigen aller Art, sich um die Verwirklichung

Musik unterstreicht den Anschein der Rechtsförmigkeit und den Schein der Allgemeinver-bindlichkeit: Während der brutalen spanischen Besetzung der Niederlande im 16. Jahrhundert(hier ein Kupferstich von Franz Hogenberg, der die Hinrichtung von 18 Adligen zeigt) beglei-teten Pfeifer und Trommler die Verurteilten zum Schafott – und übertönten Proteste.

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FOKUS

selber zu kümmern. Noch über den Spruch„Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“ hinaus gehendie Zeilen eines einst international bekann-ten Lieds: „Es rettet uns kein höh’res Wesen/ Kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. / Unsaus dem Elend zu erlösen / können wir nurselber tun.“

3. Politisches, Gesellschaft,Allgemein- und Sonder-interessen

Das Politische im weiten Sinn dessen, dassder Mensch das „zoon politikón“ ist, das vonNatur aus gesellschaftliche Wesen, ist so altwie Musik und Menschheit. Es bildet den Keimdessen, was dann im engeren Sinn „politisch“wird. Dieses Politische ist jünger. Wir wer-den es möglicherweise auf Musik in Klassen-gesellschaften einschränken müssen, also vonden frühen Hochkulturen seit dem 4. Jahr-tausend vor unserer Zeitrechnung in Meso-potamien, Ägypten, Indien, China usw. bisheute.

Die soziale Spaltung führt dazu, dass einer-seits Allgemeingültiges, alle sozialen Wider-sprüche Überwölbendes nötig ist, wofür sichMusik durch ihre Ich-Wir-Dialektik beim Musi-zieren besonders eignet, andererseits aber auchSonderinteressen artikuliert werden. Sonder-interessen sind nicht dasselbe wie besondereInteressen oder irgendwelche jeweils indivi-duellen Bedürfnisse – ob nach Dösen oderSich-Aufputschen, nach sinnlichem oder geist-lichem Vergnügen usw. –, die verschiedeneLeute in unterschiedlicher Musik suchen undmeist ja auch finden, etwa Musik zum Tan-zen oder als eigenständigen ästhetischen Ge-nuss. Es sind vielmehr partikulare Interessen,die dem Allgemeinwohl entgegenstehen unddamit auch den Interessen der Vielen, mitAusnahme der kleinen extremistischen Min-derheit, die eben aus Umweltschädigung,Menschenschädigung oder Krieg ihren Ge-winn zieht. Diese Partikularinteressen wer-den durch wirtschaftliche und politische Herr-schaft vermittelt und, heute mehr als nochvor 1990, zunehmend auch militärisch ab-gestützt. Da Musik aufgrund ihrer Entstehungs-bedingungen und dem Spektrum ihrer Grund-funktionen eher jenes Allgemeine repräsentiert,erscheinen schon von daher ihre Funktionenfür Sonderinteressen als „Missbrauch“: Mu-sik im Rahmen der Propaganda für Einzel-waren wie der Reklame für das Gesamtsys-tem der „Marktwirtschaft“, also z. B. die Re-krutierung künftiger Alkoholabhängiger mitmunteren modernen Werbeweisen oder dieRekrutenvereidigung mit feierlichen altenWeisen für die künftigen Töter (und manchmalauch Toten).

4. Harmonie, Allgemeinwohlund Musik

Eine Grundfunktion von Musik ist es,Harmonie, Übereinstimmung, „Versöhnung“zu bewirken. Diese Zweckbestimmung vonMusik reicht in die Anfänge der Musik unddamit der Menschheit zurück. Der Frühge-schichtler Steve Mithen beschreibt ihre psy-chischen Voraussetzungen und Wirkungsme-chanismen als Verlust der Ich-Grenzen undVerminderung starker Selbst-Gefühle. Dasführe zu verstärkter Kooperationsbereitschaft.Auf diesem Hintergrund – der die Dialektikvon Ich und Wir beim Musizieren etwas ver-einseitigt – konstruiert er einen Gegensatz:„In some cases it is by mutual consent andunderstanding, as, perhaps, in the case of Ja-panese factory employees who sing the com-pany song before starting work. In other ca-ses people are manipulated, as by the chantingat Nazi rallies.”5 Tatsächlich jedoch sind dievermeintlichen Gegensätze zwei Seiten der-selben Medaille: Die „Betriebsgemeinschaft”,wie sie das japanische Firmensingen sugge-riert, ist als musikalische Gleichsetzung vonreal Ungleichen so manipulativ wie die na-zistische „Volksgemeinschaft”, und der wirt-schaftliche Zwang ist nicht konsensueller alsder politisch-staatliche.

„Harmonia“ wird altgriechisch als Einheitvon Gegensätzen gefasst. Sie spiegelt damitnicht zuletzt die widersprüchliche Einheit derPolis – und soll als und durch Musik dieseEinheit kraft ihres Ethos fördern. Wie Herak-lit (um 500 vor unserer Zeitrechnung) so ver-wendet in der Tradition des neolithischen Uni-versismus auch der Pythagoräer Philolaos (um430) Musikalisches als Metapher und Modellfür Kosmologisches. „Das Gleichartige undVerwandte bedurfte ja der Harmonie nicht,aber das Ungleichartige, Heterogene undDisparate bedurfte notwendig des Zusam-menschlusses durch die Harmonie, um so inder Weltordnung festgehalten zu werden.“6

Auf das Verhältnis von Harmonie, Musik,Gemeinwesen und Allgemeinwohl beziehtsich dann im Übergang zum Spätabsolutis-mus z. B. auch Johann Mattheson im 5. Ka-pitel des I. Teils von Der vollkommene Kapell-meister mit dem Titel „Vom Gebrauch derMusic im gemeinen Wesen“.7 In § 15 zitierter „Ergetzen, Einigkeit und Wolfahrt“ aus derfranzösischen Schrift Discours sur l’Harmonied’un Anonyme (Paris, 1737) als Hauptzweckeines Reichs der Harmonie.

Mattheson polemisiert dagegen, Musik zumissachten, weil sie nicht oder doch nur sel-ten gewinnträchtig ist. Musik sei zwar nichtprofitabel, aber für das Allgemeinwohl nütz-lich. „Plato wuste sehr wol, daß auch in der

Music, zur Erhaltung des Staats, etwas nütz-liches stecke.“ (§ 18) [...] § 19 „Itzund aberlieget dieses [gemeine] Wesen fast gantz unterder Banck, und will niemand seine politischeGedancken auf die Music wenden, weildadurch dem Kammer-Gute nichts zuwächst.“

Das klingt, als hätte Mattheson die neoli-berale Ökonomisierung von allem und je-dem gekannt, eben auch der Musik und Mu-sikkultur, die zur Reklame fürs System wiefür Einzelwaren missbraucht wird und sichhier wie dort „rechnen“ muss, wie es die Phrasein bezeichnend falschem Deutsch sagt.

5. Disharmonie der „bürger-lichen Gesellschaft“

Nicht alle Gegensätze freilich lassen sichzur Harmonie bringen, nicht einmal durchMusik. Durch den Staat versucht das Hegelfür die „bürgerliche Gesellschaft“ – gemeintist damit etwa die Summe von Wirtschaftund dem, was heute als „Zivilgesellschaft“firmiert.

„In der bürgerlichen Gesellschaft ist jedersich selbst Zweck, alles andere ist ihm nichts.Aber ohne Beziehung auf andere kann erden Umfang seiner Zwecke nicht erreichen.Diese anderen sind daher Mittel zum Zweckdes Besonderen. Aber der besondere Zweckgibt sich durch die Beziehung auf andere dieForm der Allgemeinheit [etwa durch recht-lich-staatlich sanktionierte Verträge] und be-friedigt sich, indem er zugleich das Wohl deranderen mitbefriedigt.“8

Soweit folgt Hegel der liberalistischen Ideo-logie. Er sieht freilich auch die sich abzeich-nende Realität der „Marktwirtschaft“, in dersich eben die Verfolgung der Partikularinte-ressen wegen der Asymmetrie von Unter-nehmern und Unternommenen nicht in all-gemeine Wohlfahrt und Wohlgefallen auflöst:„Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich inungehinderter Wirksamkeit befindet, so [...]vermehrt sich die Anhäufung des Reichtums[...] auf der einen Seite, wie auf der anderenSeite [...] die Abhängigkeit und Not der andiese Arbeit gebundenen Klassen.“9 Die bür-gerliche Gesellschaft ist, sich selbst überlas-sen, maßlos, sowohl in der Erzeugung vonReichtum als auch von Armut, „und dieVerworrenheit dieses Zustandes kann nur zueiner Harmonie durch den ihn bewältigen-den Staat kommen“.10

Hegel glaubte noch, der Staat könne dasAllgemeininteresse repräsentieren und reali-sieren. Er übersah freilich, dass der bürger-lichen Gesellschaft ein bürgerlicher Staat ent-spricht, der seinerseits, wenn auch mit Kom-promissen und Konzessionen ans Gemein-wohl, primär Wirtschaftsinteressen nach innen

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und außen vertritt – immerhin nachHegel als eine Art Sozial- und nichtals Repressionsstaat.

6. Entpolitisierung derMusik als politischerMissbrauch

Vielleicht der krasseste politischeMissbrauch von Musik ist der, sie alsInstrument der Entpolitisierung zu ge-brauchen. Musik wird politisch miss-braucht, indem sie ihrer politischenDimension beraubt wird, ob mitGewalt oder mit List. Entpolitisierungvollzieht sich auf verschiedenen Wegenwie Umwegen. Das Spektrum reichtvon Zensur als offenem Eingriff so-zusagen von außerhalb in den Bereichder Kunst oder mit Kunst und (weit-gehend nicht bewusster) Selbstzen-sur bis zu eigenaktiver Absage an nichtrein ästhetische Werte, ob in Gestaltneuer Produktionen oder der Interpretationvorhandener Kunstwerke.

Entpolitisierung der Kunst selber impliziertdabei nicht Emanzipation, sondern im Ge-genteil Unterwerfung unter die jeweils herr-schenden politischen und ökonomischen Ten-denzen. Den dergestalt Angepassten mag esscheinen, als ob dergleichen Freiheit oderwenigstens freie Wahl sei. Der Wahl-Scheintrügt auch hier. Die Dialektik marktförmig-liberalistischer Freiheit hat Johann Strauß inseiner Fledermaus, entstanden als musikali-scher Rausch nach dem Katzenjammer desgründerzeitlichen Börsenkrachs von 1873,klassisch formuliert im Couplet des PrinzenOrlofsky: „Und sehe ich, es ennuirt sich je-mand hier bei mir, / so pack’ ich ihn ganzungeniert, werf’ ihn hinaus zur Tür.“ DennSpaß muss sein, und Fun, so Adorno, ist einStahlbad: „S’ ist mal bei mir so Sitte: / Cha-cun à son goût.“ Neoliberalistisch verschärftsich in der Regel der Zwangscharakter. DieParole des Jeder nach seinem Geschmackverwandelt sich in den eben auch politischvermittelten Druck zum marktkonformenJedermanns- und Jederfraus-Geschmack:„Kultur muß gefallen“.11 So der CDU-Kreis-verband Meißen in einem Positionspapier vomSeptember 1997; das wurde dann geradenoch etwas verbessert in: „Kultur muß auchgefallen“.12

7. Musik als „Maskierungs-pegel“

Gerade die allgegenwärtige Musik eignetsich besonders gut dazu, als Ästhetisierungdes Alltags irgendwie störende bis oppositio-

nelle Regungen zu sedieren und umzulen-ken, seien diese Regungen triebhafte odereher gedankliche. Zur ablenkenden Verne-belung findet sich allemal eine passende Musik.

Der wohl am weitesten verbreitete Miss-brauch von Musik ist also ihre Verwendungals täuschender Schein, als „Maskierungspegel“von Mängeln der Realität weniger im unmit-telbar akustischen als vielmehr im übertrage-nen Sinn. So wird, gerade auch in kommer-ziellen Kontexten, nach wie vor gern dazuMusik verwendet, um etwa im Interesse vonKaufräuschen störende Geräusche oder Ge-danken abzuschalten, während in staatlich-politischen Kontexten überlaute Lautsprecher-musik (gern „volkstümliche Musik“) oder gleichHubschrauber- oder Tieffliegerlärm Protest-musik wie Protest übertönt und zum Schwei-gen bringt.

8. Gebraucht: progressivepolitische Musik

Der rechte Gebrauch von Musik ist der„linke“: Musik als Ausdruck und Vermittlungvon zukunftsträchtigen, allgemeinen undgrundlegenden Wünschen, Bedürfnissen undInteressen. Trotz der Vielfalt der politischenMusik und ebenso ihrer Funktionen gibt eshier also einen Kernbereich. Von ihm aussind Arten und Grade von Gebrauch wieMissbrauch der Musik bestimmbar.

Hier liegt auch der Kern des berechtigtenpolitischen „Gebrauchs“ von Musik: Nichtetwas, das ihr von außen als „außermusikali-sche“ Indienstnahme angetan würde, sondernetwas, das ihrem humanen Wesen gemäßist. Daher kommt es darauf an, dass die mit

Musik Befassten nicht sich vom Mas-kierungspegel übertönen lassen, klang-los schweigen und verstummen, son-dern musikalisch Konkretes und sozialBedeutsames aussprechen.

Es geht insgesamt um einen nichttechnizistisch verkürzten und herr-schaftstechnisch verfälschten, um-fassenden gesellschaftlichen Fort-schritt: eben eine Welt ohne Hungerund Angst. Sie ist nicht nur möglich,sondern nötig. Musik gegen unter-drückende Gewalt, Musik als gewalt-lose Macht wirkt als sinnlich-über-zeugende, ästhetische wie emotivewie kognitive Aufklärung und kannmachtvoller Einspruch werden gegenüberholte Herrschaft, gegen Hunger,Unterdrückung und Krieg.

Solche Musik wird politisch ge-braucht, und es würde noch weit mehrvon ihr gebraucht als Ausdruck wieals Mittel gesellschaftlicher Befreiung.

1 Der Spiegel, Hamburg, 19/2007, S. 148.2 Ein Beispiel für viele: Der Spiegel in der Nummer 47(2006): „Die Deutschen müssen das Töten lernen. Wirsagen, wir werden das niemals mehr lernen wollen. Wirwollen eine Politik, die das nicht mehr im Programm hat,die Option des Krieges.“ So der Theologe Eugen Drewer-mann in einem Vortrag am 8. April bei der 104. Protest-wanderung in der Ruppiner Heide in Fretzdorf, zit. nachJunge Welt, Berlin, 8.05.2007, S.10.3 Ausf. dazu Lukas 16, 19-25. Die Umkehrung der Ver-hältnisse im Jenseits erscheint im Übrigen auch fürsDiesseits vielversprechend und lehrreich.4 Ausf. zu diesem Feld besonders: Senghaas, Dieter:Klänge des Friedens. Ein Hörbericht, Frankfurt a. M.2001.5 Mithen, Steven: The Origins of Language, Mind andBody, London 2006, S. 215.6 In: Krueger, Joachim: Ästhetik der Antike, Berlin undWeimar 3. Aufl. 1989, S. 17.7 Mattheson, Johann: Der vollkommene Kapellmeister,Hamburg 1739.8 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien derPhilosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswis-senschaft im Grundrisse [1821], § 182, Zusatz (Werke in20 Bänden), Frankfurt a. M. 1970, S. 339 f.9 Hegel 1821, § 243, S. 389.10 Hegel 1821, § 185, Zusatz, S. 343.11 Hervorhebung vom Autor.12 Zit. n. Sächsische Zeitung, 30.9.1997, S. 17.

Der Autor:Dr. Hanns Werner Heister, Professor für Musikwissen-schaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg,veröffentlichte zu Musikästhetik, Musiksoziologie undMusikgeschichte, zu politischer, populärer und NeuerMusik, Musik im Nazismus, im Widerstand und im Exil,Opernästhetik und -geschichte, Medien, Musikanthro-pologie, zu Beziehungen zwischen Musik und anderenKünsten, u. a. Das Konzert (1983), Jazz (1983), Vomallgemeingültigen Neuen. Analysen engagierter Musik(2006); in Vorbereitung: Musik und Macht.

„Elektrische“ Hinrichtung: Die Assoziation von Strauss' avan-ciertem Werk Elektra mit einer Hinrichtung auf dem elektri-schen Stuhl ist ein makabrer Scherz – besonders heute, woMusik häufig für Folterungen missbraucht wird.Zeichnung: F. Jüttner, aus: „Der zerpflückte Strauß“, Verlag der Lustigen Blätter, Berlin[vermutlich 1909]

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FOKUS

FÜR DAS MEDIUM MUSIK

In Heiligendamm fand rund um den G8-Gipfel eine Vielzahl von Protest-Konzertenstatt. Der ehemalige Vizepräsident der USA,Al Gore, rief zum „Live Earth“-Festival, dasmit Konzerten auf allen Kontinenten zumweltgrößten Protest-Popspektakel werdensollte. Und in Berlin startete das neue Schul-jahr mit einem Konzert am BrandenburgerTor, das sich gegen Gewalt an Schulen aus-sprach – auch wenn der liebe Friede vomAggro-Rapper Bushido gestört wurde.

Diese Beispiele könnten die Vermutungaufkommen lassen, dass wir 40 Jahre nachder Hippie-Bewegung – mit ihrem Mix auspolitischem Engagement und Hedonismus –eine neue Generation von politischer Pop-kultur vor uns haben. Doch darf man sich vonden Bildern dieser globalen Ereignisse nichtblenden lassen. Denn der politischen Event-kultur stehen Entwicklungen gegenüber, diebelegen, dass sich der Umgang der Jugend-lichen mit Musik verändert hat, was nichtohne Folgen bleibt für den Stellenwert derMusik als Identifikations- und Distinktions-merkmal: Die Umsatzrückgänge im klassischenTonträgermarkt sind gigantisch, allein von 1997bis heute haben sich die Verkäufe halbiert.Durch das Downloaden von Einzeltracks undKlingeltönen verliert die Kunstform eines Al-bums an Bedeutung. Die Vielfalt der im öf-fentlich-rechtlichen wie im privaten Rund-funk gespielten Titel wurde im Kampf umdie Quoten deutlich reduziert. Hinzu kommtder Boom der Casting-Shows, die den Ein-

Keine trüben Zeiten

druck vermitteln, dass allein schon gutes Aus-sehen für eine Popstarkarriere genügt. DieInhalte, so scheint es, verlieren angesichts derschillernden Hülle an Bedeutung.

Also doch trübe Zeiten für die Musik alsMedium der politischen Bildung? Diese Fra-ge lässt sich nicht mehr ganz so leicht beant-worten wie zu Zeiten von Woodstock. Aberfür die Arbeit der Bundeszentrale für politi-sche Bildung steht am Ende der Betrachtungdennoch ein klares Nein. Denn nach wie vorist die Musik eine Kulturform des Alltags, eineniedrigschwellige Kultur, die uns ständig umgibtund ein großes Mobilisierungspotenzial be-sitzt. Eine Musikplattform wie myspace.comhat den klassischen Musikvertrieb fast ersetztdurch eine neue Form der globalen Kom-

munikation und des Vertriebs von Musik. Unddie gigantischen Besucher- und Einschaltquotenrechtfertigen die politischen Großkonzerte.Welche Alternative hätten Bob Geldof, Her-bert Grönemeyer, Al Gore oder Bono ge-habt, um Millionen Menschen auf Themenwie den Schuldenerlass für die ärmsten Län-der oder die globale Erwärmung aufmerk-sam zu machen? Zu untersuchen ist allerdings,welchen nachhaltigen Effekt diese punktuellstattfindenden Großereignisse haben und wieman ihr Potenzial durch langfristigere For-men der politischen Information und Bildungvia Musik ergänzen kann.

Große Sorgfalt ist zudem geboten beimUmgang mit der Frage, welche Aufgaben dieMusik im Rahmen der politischen Bildungübernehmen kann und wo gerade dem eherflüchtigen Medium der Popmusik die Gren-zen gesetzt sind. Denn wie der Musikwissen-schaftler Günter Kleinen in seinem AufsatzMusik als Medium der politischen Bildung fest-stellte, ist Musik „an sich politisch weder rechtsnoch neutral oder links … Musik kann nurdann zum Medium politischer Erziehung wer-den, wenn sie, in welcher Form auch immer,teilhat an den Dialogen zwischen Musik undden Menschen … Politisch bildende Wirkun-gen der Musik können nur in Dialogen er-reicht werden“.

Als einen Teil ihrer Arbeit verfolgt dieBundeszentrale für politische Bildung seit vielenJahren den Ansatz, Kunst und Kultur als Ele-mente der bildungspolitischen Arbeit zu nut-zen. Dabei geht es nicht darum, jener Gene-ration hinterherzurennen, der man eine großePolitikferne und ein tendenzielles Desinte-resse nachsagt. Vielmehr ist es das Ziel, dieJugendlichen dort abzuholen, wo sie in derFindung ihrer Persönlichkeit, ihrer Interessenaktuell stehen. Und dieser Standort ist einvehement anderer, als er vor 40 Jahren zuZeiten der Hippierevolution war.

Jahre nach dem „SummerOf Love“ scheint es einen

neuen Boom der politisch moti-vierten Konzerte zu geben, dersogar die Aufbruchstimmung von1985 mit dem ersten „Live Aid“-Konzert übertrifft.

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Politische Bildungsarbeit via Musik funktioniert, sagt Thomas Krüger

Veranschaulichtes Lebensgefühl: Die Wander-ausstellung „Rock! Jugend und Musik inDeutschland“ – im Bild das Poster – zeigt50 Jahre Rockgeschichte in Ost und West.

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Inmitten der Globalisierungsprozesse vonPolitik, Wirtschaft und Gesellschaft verlagertsich die Konstruktion des Selbst auf den Be-reich des Subjektiven. Nicht „die Gesellschaft“,nicht „die Demokratie“ sind die Bezugspunktefür Jugendliche, sondern der Bereich des Indi-viduellen. Ein Bereich, der einer solchen Viel-zahl von Reizen, Einflüssen, Angeboten undVerlockungen ausgesetzt ist, dass es wohl zukeiner Zeit schwieriger war, eine Orientie-rung zu finden. Die Gesellschaft der Erwach-senen wiederum scheint mehr denn je aneiner Jugend zu leiden, deren Sprache, Inte-ressen und Musik sie noch weniger verstehtals zu Zeiten des Punkrock.

An dieser Bruchstelle der Generationen mussdie politische Bildungsarbeit ansetzen. Sie darfniemanden marginalisieren oder gar abschrei-ben. Vielmehr kann sie die Popularität der Musikund ihrer Interpreten nutzen, um sogar politik-ferne, nicht-organisierte Jugendliche zu errei-chen und für die Werte des demokratischenSystems zu interessieren. Ihre Aufgabe der Ver-mittlung von politischen Inhalten, dem Erhaltder Demokratie und der Förderung eines Ver-ständnisses für politische Sachverhalte kann diepolitische Bildung aber nur erfüllen, wenn ihre„Nutzeroberflächen“ zeitgemäß und – an denrichtigen Stellen – niedrigschwellig genug sind,um die Jugendlichen anzusprechen. Jugend-kultur – und damit natürlich auch die Musik –ist der unmittelbarste Ausdruck der Subjekti-vität der Jugendlichen. Sie liefert den Wegwei-ser zu den alternativen Orten politikrelevanterAusdrucksformen. Zugleich ist die Musik einKatalysator der individuellen und gesellschaft-lichen Entwicklung. Ohne die erfolgreich prak-tizierten Formen der politischen Bildungsar-beit zu vernachlässigen, können Kunst undKultur dazu genutzt werden, Formen, Inhalteund Orte politischer Bildung zu erneuern.

Die Bundeszentrale für politische Bildung(bpb) hat die Bedeutung von Musik als Medium

der politischen Bildung erkannt und seit vie-len Jahren in zahlreichen Projekten umge-setzt, von denen hier nur einige wenige vor-gestellt werden können:

˜ Battle of the year (2002): Im Okto-ber 2002 fand in Braunschweig die 13. Break-dance Weltmeisterschaft (BOTY) statt. Über9 000 HipHop-Begeisterte erlebten die 16besten Breakdance-Gruppen der Welt. Miteiner breit angelegten Diskussionsrunde mitVertretern aus der weltweit bekannten Hip-Hop-Szene, der Popkultur und der Politik nahmdie bpb den Gedanken- und Erfahrungsaus-tausch der internationalen Szene auf.

˜ SchoolTour (2003): An mehreren Schu-len in ganz Deutschland wurden Musikpro-jektwochen durchgeführt. Jugendliche wur-den dabei mit Musikproduktionen und de-ren gesellschaftspolitischen Hintergründenvertraut gemacht.

˜ Africome (2004-2006): Mit CD-Com-pilations, Festivals (Afrika-Festival Würzburg,Afrika-Festival Potsdam) und zahlreichen Kon-zerttourneen wurde in Deutschland die Wahr-nehmung für Popkultur aus Afrika geschärft.Vertiefende Elemente wie Schulbesuche oderMusikworkshops haben die direkte Ausei-nandersetzung zwischen deutschen Jugend-lichen und Musikern aus Afrika ermöglicht.

˜ Rock! Jugend und Musik in Deutsch-land (seit 2005): Die Wanderausstellung zeigt50 Jahre Rockgeschichte in Ost und West.Mit rund 1200 Objekten macht sie die Viel-falt der Rockmusik und das Lebensgefühl ihrerInterpreten und Anhänger anschaulich undbindet diesen Bereich deutscher Alltagskul-tur in seine gesellschaftlichen und politischenKontexte ein.

˜ Berlin 05 Festival für junge Politik(2005): Das Festival präsentiert ein breitesSpektrum politischer Musik. Zum Repertoiregehören der klassische Protestsong, das Chan-son, „brachialromantische Balladen“, Kaba-

rett, Jazz, Rock, HipHop, Weltmusik und elek-tronisches Musiktheater. Verschiedene Musi-kergenerationen, alte und junge Barden tau-schen ihre Erfahrungen aus.

˜ Musik im Kontext politischer Bildung(2006): Veranstaltungsreihe, die Themen wie„Rock in der DDR“, „Blues&Trouble im Os-ten“ sowie „Jazz in der DDR und Osteuropa“fokussierte und das Ziel verfolgte, politischeLieder und Volkslieder als Reflexion von ge-sellschaftlichen Entwicklungen wahrzuneh-men.

˜ popKick (2006): Die arena Berlin ver-anstaltete parallel zur Fußball- WM in Deutsch-land im Treptower Park ein Open Air-Festi-val mit diversen diskursiven und inhaltlichenElementen, das sich mit Fußball und Politikin Ländern der südlichen Halbkugel beschäf-tigte. Die bpb steuerte hierzu eine Ausstel-lung über Fußball in Afrika bei, ein Cagesoc-cer-Turnier sowie einen Informationsstand.

˜ Popmusik aus Israel (2006): Im Rah-men des Festivals „popdeurope“ in Berlin wur-de im Jahr 2006 ein Themenabend zur Pop-musik aus Israel veranstaltet, bei dem Künstleraus Tel Aviv nicht nur Konzerte gaben, son-dern mit Schulbesuchen, Pressegesprächenund Ausstellungen dazu beitrugen, das schwie-rige Thema einer Jugend zu beleuchten, dieinmitten von Bombenanschlägen und (Bür-ger-)Krieg aufwächst, zugleich aber ihr ganzalltägliches Bedürfnis nach Musik und Partyausleben möchte.

Diese erfolgreichen Projekte haben bewie-sen, dass die politische Bildungsarbeit überdas Medium Musik funktioniert, wenn manim Vorfeld sehr genau untersucht, wie die Um-gangsformen der Jugendlichen mit dem je-weiligen musikalischen Stil und seinem Um-feld sind. Die Einbindung von Experten undjugendnahen Mittlern aus den Musikrichtun-gen ist essenziell, denn sie hilft, jene Form vonNutzeroberfläche herzustellen, die von denJugendlichen akzeptiert wird. Derart ausge-stattet können die Projekte Inhalte, Wissenund Verständnis vermitteln, den JugendlichenTeilhabe und Mitwirkung an gesellschaftli-chen Prozessen vermitteln und eine Sensibi-lität für die Vielfalt der kulturellen Ausdrucks-formen herstellen, die in der kommerziellenMedienwelt und der Musikindustrie nicht mehrgewährleistet sind.

Der Autor:Thomas Krüger studierte – nach Ausbildung zum Fach-arbeiter für Plast- und Elastverarbeitung – Theologie.Seine politische Karriere begann er als Gründungsmit-glied der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP)und Mitglied der DDR-Volkskammer. Zwischen 1991und 1994 war Krüger Senator für Jugend und Familie inBerlin, von 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bun-destages. Seit Juli 2000 ist er Präsident der Bundeszent-rale für politische Bildung.

Geschärfte Wahrnehmung für Afrika: Im Rahmen des von der Bundeszentrale für politischeBildung initiierten Projekts „Africome“ wurde mit Festivals, Konzerttourneen, Musikworkshopsund CD-Compilations (im Bild ein Cover) Begeisterung für die Vielschichtigkeit Afrikas geweckt.

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MUSIK�ORUM18

Die europäische Musikgeschichte bieteteine Fülle an Beispielen für einen politischenGebrauch von Musik: neben Krönungsmes-sen, Ratswahlkantaten, Siegessinfonien, Mi-litär- oder Revolutionsmusik vor allem Lie-der, deren Texte auf direkte politische Wirkungzielen. So z. B. Walter von der Vogelweides„Palästinalied“, das Reformationslied „Ein festeBurg ist unser Gott“, die deutsche National-hymne oder Kampflieder von Hanns Eisleraus den 1920er Jahren. Doch, so ließe sichgleich einwenden, wie sähe es mit der politi-schen Kraft dieser Lieder ohne die Texte aus?

Hat Theodor W. Adorno nicht Recht, wenner sagt, es gäbe weder einen sozialistischen nocheinen kapitalistischen Dreiklang und musi-kalische Formen und Strukturen funktionierteneinzig musikimmanent? Sind nicht gerade dieNicht-Diskursivität und das große Transzen-denzpotenzial von Musik Faktoren, die sie ausden Niederungen realpolitischer Verhältnis-se emporheben? Steht also das musikalischeTranzendenzpotenzial für das Unpolitischevon Musik ein?

Gegenentwürfe zum Alltag

Fragen über Fragen. Und dieser Fragen-katalog ließe sich beliebig fortsetzen, obwohlsich die Musikwissenschaft der vergangenenJahrzehnte dem Begriff der politischen bzw.

FOKUS

politisch engagierten Musik von verschiede-nen Seiten her zu nähern versucht hat (dazuzusammenfassend Heister 1997). Wo immeres um Gegenentwürfe zur soziopolitischenAlltagswelt und um Praktiken des Widerstandsging und geht, wird das Politische in Musikdingfest zu machen versucht: in den Liedernder Arbeiterbewegung, den Liedern der Lieder-macher nach 1945, der politisch ambitionier-ten Musik eines Hans Werner Henze oderLuigi Nono, dem US-amerikanischen Protest-song der 1960er Jahre, dem Polit-Rock undRock gegen Rechts, ja sogar im Free Jazz. Dochdie Diskussion bewegt sich im Kreis. DasPolitische von musikalischen Strukturen ver-flüchtigt sich bei genauerer Analyse. Es istund bleibt primär text- und kontextbasiert.

Rockmusik z. B. verfügt, sofern nicht voll-ends kulturindustriell vereinnahmt, über einbeachtliches „subkulturelles Kapital“, so SarahThornton (1995, S. 116 ff.). Das zeige sich inder Negation von tradierten Werten (Rolling

Stones: Satisfaction), in bissig-satirischen Songs(etwa der Mothers of Invention) oder Sound-collagen (Jimi Hendrix: Star Spangled Banner)und in gezielten verbalen Attacken (Bob Dylan:Masters of War). Die musikalisch-textliche Re-bellion gegen die Definitionsmacht im jeweilsherrschenden politischen System funktionierenach verschiedenen, sich gegenseitig verstär-kenden Aktionsmustern. Die Zersetzung be-stehender Wertvorstellungen im gesellschafts-politischen Bereich erfolge durch Unter-wanderung, Kommunikationsverweigerung,Als-Ob-Haltung, Pseudoaffirmation und/oderGeheimsprachenmetaphorik. Die popmusi-kalischen Strukturen allerdings stellen dabei,wie Simon Frith konstatierte (1983, S. 15),im Wesentlichen eine Art „Black Box“ dar. Siesind in die zur Entstehungszeit jeweils aktu-ellen auditiven und visuellen Codes einer so-ziokulturellen Gruppe symbolhaft eingebun-den und müssen vom Hörenden dementspre-chend decodiert bzw. „verstanden“ werden.

Helmut Rösing über ein komplexes Beziehungssystem:

Immer wieder werden der Musikbesondere, geradezu magische

Kräfte zugeschrieben. Und dasnicht nur, soweit es ihre Wirkungauf die menschliche Psyche undPhysis betrifft, sondern auch imHinblick auf die zentralen Bereichedes gesellschaftlichen Lebens,auf religiöse, soziale und politischeGegebenheiten.

UND MUSIK –PolitikMUSIKpolitische

Subkulturelles Kapital: Jimi Hendrix spielte die amerikanische Nationalhymne („Star SpangledBanner“) auf dem Woodstock-Festival mit verzerrten und jaulenden Tönen auf der E-Gitarre –Protest gegen den Vietnam-Krieg.

19MUSIK�ORUM

Was eigentlich ist Musik?

Die Problematik, die sich bei dem Ver-such ergibt, den Begriff der politischen Mu-sik derart mit Inhalt zu füllen, dass er sichauch jenseits der Textebene nicht ins Vageverflüchtigt, führt notgedrungen zu der zent-ralen Frage, was eigentlich unter Musik ver-standen wird. Die weit verbreitete Auffas-sung, Musik bestimme sich allein durch ihreformalen und strukturellen Eigenheiten, seialso, im Sinn Eduard Hanslicks, ein vornehmlichselbstreferenzielles Produkt tönend beweg-ter Formen, greift fraglos zu kurz und wirdder kommunikativen Kraft von Musik nichtgerecht. Das musikalische Produkt ist, wennes erklingt, immer in einen mehrdimensio-nalen Zirkulationsprozess eingebunden. Diemusikimmanente Ebene des musikalischenProdukts, die so genannte „reine“ Musik, stelltlediglich eine – und nicht einmal zwingenddie wichtigste – jener verschiedenen Kom-ponenten im Beziehungssystem Musik dar,die in der Fachliteratur gerne als „außermu-sikalisch“ marginalisiert werden (siehe dazuDahlhaus/Eggebrecht, 1985, S. 68 u. 139 ff.).

Der umgangssprachliche Musikbegriff istimmer mehrdimensional gewesen. Er kann,ohne dass dies explizit gesagt wird, die musi-kalische Produktionshandlung, die unterschied-lichen Vermittlungsschritte bis hin zur klin-genden Realisation des musikalischen Produkts,die Rezeption und verschiedene Stadien derWeiterverwertung umfassen. Bei Gesprächenüber Musik ergeben sich Verständigungs-schwierigkeiten häufig allein deswegen, weilnicht deutlich zwischen den einzelnen Ebe-nen des Musikbegriffs differenziert wird. Das

wiederum ist symptomatisch und verweistdarauf, dass die verschiedenen Ebenen desBeziehungssystems Musik direkt ineinanderverzahnt sind und eine unverbrüchliche Ein-heit bilden. Der Modellentwurf zum Bezie-hungssystem Musik (siehe Grafik oben) solldas verdeutlichen helfen. In ihm sind siebender für den musikalischen Zirkulationspro-zess bedeutsamen Stationen in Rubrik I („Mu-sik“) aufgeführt. Ihre Abfolge kann variieren,je nachdem, um welchen Musiktyp es sichhandelt (notiertes Werk, improvisierte Musik,im Studio erschaffene Musik), wie lange dasmusikalische Produkt bereits existiert undBestandteil von kultureller Tradition gewor-den ist (musikalische Prototypen) und wiehäufig Musik im Verlauf der Geschichte bereitsden Kreislauf der Neuinterpretation oder Wei-terverarbeitung durchgemacht hat.

Botschaften und Semanteme

Zu den sieben Stationen des Beziehungs-systems Musik sind in Rubrik II des Modell-entwurfs stichwortartig einige jener Kompo-nenten hinzugefügt, die das System Musik mitpolitischem Gehalt anreichern können: vonintendierten politischen Botschaften über somanche in die musikalische Struktur einge-schriebene Semanteme bis hin zu den vielfäl-tigen Beschriftungsmöglichkeiten verbaler, inter-pretatorischer, medialer und rezeptorischer Her-kunft. Auf diese Weise lässt sich das Politischeim Beziehungssystem Musik ohne Wenn undAber dingfest machen. Stimmen die politischenIntentionen bei der musikalischen Produk-tionshandlung mit den in das kodierte Subst-rat eingebundenen verbalen und den in die

musikalische Struktur des Produkts integriertensemantischen Beschriftungen überein, sohandelt es sich dabei um genuin politischeMusik. Beethovens Eroica ebenso wie seine9. Sinfonie sind hierfür wohl vertraute Bei-spiele (vgl. Rummenhöller, 1978, S. 201 ff.).

Erfolgt die politische Zuordnung dagegenüber interpretenbezogene, mediale bzw. re-zeptorische Beschriftungen oder aber durcheine Integration in neue gesellschaftspoliti-sche Kontexte und entsprechende neue Be-schriftungen (z. B. in Form einer ideologischenVereinnahmung des musikalischen Produkts),dann bietet es sich an, von politisierter Musikzu sprechen. Aber unabhängig davon, ob essich um genuin politische oder um politisierteMusik handelt, gilt grundsätzlich: Eine adä-quate Wahrnehmung politischer Botschaftenin Musik setzt ein weitgehend kongruentesReferenzsystem aller am musikalischen Zir-kulationsprozess beteiligten Stationen voraus.

Häufig jedoch kommt es nicht zur Deckungvon kompositorisch beabsichtigten, im Ver-mittlungsgeschehen enthaltenen und beim Hör-vorgang erfassten politischen Botschaften. Indiesem Fall sind drei weitere Rezeptionsfor-men möglich, die über das Politische odereben auch Unpolitische von Musik in einerkonkreten Rezeptionssituation entscheiden:

1. Das musikalische Produkt ist autonombzw. ohne politisches Intentionat. Im musika-lischen Zirkulationsprozess aber erfolgt ent-gegen der kompositorischen Absicht eineAufladung mit politischen Inhalten. So wur-de z. B. Franz Liszts sinfonische Dichtung LesPréludes allein deswegen zu politisierter Mu-sik, weil ein kurzes Zitat daraus die Rundfunk-meldungen des Wehrmachts-Oberkomman-

MUSIK�ORUM20

dos einzuleiten pflegte. Eine neue politischeBeschriftung im Zug einer medial initiiertenmusikalischen Weiterverwertung hat zu ei-ner Umfunktionierung des musikalischenProdukts geführt und ist für dessen Rezep-tion in nationalsozialistischer Zeit und weitdarüber hinaus prägend gewesen. Oder, umein Beispiel aus dem Bereich der Popmusikanzuführen: Der durchaus harmlose SongDancing In The Streets von Martha Reeves &The Vandellas (Motown) wurde nach derErmordung von Martin Luther King 1968kurzerhand zum Schlachtruf für Straßenkämp-fe in Detroit umgedeutet.

2. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar.Dem Intentionat nach politisch-funktionaleMusik unterliegt der Ästhetisierung. So wur-de französische Revolutionsmusik, die ichTeilnehmern eines Seminars über politisch-engagierte Musik zur Beurteilung vorgelegthatte, von ihnen ausschließlich nach forma-len und ästhetischen Kriterien beschrieben.Marschartige Versatzstücke und selbst einFinale mit Anklängen an die Marseillaise warenals symbolische Codes nicht stark genug, umin der abstrakten Seminarraum-Situation daspolitische Anliegen des musikalischen Pro-dukts in den Bewusstseinshorizont der Wahr-nehmung zu rücken. Ähnlich selbst erging esunlängst der Zuhörerschaft von Liedern, diedie tschechische Musiklehrerin Ludmilla Pes-karowa während ihrer Gefangenschaft inRavensbrück als klingende Dokumente derGrausamkeit geschaffen hatte. Obwohl dieLieder in der ehemaligen Textilfabrik desFrauenkonzentrationslagers zu hören waren,war ihre emotionale Kraft deutlich stärkerals die in den Texten mitschwingende politi-sche Aussage. Seelische Erschütterung, Kla-ge und die Sehnsucht nach Geborgenheitdominierten den Rezeptionsprozess (Knapp2003, S. 131 ff.).

3. Das Anliegen der an einer musikali-schen Produktions- bzw. Vermittlungshand-lung Beteiligten ist politisch motiviert. Das musi-kalische Produkt weist jedoch keine ersicht-lichen semantischen Beschriftungen mit po-litischer Konnotation auf. Dennoch wird demRezipienten ein wie auch immer geartetes poli-tisches Engagement durch zusätzliche Beschrif-tungen im musikalischen Zirkulationsprozessnahe gebracht: etwa durch entsprechend ein-deutige Songtitel (wie in den Benefizkonzer-ten nach dem 11. September 2001), durchStatements der Musiker in der Presse, im Inter-net, auf dem CD-Cover und nicht zuletzt durchdie Aufführungssituation selbst (in Verbin-dung mit politischen Kundgebungen und demVerkauf von entsprechenden Accessoires, wiein den gerade weltweit stattgefundenen Live-Earth-Konzerten).

Mit anderen Worten: Eingriffe in den Zir-kulationsprozess des Beziehungssystems Musikkönnen zur nachhaltigen Änderung musikali-scher Botschaften führen. In den Erläuterun-gen und Erklärungen zu Musikstücken wer-den meistens viele der Komponenten ausge-blendet, die zum musikalischen Zirkulations-prozess und folglich zum System Musik imganzheitlichen Sinn gehören. Eine derartigeBeschränkung auf das musikalische Produktist zwar bei musikwissenschaftlichen Analy-sen legitim, verfehlt aber, ohne Einbeziehungder Ergebnisse in das Gesamtsystem Musik,den analysierten Gegenstand (s. dazu Rösing/Petersen 2000, S. 19 ff.). Denn das rein musi-kalische Produkt ist, so die lapidare Formu-lierung von Hans Heinrich Eggebrecht, „ohneBegriffe“ (Dahlhaus/Eggebrecht 1985, S. 192);Begrifflichkeit entsteht erst im wie auch immergearteten Beschriftungsprozess der musikali-schen Zirkulation.

Ästhetisiert und umgemünzt

Bezeichnet man – so mein Vorschlag – dengesamten musikalischen Zirkulationsprozessim Beziehungssystem Musik als Musik undeben nicht als „Außermusikalisches“, dannkann Musik auf sehr vielfältige Weise politi-sche Kraft entfalten. Allerdings bleibt die poli-tische Botschaft nicht ein für alle Mal fixiert.Sie ist veränderbar, und zwar je nachdem,welche Beschriftungen dem musikalischenProdukt im jeweils aktuellen Zirkulationspro-zess zugeordnet werden. Genuin politischeMusik kann auf diese Weise ästhetisiert wer-den, ihre Botschaft umgemünzt, ihr Engage-ment für oder gegen eine politische Richtungverändert und ideologisch anderweitig ver-einnahmt werden. Ebenso kann auch ein derIntention nach erst einmal unpolitisches Musik-produkt je nach den speziellen Gegebenhei-ten der Weiterverwertung im musikalischenZirkulationsprozess politisiert werden.

Daraus folgt: Das musikalische Produktselbst, in der herkömmlichen Terminologie die„reine“ Musik, enthält keine konkrete Botschaft,also weder politisch noch männlich noch reli-giös usw. Denn hier handelt es sich um einRegelwerk von Tönen, Klängen und Zusam-menklängen, von Rhythmen, Motiven, Me-lodien u. a. m., die ihren Sinn in sich selbsttragen und gemäß den jeweils gültigen Ma-ximen des Musikmachens funktionieren.

Man mag die darin sich zeigende Begriffs-losigkeit musikalischer Produkte bedauern.Man kann diese Begriffslosigkeit aber auch alsihre besondere Stärke und als entscheiden-den Leistungsvorsprung z. B. gegenüber derSprache begreifen. Denn das musikalischeProdukt hat dank dieser Nicht-Diskursivitätein erhebliches Transzendenzpotenzial. Undgerade darum bietet es sich – in Verbindungmit den vielen zusätzlichen Beschriftungsmög-lichkeiten von der musikalischen Produktionbis hin zur Rezeption – als Projektionsflächefür Emotionen, Imaginationen und Assozia-tionen an. Jede musikbezogene Symbolbil-dung und Bedeutungszuweisung vollzieht sichmithin im mehrdimensionalen Feld des ge-samten Beziehungssystems Musik. In jederAnalyse und Interpretation von Musik in die-sem ganzheitlichen Sinn müssen die einzel-nen Stationen des Zirkulationsprozesses soexakt wie möglich erfasst und ihre Interaktio-nen offen gelegt werden, um z. B. eine politi-sche Botschaft dingfest zu machen, jedoch auch,um zugleich zu signalisieren, dass jede Be-deutungszuweisung in dem Maß revidierbarist, in dem sich die Beschriftungsbedingungenim Zirkulationsprozess ändern.

Literatur:Dahlhaus, Carl/Eggebrecht, Hans Heinrich: Was istMusik?, Wilhelmshaven 1985Frith, Simon: Sound Effects. Youth, Leisure and Politicsof Rock´n´Roll, London 1983Heister, Hanns-Werner: „Politische Musik“, in: Musik inGeschichte und Gegenwart, Sachteil Bd. 7, hg. v. LudwigFinscher, Kassel, Stuttgart 1977, Sp. 1661- 1682Helms, Dietrich/Phleps, Thomas (Hg.): 9/11 – Theworld´s all out of tune. Populäre Musik nach dem 11.September 2001, [ASPM Beiträge zur Popularmusikfor-schung 32], Bielefeld 2004Knapp, Gabriele: Frauenstimmen. Musikerinnen erinnernsich an Ravensbrück, Berlin 2003Rösing, Helmut/Petersen, Peter: Orientierung Musikwis-senschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000Rummenhöller, Peter: Einführung in die Musiksoziologie,Wilhelmshaven 1978Thornton, Sarah: Club Cultures. Music, Media and Sub-cultural Capital, Cambridge 1995

Der Autor:Dr. phil. Helmut Rösing war ab 1968 Musikredakteurbeim Saarländischen Rundfunk, seit 1978 Professor fürSystematische Musikwissenschaft an der Gesamthoch-schule/Universität Kassel und an der Universität Hamburg(1993-2004). Er hat zahlreiche Beiträge zur Musikpsycho-logie und zur Popularmusik-Forschung veröffentlicht.

Der erstePolitbarde?Walther vonder Vogelweideschrieb im 12.Jahrhundertsein politisch-religiösesPalästinaliedim Zusammen-hang mit demKreuzzug vonKaiser Friedrich II.

FOKUS

Politik und Laien-ChormusikIm Prinzip können wir zufrieden sein.

Die Chormusik erfährt viel Wertschätzungund Beachtung. Auf lokaler und regionalerEbene bekommen wir viel Unterstützungund Förderung. Es ist auch überhaupt keinProblem, hohe, ja selbst höchstrangigePolitiker zu Events der Chormusik einzula-den: Die kommen tatsächlich und beden-ken uns regelmäßig mit Lob und Anerken-nung in Fülle.

Präsidiumsmitglieder desDeutschen Musikrats äußern sich…

Allerdings wandelt sich das Bild einwenig, sobald es um handfeste Politikund die wirklich maßgebenden Rah-menbedingungen geht. Was sind diebedankenswerten und unverzichtbarenfinanziellen Unterstützungen, die dieKommunen und Länder der Chormusikspendieren, beispielsweise gegen die2,1 Mrd. Euro, die die öffentliche Hand2005/2006 allein für Oper, Theater undOrchester ausgegeben hat? Und dasind die Landesrundfunkanstalten nochnicht mal inbegriffen. Oder gegen die300 Mio. Euro, die der Bundeskultur-Staatsminister allein für die Kultur inBerlin ausgibt? Wo ist die Unterstüt-zung der Politik, wenn es um die

Abgabepflicht von Laienchören zur Künstlersozialkasse geht? Oderum die steuerliche Anerkennung von Mitgliedsbeiträgen zu Laien-chören?

Die Kulturpolitiker sind nicht zuständig, halten sich bedeckt oderbeschwichtigen allenfalls, überlassen das Feld kampflos den Fach-politikern aus den Bereichen Haushalt, Finanzen und Soziales, dieunsere Anliegen regelmäßig leider nicht unterstützen können, aber

immer wieder Trost bereit halten: „EineVerschlechterung der Situation ist nichtgewollt und auch nicht vorgesehen.“Gott sei Dank!

Fazit: An Sonntagsreden ist kein Mangel.Das Montagshandeln vermittelt allerdingsandere Eindrücke. Wir machen aber trotz-dem weiter. Vor allem in der Musik. Aberauch in dem unablässigen Bemühen, diePolitik zu überzeugen. Getreu dem Motto:Wir sind das bürgerschaftliche Engagement.

Kontakt zu Politikernüberlebenswichtig

Für die öffentlich finanziertenOrchester ist der Kontakt zu den poli-tischen Entscheidungsträgern in denLändern und Kommunen überlebens-wichtig. Die Deutsche Orchesterverei-nigung pflegt selbstverständlich Kon-takte zu zahlreichen Politikern.

Bei Gesetzesvorhaben, die denOrchesterbereich direkt betreffen,wie etwa die Novellierung des Urhe-berrechts, haben wir unseren Delegier-ten in den Orchestern und Rundfunk-klangkörpern empfohlen: Schreiben SieIhrem Abgeordneten.

Wünschenswert sind nicht nur Politiker, die sich für Musik inte-ressieren, sondern auch Musiker, die sich politisch engagieren.Ich persönlich habe mich vor fast fünfzehn Jahren dazu entschlos-sen, in der Kommunalpolitik aktiv zu werden. Dadurch kann ichmich vor Ort dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingungen für dasMusikleben stimmen.

A N Z E I G E

Hans-Willi HefekäuserPräsident der Arbeitsgemein-schaft Deutscher Chorverbände

Hartmut KarmeierVorsitzender der DeutschenOrchestervereinigung (DOV)

MUSIK�ORUM22

Wie eng die Beziehung zwischen der Musikund der Stadt ist, bezeugt auch die Tatsache,dass „Musik in den Städten“ eine eigenstän-dige bibliografische Kategorie bildet. Die meis-ten Arbeiten aus diesem Bereich sind derurbanen Verortung von Musik in einer be-stimmten historischen Zeitspanne gewidmetund behandeln in der Regel die Stadt als eineFolie beziehungsweise als das soziokulturel-le Setting, vor dem sich das Musikleben ab-spielt beziehungsweise in das es eingebettetist. Der Wert dieser teilweise minutiös aus-gearbeiteten Untersuchungen ist nicht zuüberschätzen, denn sie legen den Grundsteinfür die Pflege des kulturellen Erbes einer Stadtoder einer Region, dienen als Bausteine derkulturellen Identitätskonstruktion ihrer Bewoh-ner und nicht zuletzt als ein Tourismusmag-net, der es dem jeweiligen Besucher erlaubt,durch die physische Anwesenheit an den oftmit mythologischer Aura umgebenen Schau-plätzen musikalischer Vergangenheit seineZugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur-gemeinschaft zu bestätigen.

Nach Belegen dafür, dass es zwischen der Musik und der Stadt eineReihe von komplexen Wechselbeziehungen gibt, muss nicht lange

gesucht werden: Wiener Philharmoniker, Dresdner Staatskapelle, Ham-burgische Staatsoper, Salzburger und Bayreuther Festspiele, WienerKlassik und die zweite Wiener Schule – die Reihe der Beispiele, die auf dieHerkunft eines Klangkörpers, den Standort der Austragung musikalischerEreignisse oder auf das urbane Milieu verweisen, in dem bestimmte musi-kalische Strömungen ihren Ursprung haben, lässt sich beliebig fortführen.

Eine besondere Akzentuierung erfährt dieVerbindung der Begriffe „Musik“ und „Stadt“im Topos „Musikstadt“. Nach einer Defini-tion dessen, was darunter zu verstehen wäre,sucht man allerdings vergeblich. Dies über-rascht umso mehr, da zu den ersten Abhand-lungen zu diesem Thema bereits das 1905geschriebene Buch Paris als Musikstadt vonRomain Rolland (1866-1944) gehört. AuchRolland, bekannt vor allem durch seinenRoman Jean Christoph, der fiktiven Biografieeines Komponisten beethovenscher Prägung,definiert den Gegenstand seiner Untersuchungnicht, sondern konzentriert sich auf eine so-ziografische Darstellung des damaligen Pari-ser Musiklebens.

Rolland erklärt die musikalische Aufbruchs-stimmung seiner Zeit mit Bemühungen umeinen „Sieg der französischen Musik“ als Trä-ger des kulturellen (nationalen) Selbstbewusst-seins.1 In einem ähnlich politisch motivier-ten Zusammenhang ist auch die diskursivePrägung des Topos „Musikstadt Wien“ zu se-hen, einer Metropole, die sich als Musikstadt

versteht, als solche darstellt und als solcheauch von den Außenstehenden wahrgenom-men wird. Wie aus einer Untersuchung vonMartina Nußbaumer hervorgeht, wurde derTopos „Musikstadt Wien“ bereits seit dem19. Jahrhundert in den Dienst „einer geziel-ten Identitätspolitik […] zur Charakterisie-rung des österreichischen Nationalbewusst-seins“ herangezogen.2 Als signifikant hebt Nuß-baumer hervor, dass die Palette der Zuschrei-bungen von jener einer „‚deutschen‘ Musik-kultur, die ihre höchste Ausprägung in Ös-terreich gefunden hätte, bis hin zu einer rigoros‚österreichischen Variante‘ reichte, die mit an-deren, womöglich ‚internationalen‘ Musikkul-turen nichts zu tun“ haben sollte. Laut Nuß-baumer handele es sich bei diesem Deutungs-muster weniger um die (nicht zu vernachläs-sigende) künstlerische Produktion und ästhe-tische Kontroversen „im Feld der Musik“,sondern um die „spezifischen Konnotationenund Bedeutungen, mit denen Musikkulturaufgeladen wurde“, um über den Topos ‚kul-turelle Großmacht Österreich‘ bestimmte poli-tische Zielsetzungen zu verfolgen und dieherrschenden Machtverhältnisse zu festigen.3

Paradigmenwechsel

Seit spätestens Mitte der 1990er Jahreschmücken sich mehrere Metropolen mit demPrädikat „Musikstadt“. Dabei berücksichtigensie als Distinktionsmerkmal – auch das istein Novum – immer häufiger die Populäre

FOKUS

„Creative Cities“ setzen in ihrem Stadtmarketing immer mehr auf Musik.

VON DER MUSIK IN DER STADT

© Herzog & de Meuron

23MUSIK�ORUM

Musik. Diese Tendenz hängt zweifelsohneauch damit zusammen, dass populäre Mu-sikgattungen als „Sound of the City“4 vernom-men werden beziehungsweise dass ähnlichder „Mannheimer Schule“ und der „WienerKlassik“ auch Bezeichnungen wie ChicagoBlues, New Orleans Jazz, San Francisco Sound(Grateful Dead, Jefferson Airplane, Janis Jop-lin)‚ Liverpool Sound (The Beatles) oder dieHamburger Schule (Fettes Brot) auf charak-teristische, aus einem bestimmten urbanenMilieu hervorgehende musikalische Genresverweisen.

Weit mehr Einfluss auf die zunehmendeBedeutung von Musik im urbanen Milieu sowiedie Einbeziehung der Populären Musik in denTopos Musikstadt dürfen allerdings gravie-rende ökonomische, technologische undsoziale Veränderungen im breiten gesellschaft-lichen Umfeld ausüben. Sie betreffen Globa-lisierungsprozesse, die radikale Umstrukturie-rung der Weltwirtschaft, neue technologischeEntwicklungen, die De-Industrialisierung gan-zer Stadtteile und Regionen, den Zerfall her-kömmlicher sozialer Strukturen durch Plura-lisierungs-, Individualisierungs- und Singulari-sierungstendenzen, Veränderungen im Frei-zeitverhalten sowie die wachsende Produk-tion und den gesteigerten Konsum von kul-turellen Gütern. Alle erwähnten Sachverhaltesind eng miteinander verflochten und prä-gen sowohl neue Visionen über das künftigeZusammenleben in urbanen Konglomeratenals auch politische Handlungsstrategien.

Die Metaerzählung„Creative City“

Ein Schlüsselbegriff des neuen Paradigmasist die Kreativität. Diese Modevokabel – mitVorliebe in ihrer englischen Variante „creati-vity“ gebraucht – steht nicht nur stellvertre-tend für alles, was in gewisser Hinsicht als neubetrachtet werden kann, sondern bildet einpolitisches Zauberwort, mit dem man dendramatischen Umwälzungen in allen Lebens-bereichen Herr zu werden hofft. Die im poli-tischen Alltag übliche Rhetorik über die Bedeu-tung des Schöpferischen zeichnet sich durchdie Ästhetisierung des Diskurses, Optimismusund Zukunftsgläubigkeit aus. Hinter der ver-führerisch klingenden Beredsamkeit verbirgtsich jedoch die harte Realität des neo-libera-len Post-Fordismus: Creativity entlarvt sich alsein ökonomischer Faktor mit vermeintlich un-begrenztem Wertschöpfungspotenzial.

Theoretisch stützt sich der politische Dis-kurs vorwiegend auf die Arbeit von RichardFlorida5 und Charles Landry6. Die beidenPropheten des Kreativitätsglaubens gehendavon aus, dass in der post-industriellen Ge-sellschaft das größte Kapital einer Stadt ihreMenschen sind, insbesondere jene sozialeSchicht, die als „Creative Class“ gilt und de-ren Arbeit innovative und zugleich kommer-ziell verwertbare Artefakte hervorbringt. Fol-gerichtig seien nach Floridas Grundsatz„Human creativity is the ultimate economicresource“7 vor allem jene Städte (ökonomisch)

erfolgreich, die „kreativ“ sind, das heißt, dieins Zentrum ihrer städteplanerischen Strate-gien die Förderung der Innovation stellen.

In einem derartigen Kontext kommt derKultur noch aus einem anderen Grund einezentrale Rolle zu. Wie Klaus Schüle in seinemkulturwissenschaftlichen Beitrag zur Urbani-sierungsgeschichte mit dem Titel Paris. Diekulturelle Konstruktion der französischen Met-ropole8 belegt, stellt die Kultur bereits tradi-tionsgemäß einen wesentlichen Faktor des-sen dar, was die Eigenart einer bestimmtenGroßstadt ausmacht. In Paris spielen dabeieine wichtige Rolle die Quartiere Montmart-re, Quartier Latin und Saint Germain, die Schü-le als spezifische, durch die Kultur geprägteLebensräume vorstellt. Seine These belegt ermit der Darstellung der Lebensweise zweierkreativer Gruppierungen, der Avantgarde undder Bohème.

Der Lifestyle dieser Vorläufer der Creati-ve Class war bunt und laut und wurde bereitszu damaliger Zeit medial ausgeschlachtet.Sensationslüsterne Reporter hatten ein gro-ßes Interesse an den künstlerischen Nonkon-formisten, und auch die Bohème selbst sorg-te für Aufsehen, indem sie sich entsprechendschrill in Szene setzte. Ihre „organisierte Ver-rücktheit“9 konnte sie zwar nicht in bare Münzeumsetzen. Sie prägte aber bestimmte Vor-stellungen über ihr extravagantes Leben, diewiederum auf jene Stadtteile abfärbten, dievon ihr in Besitz genommen wurden. Diemeisten der einstigen Protagonisten sind bereits

ZUR MusikstadtVon Alenka Barber-Kersovan

Musikmetropolen: Hamburg ziert sich miteinem Prestigeobjekt der Superlative, der imBau befindlichen Elbphilharmonie (oben links).Mannheim positioniert sich mit seinem Musik-park (Bildmitte) als „Hauptstadt des Pop“ –und bringt den Puls der Stadt auf Präsenta-tionstourneen zum Klingen: Multimediawürfel„Klang der Quadrate“ auf dem PotsdamerPlatz in Berlin (oben).

Foto: Musikpark Mannheim/Mardo Foto: Tröster

MUSIK�ORUM24

FOKUS

lange tot. Was allerdings weiterhin lebt, istder Mythos von Paris, der sich tausendfachin der bildenden Kunst, im Film, in der Lite-ratur, aber auch in zahlreichen Chansons re-produziert. Der vor allem noch Generatio-nen später die Kassen jener füllt, die amImage-Design der einstigen Künstlerviertelnicht beteiligt waren und die nun die einsti-ge Magie dieser Orte als billige Souvenirs anSchaulustige aus aller Welt verscherbeln.

Creative Clusters unddie Renaissance derKünstlerviertel

„Kultur hat Konjunktur. Schon seit lan-gem. Kultur rechnet sich. Schon seit langem.Kultur zieht den Tourismus an, ist ein Stand-ortfaktor“, schlussfolgerte Klaus Schüle.10 Umdiese Einsicht oszilliert auch der gegenwärti-ge Diskurs über den Zusammenhang zwi-schen Musik und Stadt. Dem Kulturerbe imSinne einer Summe kreativer Leistungen derVergangenheit wird zwar nach wie vor einausgesprochen hoher Wert zugeschrieben. InBezug auf Sachverhalte wie Wettbewerbs-fähigkeit und Innovationskraft von Städtenunter dem Aspekt ihrer Wirtschaftlichkeit ha-ben aber an Wichtigkeit vor allem die „Crea-tive Industries“ gewonnen, worunter eine neuezusammenfassende Betrachtung der profes-sionellen Tätigkeit in den KultursegmentenVerlagswesen, Film, (Populäre) Musik, Mode,Architektur, Kunst und Design verstandenwird. Den allgemeinen Beobachtungen nachbefindet sich dieser Kulturbereich zurzeitweltweit im Aufschwung. Das Creative Clus-ters Network – ein Zusammenschluss vonkommerziell orientierten Kulturinitiativen –spricht von weltweiten Wachstumsratenzwischen sechs und 20 Prozent.11 Es soll ei-nen wichtigen Beitrag zu Wohlstand und Be-schäftigung leisten.

Obwohl konkrete Zahlen ebenso schwerzu eruieren sind wie die treibenden Kräfteder kulturellen Ökonomie (wachsende Zah-lungsfähigkeit, wachsender Freizeitetat, zuneh-mende Fragmentierung des Konsums vonKulturgütern, zunehmende Bedeutung vonProdukten und Serviceleistungen, die ihrenWert aus ästhetischen beziehungsweise se-miotischen Sachverhalten beziehen etc.), wirddie Stadtpolitik in diesem Bereich zunehmendgestalterisch tätig. Zum eine gehört dazu dieFörderung der Creative Clusters – auch dieseine grundlegende Taktik neo-liberaler Stadt-wirtschaft – durch Investitionen in die so ge-nannten Creativity/Innovation ConvergenceCentres. Darunter wird die Ansiedlung vonKleinbetrieben aus unterschiedlichen ästhe-tischen Bereichen in unmittelbarer räumlicher

Nähe verstanden, um die Zusammenarbeitzwischen den unterschiedlichen Sektoren zuinspirieren, neue Ideen zu generieren undaus ihnen vermarktbare Produkte zu entwi-ckeln. Beispiele dafür bilden der MusikparkMannheim12 und das Musikhaus Karostar inHamburg.13

Zum anderen kommt es aber neben derNutzungsumwandlung brachgelegter indus-trieller Infrastruktur in kulturelle Einrichtun-gen auch zur Umstrukturierung ganzer de-industrialisierter Quartiere in „Künstlerviertel“.In diesen großflächig angelegten kreativenMilieus rechnet sich die Kultur auf mehrfa-che Art und Weise: Sie ziehen Touristen an,sichern (zwar in der Regel prekäre) Arbeits-plätze und tragen mit ihrem Image zur bau-lichen und kulturellen Aufwertung ganzerStadtteile, freilich auch zu steigenden, vielfachüberhöhten Preisen auf dem Immobilienmarktbei. Auf der sozialen Ebene bewirkt insbeson-dere die Gentrification der Innenstädte dieVerdrängung der in der Regel sozial schwä-cheren Creative Class aus ihren ursprüng-lichen Quartieren zugunsten einer Klientel,die sich den neuen, kulturell und vielfach auchmusikalisch codierten Chic (Clubs, Platten-läden, Kaffees, Szenekneipen) eines Künst-lerviertels leisten kann.

Musik als Instrument desStadtmarketings

Durch die beschleunigte Globalisierungwerden die Städte anfälliger für die Auswir-kungen der Weltkonjunktur und unterliegeneinem verstärkten (internationalen) Wettbe-werb: Eine „Creative City“ ist deshalb stetsauch eine „Competitive City“, die im Kon-kurrenzkampf mit anderen urbanen Konglo-meraten um die Ansiedlung finanzkräftigerUnternehmen und den Zuzug von hochqua-lifizierten Arbeitskräften wetteifert. In diesemWettbewerb nimmt die Bedeutung des Image-Designs bzw. der Kommunikation der eige-nen Standortvorteile in einem atemberauben-den Tempo zu, wobei in den neuen Konzeptendes Stadtmarketings die Musik immer öftereine konstitutive Rolle spielt.

Neben den althergebrachten, auf beacht-licher historischer Substanz aufbauenden undzum Großteil auch von ihr zehrenden Mu-sikstädten wie Wien, Salzburg oder Bayreuthfinden sich deshalb auch Beispiele, in denendie Stadtpolitik durch teilweise großzügig finan-zierte Maßnahmen den eigenen Standort alsMusikstadt inszeniert, um ihre Wettbewerbs-chancen auf dem globalen Umschlagsplatzzu erhöhen. Über Hamburg kursierte beispiels-weise lange das Gerücht, die Kultur sei beiden „Pfeffersäcken eine entbehrliche Ware“14,

dem allerdings sowohl aufgrund historischerals auch gegenwärtiger Gegebenheiten wi-dersprochen werden muss: Die 1678 gegrün-dete Oper am Gänsemarkt war das ersteöffentliche Opernhaus in Deutschland undgilt nach wie vor als eines der besten Opern-häuser der Welt; das Musikleben der Hanse-stadt ist mit vielen großen Namen, darunterGeorg Philipp Telemann, Georg FriedrichHändel und Gustav Mahler verbunden; alsAufführungsort zahlreicher Musicals und Sitzvon Stage Entertainment und der Joop vanden Ende Academy, einer Berufsschule fürMusicaldarsteller, rühmt sich Hamburg gerneals die „Musical-Hauptstadt Deutschlands“15;die lebendige Hamburger Musikszene hateinen legendären Charakter etc.

Im Zentrum des aktuellen politischen Selbst-verständnisses von Hamburg als Musikmet-ropole steht allerdings keiner der historischverankerten und durchaus auch internatio-nal beachteten Musiksegmente, sondern dieim Bau befindende Elbphilharmonie16 – einPrestigeobjekt der Superlative: Sie ist mittenin der HafenCity, dem größten stadtentwick-lungspolitischen Vorhaben Europas situiert,hat Ambitionen, mit ihrer Ausstattung zu einemder zehn besten Konzertsäle der Welt zu avan-cieren und ein Programm mit Weltformat zubieten. Die imposante Architektur – ein Glas-bau auf dem roten Ziegelbau eines alten Kai-speichers, schon mit dem Material Traditionund Moderne verbindend – lässt Assoziatio-nen eines Schiffs zu und kodiert weitere The-men der Hamburgischen Identitätskonstruk-tion: das Wasser, den Hafen und den Handel.In dieser Eigenschaft soll die Elbphilharmo-nie – ähnlich wie das Opernhaus von Sydney– zum neuen Wahrzeichen der Hansestadtwerden und mit seiner weit über den Prunkeines Konzerthauses ausstrahlenden Signal-kraft symbolisch für den „Aufbruch in dieZukunft der ‚Wachsenden Stadt‘“17 stehen.

Auch Mannheim setzt in seinem Marke-tingkonzept auf Musik, allerdings nicht aufdie traditionsreiche „Mannheimer Schule“,sondern auf das Image der „heimlichen Haupt-stadt des Pop“ .19 Mannheim ist Sitz der Pop-akademie Baden-Württemberg und unterhälteinen hochentwickelten Musikpark, in demdiverse Studios, Labels und andere Kleinun-ternehmen aus dem Bereich der Popmusikuntergebracht sind. Das vom baden-württem-bergischen Staatsministerium für Wirtschafterarbeitete Förderkonzept basiert auf derAnnahme, dass die „Kreativität […] ein ent-scheidender Rohstoff hoch entwickelterGesellschaften im 21. Jahrhundert“ ist unddass in den „vielfältigsten Ausdrucksformenvon Popmusik und Popkultur […] dieses hoheKreativpotenzial in beeindruckender Weise

25MUSIK�ORUM

terdisziplinär angelegte theoretische Reflexio-nen über die dynamischen Zusammenhän-ge zwischen den strukturellen Rahmenbedin-gungen, dem Handeln politischer Akteure undder musikalischen Praxis ebenso wichtig wärenwie praxisnahe empirische Untersuchungen.Andererseits wäre aber auch die Musikpoli-tik gut beraten, sich mit diesem Thema aus-einanderzusetzen und sich aktiv an allen dieMusik und die Stadt betreffenden Entschei-dungen zu beteiligen.

1 vgl. Rolland, Romain (1905): Paris als Musikstadt,Berlin 1905.2 Nußbaumer, Martina: Musikstadt Wien. Die Kon-struktion eines Images, Freiburg 2008 (in Druck).3 Nußbaumer, Martina: „Der Topos ‚Musikstadt Wien’um 1900“, in: newsletter MODERNE. Zeitschrift desSpezialforschungsbereichs („Moderne – Wien undZentraleuropa um 1900“), 2001, 4/1, S. 20-23.4 vgl. Gillett, Charlie: The Sound of the City: The Rise ofRock and Roll, New York 1996.5 Florida, Richard: Cities and the Creative Class, London2004 und Florida, Richard: The Rise of the Creative Class… and how it’s Transforming Work, Leisure, Community& Everyday Life, Cambridge 2004.6 Landry, Charles: The Creative City: A Toolkit for UrbanInnovators, London 2000.7 Florida, 2004b, S. XIII.8 Schüle, Klaus: Paris: die kulturelle Konstruktion derfranzösischen Metropole, Opladen 2003.9 ibid., S. 32.10 ibid., S. 12.11 vgl. www.creativeclusters.com12 vgl. www.musikpark-mannheim.de13 vgl. www.karostar.de14 Dittrich, Marie-Agnes: Hamburg: Historische Stationendes Musiklebens mit Informationen für den Besucherheute, Laaber 1990, S. 7.15 www.hamburg-information.de16 Briegleb, Till: Eine Vision wird Wirklichkeit. Auf histo-rischem Grund – die Elbphilharmonie entsteht, Ham-burg 2007.17 http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/kulturbehoerde/rechte-spalte/elbphilharmonie.html18 www.klangderquadrate.de/ und www.stadtmarketing-mannheim.de19 Palmer, Christoph E. (Hg.): Empfehlungen derArbeitsgruppe: Förderung der Popular- und Jugend-musik in Baden-Würtemberg, Stuttgart 2002, S. 7.20 vgl. Cohen, Sara: Decline, Renewal and the City inPopular Music Culture: Beyond the Beatles. Aldershot2007.21 Begriff geprägt von Tim Carter, in: Kaden, Christianund Volker Kalisch (Hg.): Musik und Urbanität, Essen2002.

Die Autorin:Dr. Alenka Barber-Kersovan ist Geschäftsführerin desArbeitskreises Studium Populärer Musik e. V. (ASPM) undLehrbeauftragte am Musikwissenschaftlichen Institut derUniversität Hamburg.

zum Ausdruck“ kommt.19 Dementsprechendfeierte Mannheim, das als Anspielung an diequadratische Auslegung der Innenstadt mitdem Motto „Pop im Quadrat“ für sich wirbt,in diesem Jahr auch seinen 400. Geburtstagvorwiegend (pop)musikalisch. Einen wichti-gen Bestandteil der Feierlichkeiten stellte dasvom Stadtmarketing Mannheim konzipierte(und gesponserte) Kultur- und Kommunika-tionsprojekt dar, mit dem sich die Jubilarinauch in vier anderen deutschen Städten prä-sentierte. Neben zahlreichen Konzerten undSoundinstallationen mit dem Titel „Puls derStadt“ bildete das Herzstück des Vorhabensder Multimediawürfel „Klang der Quadrate“mit einem Hörwald und einem Klanglabor,in dem Besucher während der zweimonati-gen Tour ca. 5000 neue Stücke einspielten.Ferner wurde der Jubiläumssong Meine Weltkomponiert, der per Internet für ein Recyc-ling zur Verfügung gestellt wurde und zu ei-nem Mix-Wettbewerb einlud.

Handlungsbedarf

Der Zusammenhang zwischen Musik undStadt, bereits in der Geschichte ein brisantesPolitikum, scheint im Zuge der Durchökono-misierung aller Lebensbereiche stark an Be-deutung zu gewinnen, sowohl in Bezug aufdie Gestaltung der Städte als physische Subs-tanz als auch für deren Imagination als men-tale Repräsentanz. Charakteristisch für die be-obachtbare Kulturalisierung urbaner Konglo-merate sind neben der Festivalisierung derStädte durch Groß-Events die wachsende Rolledes Musiktourismus, die Neubelebung de-industrialisierter Stadteile durch kulturelle Akti-vitäten, die Instrumentalisierung der Musikals Marketinginstrument sowie die Förderungder Creative Industries unter dem Aspekt derBeschaffung von Arbeitsplätzen und der Ein-flussnahme auf andere Wirtschaftsbereichedurch Synergie- und Spillover-Effekte.

Ob die Musik neben der symbolischen aucheine ökonomische Schlüsselfunktion der städ-tischen Entwicklung einnehmen kann, istallerdings fraglich. In Bezug auf die Bundes-republik kann zu diesem Zeitpunkt noch keineEvaluierung vorgenommen werden, denn dazufehlen entsprechende Studien. Einige eng-lische Untersuchungen dämpfen allerdings dieeuphorischen Erwartungen an „Creative Ci-ties“ bzw. berichten über gescheiterte Pro-jekte, wie etwa das 1999 eröffnete NationalCentre for Popular Music in Sheffield, ein Pop-musik-Museum, das mangels Interesse nachkurzer Betriebszeit schon wieder geschlossenwurde.20 Aus diesem Grund ist einerseits dieMusikwissenschaft berufen, sich verstärkt einer„urban musicology“21 zu widmen, wobei in-

Präsidiumsmitglieder desDeutschen Musikrats äußern sich…

Auf gleicher AugenhöheEin stereotypes Verhältnis zwischen

„Musik und Politik“ oder – um es allge-meiner auszudrücken – „Zivilgesellschaftund Staat“ gibt es nach meiner persön-lichen Erfahrung nicht. Grundsätzlich vonenormer Bedeutung ist meines Erachtens,dass sich Zivilgesellschaft und Staat bzw.die dabei agierenden Personen als Partnerauf gleicher Augenhöhe bei der Umset-zung gemeinsamer Vorhaben verstehen.Es wäre daher wünschenswert, wennBegriffe wie „Zielvereinbarung“ oder„Leistungsvereinbarung“ sowohl im All-tag, als auch im Zuwendungsrecht einegrößere Bedeutung spielen würden.

Persönlich erlebe ich eine sehr engeund vertrauensvolle Zusammenarbeit mitverschiedenen Politikern und Zuwen-dungsgebern, weiß jedoch, dass diesleider nicht als die Regel im DrittenSektor angesehen werden kann.

Erik HörenbergGeschäftsführer der Bundesvereinigung DeutscherOrchesterverbände

MUSIK�ORUM26

FOKUS

der Pädagogik über das Laienmusizierenund das berufliche Musizieren bis hin zurMusikwirtschaft. Aber letztlich haben siealle ein Ziel: ein lebendiges, vielgestaltigesMusikleben – eines, das sich in seinenAusformungen mit der Zeit immer weiter-entwickelt. Genau an dieser Bündelungder Interessen muss der Musikrat ansetzenund hilfreich sein.

Welche musikpolitischen Ziele ver-folgt der Musikrat aktuell?

Krüger: In den unmittelbar zurücklie-genden Jahren haben wir mehrere Fach-tagungen zu zentralen Themen durchge-führt: Musik im dritten Lebensalter, Inter-kultureller Dialog, Zukunft der Musikbe-rufe, Musikvermittlung, Musik in der Ganz-tagsschule. Jetzt wird es darum gehen, zudiesen Grundsatzfragen wirklich Modelleund Netzwerke zu entwickeln, Anstößezu geben, damit wir im Sinne der gewon-nenen Erkenntnisse wirksam werden kön-nen. Es wird also jetzt verstärkt eine Phaseder praktischen, das heißt: auch der poli-tischen Umsetzung der daraus entstande-nen Forderungen kommen müssen.

Darf man daraus schließen, dass derMusikrat – in der Vertretung der Mitglieder-interessen – mehr ist als ein Lobbyist?

Krüger: Der Deutsche Musikrat mussLobbyist sein im Sinne der unumgäng-lichen Positionierung der Musik und ihrerAnliegen im Reigen und Wettstreit derpolitischen Handlungsfelder. Er muss aberAnwalt sein im Sinne einer differenzierten,die Aufgabe als Ratgeber der Politik unddie Komplexität der Thematik Musikwiderspiegelnden Handlungsweise unddes Diskurses.

Welche Rolle können dabei dieProjekte des Musikrats spielen?

Krüger: Originär sind unsere ProjekteErgebnisse musikpolitischer Erkenntnisse.Sie sind das Bindeglied zwischen dem

„Es geht um ein lebendiges, vielgestal-tiges Musikleben“: Martin Maria Krüger,Präsident des Deutschen Musikrats (DMR).

»DEUTSCHLAND MUSS

BLEIBEN«

Martin Maria Krüger zur Politik des Deutschen Musikrats:Es wird immer gesprochenvon Politik als der Kunst

des Möglichen. Umgekehrt istin unserem Fall Musikpolitikdas Ermöglichen von Kunst unddurch Kunst.“

Es liegt nahe, dass der Präsident des Deut-schen Musikrats, Martin Maria Krüger, dieDefinition von Politik nahe an sein ureige-nes Themenfeld rückt. Er vertritt – gemein-sam mit Präsidium und Generalsekretär –deutsche Musikverbände, und die Wahrneh-mung und Bündelung der Verbandsinteres-sen führt zwangsläufig in den politischen Raum,wo es nicht nur um Fördermittel, sondernauch um Überzeugungsarbeit, um Impulsefür Projekte und Initiativen und den Erhaltdes bunten Kulturlandes Deutschland geht.

Für das MUSIKFORUM sprach Chris-tian Höppner mit Martin Maria Krüger.

Worum geht es in der Musikpolitik?Krüger: Musikpolitik muss für uns be-

deuten: angemessene Rahmenbedingungenfür ein lebendiges Musikleben zu befördern.Der Deutsche Musikrat wird traditionellstark identifiziert mit seinen bedeutendenProjekten, vor allem mit „Jugend musiziert“oder dem „Dirigentenforum“ (siehe Artikelauf der rechten Seite). Nach seiner Satzungmuss er im Rahmen gesamtgesellschaft-licher Verantwortung Beiträge zur Verbes-serung der Musikkultur leisten. Lieber wür-de ich allerdings das Wort „Weiterentwick-lung“ verwenden, denn die unmittelbareQualität der Musik hat ja etwas mit denausübenden Künstlern und Pädagogen undweniger mit den Funktionären zu tun. Wirmüssen darauf hinarbeiten, dass Deutsch-land im Sinne der Formulierung des wun-derbaren José Antonio Abreu aus Vene-zuela das „patria de la musica“, das Vater-land der Musik, bleibt – in einer sich wei-terentwickelnden Zeit. Das hat etwas mitder Breite des Musiklebens zu tun. Unddamit, dass unser Land ein Land der Musikauf allen Ebenen und in allen Bereichender Gesellschaft ist. Darauf müssen wir hin-wirken. Der Musikrat muss die Interessenseiner Mitglieder bündeln und gewisser-maßen aus dieser Bündelung heraus einenMehrwert, nämlich ein Ganzes schaffen.

Was verstehen Sie unter: „ein Ganzesschaffen“?

Krüger: Unsere Mitglieder kommenaus allen Bereichen des Musiklebens: von

patria de la musica

Erkennen handlungspolitischer Notwen-digkeiten und der Verlebendigung imMusikleben. Das heißt, sie müssen natür-lich weiterentwickelt und hinterfragtwerden. Sie müssen sich vielleicht auch –zusätzlich zu den langfristigen Projekten –zunehmend um temporäre Initiativenerweitern, die wichtige Zeichen setzenund auch Pilotcharakter haben können.

Sie sind – neben Ihrer ehrenamt-lichen Arbeit als Präsident und Aufsichts-ratsvorsitzender des Musikrats – Konserva-toriumschef, Lehrer und aktiver Musiker.Was überwiegt bei Ihnen: der Funktionäroder der Musiker?

Krüger: Würde ich behaupten, imAugenblick mehr Musiker zu sein, nähmemir das niemand als glaubhaft ab. Aber ichhoffe, die tägliche Sehnsucht nach demeigenen Musizieren wird wach bleibenund die naturgemäß zeitlich begrenzteTätigkeit als Musikratspräsident überdau-ern. Während meiner Amtszeit sollte sieder Motor meines Handelns sein.

Foto

: Eichstäd

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27MUSIK�ORUM

Musikpolitische Erkenntnisse müssen in Hand-lungen, sprich: konkrete Projekte münden.Doch nur wenn diese Projekte sich später auch„hinterfragen und weiterentwickeln“ – soDMR-Präsident Krüger (siehe Interview links)– gestaltet sich die Musikszene wirklichlebendig. Ein Beispiel für kontinuierliche Ent-wicklung und Erweiterung ist das „Dirigen-tenforum“ des Deutschen Musikrats.

Das Projekt bietet dem dirigentischenNachwuchs seit 16 Jahren eine Plattform,um unter professionellen Bedingungen Pra-xiserfahrungen zu sammeln. Nun soll erstmalsein speziell auf Chordirigenten ausgerich-tetes Ergänzungsprogramm folgen.

Nach der politischen Wende erfolgte ineinem zähen, aber kreativen Ringen die Zu-sammenlegung der bis dahin unabhängigagierenden Dirigentenkurse der ostdeutschenDirektion für Theater und Orchester undder vom (West-)Deutschen Musikrat ver-anstalteten „Konzerte Junger Künstler“ zumDirigentenforum. Dieses Förderprogrammhat zahlreichen Dirigenten an der Schwellevom Studium zum Berufsleben als wichtigesSprungbrett gedient.

Im Zentrum der Arbeit steht der Wunsch,den dirigentischen Nachwuchs gezielt zufördern und auf dem Weg in den harten Wett-bewerb des deutschen und internationalenMusiklebens aktiv zu begleiten. Während Sän-ger und Instrumentalisten mehr oder weni-ger unbegrenzte Übemöglichkeiten haben,müssen Dirigierstudenten sich zumeist mitdurch Klaviere simulierten Orchesterprobenbegnügen. Dieser Situation begegnet das Diri-gentenforum, indem es den talentiertestenKandidaten die Möglichkeit bietet, mit pro-fessionellen Orchestern wertvolle, praxisnaheErfahrungen zu sammeln. Unter den Dirigen-ten und Kapellmeistern der jüngeren Ge-neration finden sich mittlerweile viele, diedas Förderprogramm durchlaufen haben.

In einem weiteren Schritt soll nun dasDirigentenforum auf den Chorbereich er-weitert werden. Auslöser dieser Initiative istder bei genauerer Betrachtung festzustellendeUmstand, dass die künstlerische Verantwor-tung in deutschen Profichören zunehmendvon Dirigenten wahrgenommen wird, dienicht in Deutschland ausgebildet wurden.

Besonders markant ist die Situation bei denRundfunkchören. Hier ist mit Hans-Chris-toph Rademann (RIAS Kammerchor) nurnoch ein deutscher Chefdirigent im Amt. ImBereich der Opernchöre ist die Situation nochnicht so gravierend, doch bleibt die Befürch-tung, dass – ähnlich wie in der Orchester-landschaft vor etwa 20 Jahren – die Domi-nanz der im Ausland ausgebildeten Dirigentenzunimmt und zu einem Rückgang der Stu-dierenden an deutschen Hochschulen führt.

Das zweistufige, auf maximal vier Jahreangelegte Förderangebot ermöglicht den Sti-pendiaten die Arbeit mit professionellen Chö-ren. Ziel ist es, die Teilnehmer in der Weiter-entwicklung ihrer künstlerischen Kompetenz– ergänzend zur handwerklichen Ausbildung– unter professionellen Bedingungen zu un-terstützen. Die Bewerbung erfolgt zunächstper Video, dem sich ein Auswahldirigierenmit Chor anschließt. Die Auserwählten arbei-ten dann mehrmals im Jahr in mehrtägigenWorkshops mit Berufschören, aber auch hochqualifizierten semiprofessionellen Ensembles.Am Ende der Förderung kann im Rahmeneines Abschlusskonzerts der von der Deut-schen Orchestervereinigung gestiftete „Preisdes Dirigentenforum-Chor“ in Höhe von5000 Euro vergeben werden.

Jörg-Peter Weigle, Professor für Dirigierenan der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“in Berlin und engagierter Unterstützer derersten Stunde des Dirigentenforums , bringtdie Erwartungen des erweiterten Angebotsauf den Punkt: „Ich erwarte, dass der Stellen-wert der Chordirigenten im kulturellen Ge-füge gestärkt wird. Damit wird auch ein qua-litativer Schub für die gesamte deutsche Chor-szene verbunden sein. Spitze gibt es nur aufbreiter Basis. In der Spitzen- und Basisarbeitsind uns leider andere Länder deutlich vo-raus. Ob es ein Zufall ist, dass diese Länderin ihren Bildungsanstrengungen erfolgreichersind als wir, weiß ich nicht; bemerkenswertist es allemal. Dies ist ein Programm, dasdurch Spitzenförderung eine große Breiten-wirkung entfalten wird.“

Bernhard HeßChormanager RIAS-Kammerchor Berlin

(Kooperationspartner des Dirigentenforum-Chor)

U www.musikrat.de/dirigentenforumU www.dirigentenforum.eu

Dirigentenforum: Ein Projekt entwickelt sich weiter

CHORSPEZIALISTEN gesucht

A N Z E I G E

MUSIK�ORUM28

Die 60er und 70er Jahrewaren politisch bewegte

Zeiten, wobei die politischenBewegungen ihren Widerhallauch in der Musik fanden.

Der amerikanische Folksong, das neue la-teinamerikanische Lied, die griechische „volks-tümliche Kunstmusik“ und andere Liedbe-wegungen erlebten damals einen großen Auf-schwung. In der DDR entstand die Singe-bewegung, und das „Festival des politischenLiedes“ (1970-1990) wurde eine feste Größein der internationalen Folk- und Liedermacher-szene. Alljährlich trafen sich rund 50 Künst-ler und Gruppen von verschiedenen Konti-nenten in Berlin, darunter Miriam Makeba(Südafrika), Quilapayún (Chile), Pete Seeger(USA) und Mikis Theodorakis (Griechenland),Floh de Cologne, Hannes Wader und Zupf-geigenhansel aus der BRD sowie ReinholdAndert, Gerhard Gundermann und Hans-Eckardt Wenzel aus der DDR. Das Festivalwar eng verknüpft mit der Zeitgeschichte der70er und 80er Jahre, mit Vietnam und Chile,mit Kaltem Krieg und Mauer, mit Friedens-bewegung und Kampf gegen Apartheid, mitStagnation, Modernisierungsversuchen undschließlich dem Zusammenbruch des Staats-sozialismus.

Im Februar 2000, 30 Jahre nach dem ers-ten Festival, veranstaltete der Verein Lied undsoziale Bewegungen ein neues „Festival despolitischen Liedes“ und knüpfte damit an eineTradition an, die Zeitgeschichte gewordenwar – und die, wie Birgit Walter in der Ber-liner Zeitung schrieb, „geliebt und gehasst“wurde „wie die DDR“. Erwartungsgemäß tatenviele Kritiker das Festival als „Veteranentref-fen“ ab: „Das Festival des politischen Liedesist auferstanden – als Ruine“, schrieb der KölnerStadtanzeiger. Die Berliner Zeitung fand jedoch:

„In dieser neuen kleinen Form könnte dasFestival noch mal von vorn anfangen.“

Während das Festival in den 80er Jahreneine große, staatlich geförderte Musikveran-staltung war (Budget: ca. eine Million DDR-Mark), ist das heutige „Festival Musik undPolitik“ ein kleines Low-Budget-Musiktreffenvor allem mit inländischen und mit nur we-nigen ausländischen Künstlern. Es wird vondem gemeinnützigen Verein Lied und sozia-le Bewegungen veranstaltet, der immer wiederneue Kooperationspartner und Sponsoren su-chen muss, um das Festival überhaupt durch-führen zu können. Bewährte Partner sindu. a. der Dachverband für Lied, Folk und Welt-musik PROFOLK, die Liederbestenliste, dasKulturamt Pankow in Berlin, die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stif-tung. Von einer gesicherten Förderung kannjedoch keine Rede sein.

Traditionspflege undNachwuchsförderung

In einer Zeit, in der Liedermacher, politi-sches Lied, politische Botschaften in der Musikals „uncool“ gelten, soll das Festival dazu bei-tragen, die Tradition des politischen Liedeszu bewahren und nach den verändertenBedingungen und Formen politisch engagiertenMusizierens heute zu fragen. Vom klassischenLiedermacher über Chanson, Folk- undWeltmusik bis zu Diskursrock, HipHop undavancierter E-Musik sind unterschiedlicheMusikrichtungen vertreten. Das Festival istein Podium für politische Musik und Pro-testkultur, für historische Recherche undaktuelle Bestandsaufnahme, für Traditions-pflege und Nachwuchsförderung.

Ein wichtiges Anliegen des Festivals ist dieSpurensicherung, die kritische Auseinander-setzung mit der Vergangenheit. Zunächst ginges dabei um die Geschichte des Festivals und

der Liedermacher- und Singebewegung in derDDR, dann um deutsch-deutsche Musikkon-takte in den 80er Jahren, um die Musiksze-nen in Ost- und Westberlin und schließlichum die Nachkriegszeit und die 50er Jahre.Dazu gab es jeweils Ausstellungen, es fan-den Diskussionen mit Künstlern, Veranstal-tern und Journalisten statt und es wurden his-torische Tonaufnahmen und Filmdokumentevorgeführt.

Das „Festival Musik und Politik“ ist auchein Podium für aktuelle Formen politischengagierter Musik. Es will Künstler zusam-menführen, die politisch wach sind und sichin gesellschaftliche Fragen einmischen. Seitdem Jahr 2000 ist mittlerweile eine ganzeReihe von Künstlern und Bands beim Festi-val aufgetreten, darunter Billy Bragg (Groß-britannien), León Gieco (Argentinien), Alexan-der Gorodnitzky (Russland), Vusi Mahlasela(Südafrika), Erika Pluhar (Österreich) und ausDeutschland Franz Josef Degenhardt, DieGoldenen Zitronen, Heiner Goebbels, Tho-mas Pigor, Barbara Thalheim, KonstantinWecker und Hans-Eckardt Wenzel.

Wie klingen soziale Bewegungen heute?– diese Frage wird immer wieder diskutiert.Die politische und kulturelle Situation, ausder das „Festival Musik und Politik“ erwächstund auf die es sich bezieht, ist schwierig undwidersprüchlich. Die Linke ist marginalisiert,die politischen Bewegungen sind heterogen,und Ansätze von Sub- oder Gegenkultur jen-seits des Mainstreams haben einen schwe-ren Stand. Der in den 60ern und 70ern oftgebrauchte Satz, das politische Lied sei nichtsohne politische Bewegung, bewahrheitet sichin radikaler Weise.

Mit dem Anwachsen der globalisierungs-kritischen Bewegung und den Protesten ge-gen den Irakkrieg 2002/2003 nahm das In-teresse der Öffentlichkeit an politischer Musikzu. Clips mit Friedensliedern wurden selbst

Lutz Kirchenwitz zum „Festival Musik und Politik“

DIE RÜCKKEHR DER

Politbarden

FOKUS

29MUSIK�ORUM

Sound der 60er und Bestandsaufnahme: Das Festival 2008Beim kommenden Festival Musik und Politik (Berlin, 21.-24. Februar 2008) wird es, 40 Jahrenach „1968“, um den „Sound der Sechziger“ und eine Bestandsaufnahme politischer Musikheute gehen. Was ist von 1968, von Studentenbewegung und Kulturrevolution, von denpolitischen Idealen und der musikalischen Protestkultur jener Zeit geblieben? Was hat sichverändert? Eine Ausstellung wird die musikalischen Aufbrüche der 60er dokumentieren, darunterFolkrevival und Protestkultur in den USA, den weltweiten Siegeszug der Beatles und derRolling Stones, das kulturpolitische Tauwetter in einigen staatssozialistischen Ländern, dieWiederentdeckung des demokratischen Liedes bei den Ostermärschen und den Waldeck-Festivals in der BRD sowie Hootenanny, Singebewegung und Liedermacher in der DDR.Künstler aus Belgien, Großbritannien, den USA und Venezuela werden auftreten. Bands wieChumbawamba und Rainer von Vielen werden berichten, welche Erfahrungen sie unlängstbei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm gemacht haben.

im Musikfernsehen gezeigt, von einer Repo-litisierung der Musikszene war die Rede undauch der fast vergessene Begriff „Protestsong“tauchte wieder auf. Es wurde gefragt, wo dieneuen Protestsongs seien. Charakteristisch waraber weniger, dass plötzlich ganz Neues ent-stand, sondern, dass Dinge, die schon da oderim Entstehen waren, jetzt wahrgenommenwurden.

Als bei der großen Kundgebung gegen denIrakkrieg im Februar 2003 in Berlin HannesWader, Konstantin Wecker und Reinhard Meygemeinsam auftraten, war in der Öffentlich-keit von der „Rückkehr der alten Barden“die Rede, meist verbunden mit der Schluss-folgerung, das Genre Liedermacher sei totund es gäbe keine jungen Künstler in diesemMetier. Beim „Festival Musik und Politik“ spieltedas Problem des Liedermachernachwuchses,die Frage, ob es eine neue Generation von Pro-testsängern gäbe, von Anfang an, besondersaber ab 2003, eine große Rolle. KonstantinWecker setzte sich stark für die jungen Lie-dermacher ein, forderte für sie mehr Unter-stützung.

Daraus entstand das Konzept der Reihe„Liederbestenliste präsentiert“, in der Preis-träger der Liederbestenliste junge Künstler

vorstellen. Seit 2004 wurden von Stoppok,Konstantin Wecker und Hans-Eckardt Wen-zel u. a. präsentiert: Der singende Tresen, DotaKehr, Mellow Mark, Rainer von Vielen undStrom & Wasser. Seit 2005 findet im Rah-men des Festivals auch der Bandwettbewerbder DGB-Jugend „Gib dir eine Stimme!“ statt.

Das nächste „Festival Musik und Politik“findet im Februar 2008 in Berlin statt (sieheKasten). Dann wird auch der HamburgerMusiker Knarf Rellöm auf der Bühne stehen,

Renaissance des Protestsongs: Die Gruppe„Fortschrott“ beim „Festival Musik und Politik“2005 und die Sängerin von Operaio e Zéziaus Italien (kleines Bild, 2007). Fotos: Neumann

der meint: „Ich halte es momentan für denvöllig falschen Schritt, auf Wut und Angriffnur deshalb zu verzichten, weil das angeb-lich antiquierte Pop-Modelle geworden seinsollen.“ U www.songklub.de

Der Autor:Dr. Lutz Kirchenwitz ist Kulturwissenschaftler und warin der DDR-Liedszene aktiv. Er ist Vorsitzender desVereins Lied und soziale Bewegungen und Leiter des„Festivals Musik und Politik“.

Im 19. Jahrhundert kannte man die „Welt-lichen Oratorien“ im Unterschied zu den religiö-sen. Schumanns Das Paradies und die Peri istein bekanntes Beispiel. Das „politische Orato-rium“ ist darin ein Sonderfall, weil es Stoffe derZeitgeschichte aufgreift anstelle literarischerSujets. Darin liegt ein provokatives Element. Seingattungsgeschichtliches Pendant ist das „poli-tische Theater“ Wsewolod Meyerholds, ErwinPiscators oder Bertolt Brechts. Brechts Kom-ponisten waren Kurt Weill, Hanns Eisler, PaulDessau, aber auch Paul Hindemith, Gottfriedvon Einem, Roger Sessions, Boris Blacher undviele andere, die Joachim Lucchesi und RonaldK. Shull in ihrem umfangreichen (aber nicht voll-ständigen) Kompendium Musik bei Brecht (Berlin1988) aufgelistet haben. Weit größer ist die Zahlderer, die er beeinflusste, und auch die Kom-ponisten dieser CD, die außer Dessau nicht zumengeren Kreis um Brecht gehörten, zählen dazu.Meyerhold und Piscator beeinflussten die mu-sikalische Praxis von Sergej Prokofjew und DmitriSchostakowitsch, aber auch von Luigi Nono (Algran sole carico d’amore 1974) oder GiacomoManzoni (Robespierre).

Die Novemberrevolution von 1918 führte zueiner außerordentlichen Politisierung der Mu-sik. Der politisch engagierte Komponist betrittals ein neuer Typus die Bühne. Die Biografienvon Hanns Eisler, Kurt Weill, Boris Blacher, Vla-dimir Vogel, Stefan Wolpe und vielen anderenunterscheiden sich von ihrer künstlerischen Väter-Generation durch dieses Engagement, das siein der Nazi-Zeit zur Emigration, zum Verzicht aufkünstlerische Wirksamkeit oder zu einer krypti-schen, verschlüsselten Sprache zwingt. Merk-würdigerweise bringen inneres und äußeres Exilkeinen Rückzug auf die kleine Form, vielmehrentstehen für die Schublade ungewöhnlich vielemonumentale Werke, die oft erst lange nachdem Krieg aufgeführt wurden. Hanns EislersDeutsche Sinfonie (1938), Boris Blachers DerGroßinquisitor (1942) oder Paul Dessaus Hag-gada (1936) und Deutsches Miserere (1944) seiengenannt. Zwar nicht in die Reihe der Oratorien,aber der politisch intendierten Musik gehören

auch die Sinfonien und Opern von Rudolf Wag-ner-Régeny und Karl Amadeus Hartmann. DasGipfelwerk der Gattung aber schrieb zweifel-los Arnold Schönberg mit dem Melodram ASurvivor from Warsaw. Es wurde 1948 in Albu-querque (New Mexico) uraufgeführt und erklang1949 in Paris unter René Leibowitz, 1950 unterHermann Scherchen in Darmstadt.

Die geschichtliche Katastrophe des Kriegesgebar buchstäblich eine musikalische Dokumen-tarmusik: Benjamin Brittens War Requiem (1962)und sein sowjetisches Pendant, das gleichzei-tig entstandene Requiem für die Gefallenen des2. Weltkrieges von Dmitri Kabalewski nach Ver-sen von Robert Roshdestwenski, das trotz sei-ner traditionalistischen Tonsprache ebenfalls einbemerkenswertes und bewegendes Memorialdarstellt. In diesem Zusammenhang muss auchder Name Krzysztof Pendereckis fallen. Seinemonumentalen Chorwerke belebten die ver-schüttete Tradition geistlicher Musik, zugleichkönnen sie in einer Geschichte des „PolitischenOratoriums“ nicht ausgelassen werden, weil siewie einzigartige politische Fanale wirkten unddas polnische Selbstbewusstsein der Nachkriegs-

zeit formten. Wer in den 1970er Jahren in derWarschau Kathedrale die Aufführungen derLukas-Passion (1965), des Dies irae (für die Er-mordeten von Auschwitz, 1967) oder der Utre-nija (1970) vor einem Publikum miterlebte, dasnach Tausenden zählte, der konnte sich in dieZeiten Verdis, Smetanas oder Dvoráks zurück-versetzt fühlen. Es herrschte eine Ergriffenheitund nationale Begeisterung, die weiter west-lich selbst bei Beethoven- oder Wagner-Auf-führungen sich nie einstellte. Kam Pendereckivom polnischen Avantgardismus, so näherte sichder Grieche Mikis Theodorakis vom entgegen-gesetzten Pol der Folklore und modernen Un-terhaltungsmusik dem gleichen Ziel. Dieser Mes-siaen-Schüler verbrachte wegen seiner linkenÜberzeugungen viele Jahre seines Lebens inGefängnis und Verbannung. Er hat der moder-nen griechischen Literatur das musikalische Ge-wand geschneidert. 1960 schuf er das Orato-rium Axion esti nach Versen des späteren Nobel-preisträgers Odiseas Elitis, er vertonte Textevon Jannis Ritsos (Epitafios, 1958), Michalis Kat-saros (Sadduzäer-Passion, 1982). Eines seinerHauptwerke ist der Salvador Allende gewidmeteCanto General nach Pablo Neruda (1981).

Die Politisierung der Musik war eine Folgeihrer Säkularisierung. Wenn die Verallgemeine-rungen der Religion nicht mehr bestehen, mussman über die Welt direkter reden. Das ist allent-halben geschehen, und auch in der avantgar-distischen Musik sind die politischen Flammen-zeichen überaus deutlich bemerkbar. Von KlausHubers Oratorium erniedrigt – geknechtet –verlassen – verachtet (1975) bis zu Vinko Glo-bokars L’Armonia drammatica nach Texten desitalienischen Lyrikers Eduardo Sanguinetti (1995)zieht sich das politische Thema wie ein roterFaden auch durch die avantgardistische NeueMusik. Die vier Werke, die für diese CD ausge-wählt wurden, reflektieren die facettenreicheGeschichte dieser Gattung jedoch nicht, sie be-leuchten nur einen kurzen Abschnitt der 1960erJahre. Wie der „Vormärz“ im 19. Jahrhundertdie Revolution von 1948 vorhersagte, so kün-digten diese Komponisten die politischen undsozialen Gewitter von 1968 an, den Maiaufstandin Paris und den „Prager Frühling“.

Der komplette Beitrag ist im Internet nachzulesen unter:

U www.musik-forum-online.de/Mueller

Zur CD „Politische Oratorien“ aus der Edition „Musik in Deutschland“:

Musik wird politisch – Politik wird musikalischEine der 134 CDs aus der vom Deutschen Musikrat herausgegebenen Edition „Musik in Deutsch-land 1950-2000“ dokumentiert den Bereich der politischen Oratorien (in der Box „Vokalmu-sik“). An den musikalischen Beispielen von Boris Blacher, Paul Dessau, Hans Werner Henze,Rudolf Wagner-Régeny und Wolfgang Hufschmidt wird deutlich, wie unterschiedlich Kompo-nisten politische Ereignisse in Ost und West verarbeiteten und gleichzeitig das Oratorium alsursprüngliche Gattung zur dramatischen Vertonung eines geistlichen Inhalts wählten. DerGebetssaal wurde zum Parlament. Gerhard Müller, der Musikauswahl und Text der CD ver-antwortet, denkt hier über Musik und Politik am Beispiel konkreter Werke nach, nicht ohne zuprovozieren und Fragen zu stellen.

Stoffe der Zeitgeschichte: Tonbeispiele desPolitischen Oratoriums auf der Editions-CD(aus der Box „Vokalmusik“).

Explizit politisch: Hans Werner Henze,der Komponiertechniken oft dazu benutzt,Stellung zu beziehen.

© U

llstein – Buhs/R

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ler

FOKUS

MUSIK�ORUM30

A N Z E I G E

MotivierendeErfolgserlebnisse

„Uns Menschen tut Musik gut.“ DieseWorte von Bundespräsident Horst Köhlerwünsche ich mir als emotionalen Türöffnerfür Gespräche mit Politikern.

Der Ausfall vieler Musikstunden an denallgemein bildenden Schulen, die Existenz-not der Musikschulen, aber auch die Ver-besserung der gesetzlichen Rahmenbedin-gungen für die Musikwirtschaft, die gerechteEntlohnung der Autoren und gesellschaft-liche Probleme wie Formatradio und dieregelrechte Angst vor zeitgenössischerMusik im öffentlichen Leben, treiben michimmer wieder an, alle Energie aufzuwen-den, Politikern deutlich zu machen, dass dieMusik bei über acht Millionen Berufs- undLaienmusikern ebenso wichtig ist wie bei-spielsweise die Sportbewegung.

Wir können es mit einem geschätztenJahresumsatz von über fünf Milliarden Euromit vielen anderen Branchen aufnehmen,und entsprechend ist daher unser Gehörbei Politikern in Bund, Ländern und Gemein-den.

Daraus resultieren motivierendeErfolgserlebnisse wie z. B. die Gesetzes-reformen zum Urheber- und Steuerrecht,bei denen der Deutsche Musikverleger-Verband seine Vorstellungen einfließenlassen konnte.

Um die vielen Herausforderungen derBranche in Zukunft zu meistern, müssen wirauch weiterhin in der bewährten Zusam-menarbeit mit dem Deutschen Musikratund den anderen Verbänden der Brancheunseren Politikern immer wieder die großeBedeutung des Musikstandortes Deutsch-land ins Bewusstsein rufen, frei nachFriedrich Nietzsche: „Ohne Musik wäre dasLeben ein Irrtum.“

Dagmar SikorskiPräsidentin desDeutschen Musik-verleger-Verbandes

Informationsaustausch und klare ZielpunktbestimmungDa Politik von Menschen für Menschen

gemacht werden sollte, geschieht auch dieKontaktaufnahme meist durch das Herbei-führen persönlicher Begegnungen mitPolitikern.

Defizite sind bei der Durchführung vonProjekten mit gleicher Interessenslagefestzustellen, da diese häufig ohne Abstim-mung bzw. Kooperation von Seiten der

Politik unternommen werden.Eine neue Qualität in der Zusammen-

arbeit zwischen Musikfunktionären undPolitikern könnte durch einen institutionali-sierten Austausch an Informationen undMeinungen sowie einer klaren Zielpunkt-bestimmung der Aktivitäten beider Seitenim musikalischen Bereich entstehen.

Christoph-Hellmut MahlingPräsident derGesellschaft fürMusikforschung

Präsidiumsmitglieder desDeutschen Musikrats äußern sich…

Musizieren für ein besseres Deutsch-land: das Bundesjugendorchester.

Von Caroline Vongries

Freundschaftsspiele

„Der Blick über die Welt hinausist der einzige, der die Welt versteht“Richard Wagner

MUSIK�ORUM32

Aus Weimar, München, Hamburg, Köln,Magdeburg oder Dortmund – aus allen Tei-len der Republik kommen die Kids, die wiedie Großen anhand von Probespielen underworbenen Qualifikationen bei Wettbewer-ben wie „Jugend musiziert“ als eine Art mu-sikalisches Nationalteam mit Dirigent auf deminternationalen Parkett auflaufen. Durchausvergleichbar den Weltmeistern der Herzenim Fußball überzeugen die jungen Deutschenim Alter zwischen 14 und 20 Jahren durchehrliches Mannschaftsspiel. Sie musizierenbereits seit Jahren für ein neues, ein anderesDeutschland(-bild).

Jugendlich, sympathisch und (welt-)offen– das wird den Kids auch von renommier-ten Medien wie der BBC London gerne at-testiert. „Wir sind die Zukunftsmusik Deutsch-lands“, kann die gerade ausgeschiedeneKonzertmeisterin Katharina Schwamm ausAugsburg selbstbewusst sagen.

Gerade im Jahr der EU-Ratspräsidentschaftwar das Bundesjugendorchester (BJO) gleichmehrfach auf diplomatischem Parkett gefragt,gastierte auf Einladung der Deutschen Bot-schaft in London, später in Bratislava, Prag,Budapest, Belgrad, Varazdin, Ljubljana. Am12. Oktober konzertierte es sogar in Peking– anlässlich der Generalversammlung des In-ternationalen Musikrats.

Musik als erfolgreiches Element des poli-tischen Marketings? Ein seltsamer Balance-

FOKUS

Du bist Deutschland.“ Wenndie 100 jugendlichen Musiker

des Bundesjugendorchesters aufKonzertreise gehen, dann trifft dieFormel der Medienkampagnetatsächlich auf jeden Einzelnen zu– vor allem bei musikalischen Aus-landseinsätzen.

„ akt scheint da gefragt: Einerseits ist das Inte-resse offenkundig, Deutschland als Marke zuetablieren („Nation branding“). Sind das nichtEtiketten, die Jugendlichen gern von Erwach-senen aufgeklebt werden? Gegenüber demerwünschten Eventcharakter sieht die Pro-jektleitung des BJO ihre Aufgabe darin, beialler Offenheit die Substanz des klassischenErbes und die Seriosität der eigenen Kultur-einrichtung zu erhalten. Andererseits: Aus-gerechnet ein elitärer Nachwuchsklangkör-per in einer Disziplin, die im bundesdeutschenBildungsalltag noch immer grob vernachläs-sigt wird, soll plötzlich auf höchster Ebenezum Träger von Utopien und Zukunftshoff-nungen der Nation taugen?

Wer Konzerte des BJO selbst erlebt hat,weiß: Das junge, in seiner Besetzung stets

wechselnde Ensemble, hat eine starke Aus-druckskraft. In ihm steckt die wundersameFähigkeit, nicht nur einen gestandenen Ma-estro wie Kurt Masur wieder jung zu ma-chen – wie dieser nach einer Arbeitsphasemit den jungen Musikern freimütig bekann-te –, sondern auch jeden einzelnen Zuhörerim Publikum und die klassische Musik an sichneu zu beleben. Beethoven, Mahler, Wag-ner, Rossini, Schostakowitsch und ihre Kol-legen – sie können nicht nur in Venezuelaquicklebendig und staubfrei tönen –, wie ge-rade von den deutschen Feuilletons anläss-lich der vierten Deutschlandtournee der JungenPhilharmonie Simon Bolivar aus Caracas undihres „Ausdruckstänzers am Pult“, Gustavo

Dudamel, zu Recht bemerkt. Die Klassikerkönnen auch jungen Musikern auf dem hie-sigen Kontinent einiges sagen. Nicht nur dasBJO, doch dieses insbesondere, ist mehr alseine Stätte, an der die Kulturtechnik des klas-sischen Musizierens vervollkommnet wird.Das Zusammenspiel, der angestrebte Zusam-menklang, das gemeinsame Proben und Zu-sammenleben während mehrwöchiger Ar-beitsphasen (dreimal im Jahr), all das entfaltetauch hierzulande eine soziale Wirkkraft, dieweit über die rein künstlerische Ambition hi-nausgeht. Unsere Kinder werden zwar (leider)mehrheitlich immer noch nicht mit klassischerMusik von der Straße geholt – wie in Latein-amerika seit 30 Jahren erprobt – und der

AUF INTERNATIONALEM PARKETT

33MUSIK�ORUM

Zugang zur klassischen Musik ist aufgrundunseres sich nur widerwillig bewegenden,fossilen Bildungssystems immer noch eherwenigen vorbehalten, doch: Gerade weilhierzulande über Jahre hinweg bevorzugt imSolokämmerlein geprobt wird, ist die gemein-schaftsbildende Bedeutung von Nachwuchs-orchestern wie dem BJO umso höher anzu-setzen und zu fördern.

Sozialer Zusammenhalt

Dass die Jugendlichen im BJO Schlüssel-kompetenzen erwerben können, die anderswoin dieser Form kaum vermittelt werden, stehtfür Projektleiter Sönke Lentz und Orches-

termanagerin Anke Krump außer Frage. Bei-de erleben hautnah, wie sich die einzelnenMusiker im Laufe der Arbeitsphasen verän-dern. „Sie lernen mehr und mehr Verantwor-tung zu tragen“, sagt Lentz. Keine Frage, dassder soziale Zusammenhalt, das erprobte Mitei-nander sich auch auf die musikalische Qua-lität des Klangkörpers auswirkt. „Diese jun-gen Menschen sind so offen“, sagt Kurt Masur.„Musik kann die Welt ein wenig besser ma-chen, junge Menschen spüren das und mankann auf dieser Grundlage mit ihnen arbei-ten“, sagt der holländische Dirigent Jac vanSteen.

„Das Wichtigste, was wir hier im BJO ler-nen, ist: Mit jedem Menschen auszukommen,

hier ist jeder wichtig, jeder hat seinen Platz“,bestätigt der neue Konzertmeister FabianKläsener. „Entscheidend ist, dass wir zusam-menspielen“, so vertreibt Percussionist EdzardLocher sein Lampenfieber vor wichtigen Auf-tritten. Nach dem Konzert lassen er und sei-ne Kollegen den Emotionen dann freien Lauf,fallen sich gegenseitig um den Hals – wie aufdem Fußballfeld.

Dass sich im Orchester eine in der De-mokratie oft vergeblich herbeigewünschteTugend entfalten kann, wird im BJO bewusstunterstützt: Die Jugendlichen erziehen sich,unterstützen sich gegenseitig „Das BJO istletztlich schon eine Art Biotop, ein Experi-mentierfeld, um demokratische Tugenden

Foto: Martin Büttner

FOKUS

einzuüben“, sagt Sönke Lentz. Das gilt nichtnur in der Binnenwelt des Orchesters, son-dern gerade auch für die bei jeder Konzert-reise angestrebte Begegnung mit Musikernanderer Kulturen. „Wer Pult an Pult mitei-nander Musik gemacht und danach gefeierthat, kommt sich sehr nah und überwindetfast nebenbei Klischees und Vorurteile“, soLentz. Er setzt auf diese Fähigkeit gerade derklassischen Musik, das Verbindende unter denMenschen zu fördern, wie das bereits dieimmer wieder gern zitierte und doch wenigin die Praxis umgesetzte Bastianstudie fest-gestellt hat: „Musik ist für uns zweifelsfreidie sozialste aller Künste“, heißt es dort. „Der

MUSIK�ORUM34

in sieben verschiedenen Ländern wie bei derBalkantournee im Frühjahr? Gerade der Bal-kan hat sich den BJO-Mitgliedern tief einge-prägt – mehr noch als das Konzert in London,bei dem es dem bundesdeutschen Nachwuchsgelungen war, gegen beharrlich gepflegte Kli-schees von „Krauts“ und „(beleidigten) Leber-würsten“ anzuspielen.

„Es war erdrückend, die zerbombten Häuserzu sehen“, sagt die Oboistin Juliana Koch undmeint die Einschlaglöcher der Nato-Bomben,die in Belgrad noch immer offen liegen wieWunden. Obwohl die Begegnung mit demserbischen Studentenorchester viel zu kurzist – vormittags gemeinsamer Workshop, nach-

Umgang mit Musik öffnet den Menschen zumMitmenschen.“ Dies gelte freilich nicht un-geprüft für jedes Berufsorchester.

„Es ist cool für Deutschland zu spielen“,drücken die 16-jährige Julia Suchta aus Er-langen und der 14-jährige Leo Hajek aus Osna-brück in ihrer Sprache das Verständnis aus,ihre Begabung in den Dienst der Gesellschaftzu stellen. Der Deutsche Botschafter im slo-wakischen Bratislava, Jochen Tebesch, kons-tatiert: „Das Bundesjugendorchester eignetsich in besonderem Maß als Instrument derVölkerverständigung.“

Wandel der Befindlichkeiten

Doch welche Spuren kann ein jugendlicherKlangkörper real hinterlassen, wenn siebenKonzerte an acht Tagen anstehen – und das

mittags Spaziergang durch die pulsierendeInnenstadt, abends das gemeinsame Konzert,nachts Party –, ist der Wandel der Befind-lichkeiten auf beiden Seiten enorm: Auf deut-scher Seite weicht die Beklommenheit, amVorabend hatte die Botschaft aus Angst vorÜbergriffen noch eine Ausgangssperre für dieBJOler verhängt. Die jungen Serben, die dieBombardierung ihrer Stadt in dem Alter mit-erlebten, in dem ihre Gäste jetzt sind, gebenein Stück ihrer Reserviertheit auf. Die gemein-same Interpretation einer Ouvertüre von Ros-sini im Sava-Centar gerät zu einem der be-wegendsten Momente der ganzen Tourneeund klingt auf beiden Seiten und beim Publi-kum noch lange nach.

Sie geben Konzerte in Theresienstadt, Hi-roshima, zum Gedenken an die amerikani-sche Luftbrücke in Berlin oder zum 11. Sep-

tember. „Das Bundesjugendorchester hat sichschon immer für zeitgeschichtliche Projekteengagiert“, betont Martin Maria Krüger, Prä-sident des Deutschen Musikrats und Aufsichts-ratsvorsitzender der Projektgesellschaft, diedas BJO als Rechtsperson maßgeblich trägt.Es ist die Stärke dieses Nachwuchsorches-ters, jenseits der großen Worte in gesellschafts-politischen Zusammenhängen Zwischenräu-me zu finden und diese adäquat zum Schwin-gen zu bringen.

Als Institution, die Werte nicht beschwört,sondern jungen Menschen einen verlässlichenRahmen bietet, diese selbst zu erproben undsich mit seiner (Hoch-)Begabung als sinnvol-

ler Teil eines größeren Ganzen zu erleben,kann das BJO noch stärker als ein Modellbegriffen und als Mittel der Politik kultiviertwerden, das dem oft – gerade mit Blick aufdie Jugend – beklagten Werteverfall in derGesellschaft entgegenwirkt. Und das seit 36Jahren mit Erfolg.

Die Autorin:Caroline Vongries arbeitet als freie Journalistin inSachsen-Anhalt mit Schwerpunkt „Menschen in Kulturund Gesellschaft“. Ihr besonderes Augenmerk liegt aufder sozialen Wirksamkeit künstlerischer Bildungsprojektewie dem venezolanischen JugendnationalorchesterSimon Bolivar oder auch dem Bundesjugendorchester.Sie schreibt als Autorin in der Fachpresse, aber auch inverschiedenen überregionalen Medien (Die ZEIT, FAZ).

Wer ist wer? Im Bundesjugendorchester verwischen die Spuren der Nationalitäten: die serbisch-deutsche Klarinettengruppe (Bild links).Beim Empfang in der Residenz des Deutschen Botschafters in London: Projektleiter Sönke Lentz, Dirigent Jac van Steen, Botschafter WolfgangIschinger (vorne), Jens Lehmann, Torhüter der deutschen Fußballnationalmannschaft, und die Orchestermitglieder Jana Kolsch, KatharinaSchwamm, Maximilian Krome und Benjamin Bruschke (Bild rechts, v. l. n. r.). Fotos: DMR, Anke Krump / Deutsche Botschaft London, Darius Rahimi

35MUSIK�ORUM

Über Entstehung und Aufgaben der Stif-tung, die Zukunft von Stiftungen generell undüber den Lohn für bürgerschaftliches Enga-gement sprach Hans Bäßler mit dem Präsi-denten des Sächsischen Kultursenats und Vor-standsmitglied der Jürgen Ponto-Stiftung, Bern-hard Freiherr Loeffelholz von Colberg.

30 Jahre nach der Ermordung vonJürgen Ponto am 30. Juli 1977 ist es an derZeit, noch einmal daran zu erinnern, wie diePonto-Stiftung entstanden ist.

Loeffelholz von Colberg: Jürgen Pontowar ein sehr musischer Mann, der sich alsChef der Dresdner Bank für die Förderungvon jungen Musikern und Künstlern enga-gierte. Ich hatte damals als Leiter des Vor-standssekretariats die inspirierende Aufgabe,dieses Engagement in seinem Sinne umzu-setzen. In seinen brillant formulierten Redenappellierte er immer wieder an die Jugend.Er war ein Mann, der sich – weit mehr alsandere Persönlichkeiten der Wirtschaft –aus einer tiefen inneren Überzeugung undeinem Bedürfnis heraus kulturell engagierte.

Bereits einen Tag nach dem Mordan-schlag äußerte Ignes Ponto den Wunsch,das Engagement ihres Mannes in einer Stif-tung – in der Jürgen Ponto-Stiftung zurFörderung junger Künstler – weiterleben

zu lassen. Ich habe diesen Wunsch demVorstand der Dresdner Bank vorgetragen,der ihn spontan aufgriff. Neben Frau Pontound der Bank haben sich viele Menschenund Unternehmen mit kleinen und großenSpenden an der Aufbringung des Stiftungs-kapitals beteiligt. Herbert von Karajan gabmit den Berliner Philharmonikern sogar einBenefizkonzert, denn Ponto hatte im Jahr1972, anlässlich des 100-jährigen Bestehensder Dresdner Bank, mit Karajan und einerReihe weiterer Persönlichkeiten aus der Wirt-schaft die Orchesterakademie der BerlinerPhilharmoniker gegründet. Frau Ponto warzutiefst erschüttert, dass Jugendliche ausbürgerlichen Häusern, darunter die Tochtereiner befreundeten Familie, zu diesem Ver-rat und Mord fähig waren. Ihre Idee war,etwas dafür zu tun, dass junge Menschennicht nur kognitiv geschult werden, sonderndass auch die andere Hälfte des Gehirnsausgebildet wird. Und deshalb fördern wirvor allem die musische Ausbildung.

Hängt diese Idee auch mit IgnesPontos persönlicher Biografie zusammen?

Loeffelholz von Colberg: Ja, sie ist selbstPianistin und hatte sich schon früh in derDeutschen Stiftung Musikleben engagiert.Die Jürgen Ponto-Stiftung fördert jungeMenschen, die noch ganz am Anfang ihrerkünstlerischen Entwicklung stehen. Als Be-rater und Kurator im Musikbereich fungierthierbei seit Anbeginn der langjährige Präsi-dent des Deutschen Musikrats, ProfessorRichard Jakoby. Wir suchten auch schonfrüh eine enge Verbindung zu „Jugendmusiziert“. Noch heute wählen wir unterden ersten Preisträgern der Bundeswettbe-werbe die Stipendiaten der Jürgen Ponto-Stiftung aus und fördern sie in der Regeldann zwei Jahre lang mit einem monatlichenStipendium. Zusätzlich vermitteln wir ihnenhonorierte Konzerte an Filialplätzen derBank und auch bei Festivals und anderen

Veranstaltern. Jahrelang konnten wir ihnendarüber hinaus zinslose Kredite zum Ankaufvon Instrumenten aus einem Sonderpro-gramm der Dresdner Bank vermitteln, dasnoch Jürgen Ponto eingerichtet hatte.

Wir wollten von Anfang an außer derEinzelförderung auch das gemeinsame Musi-zieren besonders fördern und da hatte Pro-fessor Bernhard Binkowski die Idee, mit demVDS ab 1981 eine zweijährliche Bundes-begegnung „Schulen musizieren“ ins Lebenzu rufen. Und so haben wir viele Jahre mitbesonderem persönlichen Engagement vonFrau Ponto diese Bundesbegegnung finan-ziell mitgetragen. Außerdem haben wirzeitweilig Komponisten gefördert sowieangehende Dirigenten mit einem Assistenz-stipendium. !

Als Erinnerung an den 1977von der RAF ermordeten

Bankchef Jürgen Ponto und umdessen Engagement als Fördererjunger Künstler dauerhaft weiter-zuführen, gründeten Ehefrau IgnesPonto und die Dresdner Bank nochim gleichen Jahr die Jürgen Ponto-Stiftung. Pontos Bestreben, derKunst eine breitere Basis zu ver-schaffen, sind für die Tätigkeit derStiftung noch heute bestimmend.

FÖRDERN IST EIN

»ungeheuer schönes Gefühl«

Die Bereitschaft nimmt zu, sich in Stiftungen bürgerschaftlich zu engagieren und damit staat-liches Engagement in der Kulturförderung zu ergänzen. Beispiel: die Jürgen Ponto-Stiftung

„Wer sein Geld in einer Stiftung für einensinnvollen Zweck einsetzt, schafft sichdamit eine schöne Lebensperspektive“:Bernhard Freiherr Loeffelholz von Colberg.

FOKUS

Jürgen Ponto

MUSIK�ORUM36

Jürgen Ponto-Stiftung zurFörderung junger KünstlerDie Jürgen Ponto-Stiftung fördert vorwiegend junge deut-sche oder in Deutschland lebende Künstler, die von andererSeite noch keine wesentliche finanzielle Unterstützung er-fahren und die sich noch in einem frühen Stadium ihrer künst-lerischen Entwicklung befinden. Die Stiftung unterstützt da-rüber hinaus die Begegnung junger europäischer Künstler.Neben einzelnen hochbegabten Künstlern unterstützt dieJürgen Ponto-Stiftung in Gruppenprojekten die künstlerische Eigeninitiative junger Menschen.Sie ist u. a. Mitträgerin der Bundesbegegnungen „Schulen musizieren“.

Die Tätigkeit der Jürgen Ponto-Stiftung erstreckt sich auf die Bereiche Musik, BildendeKunst, Literatur und Darstellende Künste. Im Musikbereich vergibt sie in Kooperation mitdem Bundeswettbewerb „Jugend musiziert” monatliche Stipendien an Musiker, die sich nochim Schulalter befinden und einen 1. Preis auf der Bundesebene dieses Wettbewerbs odereine vergleichbare europäische Auszeichnung vorweisen können.

Steuerlich abzugsfähige Spenden können auf das Konto der Jürgen Ponto-Stiftung zurFörderung junger Künstler überwiesen werden: Kto. 950 300 bei der Dresdner Bank AGFrankfurt am Main, BLZ 500 800 00.

Weitere Informationen: U www.juergen-ponto-stiftung.de

»Während der Staatseine Förderung in dieBreite ausrichten muss,kann sich eine private

Stiftung auf Schwerpunktekonzentrieren«

der – unterstützt von unserem früherenFörderpreisträger und inzwischen mit mehre-ren Büchern hervorgetretenen und vielfachausgezeichneten Autor Arnold Stadler –jährlich einen Preisträger für die Ponto-Stif-tung entdeckt. Wir können mit Freude sagen,dass wir eine ganze Reihe sehr interessanter,bis dahin noch unbekannter junger Schrift-steller über die Jahre mit diesem Förderpreisbei der Publikation ihres ersten Buches be-gleitet haben. Die meisten haben danachbedeutende Literaturpreise erhalten. ImBereich der Bildenden Kunst haben wirdas Fördersystem von Zeit zu Zeit gewech-selt. Stets war aber auch hier das Ziel, junge,noch kaum bekannte Künstler zu fördern,die in ihrem Schaffen ein ebenso hohes Maßan Eigenständigkeit wie vielfältige Entwick-lungsmöglichkeiten erkennen lassen, umihnen den Übergang von der Akademie indie Selbstständigkeit zu erleichtern. Diesgeschah anfangs mittels Ausstellungen vonAkademieabsolventen und Preisvergaben,später durch Förderung von Junger Kunstin Kunstvereinen, dann mit Atelierstipen-dien und seit 2003 mit zwei jeweils auf einJahr ausgereichten Arbeitsstipendien.

Wie sehen Sie die These, dass dieStiftungen dem Staat Aufgaben abnehmen,die eigentlich staatlich finanziert werden

den zur Aufstockung des Stiftungskapitalsbekommen. Im Bereich Architektur habenwir zuletzt einige Jahre in verschiedenenStädten Osteuropas städtebauliche Entwurfs-projekte mit deutschen Architekturstuden-ten und solchen des jeweiligen Landes ge-macht. Das war relativ teuer und wir ent-schieden uns, die Architekturförderung füreinige Zeit auszusetzen, um mehr einzelnejunge Künstler in anderen Sparten fördernzu können. Dazu kam 2004 in dem neuenBereich Darstellende Kunst ein Förderpro-gramm für junge Opernsänger, die jeweilsfür zwei Spielzeiten mit einem Stipendiumin das Ensemble des Opernhauses Halleaufgenommen werden und dort, von einemMentor betreut, eine besonders intensiveAusbildung erhalten. Ganz wichtig ist auchdie Literaturförderung. Wir vergeben jedesJahr einen gut dotierten Förderpreis aneinen jungen Autor, der an seinem erstenBuchmanuskript arbeitet und besondereepische oder lyrische Begabung erkennenlässt. Hier haben wir einen hervorragendenKurator in Person von Professor WalterHinck, einem großen Germanisten aus Köln,

Sind im Rückblick die Ziele, die Sieund Frau Ponto sich bei der Stiftungsgründunggestellt haben, erreicht worden?

Loeffelholz von Colberg: Ja. Wir habenin dieser Zeit neben rund 300 Schülergrup-pen 289 Musiker zwischen 13 und 18 Jah-ren mit Stipendien und Vermittlung vonKonzertengagements gefördert. Ich freuemich immer wieder, bei erstklassigen Kon-zerten vertraute Musiker zu treffen und vonden großen Podien der Welt über ehemali-ge Stipendiaten Gutes zu lesen. Wir habendie Richtigen gefördert. Und dies eben nichtnur mit Geld. Wir haben viele auch übereine ganze Strecke hinweg persönlich beglei-tet. Begabungen entwickeln sich zwar aussich heraus, aber dabei ein bisschen helfenzu können, dass sie ihren Weg machen, istein ungeheuer schönes Gefühl. Wir könnensagen, dass wir über die Jahre das erreichthaben, was wir uns vorgenommen hatten.

Außenstehenden stellt sich die Förde-rung junger Künstler oft nur als Übermittlungeines Schecks vor. Wie gestaltet sich das inder Ponto-Stiftung?

Loeffelholz von Colberg: Hier ist eseben anders. Erst einmal erleben wir diePreisträger meist persönlich, weil wir zu denBundeswettbewerben „Jugend musiziert“fahren. Frau Ponto ist immer dabei undspricht dann auch die einen oder anderenan, wenn wir uns sicher sind, dass wir siein die Förderung aufnehmen wollen. Dannwerden sie über das Stipendium benachrich-tigt und zu Konzerten eingeladen. Häufigsind dies Konzerte, bei denen das Kurato-rium der Stiftung sie auch hören und ken-nen lernen kann. Neben dem Vorstand derStiftung – nach meiner Pensionierung voracht Jahren heute geschäftsführend RalfSuermann – pflegt die Stellvertretende Ku-ratoriumsvorsitzende Ignes Ponto zu denStipendiaten Kontakte. Einige hat sie schonzu privaten Konzerten eingeladen, mit ein-zelnen sogar auch konzertiert.

Die Ponto-Stiftung fördert nicht nurMusik. Steht die Förderung in Balance mitden künstlerischen Sparten oder ist der AkzentMusik besonders prägend?

Loeffelholz von Colberg: Die Musiksteht im Vordergrund, sowohl von der Zahlder Geförderten als auch vom Volumen derStiftungsmittel her. Weitere Förderungsbe-reiche sind: Bildende Kunst, Literatur, auchArchitektur, die im Augenblick jedoch ruht.Das hängt immer davon ab, ob man genü-gend Mittel einwerben kann. Wir haben imLaufe der Zeit sowohl von der DresdnerBank, aber auch von Privatpersonen Spen-

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resdner Bank

37MUSIK�ORUM

automatisch bei den Jüngeren zu finden. Wirverzeichnen eine massive Entkulturalisierungjüngerer Generationen. Könnte es sein, dasssich das kulturelle Engagement in zehn bis 20Jahren wandelt, sodass es am Ende nur nochStiftungen gibt, die eine Perspektive in derFörderung der Bereiche Naturwissenschaften,Wirtschaft, Recht oder Politik sehen, weil dieKünste nicht mehr in ihrem Horizont liegen?

Loeffelholz von Colberg: Stifter sindin der Regel ältere Leute, weil sie eine ge-wisse Lebenserfahrung und auch persön-liches Vermögen aufgebaut haben. Natür-lich haben wir heute viele Erben, die auchals jüngere Menschen schon etwas stiftenkönnen. Ich bin nicht pessimistisch undglaube, dass dieses Engagement anhaltenwird. Aber hierzu muss auch die öffentlicheSeite das Stiften deutlich anerkennen. Esgab schon mal eine Enquete-Kommissionim Bundestag, die sich damit beschäftigte,wie das Ehrenamt und die Arbeit für Ge-meinnützigkeit stärker in der Öffentlichkeitanerkannt werden kann.

Unser Denken und Handeln ist zu einemgroßen Teil, bewusst oder unbewusst, aufAnerkennung gerichtet. Das Streben nachGeld, nach Macht, nach demonstrativemKonsum zielt letztlich auf Anerkennung.Wenn das Stiften eine hohe öffentlicheAnerkennung findet, dann ist das auch fürnachwachsende Generationen eine Moti-vation, sich zu engagieren. Ich lade seit eini-gen Jahren Generaldirektoren und Direk-toren großer deutscher Kunstmuseen mitwertvollen Beständen zu einem jährlichenTreffen ein, bei dem anstehende Themen,die alle beschäftigen, diskutiert und neue

müssten? Legitimiert man dadurch unterUmständen das unzureichende Engagementdes Staates im Bereich der Kulturförderung?

Loeffelholz von Colberg: Es war undist unsere Meinung, dass die privaten Stif-tungen dem Staat keine Aufgaben abneh-men, sondern sie ergänzen sollen. Als Stif-tung kann man natürlich in mancherlei Hin-sicht andere Schwerpunkte als der Staatsetzen. Während der Staat seine Förderungmehr in die Breite ausrichten muss, kanneine private Stiftung sich auf bestimmteSchwerpunkte konzentrieren. Natürlich istes auch da sehr wichtig, dass die Kriterientransparent und nachvollziehbar sind. WennProjekte, die wir gefördert haben, von ande-rer Seite übernommen wurden – Jugend-theatertreffen z. B. von den Städten –, habenwir uns wieder zurückgezogen. Es kommtalso vor, dass von privater Seite Anregun-gen kommen, die dann von kommunalerSeite aufgegriffen werden.

Können Stiftungen insgesamt flexiblerund seismografischer reagieren, als es derStaat tun kann?

Loeffelholz von Colberg: Dies hängtvon der Satzung der Stiftung ab und vonder Flexibilität derjenigen, die diese Stiftungs-mittel einsetzen. Es gibt da sehr flexibleStiftungen, aber auch solche, die mehr oderweniger jedes Jahr dasselbe machen, wasnicht schlecht sein muss. Und es hängt auchdavon ab, wie gut der Kulturdezernenteiner Stadt ist. Im Allgemeinen kann manjedoch sagen, dass die Stiftungen flexiblerreagieren können. Manchmal hat die Pon-to-Stiftung einen besonders guten jungenMusiker, dessen soziale Situation rascheHilfe erforderte, noch außer der Reihe indie Förderung aufgenommen. Insoweit kannman flexibler reagieren als die öffentlicheHand, die da nach strengeren Regeln vor-geht und wohl auch vorgehen muss.

Neue Gesetzesänderungen haben zuwesentlichen Veränderungen im Bereich derStiftungen geführt. Nimmt die Bereitschaft,sich in Stiftungen bürgerschaftlich zu engagie-ren, zu oder stagniert sie?

Loeffelholz von Colberg: Es gibtSchwankungen, aber tendenziell nimmt dieBereitschaft deutlich zu. Einmal, weil dieGeneration, die nach dem Krieg aus wirt-schaftlicher Tätigkeit Vermögen gebildet hat,zum Teil abgetreten ist oder abtritt und ihrVermögen mehr und mehr in Stiftungen ein-setzt. Zum anderen weil auch Firmen Stif-tungen gegründet haben, so wie die Dresd-ner Bank, die nach der Wende neben dergemeinsam mit Frau Ponto errichteten Jür-

gen Ponto-Stiftung noch eine zweite Stiftung,die Kulturstiftung Dresden, gegründet hat,die ich auch zehn Jahre lang geleitet habe.

Die von einzelnen Persönlichkeiten insLeben gerufenen Stiftungen haben ebensowie Firmenstiftungen in der Anzahl zuge-nommen. Insofern ist da ein stärkeres Enga-gement spürbar. Dazu trägt natürlich auchdie erst vor kurzem vorgenommene deut-liche Erweiterung der steuerlichen Absetz-barkeit von Stiftungsdotationen bei. Hierhat der Staat die Notwendigkeit erkannt,einen größeren Spielraum zu schaffen, da-mit sich die private Seite stärker engagiert.

Gibt es auch schwarze Schafe unterden Stiftungen, die als Trittbrettfahrer mehran die steuerlichen Vergünstigungen denkendenn an die Stiftungsidee selbst?

Loeffelholz von Colberg: Mir sindkeine Stiftungen bekannt, von denen mandas so deutlich sagen könnte. So wie unserStiftungsrecht eingerichtet ist, sind Stiftungenkein Steuersparmodell, denn die Stifter ge-ben mehr weg, als sie steuerlich dafür be-kommen. Es gibt Stiftungen im Ausland, diezwar Stiftungen heißen, aber tatsächlich zuSteuersparzwecken gegründet werden. InDeutschland ist der Name „Stiftung“ zwarauch nicht für gemeinnützige Institutionengeschützt, neben einigen Familienstiftungen,die spezifische Aufgaben haben, sind aberdie allermeisten Stiftungen gemeinnützig.Ihre Tätigkeit wird von Stiftungsaufsichtund Finanzamt überwacht.

Das Bewusstsein der Generation zwi-schen Mitte 50 und 90 für Kultur ist nicht

Aus Preisträgern des Bundeswettbewerbs „Jugend musiziert“ ausgewählt: Stiftungs-Stipen-diaten bei einem Konzert in Schwetzingen 2006. © Dresdner Bank

Für die Berliner Universität der Künste unddie ihr angehörige Edvard-Grieg-Forschungs-stelle war der Todestag Anlass zu einem Ge-denkkonzert im Kammersaal. Ein norwegi-scher Pianist trug Klavierwerke wie die SiebzehnBauerntänze vor, in denen der Komponistgeradezu paradigmatisch die Musik seiner Hei-mat, die Musik auf der Hardanger-Geige, fürKlavier übertragen hat. Moderiert wurde dasKonzert von Patrick Dinslage, dem Leiter derEdvard-Grieg-Forschungsstelle und Präsidentder Internationalen Edvard-Grieg-Gesellschaft.Mit ihm sprach Christian Höppner überden norwegischen Komponisten, dessen Rolleim heutigen Musikunterricht und die Erfor-schung Griegs auf internationaler Bühne.

Wie haben Sie Ihren Zugang zuEdvard Grieg gefunden?

Patrick Dinslage: Das reicht bis inmeine Jugendzeit zurück. Am Klavier binich mit dem Stück Hochzeitstag auf Trold-haugen groß geworden. Ich habe es jeden

Am 4. September jährte sichder Todestag des norwegi-

schen Komponisten Edvard Griegzum 100. Mal. Vor allem seine vonder Volksmusik des Heimatlandesinspirierte Klavier- und Kammer-musik machte den Vertreter derRomantik weltberühmt. Kaum einKlavierschüler, der nicht mit seinenLyrischen Stücken in Berührunggekommen ist. Weniger bekannt:Grieg war auch ein sehr politischerMensch.

Tag x-Mal gespielt, und das war meinSchlüsselerlebnis mit Grieg. Dann hatte ichwährend meines Musikstudiums die Chance,nach Bergen in Griegs Heimatstadt zu kom-men. Ich bin auf Troldhaugen gewesen, habemir Griegs Wohnsitz anschauen könnenund folgte da den Spuren des Komponisten.Im Studium habe ich mich dann auch mitgriegscher Klaviermusik beschäftigt. Derwichtigste Schritt kam 1998, als ich für einhalbes Jahr von der norwegischen Wissen-schaftsakademie nach Oslo eingeladenwurde, um in einem internationalen Teambei der Erforschung von Griegs Leben undWerk mitzuarbeiten. Mein Bereich war derjunge Grieg, also seine Kindheit in Bergenund musikalische Sozialisation, die Studien-zeit in Leipzig, seine ersten Kompositions-versuche, die er bereits als 14-, 15-jährigerKnabe betrieben hat, bevor er mit 15 nachLeipzig zum Studium gegangen ist. Leipzighatte zu der Zeit die führende musikali-sche Ausbildungsinstitution in Europa.

Welches Alleinstellungsmerkmal hatdie Arbeit der Edvard-Grieg-Forschungsstellean der Universität der Künste in Berlin?

Dinslage: Diese Forschungsstelle ist1995 an der Universität Münster gegründetworden. 2004 wurde der damalige Leiterpensioniert und es sah düster aus für dieZukunft der Einrichtung. Aus ökonomischenZwängen sollte die Leiter-Stelle nicht wie-der ausgeschrieben werden. Ich habe michmit Rückendeckung meines Präsidentenan den Rektor in Münster mit der Fragegewandt, ob die Forschungsstelle nicht vonMünster nach Berlin umziehen könne. Nachmehrmonatigen Verhandlungen und vielemHin und Her ist sie dann mit ihrem Biblio-

Edvard Grieg setzteNorwegen

auf diemusikalische

Weltkarte

Ideen entwickelt werden. In diesem „Leipzi-ger Kreis“, wie wir ihn nach dem Ort unse-rer ersten Zusammenkunft nennen, habenwir uns auch Gedanken darüber gemacht,wie man Schenkungen stärker anerkennenkönnte. In diesem Jahr wird es am 7. Okto-ber erstmals einen Tag der Schenkunggeben, an dem Kunstmuseen überall inDeutschland herausstellen, was sie allesdank bürgerschaftlichen Engagements ge-schenkt bekommen haben. Das ist eineAnerkennung gemeinnütziger Förderungvon Kunst.

Wenn man gute Ideen hat, kann manmit dem Geld einer Stiftung viel selbst ge-stalten und das kann einem große Befriedi-gung und Freude verschaffen, denn mangestaltet das, was einen persönlich interes-siert. Das ist eine unternehmerische Auf-gabe sui generis – so habe ich es jedenfallsals Vorstand der Jürgen Ponto-Stiftung undder Kulturstiftung Dresden der DresdnerBank stets gesehen.

Wenn man gar sein eigenes Geld in einerStiftung einsetzt, für einen Zweck, dereinem notwendig und sinnvoll erscheint,dann schafft man sich damit die schöneLebensperspektive, auch noch als Pensio-när etwas Gutes bewirken zu können. Da-für kann ich immer nur werben. Und ichglaube, dass nachwachsende Generationendas auch so empfinden werden.

MUSIK�ORUM38

Im frühen Stadium ihrer künstlerischen Ent-wicklung gefördert: Melanie Sobiraj, Stipen-diatin der Jürgen Ponto-Stiftung.

© Jürgen Ponto-Stiftung

AKZENTE

Auch als Pianist berühmt: Die Postkarte von 1905 zeigt Edvard Grieg, wie er im Haus vonStaatsminister Christian Michelsen in Bergen vorspielt. Unter den Zuhörern: Henrik Ibsen.

© w

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.hf.uio.no

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theksbestand als Dauerleihgabe von Münsterzu uns an die Universität der Künste gekom-men. Am 27. Januar 2006, an Mozarts 250.Geburtstag, wurde sie in Anwesenheit desnorwegischen Botschafters und nun untermeiner Leitung feierlich wiedereröffnet.

Stichwort „Alleinstellungsmerkmal“: DieForschungsstelle ist in ihrer Art die einzigein Deutschland. Und was geradezu absurdanmutet: In Norwegen gibt es kein Pendantdazu. Jetzt fängt man in Bergen an, darübernachzudenken, analog zu dem Zentrumfür Ibsen-Forschung an der Universität Oslo,ein Zentrum für Grieg-Forschung an derUniversität Bergen einzurichten. Ich bingebeten worden, ein entsprechendes Gut-achten zu schreiben. Es ist wirklich an derZeit, dass das Heimatland Griegs sich auchin der Forschung für seinen größten Kom-ponisten einsetzt.

Lässt sich daraus schließen, dass dasBewusstsein für Griegs Bedeutung in seinemGeburtsland noch unterentwickelt ist?

Dinslage: Ich würde es andersherumsagen: Es ist zu selbstverständlich. Grieg istder größte Komponist Norwegens, das istunangefochten. Grieg hat Norwegen aufdie musikalische Weltkarte gesetzt, so wiees Henrik Ibsen für Drama und Theater undEdvard Munch für die Malerei getan haben.Das sind die drei Kulturgrößen Norwegensauf der internationalen Kulturweltkarte.

Wo steht die Grieg-Forschung aufder internationalen Bühne?

Dinslage: Es gibt im deutschsprachigenRaum eine ganze Anzahl junger Forscher,die sich mit Grieg beschäftigen. Es werdenzahlreiche Dissertationen geschrieben. Aber

auch im englischsprachigen Raum ist eineMenge zu beobachten. Auf den internatio-nalen Konferenzen kommen die Forscheraus allen Ländern zusammen. In Australien,Kanada, Japan gibt es nationale Grieg-Gesell-schaften und deren Berichte werden aufden Konferenzen vorgetragen. Es ist schonerstaunlich, wie viel Engagement es in ande-ren Ländern in Sachen Grieg gibt.

Ist Grieg ein vergleichsweise uner-forschter Komponist?

Dinslage: Es gab in Norwegen zweiwirklich großartige Grieg-Forscher: Finn

Benestad und Dag Schjelderup-Ebbe. Siehaben gemeinsam die große Edvard Grieg-Biografie geschrieben, die auf Norwegisch1980 und auf Deutsch 1993 zum damali-gen Grieg-Jubiläum erschienen ist. Die bei-den waren gewissermaßen die personifi-zierte Grieg-Forschung. Ich will hier keineKritik üben, aber sie haben doch ihre For-schung zu sehr als „closed shop“ betrieben,sodass es in Norwegen heute keinen Nach-wuchs in der Grieg-Forschung gibt. UnserEhrendoktor hier an der UdK, Harald Her-resthal, Kollege der norwegischen Musik-hochschule in Oslo, Organist und Musik-wissenschaftler, ist gewissermaßen in dieBresche gesprungen und hat in den vergan-genen Jahren einige wichtige Publikationenauf den Markt gebracht – leider auf Norwe-gisch und deshalb in Deutschland nichtrezipierbar. Grieg hat am Anfang seinerLaufbahn Mitte der 1860er Jahre ausführ-lich Tagebuch geführt, beispielsweise überseinen ersten Besuch in Berlin, den Todseines Freundes Rikard Nordraak, seineReise nach Rom. Dann bricht das Tagebuchab, Grieg greift das Tagebuch-Schreibenerst in seinen letzten Lebensjahren wiederauf. Diese Aufzeichnungen sind ein sehrschönes und spannendes Büchlein, abereben auf Norwegisch. Es wäre wertvoll,diese Schilderungen im deutschen For-schungsbereich und -milieu benutzen undauswerten zu können. Wir haben bereitszusammen mit der Grieg-Forschung inBergen Überlegungen angestellt, wie man

Zum 100. Todestag:ein Gespräch mit dem Präsidenten der InternationalenEdvard-Grieg-Gesellschaft, Patrick Dinslage

KOMPONIST MIT

Zivilcourage

AKZENTE

MUSIK�ORUM40

die finanziellen Mittel für Übersetzung undPublikation bekommen kann.

Erkenntnisgewinn über die For-schung ist das eine, die Präsenz im heutigenMusikleben das andere. Welche Zielsetzunghaben Sie auch als Präsident der Internationa-len Edvard-Grieg-Gesellschaft?

Dinslage: Ich versuche sehr intensiv,den über Musik reflektierenden Aspektmit dem aufführungspraktischen in Verbin-dung zu bringen. Zum Beispiel ist im ver-gangenen Jahr eine zum damaligen Mozart-Jahr und nun zum Grieg-Jahr passende CDentstanden. Auf dieser CD befinden sichWerke, in denen Grieg zu vier der mozart-schen Klaviersonaten ein zweites Klavierhinzukomponiert und damit Mozart gewis-sermaßen in ein anderes Gewand kleidet.Wir haben dieses Projekt Mozart im roman-tischen Gewand genannt. Ich habe es wissen-schaftlich begleitet und den Booklet-Textfür die CD geschrieben. Sie erfreut sichbester Kritiken auf dem norwegischen undamerikanischen Schallplattenmarkt. Leiderist die CD auf dem deutschen Markt nochschwer erhältlich und nur über Katalog be-schaffbar. Ich versuche zu realisieren, dassdie wissenschaftliche Beschäftigung mitGriegs Musik der praktischen Aufführungdienlich ist.

Welche Rolle kann Grieg heute imMusikunterricht spielen?

Dinslage: Es gibt hier das fantastischeProjekt „Grieg in der Schule“, das vomnorwegischen Außenministerium seit unge-fähr zehn Jahren großzügig gefördert wirdund das in Berlin seinen Anfang nahm.Dabei werden Musiklehrer speziell für denMusikunterricht über den KomponistenGrieg ausgebildet, teilweise mit Exkursionennach Norwegen. Dieses Projekt ist mittler-weile auch im deutschsprachigen Raum derSchweiz angekommen.

Was die Konzertsituation angeht: Nichtnur auf Grieg bezogen, bin ich grundsätz-lich der Meinung, dass wir unseren Kon-zertbetrieb umstellen müssen. Dass sichKünstler auf die Bühne setzen, etwas vor-spielen und dann wieder gehen, ist heut-zutage einfach untragbar. Es müsste eingutes Programmheft geben, in dem derHörer Informationen über die Musik lesenkann. Noch viel schöner wäre es, wennKonzerte grundsätzlich moderiert würden.Das würde den persönlichen Kontakt zumPublikum herstellen, die Musiker wärenviel besser eingebunden. Der Hörer würdeerfahren, welche Bewandtnis es mit demKomponisten und seiner Musik hat, in

welcher Situation, zu welcher Zeit sieentstanden ist. Auf diese Weise wäre dasKonzerterlebnis ein größerer Gewinn, eingrößeres Erlebnis.

Müsste dazu nicht – die Frage gehtan den ehemaligen Päsidenten der Musik-hochschulrektorenkonferenz – der Hochschul-bereich kräftig reformiert werden?

Dinslage: Ja, im Zuge der Umstellungder Studienordnungen an den deutschenMusikhochschulen, die jetzt auch sukzessiveauf das Bachelor- und Master-System um-schwenken, haben wir uns als Aufgabe ge-stellt, dass der so genannte Bildungsbereicheinen größeren Stellenwert in der Ausbil-dung der konzertierenden Künstler habensoll, dass ein Künstler in der Lage sein soll,sein Programmheft selbst zu schreiben unddass er auch einige Worte zu der Musik, dieer spielen wird, sagen kann.

Das klingt ein bisschen nach Zukunfts-musik, aber ich bin zuversichtlich, dass dasder richtige Weg ist und dass sich auch diezukünftigen Stars auf der Bühne in dieseRichtung weiterentwickeln werden.

Gibt es aber nicht zu diesem Ansatzeine Gegenbewegung, in der Form, dass dieMusiker nur spielen sollen und alles anderenicht so wichtig sei? Ich denke da an das Ein-stampfen bestimmter Ausbildungsgänge immusikpädagogischen oder im musiktheoreti-schen Bereich für angehende Orchestermusiker.

Dinslage: Ich glaube, die Gefahr, wasdas Einstampfen von Studiengängen angeht,ist nicht so groß. Die eine oder andereMusikhochschule mag vielleicht einen fal-schen Weg eingeschlagen haben, indem sieim Zuge des Umstellens auf Bachelor undMaster die bisher getrennten Studiengängevon künstlerischer Ausbildung und pädago-gischer Ausbildung mit bestimmter Schwer-punktbildung vereinheitlichen will. Ich per-sönlich halte das für falsch. Wir hier imHause, in der Fakultät Musik der UdK, hal-ten an der Trennung fest. Es wird weiter-hin die KA, die künstlerische Ausbildung,und die PA, die pädagogische Ausbildung,geben.

Die Hochschulen sind im Grundegenommen gezwungen, dieses System Bache-

Die Grieg-Gesellschaft…Die Internationale Edvard-Grieg-Gesellschaftmit ihrem Sitz in Troldhaugen/Bergen wur-de 1996 gegründet. Ihre Aufgabe ist es, In-terpretationen von Griegs Musik einem brei-teren Publikum auf hohem Niveau zugänglichzu machen. Ferner arbeitet sie an der Weiter-entwicklung der Kenntnis und des Verstehensder Musik Griegs und sorgt für die wachsen-de Erreichbarkeit seiner Musik für Künstler,Schüler, Lehrer und Erzieher sowie für die Öf-fentlichkeit. Die Gesellschaft unterstützt diewachsenden zeitgemäßen Innovationen derkünstlerischen Aktivitäten, die auf dem mu-sikalischen Einfluss Edvard Griegs basieren.

… und ihr PräsidentDer Leiter der Edward Grieg-Forschungsstellean der Universität der Künste Berlin, Prof.Dr. Patrick Dinslage, arbeitete auf Einladungder Norwegischen Akademie der Wissenschaf-ten in einer internationalen Forschungsgruppezum Thema „Edvard Grieg in National andInternational Culture“. Dinslage war von 2001bis 2007 Dekan der Fakultät Musik und Vize-präsident der Universität der Künste Berlin.Von 2002 bis 2006 übernahm er das Amt desVorsitzenden der Rektorenkonferenz der deut-schen Musikhochschulen. Im Juni 2007 wur-de Dinslage zum Präsidenten der Internatio-nalen Edvard-Grieg-Gesellschaft gewählt.

Edvard Grieg-Museum in Troldhaugen Patrick Dinslage

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lor/Master einzuführen, weil es in einem euro-päischen Kontext steht. Halten Sie das Systemfür die Anforderungen eines künstlerischenStudiums für gut?

Dinslage: Die Kunsthochschulen warennicht unbedingt gezwungen. Aber es gabvor ca. fünf Jahren einen einstimmigenBeschluss sämtlicher deutscher Musikhoch-schulen, dass sie bei Bachelor und Mastermitmachen, wenn ihnen eine Ausnahmevom Hochschulrahmengesetz zugestandenwird, nämlich eine Studiendauer von sechsJahren als Gesamtdauer für Bachelor plus-Master. Und das hat die Kultusministerkon-ferenz genehmigt. So waren die Weichengestellt, und es ging nun darum, eine Stu-dienreform einzuleiten. Diese einmaligeChance zu einer grundlegenden Reformkommt nur alle hundert Jahre wieder.Wenn es die Diskussion um Bachelor undMaster nicht gegeben hätte, hätte es diesenDruck zu einer innovativen Neugestaltungnie gegeben. Die Diskussion um Bachelorund Master war ein guter Impuls, diesenErneuerungsprozess in Gang zu setzen.

Sie haben das gewachsene Interesseder Politik an Edvard Grieg und auch dieMöglichkeiten des Einsatzes an der Schuleund des Austausches benannt. Ist dies – imHinblick auf Begegnungen junger Menschender beiden Länder – noch ein unterbeleuchte-ter oder stärker zu beleuchtender Faktor inder auswärtigen Kulturpolitik?

Dinslage: Ja, Grieg könnte hinsichtlichdes politischen Bewusstseins geradezu alsVorbildfigur dargestellt werden. Grieg warein sehr politischer Mensch, z. B. hat ersich in der 1890er Jahren in der so genann-ten Dreyfus-Affäre in Frankreich stark enga-giert. Der jüdisch-französische Hauptmannim Generalstab, Alfred Dreyfus, wurde an-geklagt, er hätte Militärgeheimnisse anDeutschland verraten. Zwei Jahre späterstellte sich heraus, dass nicht er, sondern einGeneralstabsoffizier namens Esterhazy denVerrat begangen hatte. Die Staatsraison aberhielt an Dreyfus’ Verurteilung fest. Erst 1906wurde er rehabilitiert. Das Ganze führte zueiner schweren innenpolitischen Krise inFrankreich. Grieg setzte mit seinem Engage-ment und seiner politischen Überzeugungdie Karriere in Frankreich aufs Spiel.

Ein anderes Beispiel war 1905 die Auf-lösung der Union mit Schweden, in dieNorwegen 1814 gezwungen wurde. Dienorwegischen und schwedischen Truppenwaren schon an der Grenze aufmarschiert,als Grieg an den deutschen Kaiser telegra-fierte, er möge sich dafür einsetzen, dassdieser Konflikt unblutig zu Ende gehe.Glücklicherweise ist er auch unblutig aus-gegangen. Norwegen ist 1905 – nach jahr-hundertelanger administrativer Zugehörig-keit erst zu Dänemark und von 1814 bis1905 zu Schweden – erstmals ein selbst-ständiger Staat geworden.

Gibt es im Leben des Komponisten,Dirigenten und Pianisten Edvard Grieg einSchlüsselereignis, das diese Zivilcourage unddieses Bewusstsein für Politik, politische Vor-gänge und gesellschaftspolitische Veränderun-gen ausgelöst hat?

Dinslage: Ja, da fällt mir eine schöneAnekdote ein, die zeigt, dass Grieg seineÜberzeugung zu vertreten wusste. Er kam1858 zum Studium nach Leipzig und wurdezu einem Klavierlehrer namens LouisPlaidy eingeteilt. Dieser Unterricht behagteGrieg überhaupt nicht. Irgendwann in einerUnterrichtsstunde knallte es dann auch,der Lehrer hat die Noten vom Flügel ge-fegt, in die Ecke geschmissen und gesagt:„Gehen Sie nach Hause und üben Sie!“Was hat Grieg daraufhin gemacht? Er istschnurstracks zum Direktor des Konserva-toriums, Conrad Schleinitz, gegangen undhat gesagt: „Ich will einen neuen Klavier-lehrer haben!“ Und das als 15-jährigerKnabe! Grieg ist daraufhin zu dem PianistenErnst Ferdinand Wenzel gekommen, zudem er ein sehr gutes Verhältnis entwickel-te. Ihm hat er dann auch seine vier Klavier-stücke op. 1 gewidmet.

Ulrike LiedtkeLeiterin derBundesmusik-akademieRheinsberg

Präsidiumsmitglieder desDeutschen Musikrats äußern sich…

Von einander wissen…Politiker haben wenig Zeit, beschäfti-

gen sich mit Spezialgebieten, hören auchMusik – und staunen nicht schlecht, wennMusiker tragfähige Rahmenbedingungenfür Kreativität und verlässliche Finanzie-rungen einfordern. Dabei muss man sichdoch nur zur Musik als gesellschaftlichemEntwicklungspotenzial bekennen, diemusikalische Grundversorgung sichern

und neue Kunst ermöglichen! Denn Musikist wichtiger geworden – sie verbindet,wo die Digitalisierung individualisiertund große Menschengruppen (Parteien,Kirche, Gewerkschaften) auseinanderbrechen. Hinzu kommen europäischeAufgaben, friedenstiftende im Dialogder Kulturen, bildende im Wertekanon.Weil das so ist, müssen sich Musiker inlangweilige, zeitaufwändige demokrati-sche Sitzungen begeben oder einenkennen, der es für sie tut. Von alleinesetzen sich Talent und Qualität (leider)nicht durch. Defizite gibt es immer dort,wo Politik und Musik zu wenig voneinan-der wissen oder wissen wollen. Zielprä-mien wären nicht schlecht: Zeitvertrags-verlängerung an Schulämtern erst nachEvaluation des Musikunterrichts, Sitzungs-geld in Abhängigkeit von der Teilnahmean Schlagwerkimprovisationskursen,Nachweise bewussten (Zu)hörens vonKonzerten und Theatervorstellungen alsVoraussetzung für Kandidaturen…

Vorbildfigur für politisches Bewusstsein:Edvard Grieg mischte sich in die Affäre desvermeintlichen Militärspions Alfred Dreyfusin Frankreich ebenso ein wie er vor der dro-henden kriegerischen Auseinandersetzungzwischen Norwegen und Schweden interve-nierte.

MUSIK�ORUM42

Stolz im Orchester selbst auf höchstes künst-lerisches Niveau, internationale Reputationund feste Verankerung im heimatlichen Um-feld. Stolz bei seinem Träger, dem Südwest-rundfunk, der dem Radio-Sinfonieorchester(RSO) nach langen und in der Öffentlichkeitheftig ausgetragenen Diskussionen in den ver-gangenen Jahren eine stabile Position gesi-chert hat.1 Und stolz auf das RSO ist man nichtzuletzt bei einem bemerkenswert treuen, aus-gesprochen anspruchsvollen Konzertpublikum.Aus seinem Kreis hat sich schon vor 21 Jah-ren der gemeinnützige Verein der „Freundeund Förderer des Radios-SinfonieorchestersStuttgart des SWR“ zusammengefunden.

Der Erfolg eines Orchesters steckt an undmotiviert: Freunde und Förderer wollen beiKonzerten im In- und Ausland Verbunden-heit unter Beweis stellen, Musiker, Dirigen-ten und Management besser kennen lernenund auch ihren finanziellen Beitrag zum Wohl-ergehen des Orchesters leisten. Der Erfolgder zurückliegenden Konzertsaison 2006/07dokumentiert sich u. a. im Konzert zum Ge-burtstag von Papst Benedikt XVI aus demVatikan, das weltweit Millionen von Men-schen im Fernsehen verfolgt haben, und ver-spricht seine Fortsetzung auch in der Saison2007/08 – u. a. mit Konzerten in Japan, denBBC Proms in London, in Frankreich, Hol-land und natürlich in Deutschland selbst. Über90 Konzerte werden es sein, die unter Lei-tung von Chefdirigent Sir Roger Norrington,des ersten Gastdirigenten Andrey Boreykound anderer renommierter Dirigenten auf-geführt werden.

Freundeskreise wachsen mit ihren Orches-tern. Der Erfolg des einen befördert Erfolgund Entwicklung des anderen. Und da nachhal-tiger Erfolg von Orchestern heute mehr dennje auch das Ergebnis von Innovationen undbeharrlich gemachten, neuen Angeboten fürein Orchesterpublikum ist, das nicht mehr auto-matisch nachwächst und dessen Strukturensich verändern,2 wird sich auch ein Förderver-ein an der Entwicklung neuer Ideen beteiligen

Das Beispiel „Freunde und Förderer des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR“

Auf das Radio-SinfonieorchesterStuttgart kann man stolz sein.

Aus vielerlei Gründen.

wollen und müssen, die die Attraktivität „sei-nes“ Orchesters unterstreichen.

Die Freunde und Förderer des RSO Stutt-gart sind bei solchen Vorhaben gerne mit dabei.Hilfreich ist dabei zunächst eine ausreichendgroße Mitgliederbasis. Mit seinen zwischen-zeitlich rund 1400 Mitgliedern ist der Stutt-garter Förderverein heute nicht nur der größteFörderverein eines deutschen Radio-Orches-ters, sondern vor allem auch einer der mitglie-derstärksten Freundeskreise musikalischer Ein-richtungen in der Musikmetropole Stuttgart.

Innovationen – was heißt das und wel-che Rolle kann ein Förderverein heute dabeispielen? Die renommierte US-amerikanischeKnight Foundation hat 2006 Ergebnisse ei-ner Untersuchung der Orchesterlandschaftihres Landes veröffentlicht, die in die richti-ge Richtung weisen. Die Schlussfolgerungenund Empfehlungen dieser Studie sind durchausauf Deutschland übertragbar, auch wenn mandie unterschiedlichen Finanzierungssystemebeider Länder in Rechnung stellt.3

Festgestellt wird u. a.:˜ Probleme klassischer Musik oder ihrer

Ensembles liegen nicht in der Musik an sich,sondern in deren Vermittlung. „Music is notthe problem“ – überraschend ist dies eigent-

lich nicht. Auch hierzulande wird Kultur selbstvon denjenigen als unabdingbares geistigesKapital gesehen, die dieses Kapital für sichselbst nur wenig nutzen.

˜ Es geht weder ohne klare Ziele einerPublikumsansprache („Orchestras must re-spond to the needs of their constituents“), nochohne klares Profil, dem möglichst eigenenmusikalischen Stil.

˜ Veränderungen von Programm- undKonzertstrukturen sind nur partizipativ möglich,so sie denn erfolgreich sein wollen. Die Musikerselbst, ihr Orchestermanagement, der institu-tionelle Träger, Förderer und Freundeskreisesind danach auf Dauer nur in Form gemein-samer Anstrengung erfolgreich: „Comingtogether to plan for the future“, heißt die Devise.

˜ Es sind nicht die singulären Großereig-nisse, die Orchesterprobleme lösen, sondernein differenziertes, auf heterogene Besucher-gruppen ausgerichtetes Konzertangebot ein-schließlich eines entsprechenden Marketings.

Kriterien für den Erfolg

Soweit so gut. Fasst man die Beobachtun-gen und Empfehlungen aus den USA zusam-men, so wird wohl folgendes Szenario ver-stärkt zur „conditio sine qua non“ erfolgreicherOrchester und ihrer Fördervereine: intensi-ve, kontinuierliche Kommunikation, adres-satenspezifische Programmangebote und breitangelegte, partizipative Planungsprozesse.

Selbst ohne hilfreiche Hinweise aus denUSA haben sich die Freunde und Fördererdes Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart stetsdarum bemüht, diesem Kriterienkatalog er-folgreichen Orchestermanagements durchentsprechende Initiativen zu entsprechen:

Beispiele sollen dies verdeutlichen:˜ Das Jugendprogramm „Ohren auf“:

Musik will entdeckt und erlebt sein – auf,hinter und vor der Bühne, im Studio, im Radio,im Klassenzimmer. Über die gesamte Kon-zertsaison hinweg werden junge Menscheneingeladen, das Orchester und seine Aufnah-mestudios kennen zu lernen, die Musiker beimProben zu beobachten und gemeinsam –Profis und Schüler in den buntesten Beset-zungen – zu musizieren. Der Freundeskreis

Vom Zusammenspiel eines Orchesters und seines Fördervereins

»MUSIC IS not the problem«

Auch die Kleinsten bekommen schon einenTon heraus: Eine Kindergartengruppe zuBesuch beim RSO. © SWR/Berlin

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des RSO Stuttgart finanziert das Programmaus Überzeugung. Orchestermusiker überneh-men Patenschaften für ganze Grundschulklas-sen, man lädt sich gegenseitig zu Schulfestenund Orchesterproben ein, man spielt sich vorund musiziert gemeinsam. Das Projekt ist soerfolgreich – binnen drei Jahren haben knapp3500 Kinder und Jugendliche teilgenommen,in der letzten Saison allein 1700 –, dass eserweitert wurde, so z. B. um einen Kompo-sitionsworkshop „Ohrwürmer“, Tanztheater,Tonmeister- und Radioworkshops. Dass daraussogar spannende Radio-Features im Kultur-programm des SWR entstehen können, freutnicht nur die Beteiligten.

˜ Orchesterjournal „Klangbild“: Seit2002 ausschließlich vom Förderverein finan-ziert, bietet dieses Journal über den Kreis desFördervereins hinaus allen Freunden des Or-chesters und seinen „stakeholdern“ umfas-sende und kurzweilige Informationen überdas Orchestergeschehen.

˜ „Podium RSO“: In ihrer nun schonzehnten Saison werden in dieser Kammer-musikreihe im Stuttgarter Neuen Schloss ausdem Orchester heraus gebildete Kammer-musik-Ensembles vorgestellt. Erlebt wird kam-mermusikalische Musizierlust par excellence.Ermöglicht wird diese Konzertreihe durch denFörderverein des Orchesters.

˜ Mittagskonzerte: Live im Radio über-tragen, richten sie sich primär an ältere Kon-zertfreunde und an die Jüngsten aus ganzenSchulklassen. Die Konzerte werden mode-riert, anschließend kommen Musiker, Diri-gent oder Inspizient von der Bühne, erzäh-len von ihrer Arbeit und stellen sich neugierigenFragen. Die Besucherzahlen sind steigend,3700 waren es allein in den vergangenen

sechs Konzerten, darunter bis zu 200 För-dervereinsmitglieder pro Konzert.

˜ „Late night Concert Talks“: Sie be-ginnen mit der Konzertsaison 2007/2008.Fördervereinsmitglieder und interessierte Gästebleiben nach einem Konzert mit den Orchester-musikern in entspannter Atmosphäre zusam-men, tauschen sich aus, trinken ein GläschenWein. Das Ziel: Dialog, Verbundenheit, Iden-tifikation mit dem Orchester.

Manches mehr könnte berichtet werdenvon geförderten Tourneen durch Europa undAsien, von Instrumentenanschaffungen, Meis-terkursen für Orchestermusiker, DVD-Editio-nen oder Kompositionsaufträgen, von Kom-positionsworkshops, Aufführungen zeitgenös-sischer Musik oder „Kulturzügen“ zu denSchwetzinger Festspielen. An allen diesen Ak-tivitäten waren die Freunde und Förderer desRSO bei Planung und Finanzierung beteiligt.

Alles in allem also eine Erfolgsstory? Na-türlich. Andererseits: Erfolg verpflichtet undschafft neue Erwartungen. Professionelle,hauptamtliche Unterstützung tut Not, kostetaber Geld. Und: Der Grenznutzen von Mit-gliederwerbung und Marketing nimmt mitzunehmender Größe ab, weil der Aufwandpro zusätzlich akquiriertem Mitglied größerwird. Dies besonders in einem Umfeld wieStuttgart, dessen reiche Musiklandschaft mitihren zahlreichen musikalischen Einrichtun-gen und Projekten eine nahezu gleich großeZahl von Fördervereinen hervorgebracht hat:weit über 50 alles in allem, nicht zu redenvon einer Reihe von Stiftungen, die sich aus-schließlich der Förderung von Kunst und Kulturverschrieben haben. Der Wettbewerb unter-einander bedingt Unterscheidungsmerkma-le. Profil aber lässt sich heute nicht nur durch

musikalisches Niveau an sich, sondern vor allemdurch Angebote einer differenzierten Musik-vermittlung schärfen.

Und: Spenden sind heute nur noch einTeil dessen, was engagierte Förderer für ihrOrchester leisten können und wollen. Durch-aus selbstbewusst artikulieren sie konkreteErwartungen an Programmstrukturen, derenZiele und Realisierungsbedingungen. Denn:je intensiver die Mitwirkung, desto größer dieErfolgswahrscheinlichkeit.

Uli Kostenbader

U www.radiosinfonieorchester.de

1 Der Südwestrundfunk ist Träger sowohl des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart wie auch des SWR Sinfonie-orchesters Baden-Baden und Freiburg sowie des SWRVokalensembles Stuttgart. Aus dem ehemaligen Rund-funkorchester Kaiserslautern und dem Radio-Sinfonie-orchester Saarbrücken entsteht mit der Konzertsaison2007/08 durch eine Fusion die Deutsche Radiophilhar-monie Saarbrücken und Kaiserslautern.2 Vgl. hierzu die empirischen Daten des 8. KulturBaro-meters des Zentrums für Kulturforschung, der Gesell-schaft für Konsumforschung sowie der DeutschenOrchestervereinigung 2005 (ARCult Mediaverlag Bonn),die einen tendenziellen Rückgang von Konzertbesuchernim klassischen Bereich feststellen: „Die jungen Menschenkehren mit zunehmendem Alter nicht mehr in die Konzert-säle zurück … Lag beispielsweise der Anteil der 40-Jährigen und Jüngeren, die mindestens einmal jährlicheine Oper besuchten, 1965 noch bei 58 Prozent, liegt erheute nur noch bei 26 Prozent. Neben der Veralterungkönnen zwei weitere Tendenzen beobachtet werden:eine zunehmende Intellektualisierung des Klassik- undOpernpublikums sowie ein Ansteigen des weiblichenBesucheranteils – Trends, die allgemein auf das Publikumaller (Musik-) Sparten übertragen werden können.“3 Vgl. http://www.knightfdn.org/music/pdf/Magic_of_Music_Final_Report.pdf

Millionen erlebten das Ereignis amBildschirm mit: Das RSO Stuttgart gab imApril im Vatikan ein Geburtstagskonzert fürPapst Benedikt. Foto: Thomas Müller

IM »HIRSCHEN« singt der KochBariton Werner Baumgartner hat Gesang und Gourmetküche unter einen Hut gekriegt

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Er ist studierter Bariton, aber auch ein ausgebildeter Koch. MusikalischesKönnen und kulinarischer Sachverstand paaren sich bei Werner Baum-

gartner auf selten glückliche Weise. In Freiburg im Breisgau führt er dasbekannte Restaurant „Zum Hirschen“, das er gleichzeitig als Arbeitsplatzund Bühne nutzt. Hier beweist er seine Wandlungsfähigkeit zwischen denWelten des Kunstgesangs und der gehobenen Küche und verwöhnt anGala-Abenden Gehör und Gaumen seiner Gäste gleichermaßen.

Den Zugang zur Musik fand Baumgart-ner sehr früh: Im Elternhaus wurde ständiggesungen, Mutter und Vater waren großeMusikfreunde, der Großvater Erster Trom-peter am Theater. In kulinarischen Belangenwar die Familie eher bodenständig, Bekannt-schaft mit der feinen Küche machte der jun-ge Baumgartner erst in seiner Ausbildungzum Koch. Und doch wurde seine Fähigkeit,Kultur und Gaumenfreuden zu verknüpfen,schon im Kindesalter angelegt. Als Sechsjäh-riger besuchte er bereits mit der FamilieOpernaufführungen – die nach der Vorstel-lung regelmäßig mit einem kleinem kulinari-scher Höhepunkt abgerundet wurden: Mangönnte sich in einem guten Restaurant einfeines Mahl. Sinnliche Lustbefriedigung dervielfältigen Art.

Mit dem kochenden Bariton aus demSchwarzwald sprach Christian Höppnerüber Parallelen des Musikmarkts und derNahrungsmittelindustrie, über natürlichen Ge-schmack und Musik als Balsam der Seele.

Der Deutsche Bundestag hat geradedie UNESCO-Konvention zur kulturellen Viel-falt verabschiedet. Welche Bedeutung hat kul-turelle Vielfalt bisher in Ihrem Leben gehabt?

Werner Baumgartner: Eine sehr zent-rale. Meine Interessen haben sich schonfrüh in dem Spannungsfeld zwischen Musikund Kochkunst bewegt. Meine Frau habeich an einem Ort der Kultur, nämlich an derMusikhochschule während des Gesangsstu-diums kennengelernt. Mein ganzes Lebendreht sich um Kultur: Ein Teil meiner Kon-zerte stellt sogar eine Verbindung der musi-

PORTRÄT

Da ist Musik drin: Regelmäßig gibt es imRestaurant von Werner Baumgartner Opern-arien als „Dessert“ – zum Genuss der Gäste.

kalischen mit der kulinarischen Seite her,auch wenn dies ursprünglich nicht so ge-plant war.

Ich war ausgebildeter Küchenmeisterund absolvierte dann ein Gesangsstudium.Nach dem Abschluss habe ich in Bern vor-gesungen und wurde unter 40 Baritonenfür ein festes Engagement ausgesucht. Alsich jedoch dargestellt habe, dass ich wegenmeines Gastronomiebetriebs nur Stückver-träge annehmen könnte, hat man sich füreinen anderen Bariton entschieden. Ichhabe nie mehr wieder etwas von ihnengehört. Vielleicht konnten sie sich einfachnicht vorstellen, dass man beides – Kulina-risches und Musikalisches – ernsthaft be-treiben kann.

Damals war das ein neuer Weg, dermittlerweile akzeptiert wird. Heute kommengroße Event-Agenturen zu mir und wollenein musikalisch-kulinarisches Programm.Diese Agenturen können das nicht allein,weil sie sich entweder im Kulinarischen

oder im Musikalischen zu wenig auskennen.Ich wollte das eigentlich nie vermischen.Ich bin im Grunde noch heute ein Gegnerdieser Vermischung, denn wenn man diemusikalischen Sinne anspricht, sollte mandas ganz genießen und kulinarisch vielleichthöchstens mit einem guten Wein verbinden.

Ich halte das auch bei unseren Konzert-abenden im Restaurant so: Wir macheneinen Block Musik, später kommt das Essenals Steigerung oder Abwechslung hinzu –aber nie so wie im Zirkus, wo man Popcornisst und dabei eine Tigershow konsumiert.

Ist die Globalisierung auch ein Themain der Gastronomie und ist damit ein Rückzugder kulinarischen Vielfalt verbunden?

Baumgartner: Auf jeden Fall. Das merktman schon, wenn man sich die Entwick-lung der Küchentechnik auf den Gastro-Messen ansieht. Heute findet man dort fastausschließlich diese Konvektomaten undSelf-Cooking-Center. Convenience Foodist sehr verbreitet. Früher hat man für ein300-Personen-Galadiner etwa 40 gelernteKöche gebraucht. Heute macht man einConvenience Food-Menu für 1000 Gästemit vier Köchen. Folge ist eine Gleichmache-rei in der Küche. Überhaupt gibt es eineIndustrialisierung des Genusses und desGeschmacks, die sich schon voll durchge-setzt hat. Die Leute merken das nur noch

Sieben-Gang-Menüs und musikalischeHighlights: Im Freiburger Restaurant „ZumHirschen“ trifft Kochkunst auf Kultur.

PERSÖNLICH

45MUSIK�ORUM

nicht in dieser Deutlichkeit, da die Fertig-produkt-Komponenten – z. B. Fleisch,Sättigungsbeilagen, Gemüse und Saucen –beliebig ausgetauscht werden können.Dem Gast soll suggeriert werden, dass essich hier um kreative, frische Küche handelt.In Wirklichkeit isst er denaturiertes Fertig-futter. So wird wird eine Sauce Hollandaise,deren Grundlage bekanntlich Eigelb undButter sind, ohne Ei und industriell vorge-fertigt hergestellt, damit man sie über Stun-den warmhalten kann, ohne dass es dieGefahr von Salmonellenbildung gibt.

Degenerieren wir jetzt zu einem Volkvon „Geschmacksamputierten“?

Baumgartner: Ich hoffe nicht. MeineHoffnung ist, dass Annette Schavan, dieBundesministerin für Bildung und Forschung,den Ernst der Lage erkennt. Ich habe ihrschon einmal meine Überzeugung darge-

legt, dass wir für die Produkte der Regionein Bewusstsein schaffen müssen. Das mussin den Schulen beginnen, wo es ein Unter-richtsfach „Ernährung“ geben müsste. Ichhabe ihr angeboten, überregional in dieSchulen zu gehen. Ich würde dort denSchülern z. B. den Unterschied zwischeneinem Kalb vom Bauernhof, das seriös mitMuttermilch aufgezogen wurde, und einemindustriell mit Hormongaben und Mager-milchpulver gefütterten Kalb, das durch diedamit verbundenen Wassereinlagerungenviermal so schwer ist, zeigen. Man könntebeides braten, und dann würden die Schülererkennen, was eigentlich Geschmack ist.

Geschmack ist ja nichts anderes als dieVeredelung eines Rohprodukts. Es muss soschmecken, als wenn überhaupt nichtsgemacht worden ist. Eigentlich brauchtman für ein gutes Kalbsrückensteak nichtmehr als ein gutes Stück Fleisch, ein biss-

chen „fleur de sel“ (Gourmet-Meersalz) undeine gute Schwarzblechpfanne. Wenn dieLeute das mal wieder gegessen haben, wer-den sie nie mehr in die Metzgerei gehenund ein mit Hormonen vollgepumptesStück Mastkalbfleisch kaufen. Und so istdas bei allen Produkten, auch beim Fisch.Nehmen wir einen wilden Steinbutt undeinen Zuchtsteinbutt aus diesen Tanks.Der eine schmeckt natürlich nussig, ebenwie ein richtiger, wilder Steinbutt, wie manihn aus der Kindheit kennt. Der andereschmeckt nach Fischmehl.

Wir müssen wieder weniger und be-wusster essen. Isst man zweimal in derWoche ein gutes Stück Fleisch, dann hatman mehr davon, als wenn man die ganze

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Woche diesen Hormonmist zu sich nimmt,der eigentlich nur krank macht.

Um eine Brücke zur Musik zuschlagen: Ist diese Gleichmachungstendenzetwa auch eine Erklärung für die Krise desKlassikmarktes im Bereich der Tonträger?

Baumgartner: Klar! Es beginnt mit die-ser irrsinnigen Multiplizierung. Es müssenmillionenfache Auflagen her. Die erreichtman heutzutage nur noch mit Stars undsehr viel Werbung. Und wenn man keinenStar hat, dann wird einer wie Anna Netrebkoerschaffen. Sicher, sie singt großartig, aberwir haben in Deutschland zehn jungeSopranistinnen, die gleichwertig sind, aberkeine Chance bekommen. Auf dem Musik-markt ist es wie in der Nahrungsmittel-industrie: Man will wenige zentrale Figuren,die oben stehen. Die wenigen Stars kannman dann millionenfach auf Tonträgermultiplizieren und ein irrsinniges Gelddamit verdienen. Es geht gar nicht mehrdarum, junge Stimmen zu finden oder gareinen jungen Sänger innerhalb eines Opern-ensembles behutsam aufzubauen. Es gehtdarum, so schnell wie möglich einen Star zuschaffen. Man sieht das an Andrea Bocelli,der von der Stimme her eher durchschnitt-lich ist. Der Vermarktungs-Gag war, dass erblind ist und dass man ihn auf die Bühneführen muss. Solche abstrusen Sachen sinddann plötzlich wichtig, weil sie sich gutvermarkten lassen und man sie gut in dieWerbung einbauen kann.

Dieser Trend der Gleichmacherei wirdvon der Industrie immer wieder praktiziert.Wir müssen versuchen, diesen Massen-trends zu widerstehen. Warum muss einDiscounter Frischfleisch und frisches Obstund Gemüse anbieten? Dafür haben wirdoch gute Metzger und Bauernmärkte. DerDiscounter kann nur schlechtere Qualitätanbieten, weil dort das Material aufgrundder zentralen Vermarktung fünf Tage halt-bar bleiben muss. Wenn dabei die Kühlket-te viermal unterbrochen wird, werden dieErdbeeren mehrfach warm und wiederkalt, unter der Klarsichtfolie bildet sichFeuchtigkeit. Das begünstigt Schimmelbil-dung. Also muss das Obst eine Gamma-bestrahlung oder eine Anti-Schimmelpilz-Behandlung erhalten, sonst wäre es in zweiTagen faul. Maßnahmen, von denen dieVerbraucher eher krank als gesund werden.Die Fertigprodukte werden mit Antioxida-tionsmitteln und diversen Zusatzstoffenbehandelt – logisch, dass sich das Ganzeim Magen nicht so verdauen lässt wie bei-spielsweise ein paar vor Ort frisch geernteteKarotten. Die sind natürlicher für den

MUSIK�ORUM46

PORTRÄT

Menschen. Der Konsument muss wiederbereit sein, ein bisschen mehr Zeit undGeld zu investieren und konsequent dieSupermärkte zu meiden.

Was kann man gegen diese Massen-trends tun?

Baumgartner: Wir müssen einfach mehrfür das Essen ausgeben und uns Produktedirekt beim Erzeuger besorgen. Wir müssenvon diesem Convenience Food wegkom-men, in dem Allergien auslösende Ge-schmacksverstärker wie Mononatriumgluta-mat drin sind. Fast-Food besteht aus Fettund Glutamat in Verbindung mit ein wenigFleisch. Das Glutamat bewirkt eine Kon-zentration von Geschmack. Aber das istkein Geschmack, der von dem Produktkommt, sondern der vorgetäuscht wird.

Man muss die Menschen wieder fürden natürlichen Geschmack sensibilisieren,eigentlich wie in der Musik: Wenn mannur Tonträger des London SymphonyOrchestra als Level hat – weil man nurnoch das zu hören bekommt – und dannins Konzert geht, ist man vielleicht erst ein-mal enttäuscht. Denn die digitale Aufnahme-technik erzeugt eine so hohe Qualität, wiesie im Konzertsaal nicht zu erzielen ist. Desreinen Klangs wegen braucht man Theateroder Konzerte eigentlich nicht mehr zubesuchen. Doch: Keine CD kann auch nurentfernt das emotionale Gesamterlebniseines gelungenen Live-Opern- oder Kon-zertabends wiedergeben. Und deswegenhoffe ich, dass Live-Musik immer ihreBerechtigung haben wird. Für mich gibt esnichts Langweiligeres, als eine perfekt ge-sungene Traviata bei bester Klangqualitätim Sessel zu Hause zu hören. Das ist tot,das ist Konserve in jeder Form.

Musiziert ihre Familie?Baumgartner: Alle vier Kinder spielen

ein Instrument. Meine Frau war zehn Jahrelang fest als lyrischer Sopran am Theater.Für uns gehört es zur Seelenhygiene einesMenschen, ein Musikinstrument zu spielen.Unsere Kinder durften schon früh Instru-mente ausprobieren und sich dann einsaussuchen, das sie erlernen wollten. DieKleinste spielt Cello, die andere Flöte undGeige, und die dritte spielt jetzt nur nochGeige, nachdem sie vorher auch Klaviergespielt hatte. Unser Sohn wollte von An-fang an, seit er zwei oder drei Jahre alt war,immer schon an den Flügel. Geübt wirdjeden Tag – das Üben ist wie essen: Manmuss es einfach tun, mal mit mehr, malmit weniger Lust. Sobald man längere Zeitaussetzt und Fähigkeiten, die man verlernt

hat, neu erarbeiten muss, macht Musizierenwenig Freude.

Ihre Familie entspricht sicher nichtder deutschen Durchschnittsfamilie – dortnehmen die Computerspiele einen immergrößer werdenden Raum im Kinderzimmerein. Der Kriminologe Christian Pfeiffer hatvor kurzem beim Bundeskongress des Verbandsdeutscher Musikschulen einen Vortrag gehal-ten und Ausschnitte von besonders brutalenSzenen gezeigt. Wie schätzen Sie die Auswir-kung dieser Virtualisierung von Lebensweltenauf unsere Gesellschaft ein?

Baumgartner: Es schränkt die Kommu-nikationsfähigkeit ein. Gerade junge Men-schen ziehen sich immer mehr in ihr virtu-elles Leben zurück. Sie gewöhnen sichschnell daran und brauchen diesen Kick.Die Grafiken, die Musik und die Bewe-gung der heutigen Computerspiele bergenschon ein irrsinniges Verführungspotenzial,weil Jugendliche damit ohne Anstrengungihre Unterhaltung serviert bekommen.

In unserer Familie schränken wir dieZeit, die die Kinder an Bildschirmen ver-bringen dürfen, rigoros ein. Meist müssensie es sich durch vorheriges Üben erst „ver-dienen“. Man muss es nur konsequentdurchsetzen, was – wenn beide Elternteileberufstätig sind – fast nicht möglich ist. DerComputer sollte nicht im Kinderzimmerstehen. In Musik- oder Sportvereinen fin-den Kinder auch das, was sie am Computerhaben: das Zwischenmenschliche, die An-sprache, sie finden Aufmerksamkeit. Manmuss die Kinder mehr in das kulturelleLeben einbinden oder ihnen einfach einezusätzliche Arbeit geben.

Diese Beschränkung auf die Schule ist jaauch etwas Perverses. Wenn die Kinder imGymnasium sieben Stunden lang mit Lern-stoff vollgestopft werden, dann haben siekeine Möglichkeit, sich zu bewegen oderihre Aggressionen loszuwerden. Dann istein virtuelles Spiel natürlich ein guter Blitz-ableiter. Würde man aber Sport mit ihnentreiben, säße kein Kind am Computer.Kinder sehnen sich nach etwas, bei demsie sich abreagieren oder etwas erlebenkönnen. Gibt es aber kein Angebot, dannist der PC das Medium, das am leichtestenund schnellsten zu erreichen ist.

Welche Möglichkeiten sehen Sie füreine persönliche Einflussnahme? Sie wirken jamit Ihrem Betrieb, wirken dadurch, dass Sieauf der Bühne stehen. Doch ist hier ja immernur ein begrenzter Kreis zu erreichen. Gibt esbei Ihnen Überlegungen, wie Sie noch mehrin die Breite gehen können?

47MUSIK�ORUM

»Man muss die Menschenwieder für den natürlichenGeschmack sensibilisieren

– auch in der Musik«

Baumgartner: Ich würde im Schuldienstversuchen, über gute Musiklehrer undKöche Grundsteine zu legen. Wenn wir inunserem Schulkreis richtig wirken, dannkönnte man etwas erreichen. Wir haben inder Grundschule, die meine Kinder besuch-ten, auch Projekte gemacht. Da waren 400erwachsene Eltern dabei und haben mitBewunderung zugeschaut, wie die KinderNudeln selbst produziert haben. Jederkonnte mal richtig kneten und den Teigauf den Tisch hauen, je länger, desto besser.Den haben wir nachher ausgerollt undRavioli und Tortellini gemacht. Daraufhingab es einen regelrechten Ausverkauf anNudelmaschinen hier in der Stadt. DieKinder sind nun einmal die Motoren. Willman die Eltern umerziehen, muss man dieKinder beeinflussen. Sagen die Kinder: „Lassuns das doch einmal zu Hause machen“,dann wird die Mutter froh sein, dass siesich dafür interessieren. Man muss denMenschen zeigen, wie einfach es ist, selbstzu kochen. Wenn Sie die Abschnitte einesStücks Fleisch wegschneiden, diese mit einpaar Zwiebeln und Karottenwürfeln in derPfanne richtig braun anbraten, einen LöffelTomatenmark oder Sugo dazugeben, dasGanze wieder anbraten lassen und mit Weinablöschen, dann haben Sie in Kürze einewunderbare Fleischsauce. Und wenn manein Suppenhuhn und ein bisschen Gemüsein einen großen Topf gibt und das drei, vierStunden auf dem Herd stehen lässt, dannhat man eine Brühe, die sich abgesiebt vier

Werner Baumgartner und seine Frau,die Sopranistin Franziska Weiß-Baumgartner

Tage im Kühlschrank hält. Wenn die Leutenur wüssten, wie einfach Kochen ist. DieseAusrede, man habe zu wenig Zeit, lasse ichnicht gelten, weil ein Convenience-Produktauch seine Zeit benötigt. Mir geht es eigent-lich nur darum zu zeigen, dass die Leute inder gleichen Zeit, in der sie ihren Conve-nience-Mist zubereiten, auch etwas Ver-nünftiges kochen können.

Ich habe schon einmal Kurse zu denGrundlagen der Küche gegeben, weil dieheutzutage im Allgemeinen fehlen. Wirsind dabei aber auf Blockaden gestoßen.Bei einem Elternabend in der Schule schlugich vor, dass Kinder mit einem bestimmtenFreundeskreis oder einem ähnlichen Ge-schmack Gruppen bilden und jede Familieeinmal in der Woche für diese Gruppekocht. Es hätte wirklich nur jede Familieeinmal in der Woche kochen müssen,dann hätten 30 Kinder alle ein warmes,richtig gut gekochtes Mittagessen gehabt.Aber es gab sofort Gegenstimmen: „Nein,ich bin berufstätig“ und „Ich bin nichtimmer da“ etc. Das war ein Riesentheater.

Sie haben von dem Gespräch mitAnnette Schavan berichtet. Wären Sie auchbereit, in einer Beratungsfunktion dem Minis-terium zu helfen, solche Programme landes-weit aufzulegen?

Baumgartner: Ich weiß nicht, ob ichda eine Hilfe wäre, aber ich denke, manmüsste so etwas landesweit unterstützen.Die Umsetzung liegt jedoch bei den Eltern.Ohne sie geht nichts. Man kann nicht demStaat sagen „Du musst, du musst…“ undselber nichts mehr tun. Das funktioniertnicht. Ich habe es im Kleinen probiert, aberdas hat mich schon ein bisschen ernüchtert.Aber natürlich würde ich das wieder ver-suchen, wenn es andere Ansätze gäbe.

Ist die Organisation „Slow Food“ einAnsatzpunkt, im Bereich der Schule und derfrühen Prägung stärker aktiv zu werden?

Baumgartner: Ich glaube schon, dassSlow Food eine gute Bewegung ist, weil siedem entgegenwirkt, was nicht gesund seinkann und was sich auch als Sackgasse er-wiesen hat. Man sieht ja die amerikanischeFettleibigkeit und auch diese Mengen anLebensmitteln, die gegessen werden. Manmuss qualitativ hochwertiger kochen. Isstder Mensch langsam und hat ein Ge-schmackserlebnis, dann will er nicht nocheinen Hamburger und noch einen. Mankann problemlos einen Milchshake, einegroße Cola, zwei Big Mac und eine doppeltePortion Pommes in wenigen Minuten rein-donnern. Doch das Sättigungsgefühl setzt

erst nach 25 bis 30 Minuten ein und manhat in dieser Zeit das Doppelte von demgegessen, was man bei einer gemütlichenFamilienmahlzeit gegessen hätte.

Die Bundesregierung will bei Kindernund Jugendlichen ein Aktionsprogramm gegendie Fettleibigkeit starten. Glauben Sie, dassman über die Bewusstseinsbildung solcherAktionen tatsächlich etwas erreichen kannoder muss es nicht doch vor Ort wirken?

Baumgartner: Wir brauchen beides.Wir brauchen eine Rückbesinnung derEltern auf gutes Essen. Man muss das Fettreduzieren und die Bewegung fördern.Wenn in der Bundesregierung schon malangekommen ist, dass es eine Veränderungin der Ernährung geben muss, dann istschon viel getan. Übrigens bin ich über-zeugt, dass ein Mensch, der eine musischeoder sportliche Befriedigung erlebt, auchnicht so viel isst. Essen ist oft eine Ersatzbe-friedigung, weil den Menschen etwas fehlt.Wenn wir in der Breite die Musik fördern,dann nimmt außerdem die Aggressionsbe-reitschaft ab. Ich beobachte das immer beimusizierenden oder anderweitig kreativenLeuten. Sie gehen nie so aggressiv vor wieMenschen, die nicht die Gelegenheit haben,sich künstlerisch mitzuteilen. Wenn wirwollen, dass das Zusammenleben funktio-niert, dann müssen wir u. a. auch die Musikfördern. Denn die Musik ist Balsam für dieSeele. Das ist etwas, das nicht messbar ist.Musik und das damit verbundene Aufei-nander-Eingehen sind für den Menschenwichtiger als jeden Tag ein perfektes Essen.Kinder können auch mit Nudeln ein paarWochen gut leben, aber nicht ohne An-sprache. Verweigern Sie einem Kind dieAnsprache, dann ist das ist die schlimmsteBestrafung. Die Musik fördert einfach eineganz andere Willens- und Bewusstseinsbil-dung des Menschen.

Aus meiner Beobachtung heraus istdie Bedeutung der musikalischen Bildung imBewusstsein schon weiter fortgeschritten alsdas Ernährungsthema. Trotzdem gibt es nocheine Diskrepanz zwischen Sonntagsreden undMontagshandeln. Das heißt, Sie werden keinenPolitiker finden, der die musikalische Bildungnicht für wichtig hält, andererseits gibt esimmer noch Musikschulen, wo gekürzt wirdoder nicht bedarfsgerecht ausgebaut wird.Was müsste Ihrer Meinung nach passieren,damit jedes Kind eine Chance hat, ein Instru-ment zu erlernen und in die Welt der Musikeinzutauchen?

Baumgartner: Ich habe viele Kinderkennen gelernt, die mit Musik überhaupt

nichts am Hut hatten, weil die Eltern sienie in diese Richtung gebracht hatten. Esgab einen Projektchor im Ort, und da hat-ten genau diese Kinder einen Riesenspaßam Singen. Sie sind heute noch dabei undgehören zu den Engagiertesten.

Ich war auch einmal als Vorbereitungs-helfer für die Erstkommunion bei meinemSohn tätig. Da waren sechs Kinder in derGruppe, die regelrecht Hemmungen hat-ten zu singen. Als aber der Bann erst ein-mal gebrochen war, haben sie sehr schöngesungen. Ich habe gesagt: „Wenn ihr allerichtig laut singt, dann gehen wir Gokartfahren!“ Man muss kreativ sein, denn vieleSachen kosten Überwindung. Als sieschließlich das Körpergefühl hatten, umeinen richtig lauten Ton zu produzieren,der schön klang und der mit den anderenharmonierte, bekamen sie einen Schub.Die Befangenheit verflog, sie trauten sichplötzlich, im Unterricht mehr zu sagen.Das ist wie eine Therapie. Eine Befreiungs-therapie.

Eingangs haben Sie – auf die Fragenach der kulturellen Vielfalt hin – eindrucks-voll ihre Bezüge und Vernetzungen beschrie-ben. Bezogen auf das Regelwerk der Europäi-schen Union gibt es viele Formalisierungen,Einschränkungen und Vorschriften. Ist daseine Tendenz, die weiter schreitet, oder ist daschon eine Rückbewegung zu beobachten?

Baumgartner: Ich weiß es nicht, aberich hoffe natürlich, dass die ganzen Be-schränkungen und Reglementierungen, dieniemand braucht, auf dem Rückzug sind.Ohnehin kann man in kulturellen Belangenwenig verordnen. Da geht es eher umsErmöglichen. Das Gefühl für eine Sacheist wahnsinnig schwer zu vermitteln; in denBereichen, in denen die EU versucht, insolche Bereiche einzugreifen, sollte sie sichganz schnell zurückziehen.

Zurück zum kulinarischen Genuss:In Deutschland gibt es rund 17000 Rebsorten,aber nur 56 sind auf dem Markt. Ist das einegenerelle Tendenz der Verarmung der Sorten?

Baumgartner: Dass gewisse Sortennicht mehr erzeugt werden, ist manchmalsinnvoll. Auch wenn ich da gegen den„Franz Keller selig“ spreche, der den Elblingpropagiert hat. Für mich hat der Elbling –in puncto Finesse und Ertrag – keine Exis-tenzberechtigung mehr. Dagegen begrüßeich, dass jetzt auch im Badischen mit Caber-net Sauvignon, Cabernet Franc und Merlotexperimentiert wird. Eine Verarmung derSorten brauchen wir – so glaube ich – nichtzu befürchten. Es regelt sich selbst: Wenn

der Konsument gerne einen Sancerre odereinen Sauvignon Blanc trinkt und wir alsRestaurant dem Winzer Sancerre abkaufenund der deutsche Winzer auf seinem Grau-burgunder sitzenbleibt, dann wird er einigeJahre später auch Sauvignon Blanc anbauen.Und wir sehen ja, dass überall wunderbareSauvignon Blancs und weitere Sorten kom-men, die es vor 20 Jahren noch nicht gab.Auch ist es sinnvoll, Reben zu züchten, dieman nicht so oft spritzen muss, denn dieRückstände gelangen wieder in den Wein.

Inzwischen erlebt ja in Deutschlandder Rotwein eine Renaissance…

Baumgartner: In der Tat… und er wirdimmer besser. Das zunehmend wärmereKlima kommt dem Rotwein natürlich ent-gegen. Außerdem haben wir alles, was derRotwein braucht: Lößböden und – hieram Kaiserstuhl und an der Mosel – Vulkan-verwitterungsgestein. Wenn es da noch einbisschen wärmer wird, dann sind das Top-lagen für Rotweine. Wir sind erst am An-fang mit dem Rotwein.

Wird andererseits der Riesling nichtdurch den Klimawandel bedroht?

Baumgartner: Ich glaube, der Rieslingwird vom Geschmack her etwas fetter aus-fallen. Wird es wärmer, wird die Traubeauch reifer. Die Rieslinge werden sich be-stimmt etwas fruchtiger und opulenter ent-wickeln, wenn wir mehr Sonnenstundenan der Mosel haben. Ich glaube aber nicht,dass der Riesling je verschwinden wird.

Stehen für Sie Kochen und Musik inKonkurrenz? Tragen Sie gar Kämpfe mit sichaus und fragen nach Ihren Wurzeln?

Baumgartner: Die habe ich früher aus-getragen, als ich noch jünger war und meinStudium beendet hatte. Da hatte ich wirk-lich einen Konflikt. Gesangslehrer undRegisseure sagten mir eine große Gesangs-karriere voraus, weil meine Stimme ober-tonreich ist und sehr gut über das Orchesterkommt. Wenn ich nicht das Restaurant,den „Hirschen“, mit meinem Bruder sanierthätte, dann wäre ich damals vielleicht indie musikalische Richtung gegangen. EineOption, die ich wegen der Kulturkürzungenwahrscheinlich bald bereut hätte. So habenwir jetzt den Traditionsbetrieb weiterge-führt, der schon seit 1740 im Familienbesitzist, haben ihn mit dem angegliederten Hotelfür die nächste Generation fit gemacht.

Ich glaube schon, dass ich das Richtigegemacht habe. Ich habe beides relativ gutunter einen Hut gekriegt, auch wenn ichgesanglich noch mehr hätte machen können.

Nach der Lehre zum Koch bin ich nachBerlin gegangen und habe dort privatGesangsunterricht bei Hildegard Blumer-Ostkamp genommen, bevor ich mit demStudium begann. Sie hat mir die erstenGehversuche überhaupt ermöglicht. Ichdurfte nach einem Jahr im Rathaus Schöne-berg einen Liederabend mitgestalten. Dahabe ich zum ersten Mal diese Macht ge-spürt, die man hat, wenn man auf derBühne steht und die Leute packen kann.Beim Kochen ist es anders: Es ist eineTeamleistung, der Erfolg hängt von deneinzelnen Mitarbeitern ab. Und da liegtauch der Reiz: Es geht darum, die Einzel-leistungen zu einem genialen Ganzenzusammenzuführen. Bei einer guten Insze-nierung ist es auch so. Alle zusammen, alsoOrchester, Sänger und die vielen, die imHintergrund wirken, führen das Ganze zueinem beeindruckenden Gesamtergebnis.Deshalb ist auch der Starkult um dieSänger manchmal direkt peinlich.

Der große Unterschied zwischenSingen und Kochen liegt doch wohl darin,dass Sie beim Singen direkt mit dem Publikumverbunden sind, während der Kontakt beimKochen allenfalls später folgt…

Baumgartner: Wenn er überhauptfolgt. Und doch gilt sowohl für das Singenwie für die Arbeit in der Küche: Springtder Funke nicht über, dann bleibt da so einGefühl, dass man alles gegeben hat unddennoch das Ganze nicht in Wallung ge-kommen ist. Ich merke das oft bei Voll-mond, wenn die Leute sehr nervös odergar aggressiv sind und nicht warten können,bis die Vorspeise kommt. Da muss ich ersteinmal schauen, dass sie etwas in denMagen kriegen, bevor ich an die großeKochkunst denke. Die Gäste haben ihreTagesschwankungen, die Köche auch. Manmuss damit leben. Und im Übrigen ist dasauch das Schöne, weil es das Ganzespannend in beide Richtungen macht.

Was machen Sie, wenn Sie nichtkochen und nicht Musik machen?

Baumgartner: Dann bin ich mit meinerFamilie zusammen. Oder mit den Kumpeln.Der eine ist Maler, der andere Pianist, aberwir haben uns verboten fachzusimpeln.Wir fahren 80 Kilometer Rennrad undgehen dann auch mal in ein gutes Lokal,um eine feine Flasche Wein zu trinken undetwas zu essen. Dann kommen wir zurückund sind aufgetankt. Bewegung ist wirklichwichtig in meinem Leben, das war schonimmer so. Ich gehe auch hin und wiederzum Bergsteigen, wenn ich Zeit habe.

MUSIK�ORUM48

PORTRÄT

Im Juli beendete Volker Mettig sei-ne Tätigkeit für das Goethe-Institutund ging nach 26 Berufsjahren in denRuhestand.

Aus diesem Anlass hält sein langjähri-ger Freund und ehemaliger VorgesetzterRichard Jakoby Rückschau auf Mettigs Le-ben und Werk. Eines vorab: Volker Met-tigs Lebensbaum steht noch voll im Saftund lässt die gesellschaftspolitisch verord-nete Ruhestandsregelung problematischerscheinen. Wären alle Ruheständler kör-perlich, geistig und psychisch so stabil wieer, ginge es unserer statistisch erfasstenVolksgesundheit und der gesellschaftlichenMentalität rosig.

1942 in Sachsen-Anhalt geboren, flüch-tete Volker Mettig mit der Familie 1959 indie Bundesrepublik. Von seinem Vater er-hielt er mit acht Jahren nicht nur seinenersten Violinunterricht, von ihm erbte erauch seine tiefe Liebe zur Musik. Nach demGeigenunterricht erhielt er bis zum Abiturkontinuierlich Unterricht im Cellospiel, zudem er inzwischen gewechselt hatte. ImElternhaus Mettigs wurde intensiv Kammer-musik gepflegt – dies bis zu seinem Eintrittins Collegium musicum der Universität Bonn.Mit dem Collegium ebenso wie mit demChurkölnischen Orchester unter HeribertBeissel konnte er auf zahlreichen Konzert-reisen vielfältige künstlerische und organi-satorische Erfahrungen sammeln.

Im Herz ein Berufsmusiker

Eigentlich war Volker Mettig ein Berufs-musiker, obwohl er sich für ein Studiumder Geschichte und Slawistik entschied, die-ses auch mit der Dissertation Die Entwick-lung der deutschen Sozialdemokratie im Spiegelder russischen Presse 1868 -1896 abschloss.Bis zur Einstellung als Geschäftsführer derVerbindungsstelle für Internationale Bezie-hungen beim Deutschen Musikrat – jetztBereich Musik II des Goethe-Instituts – warer beim Bundespresseamt und bei der Fried-rich-Ebert-Stiftung tätig.

Die intensive Kammermusikpflege mitdem Akademischen Streichquartett der Uni-versität Bonn, die instrumentalpädagogischeArbeit an den Musikschulen in Godesbergund Meckenheim, die Mitbegründung desAkademischen Orchesters Bonn, für daser Konzertreisen organisierte, die Gründungdes Rheinischen Barockorchesters Bonn, mitdem er auch Auslandsreisen im Auftrag desAuswärtigen Amts unternahm – all diesund vieles andere bildete die vorzügliche

Zum Ruhestand von Volker Mettig

Im Dienst dermusikalischenAuslandsarbeit

Von Richard Jakoby

Voraussetzung für seine Tätigkeit in der„Verbindungsstelle Internationale Beziehun-gen“ des Musikrats. Wie auch sein Engage-ment in der Gesellschaft zur Förderung desstudentischen Musizierens Bonn sowie alsSchriftführer im Verein Schumannhaus Bonn.Überdies engagierte er sich personell undmateriell für die Musikschule in der FavelaRohinha in Rio de Janeiro.

Idealist im Dienst der Musik

Mettigs Tätigkeit in der Verbindungsstellebzw. im Bereich Musik II umfasst eine Fül-le von Initiativen, Konzepten, Kalkulatio-nen, Einsätzen zum Erhalt des Etats, Dis-kussionen, Gutachten, für deren Bewältigunger mehr als einen normalen Arbeitstag be-nötigte: Da gingen Abende, Nächte, Feier-und Sonntage drauf. Ein solches Pensumkonnte nur ein Idealist, ein für die SacheMusik und Musikaustausch in hohem MaßeEngagierter, fast Besessener, leisten. Ein nurkleiner Einblick in das, was Volker Mettigzusammen mit den Kollegen der Verbin-dungsstelle für die Auswärtige Kulturpoli-tik erbracht hat, möge die Dimension sei-ner Leistungen andeuten: In den 26 Jahrenseiner Arbeit für den Musikrat und dasGoethe-Institut sind mehr als 8000 Pro-jekte mit über 50 000 Einzelveranstaltun-gen gefördert worden. Daran waren über500 000 deutsche und ausländische Musi-ker aktiv beteiligt. Das alles wurde bewäl-tigt mit einem Zuschussvolumen aus Bun-desmitteln in Höhe von ca. 60 Mio. Euro.Etwa das Drei- bis Vierfache erbrachten die

Ensembles und ihre ausländischen Partnerzusätzlich. Der Wert der Arbeit der fast aus-nahmslos ehrenamtlich tätigen Organisa-toren dieser Projekte ist nicht zu ermessen.

Fast überall da, wo sich durch die poli-tischen Veränderungen nach dem Ende desKalten Krieges Ansätze für eine Wieder-aufnahme des Kulturaustauschs ergaben,war die Verbindungsstelle zur Stelle: in derSowjetunion, im Baltikum, in Rumänien,in der Mongolei, in Vietnam, in China.

Einige Projekte hatten hohe politischeSymbolkraft: die erste Aufführung einerBach-Passion in Israel (1985), die ersten Gast-spiele eines deutschen Ensembles in Rumä-nien nach dem Ende des Ceaus escu-Regi-mes und mit polnischen Musikern im ehe-maligen Königsberg, diverse Gastspielrei-sen des Leipziger Synagogalchors nach Israel,Polen, Brasilien, Kanada und in die USA,bei denen es zu ergreifenden Begegnun-gen mit Überlebenden des Holocaust kam,die gemeinsame Aufführung von VerdisRequiem durch tschechische Chöre und dasBundesjugendorchester in Theresienstadt,die Entsendung von Lehrern und Studen-ten der Hochschule für Musik und Thea-ter Hannover zur Arbeit mit kriegstrauma-tisierten Kindern in Bosnien.

Die weltweit anerkannte Erfolgsgeschich-te der Verbindungsstelle kann bruchlos wei-tergeführt werden, denn der Boden ist –nicht zuletzt durch das Wirken Volker Met-tigs und seines Teams – dafür bereitet.

Ehrlich, virtous, diplomatisch

Andererseits: Mitunter konnte seine akri-bisch amtliche Ehrlichkeit unruhig machen,wenn leger gehandhabte Vorgehensweisenbequemer und schneller zum Ziel geführthätten. Offiziell war ich der Chef, Mettigder Geschäftsführer; in Wirklichkeit war esumgekehrt. Sein psychologisches Meister-stück war die Überbrückung der Ära EgonKraus zu meiner. Kraus hatte die Verbin-dungsstelle gegründet und über Jahrzehn-te hin mit großem Erfolg geprägt. Mettiggelang es virtuos, in der Übergangszeit eineergiebige Arbeitsweise zu schaffen – zumWohle der Institution, ihrer Mitarbeiter unddes Verhältnisses zum Deutschen Musik-rat, das durchaus auch diplomatische In-jektionen gebrauchen konnte.

Alle wünschen Volker Mettig einen er-füllten Lebensnachmittag, eingehüllt in denDank für die Leistungen um unser Musik-leben, verknüpft mit dem Wunsch, dass eruns eng verbunden bleibt.

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Tilman Allert plädiert für ein Prädikat „Langsamkeit

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Musikhochschulen in Deutschland, das sind:Exellenzinstitute, Talentschmieden, Frei-räume für künstlerische Entfaltung, staat-liche Institutionen, die Renommee haben,ihren Ruf aber auch schützen und ihn immeraufs Neue unter Beweis stellen wollen. DieHochschule im 21. Jahrhundert hat einenvirtuosen Spagat zu leisten: als Ausbildungs-ort für den internationalen und hart um-kämpften Markt einerseits, andererseits

„Thinktank und Spürnase“: Die Musikhoch-schule in Stuttgart. © www.mh-stuttgart.de

Ursache hierfür sei wiederum der „ständi-ge Leistungsnachweiszwang“ für die Hoch-schulen, auf den sie mit hektischen Projek-ten und Aufführungen reagierten. Allert forschtund lehrt an der Universität in Frankfurt amMain. Für seine Habilitationsschrift Die Fa-milie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einerLebensform erhielt er 1999 den Christa-Hoff-mann-Riem-Preis für qualitative Sozialfor-schung. Zusätzlich zu seinen Schwerpunk-ten in der Familien- und Mikrosoziologie forschter zum Thema „Musik als Beruf“. Mit Chris-tian Höppner sprach Allert über den Kon-kurrenzdruck unter Musikhochschulen unddie Zukunft der Musikvermittlung, aber auchüber sein Verhältnis zu Johann Sebastian Bach.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtigeAusbildungssituation an den deutschen Musik-hochschulen?

Tilman Allert: Als staatliche Institutio-nen unterliegen auch die Musikhochschulendem Zwang, die ihnen zugestandenen Auto-nomieprivilegien durch Leistungsnachweisezu rechtfertigen. Das rückt ihren institutio-nellen Kernauftrag, den künstlerischenNachwuchs zum einen unmittelbar undzum anderen vermittelt über die musik-pädagogischen Berufe auszubilden, in dasZentrum der Aufmerksamkeit. Hierbei istein Trend erkennbar, der zu denken gibt.Mancherorts entwickeln sich die Musik-hochschulen zu Einrichtungen, die an Kon-zertagenturen erinnern. Die Rhetorik desöffentlichen Exzellenznachweises setzt dieStudierenden unter einen Performanz- undAufführungsdruck, der zu Lasten der Sorg-falt und eines sanktionsfreien Übens geht.

Einige Musikhochschulenerinnerten ihn an „Konzert-

agenturen“, kritisiert der SoziologeTilman Allert die momentaneAusbildung in Deutschland. Diejungen Menschen gerieten schonim Studium unter einen Auffüh-rungsdruck, der Sorgfalt undstressfreies Üben immer wenigerzuließe.

muss sie „Thinktank“ und Spürnase sein, umgesellschaftlichen Entwicklungen – päda-gogisch angemessen – lehrend begegnenzu können. Nicht zuletzt hat sie die Auf-gabe, neueste Erkenntnisse und bestehen-de Traditionen zu prüfen, zu adaptierenund für kommende Generationen zugäng-lich zu halten.

In loser Folge wird das MUSIKFORUMunter dem Titel „Musikhochschule im Wan-del(?)“ Perspektiven zum Thema „Musik-berufe“ vorstellen, wie sie an den Deut-schen Musikhochschulen entwickelt undvorgedacht werden. Den Anfang machtder Frankfurter Soziologe Tilman Allert.

Perspektiven zumThema „Musikberufe“

Es ist äußerst schwierig, die Musikhoch-schulen in diese dem Üben verpflichteteSorgfalt einzubinden. Dabei ist an diesegrundlegende Zielsetzung zu erinnern.Musikhochschulen sind von ihrer Ausrich-tung her konservative Einrichtungen, weilsie kanonverpflichtet sind. Zwar sind ihreAbteilungen und Fachbereiche in ihremBinnengefüge – durch die musikalischeTradition bedingt – nie gleichrangig gewe-sen, ja sie gestehen sogar einzelnen Abtei-lungen Experimentierfreude und ästheti-sche Innovationen ausdrücklich zu, abervon ihrem institutionellen Auftrag her sindsie weniger Orte der Innovation. Das machtdie künstlerische Szene selbst.

Die Hochschule bildet demgegenübereher ein sanktionsfreies Noviziat, und dieStudenten sind die Novizen. Der Novize

SCHLUSS MIT DEM

BILDUNG.FORSCHUNG

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und Sorgfalt“ in der Ausbildung an den Musikhochschulen

ist nicht der Professionelle, sondern er istauf dem Wege zum Professionellen undauf dem Weg dorthin sollte er in einem ge-schützten Raum, der Hochschule, begleitetwerden. In den Klassen, in denen man imMikroformat die Aufführung vor sich hat,wird diese Kultur einer künstlerischenProfessionalität praktiziert. Dabei erlangenAufführungen stets die Qualität eines legi-timen Dilettantismus, eines legitimen Aus-probierens von Stil-, Interpretations- undAuftrittsvarianten. Bei dem zunehmendenKonkurrenzdruck der Musikhochschulenund ihrem Druck, sich über so genannteAlleinstellungsmerkmale zu positionieren,entsteht hingegen ein Sog im Binnenmilieuder Musikhochschulen, der dieses wunder-bar geschützte Noviziat, das im ÜbrigenTausende von ausländischen Studenten

anzieht, in seiner tragenden pädagogischenFunktion bedroht.

Wo liegt die Ursache? Die Musik-hochschulen sind sehr attraktiv und auch fürausländische Studierende interessant. Woherkommt der Konkurrenzdruck untereinander?

Allert: Wie die Hochschulen insgesamtstehen auch die Musikhochschulen unterständigem Leistungsnachweiszwang, demsie in einer hektischen Konstruktion vonProjekten und Aufführungen zu begegnensuchen – völlig unnötig meines Erachtens,

da Musikhochschulen in der Regel an Ortenplatziert sind, wo die künstlerische Szeneohnehin sehr stark etabliert ist und es vieleAufführungen gibt. Die Musikhochschulensollten sich nicht als künstlerische Avant-garde verstehen, sondern sollten sich ihrerureigensten Aufgabe, der Ausbildung desNachwuchses, widmen und ihre Güteaus-weise durch die Qualität ihrer Ausbildungunter Beweis stellen: Durch gute Betreuung,durch Mahnung an Studenten, nicht soforteinem künstlerischen Narzissmus zu frönenund ihre Begabungen zu verschleißen; ihre

Foto: AFZ Universität Potsdam/Fritze

Wettbewerb um jeden Preis!

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Aufgabe ist es, die Leute in harte Testsitua-tionen zu bringen, was das Einüben vonRepertoires oder die Aufführungspraxis anverschiedenen Orten sowie vor verschiede-nen Publika betrifft. Wenn die Homepagesder Musikhochschulen damit werben, „dergrößte Konzertveranstalter der Region“ zusein, dann bezieht man sich stolz auf dievielen Vorspielabende, die einer breiterenÖffentlichkeit bekannt gemacht werdensollen, aber ein Gütekriterium für die Insti-tution Hochschule scheint mir das nochlange nicht zu sein.

Ist das auch ein Plädoyer für dieMeisterklasse?

Allert: Es ist ein Plädoyer für die kon-tinuierliche Begleitung des lernenden Künst-lers – „Meisterklasse“ ist die altertümlicheBezeichnung dafür. Ich sehe das so, wohlwissend, dass die Meister-Schüler-Beziehungselbst ihre Devianzen hat. Aber nur weilsie Devianzen hat und weil sie möglicher-weise in der Geschichte der musikalischenAusbildung, z. B. wegen der starken Fixie-rung der Studierenden auf das Interpreta-tionsdesign ihrer Lehrer, auch ihre negativenFolgen hatte, sollte man jetzt das Kindnicht mit dem Bade ausschütten und diesegenuin institutionentypische Ausbildungs-kultur abschaffen oder reduzieren.

Heute hat kaum ein Sänger noch dieMöglichkeit, mit seiner Stimme tatsächlich zureifen. Wie könnte man den Qualitäten wiedermehr Raum geben?

Allert: Sie sprechen genau die Folge-probleme einer Umstellung auf BA-Studien-gänge an, gegen die sich die Musik- undKunsthochschulen lange und mit gutenGründen gewehrt haben. Mittlerweile istper kurrikularer Korrektur durchgesetzt,dass die künstlerische Reife den nämlichenTempovorgaben folgt wie die Ingenieurs-ausbildung. Dabei wissen es eigentlich alleBeteiligten besser, dass der Professionalitäts-nachweis nach vier Jahren nicht mehr alsein Papier ist. Denkbar wäre etwas ganzanderes: Wenn die Hochschulen sich auseiner Logik auskoppeln, die „Wettbewerbum jeden Preis“ propagiert, dann könntensich die Langsamkeit und die Sorgfalt zueinem Güteausweis entwickeln, der sichunter den Studierenden herumspricht. Diegepflegte Bescheidenheit könnte sich zueinem Gütemerkmal transformieren. DerWettkampf um die grellste Präsenz in denMedien verweist jedoch auch auf ein Eliten-problem; diejenigen Musikhochschulpräsi-denten und Rektoren, die sagen „MeineEinrichtung ist eine zu schützende Einrich-

tung und ich muss mit meinem Haus nichtjeden Tag in der Zeitung stehen“, brauchenMut. Und wer wagt es, so etwas zu formu-lieren? Ich kenne niemanden, der diesesRisiko eingeht.

Hängt das nicht mit dem Bewusstseinfür die gesellschaftspolitische Bedeutung ihrerArbeit zusammen?

Allert: Ja, genau das sprechen wir hier-mit an. Die Musikhochschulrektoren müssenüber den Tag hinaus denken. Es wäre zu-mindest einen Versuch wert, sich von derkontinuierlichen Präsenzverpflichtung, unterdie sie eine exzellenzeuphorische Öffent-lichkeit ständig setzt, abzukoppeln und zusagen: „Bei uns wird gut ausgebildet. Undwir sorgen – von der Rekrutierung desPersonals bis hin zur Qualität des Unter-richts, von der Ausstattung der Räume bishin zu den Übemöglichkeiten – dafür, dassbei uns die Studenten vor der schnellenVermarktung ihrer eigenen Kompetenzgeschützt werden und nicht etwa auf dieschnelle Vermarktung trainiert werden.“

Die zunehmende Zahl von Studieren-den aus dem Ausland – meist mit einer abge-schlossenen künstlerischen Ausbildung – sindein Beleg für die Attraktivität deutscher Musik-hochschulen. Besteht hier nicht die Gefahr derBildung von in sich abgeschlossenen Mikro-kosmen innerhalb der Hochschulen?

Allert: Die Gefahr sehe ich nicht. Pro-fessionalitätspflege im künstlerischen Berufist eine lebenslange Aufgabe. Am Beginnsteht aber ein Mikrokosmos. Die Unterrichts-formen an den Musikhochschulen fallendurch eine Dominanz des Einzelunterrichtsauf, d. h. durch die Beziehung zwischenLehrendem und Lernendem. Die Erinne-rung an eigene Lernerfahrungen von Musi-kern und die besondere Rolle, die bestimm-te Lehrer oder Lehrkonstellationen dabeispielten, deutet darauf hin, dass in diesenBeziehungen in besonderer Weise undanders als an anderen Bildungseinrichtungeneine ästhetisch wie erzieherisch innovations-und leistungsfähige Kommunikation ermög-licht wird. Im interaktiven Prozess zwischenLehrendem und Lernendem werden diezu erwerbenden Kompetenzen vermittelt,die neben der souveränen Beherrschungdes Instruments und der kognitiven Seitedes Musikverständnisses, vornehmlich diepsychische Seite der Artikulation von Prä-senz umfasst. Die akustische, auditive odervisuelle Wahrnehmung des Zuhörers ineine ästhetische Erfahrung zu transformie-ren, verlangt eine Suggestivität des künstle-rischen Ausdrucks, die die Erfahrungsmodi

von Künstler und Rezipient in eine Korres-pondenz zueinander bringt. Indem derKünstler bislang unartikulierte Erfahrungs-gehalte in eine sinnlich wahrnehmbare Aus-drucksgestalt übersetzt, werden sie demRezipienten stellvertretend in der gekonntenmusikalischen Gestaltung sinnlich erkennbargemacht. Die eigene innere Realität wahr-nehmen zu können, in eine künstlerischeAusdrucksintention zu übersetzen und ineiner authentischen Präsentation darstellenzu können, zählen zu den vorrangigenkünstlerischen Fähigkeiten. PädagogischerOrt auf dem Weg dorthin ist eine äußerstsensible Kommunikationssituation.

Und man darf Folgendes nicht vergessen:Der Lehrende an einer Musikhochschulekommt von der Bühne, er ist selbst Künstler,und für das professionalisierte Künstlertumist es eine Provokation, sich mit dem päda-gogischen Alltag zu beschäftigen. Der Leh-rer, der gleichzeitig passionierter Künstlerund Ausbilder ist, ohne Drang, noch selbstauf der Bühne zu stehen, der ist an denMusikhochschulen eine Seltenheit. Außer-dem hat es wohl stark mit den ausländi-schen Studierenden zu tun, die wegen derhistorischen Reputation der deutschenMusikhochschulen kommen, die für sieinteressanterweise immer ein Ort der Sorg-falt und der Pflege der Kulturen darstellenund nicht einer der schnellen Übersetzungin irgendeine Aufführung oder Performance.Sie haben hinsichtlich ihrer Herkunftskultu-ren weniger Probleme mit dem Meister-Schüler-Verhältnis als Studierende aus un-serer hedonistisch orientierten Kultur. Einehedonistisch orientierte Sozialisationskultur,gepaart mit gepflegter Musikalität, findenwir mit ein paar Ausnahmen noch in derPrimärsozialisation im Elternhaus. Die aus-ländischen Studierenden hingegen suchenintensive Betreuung. Während hiesige Leh-rende natürlich fasziniert sind von der tech-nischen Kompetenz, die sie mitbringen.

Sind die Heerscharen arbeitsloserPianisten nicht in vielfacher Hinsicht einegesellschaftspolitische Herausforderung?

Allert: Das sollte man differenziertersehen. Das Piano stellt nun einmal ein Leit-instrument in der Musikausbildung dar.Aber abgesehen davon: Niemand sprichtüber die vielen Juristen, die keinen Job be-kommen, oder darüber, wie selten Hebam-men, die ausgebildet werden, später auchals Hebammen eingestellt werden. Wennwir die Ausbildungseinrichtungen so engan den Arbeitsmarkt koppeln und wennwir sogar die Musikhochschulen zu Avant-garden dieser Entwicklung machen, dann

BILDUNG.FORSCHUNG

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nehmen wir ihnen ihre ureigenste Zielset-zung, die nämlich Musikpflege und Ausbil-dung von Professionalität ist und nicht Sorgefür den Arbeitsmarkt. Ich wüsste auch garnicht, wie man eine Art Garantie für diespätere Verwendbarkeit in die Ausbildungübernehmen soll. Die Pianisten müssen alsParadebeispiel für eine fehllaufende Kon-zentration von Ressourcen an Musikhoch-schulen herhalten, aber den Unwägbarkeitendes künstlerischen Kräftefeldes, dem Prob-lem der Unkalkulierbarkeit von Karrierensind alle Ausbildungsinstitutionen ausgesetzt.

Stichwort „Besetzung“: Haben wirnicht zu viele Pianisten und zu wenige Musik-lehrer? Sind die Hochschulen nicht in derPflicht, gesellschaftliche Verantwortung zuübernehmen?

Allert: Was wäre die Alternative für eineBesetzung? Sollte man sagen: „Wir nehmenkeine Pianisten mehr, sondern nur nochHarfenisten?“

Aber hat nicht jede Hochschule dieMöglichkeit, ja die Verpflichtung der Profil-bildung auch unter gesellschaftspolitischenKriterien?

Allert: Wichtig scheint mir zu sein, dassdie Musikhochschule die Kriterien einersachlich vertretbaren Rekrutierung ihrereigenen professionellen Schwerpunkte insZentrum rücken sollte. Man kann nicht ein-fach auf ein Instrument bei Besetzungenverzichten, das genuin zu einer musikalischenLandschaft gehört. Eine weitere Möglichkeitder Weichenstellung läge darin, dass die Aus-bildung den fachbereichsspezifischen Dünkelnachhaltiger überbrückt, als dies bisher ge-schehen ist. Man muss das Intelligenzpoten-zial, das Begabungspotenzial von Leuten, dievon vornherein Musik- oder Musikschul-lehrer werden wollen, stärker in der Ausbil-dung berücksichtigen und sie mehr in die

Kurse einbinden. Es gibt immer noch Gräbenzwischen den reinen professionellen Ausbil-dungen und den Musiklehrer- und Musik-schullehrerausbildungen. Hier könnte manmehr Experimentierfreude walten lassenund bislang geschlossene Türen öffnen.Man müsste sich Modelle überlegen, indenen die Pflege des Musikspielens beidenBerufsgruppen erläutert wird – sowohl denLehrern, die diesen Enthusiasmus weitertragen, als auch den späteren Professionel-len, die ja erwarten, dass ihre künstlerischenLeistungen überhaupt nach den immanen-ten ästhetischen Kriterien und somit sach-kompetent gewürdigt werden.

Ein Ausblick in das Jahr 2015. WelcheWeichen müssten heute gestellt werden, damites uns dann mit einem Gemeinwesen bessergeht?

Allert: Das zu beantworten, übersteigtmeine professionelle Kompetenz. Vielleichtein Hinweis dazu: Das Gemeinwesen lebtbei uns in der Dichotomie von Beruf undFreizeit. Die Freizeitaktivitäten in Deutsch-land sind bedrohte Aktivitäten, weil dieArbeitswelt an Dominanz gewinnt. Auchdas Engagement in Musikvereinen wirdaus dem laienmusikalischen Eifer heraus-gezogen und in eine Routine übersetzt, diefür unsere musikalische Kultur eine Bedro-hung ist. Es müsste ein deutlich ausgegliche-neres Verhältnis zwischen Beruf und Frei-zeit möglich sein, aber es ist zu fürchten,dass das ein frommer Wunsch bleibt. Fernerscheint mir die Art und Weise, in der zu-künftig Musik dargeboten wird, eine Heraus-forderung für die zukünftige Ausbildung zusein; sie braucht mehr hermeneutische,interpretative Kompetenzen. Künstler solltenin der Lage sein, auch aus dem Stand zuerläutern, was sie da aufführen, und sichnicht zurückziehen auf das alte romantischeKünstlertum, den „sprechenden“ Musikeroder die Musikansprache. Dies wird der zu-künftigen Musikergeneration leichter fallenals der im Künstlerideal des 19. Jahrhundertssozialisierten alten Generation. Da kannman ganz optimistisch sein.

Da wir dieses Interview in KlosterEberbach führen, eine persönliche Frage:Welche Beziehung haben Sie zu diesem Ort?

Allert: Das ist mein kleines musikali-sches Paradies, das ich aufsuche, seitdemich hier im Taunus ansässig geworden bin.Ich freue mich auf die vielen Konzerte, diehier angeboten werden. Es ist ein wunder-barer Ausgleich zu meinem auf das Schrei-ben und Lehren konzentrierten Beruf.Über die hier gepflegte Weinkultur wird

das vermittelt, was auch für die Musikwichtig ist, nämlich Askese und Sorgfalt imUmgang mit dem, was man hat – hier alsodas, was man von der Natur bekommenhat; im Fall der Musikhochschulen sind esBegabungen, die man im eigenen Haus hat.Meine Sorge gilt der Professionalität, derPflege eines asketischen und diszipliniertenUmgangs mit den eigenen Fähigkeiten.Und die starke Performanzverpflichtung isteine Bedrohung, denn sie geht immer zuLasten der Zeit, die es braucht, bis etwasgereift ist – wie der Wein eben auch seineZeit braucht, bis er gereift ist.

Können Sie sich vorstellen, dass Siedas, was an diesem Ort erfahrbar ist, einesTages per virtuellem Erlebnis am PC ersetzenkönnen – mit Hilfe eines Anzugs mit Geruchs-drüsen und taktilen Reizen?

Allert: Ich gehöre einer Generation an,die sich die musikalische Aufführung – beialler Sympathie für die Konserve – nur ineiner Live-Situation vorstellen kann. Insofernfällt es mir schwer, mich in ein Erlebnishineinzuversetzen, das ich zu Hause Salz-stangen kauend habe, weil das Publikumseinerseits eine Gemeinschaft ist, die sichanschließend trifft und sich darüber aus-tauscht. Dass ich mir das alles in den eige-nen vier Wänden mit den entsprechendenolfaktorischen Impulsen privatistisch an-eigne, kann ich mir nicht vorstellen. Künst-lerische Darbietung ist an die Präsenz ge-bunden, in sie ist das Authentizitätsverspre-chen eingelagert, über das ein Kunstwerküberhaupt eine allgemeine Erfahrung zuartikulieren vermag.

Und was treibt der Musiker TilmanAllert?

Allert: Das Musizieren ist berufsbedingtleider nur eingeschränkt möglich, aber ichspiele leidenschaftlich gerne Klavier undbegleite gern unsere Tochter, die Geigelernt. Gelegentlich spiele ich auch in einerBand Unterhaltungsmusik, da bin ich dannGelegenheitsmusikant.

Wie ist Ihr Verhältnis zu JohannSebastian Bach?

Allert: Meine Klavierlehrerin war Giese-king-Schülerin, sie war eine passioniertBach spielende Lehrerin. Das Wohltempe-rierte Klavier kann ich leider längst nichtvollständig, aber in einigen Stücken spieleich das mit großer Begeisterung. Es ist inseiner kompositorischen Anlage, im intel-lektuellen Durchdringen eines Klangraumsfür mich beispielhaft als eine Musik, diezum Sprechen gebracht werden kann.

„Begabungen stärker in der Ausbildungberücksichtigen“: Tilman Allert.

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BILDUNG.FORSCHUNG

Das Projekt hat 2003 in Bochum als Ko-operation der Musikschule Bochum, derZukunftsstiftung Bildung und der Grundschu-len begonnen. In seiner jetzigen Form mitneuer Trägerschaft und neuem Konzept zurAusdehnung auf das gesamte Ruhrgebiet star-tete „Jedem Kind ein Instrument“ zum Schul-jahr 2007/08. Seit Schulanfang am 6. Au-gust arbeiten 34 Musikschulen mit insgesamt223 Grundschulen der Region zusammen.Insgesamt 7211 Kinder wurden angemeldet.Die Erstklässler lernen spielerisch bis zu 15verschiedene Instrumente kennen. Ab derzweiten bis zur vierten Klasse erhalten sieInstrumentalunterricht an Instrumenten ih-rer Wahl.

Eine Fortführung des Programms – Initia-toren sind die Kulturstiftung des Bundes, dasLand Nordrhein-Westfalen und die Zukunfts-stiftung Bildung in der GLS Treuhand – wurdevom Land Nordrhein-Westfalen über 2010hinaus zugesagt.

Für das MUSIKFORUM sprach ChristianHöppner mit dem Staatssekretär für Kulturdes Landes Nordrhein-Westfalen, Hans-Hein-rich Grosse-Brockhoff, Hortensia Völkers vonder Kulturstiftung des Bundes und dem Bun-desgeschäftsführer des Verbands der Musik-schulen (VdM), Matthias Pannes, über dasbundesweit Schlagzeilen machende Projekt„Jedem Kind ein Instrument“.

Nordrhein-Westfalen hat viel Geld indas Programm investiert. Stehen Sie jetzt hin-sichtlich des Engagements für kulturelle, musi-kalische Bildung im bundesweiten Länderver-gleich auf dem Siegertreppchen?

Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff:Wenn wir auf einem Siegertreppchen ste-hen, dann gemeinsam mit der Kulturstiftungdes Bundes, die uns ermuntert hat, diesesbesondere Projekt zu machen. Insgesamtsind wir hinsichtlich der kulturellen Bildungaber in der Tat momentan ziemlich einzig-artig in der Bundesrepublik.

Wie kommt der Bund dazu, ein Landin einer ganz bestimmten Maßnahme zufördern? Gibt es da keinen Rollenkonflikt?

Hortensia Völkers: Der Bund fördertkein Land. Die Kulturstiftung des Bundesfördert die Kulturhauptstadt Europas – dasist das eigentliche Projekt: ein Projekt derKulturstiftung für Essen und das Ruhrge-biet. Sonst würden wir das nicht machen.

Grosse-Brockhoff: Nur weil es die Ideeder Kulturhauptstadt gibt, können wir ein-seitig ins Ruhrgebiet gehen. Sonst müsstenwir es gleich landesweit einführen, und daswäre organisatorisch nicht zu verkraften.Wir halten gemeinsam viel vom Prinzip„learning by doing“.

Völkers: Einen herausragenden Beitragzur Kulturhauptstadt Europas zu entwickeln,ist für eine nationale und international ope-rierende Bundesstiftung zweifellos eine reiz-volle Aufgabe. Wir wollten deshalb nichtirgendein größeres Kunstprojekt fördern,sondern etwas machen, was ohne unserespeziellen Möglichkeiten nicht zustandekommen würde. Mit „Jedem Kind ein Instru-ment“ haben wir uns dafür entschieden, einZeichen für die kulturelle Bildung zu setzen.Wir haben uns 150 Projekte im Ruhrgebietangeschaut und sind dabei auf das Projekt

„JEKI“ in Bochum gestoßen. Uns wurdeschnell klar, dass dies das Potenzial hatte,um daraus ein großes Programm zu machen.Dann hatten wir noch das Riesenglück, dassHerr Grosse-Brockhoff unser Gesprächs-partner in der Staatskanzlei war. Er war die-sem Projekt gegenüber sehr aufgeschlossenund hat sofort gesehen, dass es für unsbeide eine große Chance ist. So sitzen wirjetzt seit fast einem Jahr in vielen Rundenzusammen. Für uns ist das eine großeHerausforderung, alle Fachkompetenzenvor Ort zu bündeln und ganz unterschied-liche Interessen von Kultur, Bildung, Politikund Verbänden auszutarieren.

Letztendlich sind es aber doch Steuer-gelder vom Bund. Weckt das bei den Länder-kollegen den Ehrgeiz, in ähnliche Richtungenzu gehen, oder gibt es eher Neiddiskussionen?

Grosse-Brockhoff: Ich höre jedenfallssehr viele Nachfragen. Alle sind neugierigund wollen Informationen, die ich ihnenauch zuschicke. Meine Prognose ist, dassdas Projekt in wenigen Jahren auch in ande-ren Ländern eingeführt wird. Wir habenals Vorreiter eine gewisse Verpflichtunggegenüber allen und müssen möglichstpositive Erfahrungen sammeln, die auf

Mindestens bis zum Jahr2010, wenn das Ruhrgebiet

Kulturhauptstadt Europas wird,soll das Programm „Jedem Kindein Instrument“ Angebot für alleGrundschüler im „Revier“ sein.Nach den Worten von HortensiaVölkers, der künstlerischen Direk-torin der mitinitiierenden Kultur-stiftung des Bundes, gehe es da-rum, „ein Zeichen für die kulturelleBildung zu setzen“.

Das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ will Schule machen

FÜR DIEStartsignalMUSIKALISCHE BILDUNG?

Die Initiatoren des Programms im Gespräch

Instrumentekennen lernen:Erstklässler werdenspielerisch anRhythmus undNotation heran-geführt.

Fotos: Projektbüro „JedemKind ein Instrument“

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Gleich geht’s los: Kinder derBochumer Grundschule in derVöde freuten sich am 30. Augustüber den Start ihres Projekt-unterrichts – mit ihnen die Initia-toren Hortensia Völckers, Man-fred Grunenberg (Leiter desProjektbüros „Jedem Kind einInstrument“), Helene Shangama(Stiftungsrätin der Zukunftsstif-tung Bildung in der GLS Treu-hand) und Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (von links).

andere übertragbar sind. Aber hier und dahaben wir auch die Rolle, Fehler, die manimmer bei Projekten macht, als Vorreiterdurchmachen zu müssen.

Völkers: In Hessen, Baden-Württembergund Sachsen arbeitet man schon daran,etwas Vergleichbares einzuführen. Das istein schöner Effekt. Ein Pilotprojekt wie„Jedem Kind ein Instrument“ soll ja nichtzu einem Abschluss gebracht werden, son-dern ein Startsignal sein, mit dem man zeigt,was grundsätzlich möglich ist.

Welche Rolle spielt der Verband derMusikschulen, wenn ein solches Projekt einer-seits bundesweite Wirkung hat, das „operativeGeschäft“ andererseits aber vor Ort abläuft?

Matthias Pannes: Ich bin zunächst ein-mal dankbar, dass der Landesverband derMusikschulen als kommunaler Fachverbandoffiziell in dieses Projekt und in den Beirateinbezogen wird. Hiermit ist auch in derModellphase der richtige Ansprechpartnergegeben, der über Erfahrung und über Struk-turen hinsichtlich der Konzeption vonBildungsinhalten im Bereich musikalischerGrundausbildung verfügt. Der Bundesver-band muss natürlich genauso im Spiel sein,wie es das Verhältnis zwischen Bundeskul-turstiftung und dem Land Nordrhein-West-falen zulässt – auch, was den Aspekt derFortbildung betrifft, weil aus Sicht des VdMletztendlich die Synchronisation der Fort-bildungen, die meist auf Bundesebenestattfinden, sehr sinnvoll mit dem Projektzu verknüpfen wären.

Sind Sie bereits auf grundsätzlichestrukturelle Schwierigkeiten gestoßen oder istes einfach das übliche Kleinklein am Anfang?

Grosse-Brockhoff: Das kommt immerdarauf an. Man erkennt oft erst später, dassetwas strukturell angelegt ist. Es ist schwierig,

jetzt Einzelheiten zu benennen, aber ich gebeein Beispiel: Wir streben an, dass möglichstlangfristig Beschäftigte in dem Projekt arbei-ten und nicht nur Honorarkräfte. Aber wirmüssen auch der Tatsache gerecht werden,dass die Städte im Ruhrgebiet und auch inanderen Orten des Landes mit Nothaus-halten leben und jedenfalls auf Dauer keineStellen einrichten können. Also muss manKompromisse machen und auch Honorar-kräfte zulassen. Für diese sind dann aberBedingungen zu formulieren, die die Qua-lität sicherstellen. Ein Weg besteht beispiels-weise für die Dauer des Projekts in befriste-ten Einstellungen in den Kommunen. Manmuss auch mit dem Innenminister Gesprä-che führen, damit so etwas genehmigt wird.Das sind Themen, die wir zurzeit abarbeiten.Für das erste Jahr sind die Probleme gelöst.Wir fangen ja langsam mit 300 bis 320Gruppen und ungefähr 7000 Kindern an.

Sie wollen ja damit nicht den Musik-unterricht ersetzen, vielmehr soll das Projekteine begleitende Maßnahme sein. Wie kanndas funktionieren, wenn im Grundschulbe-reich bis zu 80 Prozent des Musikunterrichtsausfallen bzw. fachfremd erteilt werden?

Pannes: Im Grundschulbereich habenwir mit dem Klassenlehrerprinzip in denersten beiden Klassen nicht das Fachlehrer-prinzip. Insofern muss man den Unterrichts-ausfall, der sicherlich im Musikbereich statt-findet, im Grundschulsektor in diesemKontext sehen. Die Entwicklung im musik-praktischen Bereich, also in der auf instru-mentenspezifische Anforderungen erweiter-ten musikalischen Grundausbildung, bietetfür den Musikunterricht gemeinsam mitden öffentlichen Musikschulen etwas Neuesund auch eine neue Qualität.

Grosse-Brockhoff: Ich bin mir sicher,dass der allgemeine Musikunterricht an den

Grundschulen und auch an den weiterfüh-renden Schulen von diesem Projekt profi-tieren wird. Er wird sich möglicherweiseverändern. Erst einmal finden Fort- undWeiterbildungen für die Klassenlehrer statt,weil wir – jedenfalls im ersten Schuljahr –im Tandemsystem arbeiten. Dadurch wirdes Auswirkungen im allgemeinen Musikun-terricht geben und dann auch für die Kinder,die nicht mitmachen. Außerdem wird esVerschiebungen geben. Im ersten Jahr findetSingen im Rahmen unseres Projekts statt.Ich prophezeie – und daran arbeiten wirauch – dass dann das Singen zum Schwer-gewicht im regulären Musikunterricht wird.Wir werden streng darauf achten, dass derMusikunterricht deswegen nicht unterbleibt,sondern in dem Umfang, wie es als Regelvorgesehen ist, auch stattfindet.

Gibt es in Nordrhein-Westfalen beglei-tende Maßnahmen, um den Engpass an Musik-lehrern in der allgemein bildenden Schuleauszugleichen?

Grosse-Brockhoff: Die Schulministerinhat jüngst erklärt, dass gerade in den FächernKunst und Musik erheblich mehr eingestelltwird und dadurch auch weniger Unterrichtausfällt. Von Jahr zu Jahr verbessern sich dieVoraussetzungen. Man wird darauf achtenmüssen, dass alles tatsächlich stattfindet.

Das Projekt erzeugt eine gewaltigeNachfrage. Gibt es überhaupt so viele Fach-kräfte oder muss man auch auf die privatenMusikschulen zurückgreifen?

Pannes: Zunächst gibt es Musikschul-lehrkräfte, die in Teilzeit beschäftigt sindund die noch eine Erweiterung ihres Depu-tats ermöglichen können. Aber auch dieprivaten Akteure sollten und könnten natür-lich neben den öffentlichen Musikschuleneine Rolle spielen, etwa durch befristete

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Anstellungen an Musikschulen, wie HerrGroße-Brockhoff es schon erwähnt hat.Nur muss der Raum Schule natürlich vonkommerziellen Angeboten, die nicht ge-meinnützig und auch nicht qualitativ über-prüfbar sind, freigehalten werden.

Ist das Programm wegen seinesCharakters und seiner Größenordnung einbesonderes Projekt für Sie?

Völkers: Der „Tanzplan“ [eine weitereFördermaßnahme der Kulturstiftung desBundes] hat auch ein Budget von zehn Mil-lionen Euro. Das „Netzwerk Neue Musik“hat zwölf Millionen. Die Zahlen sind inso-fern nichts Besonderes. Natürlich ist esaber in seiner Art für uns etwas Besonderes.Schulen sind ja nicht das Terrain, auf demwir uns sonst bewegen, das sind naturge-mäß vor allem Kunstinstitutionen. Auch anIntensität und Dauer der Vorbereitungensieht man, dass dieses Projekt ungewöhnlicheAnforderungen stellt. Aber eine Bundesstif-tung muss sich solcher Themen annehmen,die von gesamtgesellschaftlicher Bedeutungsind. Und kulturelle Bildung steht derzeitweit oben auf der Agenda. Da sehen wir unsberufen, Sachen zu machen, die eine beson-dere Strahlkraft haben und über deren Wirk-samkeit man dann vielleicht überrascht istund sagt: „Wo kommt denn das her? Wiekonnte die Kulturstiftung des Bundes etwasbewirken, was viele für unrealistisch hielten?“Wenn man dann in der Kulturpolitik Part-ner bekommt, die so eine Aktion mit-machen, ist es natürlich perfekt. Ohnediese Partner geht es nicht, wenn solch einProgramm weitergehen und im wahrstenSinne des Wortes Schule machen soll. DieAufgabe unserer Stiftung ist es, einen Impulszu setzen, der viel verändert. Wenn einemdas im richtigen Moment gelingt, dann hatman intelligente Politik gemacht. Wir woll-ten einen Stein ins Rollen bringen – undich glaube, das haben wir geschafft.

Bundestagspräsident Lammert hatjüngst beim Forum für Musikalische Bildungdes Deutschen Musikrats „vom lausigen Zu-stand der kulturellen Bildung“ gesprochen.Ist es auch diese Form der Bewusstseinsarbeit,die Sie zu dem Projekt angeregt hat?

Völkers: Dass in der Politik der Stellen-wert der kulturellen Bildung ähnlich hocheingeschätzt wird wie bei uns, ist hilfreich.Zwar ist das Projekt „Jedem Kind ein Instru-ment“ insofern für uns nicht so einschlägig,als wir da nicht direkt Kunst fördern, sondernhauptsächlich ihre Vermittlung. Ich halte esaber für falsch, das systematisch zu trennen.Vermittlung ist mir eine Herzensangelegen-

heit – nicht zuletzt, weil wir auch morgenein Publikum brauchen. Und das müssenwir heute mit der Kunst und Kultur vertrautmachen. Das Besondere an diesem Projektist, dass wir damit an die Basis gehen, weilwir Kinder aus allen Schichten in den Grund-schulen erreichen. Den Stiftungsrat konntenwir problemlos von der Güte dieses Projektsüberzeugen. Daran sieht man auch, wiesehr das Thema kulturelle Bildung unterden Nägeln brennt. Ich rede viel mit derPolitik, und wenn man sich genau die The-men der Stiftung anguckt, sieht man, dasssie in den gesellschaftspolitischen Debatteneine wichtige Rolle spielen – egal ob Mig-ration, die europäische Einigung oder derWandel der Arbeitsgesellschaft. Wir setzendiese dann auf unsere Art und Weise inKulturprojekte um. Wobei wir nicht ge-zwungen werden, so etwas zu machen.Das ist – Gott sei Dank – nicht der Fall.

Pannes: Noch einmal zur Frage nachden Fachkräften: Für uns als Fachverbandder kommunalen Träger öffentlicher Musik-schulen ist es ein Anliegen, dass die öffent-lichen Bildungsangebote „Musikunterricht“und „Musikschulunterricht“ auch in diesemKontext mit bestimmten qualitativen Aspek-ten und bestimmter Nachhaltigkeit weiteran erster Stelle stehen.

Grosse-Brockhoff: Das Wichtigste istfür uns, dass die Qualität der von öffent-lichen Musikschulen entspricht. Wir habenklare Voraussetzungen für das Personal unddie Bedingungen, unter denen dort gearbei-tet wird. Das Gemeinwohl muss dann alszusätzlicher Aspekt hinzukommen. Wirempfehlen Musikschulen, die einen Kräfte-mangel haben, zu prüfen, inwieweit diesezusammenarbeiten und kooperieren können.

Es werden zigtausende von Kindernvielleicht zum ersten Mal durch diese Initiativean ein Instrument herangeführt. Was passiertnach 2010, wenn die Nachfrage geweckt istund die Bundeskulturstiftung nicht mehr alsmitfinanzierender Partner dabei ist?

Grosse-Brockhoff: Das Land Nordrhein-Westfalen hat die Verpflichtung übernom-men, das Projekt weiterzuführen und fürdie dann nicht mehr zur Verfügung stehen-den Mittel des Bundes zusätzlich einzuste-hen. So ein Projekt kann keine Eintagsfliege

sein. Das muss auf Dauer geschehen. Undes gibt auch die Absichtserklärung desMinisterpräsidenten, das Projekt nach undnach ab 2010 auf das ganze Land zu über-tragen, wenn es im Ruhrgebiet erfolgreichist. Dies ist noch keine Beschlusslage, aberimmerhin eine Aussage.

Wie sieht die Planung für die inhalt-liche Steuerung aus?

Grosse-Brockhoff: Wir gründen geradeeine Stiftung, für die die entsprechendenBeschlüsse vorliegen. Das wird jetzt unter-schriftlich vollzogen und beim Stiftungs-register angemeldet. Wir gehen davon aus,dass ab Oktober eine Stiftung Träger desganzen Projekts ist. Der Vorstand dieserStiftung wird aus Herrn Grunenberg undeiner Kauffrau bestehen, die für die Verwal-tung und das Kaufmännische zuständig sind.Außerdem haben wir einen Stiftungsratund ein Kuratorium, in dem Persönlichkei-ten, Wissenschaftler und Musiker vertretensind. Dann gibt es noch einen Beirat, indem vor allem regelmäßige Gespräche mitden Verbänden geführt werden.

Ist damit eine zufriedenstellendeBeteiligungsstruktur für die Verbandsland-schaft gegeben?

Pannes: Ja, solange dem Beirat im täg-lichen Geschäft auch entsprechendes Ge-wicht beigemessen wird. Herr Grosse-Brockhoff hat schon darauf hingewiesen,dass der Teufel im Detail steckt. Ein Bei-spiel: Die Instrumentensätze müssen überSponsorenmittel angeschafft werden. Nachmeiner Information herrscht eine 50/50-Beteiligung der Städte, die solche privatenMittel zur Hälfte einwerben müssen undzu 50 Prozent als Zuschuss erhalten. Fürmanche Städte, wie z. B. Oberhausen, istes schwierig, in dieser Größenordnung derNachfrage der Grundschulen die 50 Prozentauf Anhieb aus privaten Mitteln zu erzielen.Hier ist eine enge Verzahnung zwischenden Kommunen und dem Land erforderlich,aber auch in fachlicher Hinsicht zwischenden Verbänden und der Steuerungsgruppe,weil Fortbildungs-, Konzept- und Evaluations-aspekte berücksichtigt werden müssen.Wenn dieser Beirat eine enge Anbindungerfährt, dann wäre sicherlich ein guterSchritt gelungen.

Grosse-Brockhoff: Wir haben von An-fang an gesagt, dass vor allem der Instru-mentenankauf wesentlich von Sponsoren-geldern und Stiftern abhängig ist. Auch vonEinzelspendern, von denen ich mir sehrviele erhoffe. Im Übrigen ist es ein Thema,das sich erst für das nächste Jahr stellen

„Wollteneinen Steinins Rollenbringen“:HortensiaVölkers.

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wird, da wir im ersten Jahr die Instrumentenoch nicht in dem Umfang brauchen.Wenn es heißt, dass wir alle gefordert sind,dann muss man auch irgendwann eineklare Quote festlegen. Deshalb haben wirgesagt, dass wir zwei uns erst einmal umdie eine Hälfte kümmern und dass dieKommunen jeweils in dem vor Ort erforder-lichen Maß die andere Hälfte in Angriffnehmen. Wir müssen schauen, wie weitwir in zwei, drei Jahren gekommen sind.Aber erst einmal muss hier eine klareArbeitsteilung stattfinden.

Unsere Erfahrung in den vergangenenWochen und Monaten war so, dass allenach oben guckten und sagten: „Dannbesorgt mal die Sponsoren.“ So haben wirnicht gewettet, das muss auch vor Ort statt-finden. Es kann übrigens zur Hälfte nur vorOrt stattfinden, zum Beispiel, indem einortsansässiger Unternehmer gefunden wirdoder jemand zu seinem Geburtstag füreine Geige sammelt, die im Durchschnitt300 Euro kostet. Ja, auch Geburtstage sinddurchaus eine Möglichkeit, schnell eineGeige zusammenzubekommen. Ich warnoch gestern auf einem Geburtstag, bei dem13000 Euro zusammengekommen sind.Warum sollte das Geld nicht für solch einProgramm Verwendung finden?

Pannes: Ich wollte das Projekt nicht imKern kritisieren. Ich wollte nur zum Aus-druck bringen, dass die Aufgaben, die nochim Detail vor der Projektentwicklung liegen,eine enorme Kraftanstrengung an Projekt-steuerung für alle Beteiligten erfordern. Unddeswegen ist eine enge Abstimmung allerBeteiligten und damit auch die Einbezie-hung der kommunalen Fachverbände mitentsprechender Erfahrung sehr sinnvoll.

Völkers: In der Tat, wir brauchen breiteUnterstützung und auch eine hohe Identifi-kation mit diesem Projekt in den Fachver-bänden. Aber nicht nur dort, auch in dergesamten Bevölkerung. Für die kulturelleBildung unserer Kinder ist bürgerschaftlichesEngagement wünschenswert und notwendig.Man könnte sich vorstellen, dass in Vereinenoder Unternehmen Geld gesammelt wird,um Kinder mit jeweils zehn Euro im Monatzu unterstützen – eine Art Patenschaft.

Gibt es Kritik am starken Engagementder Bundeskulturstiftung? Immerhin fallenMittel weg, die sonst für andere Projekte derKünstlerförderung zur Verfügung stünden…

Völkers: Nein, man kann das eine tunund das andere nicht lassen. Wir haben etwafür Peter Steins Wallenstein-Trilogie zweiMillionen Euro zur Verfügung gestellt, einGroßereignis für Theaterfans. Verglichen

damit ist das hier das Breiteste, was wirmachen können. Im Musikbereich habenwir außerdem das „Netzwerk Neue Musik“bundesweit ausgeschrieben. Selbst Kommu-nen – von Passau bis Kiel –, die sehr mit demCent rechnen müssen, sind bereit, so eineInitiative mit 30 bis 50 Prozent gegenzu-finanzieren. Mit derart breit angelegten Pro-jekten sind wir sehr erfolgreich. Das läuftso gut, dass wir fast aufpassen müssen, nichtzu sehr in diese Richtung zu gehen und rich-tige Kunstprojekte nicht zu vernachlässigen.

Bundeskanzlerin Merkel hat auf demvorletzten Weltwirtschaftsgipfel gesagt, dasssich unser Land zu einer Wissensgesellschaftentwickeln muss. Von der Kreativgesellschafthat sie noch nicht gesprochen. Wie schätzenSie diese Initiative in ihrer Wirkung auf eineBewusstseinsveränderung hin ein, insofern, alswir den Weg noch viel stärker, konkret auchmit finanziellen Mitteln gehen müssen, umDeutschland als Kreativstandort zukunftsfestzu machen?

Grosse-Brockhoff: Unser Ministerpräsi-dent Dr. Rüttgers nimmt nicht nur das Wort„Wissensgesellschaft“, sondern auch dasWort „Kreativität“ in den Mund, indem ereine neue Politik der kreativen Ökonomieentwickelt und auch kürzlich in der Öffent-lichkeit vorgestellt hat. In einer Grundsatz-rede, die im Internet nachzulesen ist, führter aus, dass wir auf die Förderung derKreativwirtschaft setzen müssen; das großeWachstum fände nicht mehr im industriel-len Bereich im engeren Sinne statt, sondernim Bereich der Kreativwirtschaft. Er sagtebenso – und das finde ich wirklich sehrneu, jedenfalls in unserer deutschen Politik–, dass unsere Gesellschaft und auch unse-re Wirtschaft insgesamt auf Kreativität imSinne von Innovationskraft angewiesensind. Und die gewinnen wir nicht damit,dass wir nur ganz bestimmte Wirtschafts-bereiche, sondern Kunst und Kultur, vorallem auch kulturelle Bildung fördern,indem wir Orte, Möglichkeiten undProgramme schaffen, in denen Kinder undJugendliche als Voraussetzung für Innova-tionen Kreativität erwerben können.

Pannes: Ich würde mir wünschen, dassauf dem Weg in die Kreativitätsgesellschaftauch diejenigen mitgenommen werden,

die es durch ALG II und Hartz IV sehrschwer haben, einen Ort zur Entfaltungihrer Kreativität zu finden. Wenn ich sehe,dass im schulischen Kontext Familien dieMittagsverpflegung für ihre Kinder teilweiseabbestellen, weil sie kaum noch in der Lagesind, die Mittel aufzubringen, so möchte ich– um die Brücke zum Projekt „JEKI“ zuschlagen – noch einmal dazu ermuntern,dass man ein besonderes Augenmerk aufdieses sozial schwache Klientel richtet undim Projektverlauf sehr eng steuernd imInteresse der Kinder versucht einzugreifen.

Grosse-Brockhoff: Dies berücksichtigenwir. Sowohl die Bundesseite in der Personvon Frau Völkers als auch das Land in derPerson des Ministerpräsidenten haben Sorge,dass wir mit diesem Projekt nicht genügendin die Problemgebiete im Ruhrgebiet hinein-kommen, um sozial schwache Kreise zuerreichen. Ich glaube aber, dafür ist Gewährgegeben. Wir haben z. B. allen Städten undMusikschulen die Vorgabe gemacht, unsnachzuweisen, dass sie auch in den entspre-chenden Stadtteilen präsent sind und dasssich der Anteil der ALG II- und Sozialhilfe-empfänger unter den Kindern in derGesamtzahl widerspiegeln muss.

Wir haben über die Rolle der Musikund über die Möglichkeiten, die die Musik er-öffnet, gesprochen. Menuhin hat einmal gesagt,die Musik spricht für sich allein, vorausgesetzt,wir geben ihr eine Chance. Welche Chancegeben Sie ihr ganz persönlich? Musizieren Sie?Singen Sie oder sind Sie Rezipient?

Völkers: Ich war als Jugendliche Leis-tungssportlerin und habe leider kein Instru-ment gelernt. Aber mir ist die Beschäftigungmit Musik wichtig. Ich habe in anderen Be-reichen der Kunst erlebt, wie sehr ästheti-sche Erfahrungen die eigene Weltsicht prä-gen und wie sehr sie die eigenen Horizonteauch in Richtung gesellschaftlicher Verant-wortung erweitern.

Grosse-Brockhoff: Als Kind und Jugend-licher musste ich Klavier spielen. Ich musstees, deswegen habe ich es nicht mit Freudegetan. Ich wollte lieber ein anderes Instru-ment spielen, durfte es aber nie, denn derFlügel stand zu Hause in der bürgerlichenStube. Ich habe auch immer gerne gesungen,bin ansonsten aber ein Rezipient. Das, wasich heute bin, als Mensch wie als Politiker,ist undenkbar ohne die ständige, täglicheBeschäftigung mit Musik. Es gibt jemanden,ohne den bei mir nichts geht – auch wennich etwas schreibe oder etwas neu entwi-ckele –, und das ist Mozart.

Weitere Informationen: U www.jedemkind.de

„Setzen aufdie Kreativ-wirtschaft:Hans-HeinrichGrosse-Brockhoff.

MUSIK�ORUM58

In einer globalisierten Welt wird Kreativi-tät zunehmend zu einem entscheidendenProduktions- und Wettbewerbsfaktor. Ohneihren wertvollsten Rohstoff sitzt unsere post-industrielle Wissensgesellschaft sprichwörtlichauf dem Trockenen. Auch hierzulande ist dieseBotschaft inzwischen angekommen: „Unse-re Fähigkeiten und unser Wissen, unser Ein-fallsreichtum und unsere Kreativität sind diewichtigste Ressource, die wir in Deutschlandhaben“, betonte Bundespräsident Horst Köhlerjüngst im Rahmen der Initiative „Deutsch-land – Land der Ideen“.1 Als Vorsitzenderdieser Initiative bin ich von drei Eigenschaf-ten des Standorts Deutschland überzeugt:Einfallsreichtum, schöpferische Leidenschaftund visionäres Denken. Eine zentrale Posi-tion in diesem Kontext nimmt für mich dieKreativwirtschaft ein. Aber welche Brancheist damit eigentlich gemeint? Und was wis-sen wir tatsächlich über ihre ökonomischeRelevanz?

Übersehen kann man die so genanntenKreativen schwerlich. Auf vielen deutschenStraßen lebt heute eine junge pulsierendeSzene. Galerien und Designershops prägendas Stadtbild ebenso wie Werbeagenturenund Filmproduktionen. In gewisser Hinsichtist diese Entwicklung unumgänglich, denn mitdem Wandel von der industriellen zu einerwissensbasierten Informationsgesellschaftverschwimmen die Grenzen zwischen Pro-duktion, Konsum und Dienstleistungen immermehr. Zu den klassischen deutschen Indus-triezweigen mit ihren homogenen Produk-ten gesellt sich zunehmend eine bunte Ei-genmenge von Unternehmen, deren Akteurenicht so recht in ein festes Raster passen wollen.Dieser heterogene Wirtschaftsbereich darf

keinesfalls als „weicher“ Standortfaktor ab-getan werden.

Wer hierfür nach Belegen sucht, sollte einenBlick auf die Statistik werfen: Laut einer ak-tuellen empirischen Studie des Arbeitskrei-ses Kulturstatistik erwirtschafteten Kultur- undKreativsektor 2004 einen Jahresumsatz von117 Milliarden Euro, was einem Anteil amdeutschen Bruttoinlandsprodukt von 2,6 Pro-zent entspricht. Damit lag die Kreativwirtschaftnoch vor der Chemieindustrie (2,1 Prozent)und nur knapp hinter der starken deutschen

Besonderheiten aufweist. Laut Wirtschafts-magazin brand eins, das dem Thema jüngsteine ganze Ausgabe gewidmet hat, umfasstdie Kreativwirtschaft neben den neuerenBereichen Werbung und Entwicklung vonSoftware und Computerspielen alle Branchender klassischen Kulturwirtschaft. Die Kultur-wirtschaft ist mit 82 Prozent größter Teilbe-reich des Sektors. Zu ihren Kernsegmentenzählen unter anderem die Unternehmungender Darstellenden Kunst und Unterhaltungs-kunst, der Bildenden Kunst, das Verlagsge-werbe, die Film- und Rundfunkwirtschaft, dieMusikwirtschaft und die audiovisuellen Me-dien. Gemeinsam ist den unterschiedlichenZweigen der Kreativwirtschaft, dass der Fak-tor „Kreativität“ eine wesentliche Rolle beider Erstellung von Produkten und Dienst-leistungen spielt. Bei den meisten Teilberei-chen dominieren klar marktwirtschaftlicheZielsetzungen, andere befinden sich an derSchnittstelle zwischen Kunst und Wirtschaft,mit unterschiedlichem Ziel- und Wertsystemfür ihre Aktivitäten.3

Zentrale Problemfelder

Es ist die größte Stärke und zugleich Schwä-che des Modells „Kreativwirtschaft“, dass seineUnternehmen strukturell stark fragmentiertsind. Besonders im Gegensatz zu den traditio-nellen Industrien präsentiert sich die Krea-tivwirtschaft als extrem kleinteiliger Branchen-komplex („cottage industry“). Hier einige mitdiesem Umstand zusammenhängende Prob-lemfelder:

1. Finanzielle Ressourcen

In fast allen relevanten Studien zur Kul-tur- und Kreativwirtschaft wird betont, dassder Sektor von atypischen Beschäftigungsfor-men gekennzeichnet ist. Ein überwiegenderTeil seiner Unternehmen agiert als Einzelun-ternehmer bzw. Freiberufler. Daneben exis-tieren eine kleinere Zahl von Kleinunterneh-men mit durchschnittlich zwei bis fünf

Die Kreativwirtschaft hat sich zu einer Zukunftsbranche mit hohemWachstums- und Beschäftigungspotenzial entwickelt. Die allgemeine

Euphorie in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung darf jedochnicht darüber hinwegtäuschen, dass der kreative Sektor mit infrastruktu-rellen Schwächen zu kämpfen hat. Dabei fehlt es den Akteuren seinesheterogenen Marktfeldes auch an einer eigenen Lobby.

Künstler fördern und den Nährboden für eine innovationsfreudige Kulturgesellschaft legen.Von BDI-Präsident Jürgen Thumann

ALS MOTOR

FÜR DEN STANDORT DEUTSCHLAND?

Kreativwirtschaft

»Kunst und Wirtschaft,wenn sie erfolgreich sind,leben beide von Kreativität

und Inspirationskraft«Gustav Stein

Automobilindustrie (2,9 Prozent).2 Kreativ-unternehmen schaffen mehr Arbeitsplätze alsEnergie- und Maschinenbauindustrie zusam-men genommen. Vieles, was mit einem „krea-tiven“ urbanen Umfeld einhergeht, lässt sichdarüber hinaus freilich nicht adäquat in Zah-len erfassen: Toleranz und Offenheit, inter-kulturelle Vielfalt oder ein ausreichender Raumfür Experimente sind symbolische Ressour-cen, die als Standortfaktoren weitere ökono-mische Entwicklungen anstoßen.

Soviel zu den erfreulichen Fakten. Umallerdings die Probleme dieses boomendenSektors zu erkennen, muss zunächst klar wer-den, dass die „Kreativwirtschaft“ strukturelle

WIRTSCHAFT.RECHT

59MUSIK�ORUM

Beschäftigten je Betrieb und nur wenige mit-telständischen Firmen, darunter Buchverla-ge oder Tonträgerfirmen. Diese kleinteiligeBinnenstruktur erzeugt ein Ungleichgewichtzwischen Gesamtumsatz der Branche und Ein-kommen der einzelnen Unternehmen: Nir-gendwo in Deutschland wird dies so deut-lich wie in Berlin. Dort erwirtschaften 18 000Kreativunternehmen mit 90 000 Beschäftig-ten – mehr als im Bau-Sektor – einen jährli-chen Umsatz von acht Milliarden Euro.4 Vie-le Freiberufler leben singulär betrachtet den-noch mit weniger als 17 500 Euro Jahresum-satz. Anders gesagt: Der Kuchen ist groß, aberer muss in viele Stücke geschnitten werden.

2. Anwendungswissen derAkteure

Neben einer dünnen Kapitaldecke ist derkreative Sektor gravierend durch ein teilweisemangelndes Know-How seiner Akteure imZugang zu Fördermitteln gekennzeichnet.Spezifische Informationsinstrumente, vor al-lem für Existenzgründer und in den Berei-chen der Aus- und Weiterbildung, fehlen bisherweitgehend.5 Aufgrund dieser Management-defizite können die Wachstums- und Inter-nationalisierungschancen der Unternehmennicht voll ausgenutzt werden, auch wennvielerorts günstige Büromieten und Lebens-haltungskosten durchaus ökonomische Frei-räume schaffen.

3. Statistische Mängel

Im weiten Definitionsfeld „Kreativwirt-schaft“ findet der Kartenabreißer im Kinoebenso seinen Platz wie Bassbariton ThomasQuasthoff oder die Beraterin einer Werbe-agentur. Die Grenzen zwischen den einzel-nen Segmenten des Sektors sind naturgemäßunscharf, weil sich das, was hier produziertwird, nicht eindeutig definieren lässt. Es istallerdings eine hausgemacht mathematischeMalaise, dass auf diesem per se heterogenenMarkt zusätzliche Differenzierungen geschaffen

werden, die von Bundesland zu Bundeslanderheblich variieren können. Insbesondere dieungenügende nationale Harmonisierung derKulturstatistik trägt zu den Abgrenzungsschwie-rigkeiten bei. Auf internationaler Ebene istman hier einen ganzen Schritt weiter: Die imHerbst vergangenen Jahres erschienene Stu-die The Economy of Culture in Europe bei-spielsweise hat eine wichtige Grundlage füreine kohärente Kulturwirtschaftspolitik inEuropa gelegt.6

4. Fehlende Vernetzung

Während wenige Bereiche der Kreativwirt-schaft – darunter die Film- und Musikwirtschaft– ihre Agenda über Verbände und Organisa-tionen effektiv kommunizieren, sind die meis-ten Freiberufler und kleineren Unternehmendes Sektors auf sich allein gestellt. Einerseitserweist sich dies als Vorteil: Ohne unnötigenbürokratischen Ballast können sich Kreativeals wendige Trendsetter profilieren. Wie schnelljedoch über den Kopf der Betroffenen hin-wegentschieden wird, zeigt ein trauriges Bei-spiel aus der jüngeren Vergangenheit: 2006wurde das Amt des Berliner Kultursenatorsaufgelöst und der Bereich Kultur der Senats-kanzlei angegliedert. Berlin hätte für sich undseine Kreativwirtschaft sicher gut daran getan,wenn es einen starken Kultursenator gewon-nen hätte, der auch das Thema Kulturwirt-schaft mit Priorität behandelt. Das Kulturres-sort ist in der Hauptstadt so bedeutungsvollwie andernorts das Wirtschaftsressort.

Klare Botschaften senden

Welche künftigen Handlungsfelder leitensich aus dem bisher Gesagten ab? Um dieBedeutung der Kreativwirtschaft nachhaltigin den Köpfen der politischen Entscheidungs-träger zu verankern, ist eine aktive und integ-rierende Kultur- und Wirtschaftspolitik not-wendig. Die direkten und indirekten öko-nomischen Effekte der Kreativwirtschaftmüssen noch stärker ins Bewusstsein der

Öffentlichkeiten und der politischen Entschei-dungsträger gerückt werden. Erste Ansätzewurden in den vergangenen Jahren bereitsunternommen, unter anderem durch die Jah-restagungen Kulturwirtschaft, durch das En-gagement der deutschen Musik- und Film-verbände oder durch den unabhängigenArbeitskreis Kulturstatistik. Verglichen mitanderen Branchen fällt die Lobbyarbeit je-doch eher schwach aus. Damit Kreative undKulturschaffende ihre Interessen künftig ef-fektiv bei den wirtschaftlichen wie politischenEntscheidungsträgern durchsetzen können,sind eine starke Vernetzung und gegenseiti-ger Austausch unverzichtbar.

Wie erfolgreich dies gelingen kann, zeigtder bei uns im Bundesverband der DeutschenIndustrie (BDI) ansässige Kulturkreis der deut-schen Wirtschaft im BDI e.V.7 Seit über 50Jahren fördert der Kulturkreis nicht nur jun-ge Nachwuchskünstler in den Bereichen Li-teratur, Architektur, Musik und Bildende Kunst,sondern setzt sich darüber hinaus für diekulturpolitischen Belange und Rahmenbedin-gungen in ganz Deutschland ein. Er gehörtdamit zu den traditionsreichsten Institutio-nen an der Schnittstelle von Kultur und Wirt-schaft. Das hat zwei wesentliche Positiv-Ef-fekte für den kreativen Sektor: Einerseits bietetder Kulturkreis als Sprachrohr von Kultur undKulturwirtschaft eine kommunikative Platt-form für die Belange seiner strukturell frag-mentierten Teilbereiche. Zum anderen wirdüber die Förderung talentierter Künstler derNährboden für eine kulturell vielfältige, inno-vationsfreudige Gesellschaft gelegt. Erst aufihrem Fundament kann die Kreativökono-mie ihr volles Potenzial als Motor für denStandort Deutschland entfalten.

1 vgl. Ideen made in Germany, Bilanz 2006, S. 5.2 Michael Söndermann: „Das Stichwort. Kulturwirtschaft“,in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 116, I/2007: S. 65.3 vgl. www.kulturdokumentation.org4 vgl. Kulturwirtschaftsbericht Berlin 2005.5 vgl. Ausschöpfung und Entwicklung des Arbeitsplatz-potenzials im kulturellen Sektor im Zeitalter der Digita-lisierung. Schlussbericht im Auftrag der EuropäischenKommission, www.cultural-economy.eu6 Download der Studie unter: http://ec.europa.eu/culture/eac/sources_info/studies/economy_en.html7 vgl. www.kulturkreis.org

Der Autor:Jürgen Thumann ist Präsident des Bundesverbandesder Deutschen Industrie (BDI). Im Januar 2007 wurde erzum Präsidenten des Trägervereins von „Deutschland –Land der Ideen“ gewählt, der Standortmarketinginitia-tive unter Schirmherrschaft von Bundespräsident Köhler.

Künstler als gesellschaftlicher Nährboden:Die Musikpreisträger 2005 des Kulturkreisesder deutschen Wirtschaft Sarah Christ (Harfe)und Raphael Christ (Violine). Foto: Häntzschel

MUSIK�ORUM60

In einer Vernetzung der Kultur-Institutio-nen, der Kompetenzen und Finanztöpfe istes gelungen, ein Jahresprogramm auf die Beinezu stellen, das internationale Beachtung fin-det. Zu Lebzeiten war der Lübecker Marien-organist kaum weniger bekannt als die heu-te mit Lübeck verbundenen NobelpreisträgerThomas Mann, Günter Grass oder Willy Brandt.Er sei „berühmt im Componiren, auf Chö-ren, Orgeln und Claviren“, heißt es in einem1685 veröffentlichten Lobgedicht auf Bux-tehude; und völlig zu Recht nannte ihn einLübecker Stadtführer 1697 einen „weltberühm-ten Organisten und Komponisten“. Wenn esden jungen Johann Sebastian Bach 1705 nachLübeck zog, „um daselbst ein und anderes inseiner Kunst zu begreiffen“, dann waren dievielschichtige Musikerpersönlichkeit Buxte-hude und die „Abendmusiken“ der eigentli-che Anziehungspunkt.

Dieterich Buxtehude gehört heute freilich– bei allem Enthusiasmus für seine Musik –

DOKUMENTATION

Es ist ein verwegenes Projekt,den 300. Todestag von

Dieterich Buxtehude gleich miteinem ganzen Festjahr zu würdigen.Doch das ambitionierte Jahres-programm unter dem Motto„Lübeck feiert Buxtehude“ hat inder Hansestadt an der Traveungeahnte Potenziale freigesetzt.

noch immer nicht zum Kanon der „großen“Komponisten. Immer noch steht er im Schattenvon Johann Sebastian Bach. In den realen undimaginären Ruhmeshallen der Geschichtesucht man ihn vergeblich – und dies nichtnur, weil wir bislang nicht eindeutig wissen,wie er ausgesehen hat. Das Jahresprogramm„Lübeck feiert Buxtehude“ bot und bietet nochbis zum Jahresende die Chance, sich ein Bildvon diesem Komponisten zu machen – aufvielfältige Weise. Im Mittelpunkt steht diefeinsinnig-expressive Musik des Komponis-ten, eine Musik nicht nur für Kenner, son-dern auch für eine interessierte Öffentlich-keit über regionale Grenzen hinaus.

Unter der Schirmherrschaft von Bundes-präsident Horst Köhler findet in Lübeck überdas Jahr verteilt ein ganzer Reigen kulturellerVeranstaltungen statt: Hochkarätige Konzertemit international renommierten Interpretenwie Ton Koopman, der als Vorsitzender der2004 gegründeten Internationalen Buxtehude-Gesellschaft zu den führenden Köpfen desFestjahres gehört. Gustav Leonhardt, Andre-as Scholl, der NDR-Chor (Ltg. Robin Grit-ton), Cantus Cölln (Ltg. Konrad Junghänel)und andere renommierte Ensembles zogenim Mai das Publikum in die ausverkauftenKirchen der Stadt. Im September schloss sichdas Buxtehude-Fest mit dem King’s Consort,Andreas Staier, dem Knabenchor Hannoverund vielen anderen an. Jahresübergreifendwerden in den Lübecker Kirchen an allenSonn- und Feiertagen die Kantaten Buxte-

hudes aufgeführt. Ebenfalls ganzjährig erklingtin den Lübecker Hauptkirchen im Rahmenmehrerer Orgelzyklen das Orgelwerk vonBuxtehude.

Eine Ausstellung im altehrwürdigen St.Annen-Museum mit vielen teils noch nie ge-zeigten Originalen aus Beständen der Biblio-theken in Lübeck und Uppsala machte diebarocke Lebenswelt Buxtehudes atmosphä-risch erlebbar. Ein internationales Symposionan der Musikhochschule führte die neuesteMusikforschung zu den Themenfeldern „Text-Kontext-Rezeption“ zusammen. In einemkriminalistischen Vortrag konnte Heinrich W.Schwab dabei darlegen, dass es sich -– entgegender bislang dominierenden Vorstellung – beidem Gambisten (und nicht bei dem Lauschen-den in der rechten Bildmitte) der „HäuslichenMusizierszene“ (1674) von Johannes Voor-hout um Buxtehude handeln muss. DasMusical Anna Margareta konnte auf intelli-gente und spielerische Weise in fünf ausver-kauften Vorstellungen ein junges Publikum fürdas Thema begeistern. Der InterpretationskursOrgel und ein Internationaler Orgelwettbe-werb lockten den Organistennachwuchs ausaller Welt in die Hansestadt zum Austauschund Wettstreit. Eine ganzjährige Vortragsrei-he richtet sich an Musikkenner und -liebhabergleichermaßen. Das Projekt „Komprovisation-Buxtehude 21“ im November stellt die Kom-positionen Buxtehudes in ein Spannungsfeldmit neuer Musik. Zum Abschluss wird EndeNovember in der „Werkstatt Musikgeschichte“

LÜBECK FEIERT SEINEN GROSSEN

Die Hansestadt ehrt Dieterich Buxtehude zum 300. Todestag

© Museum für Hamburgische Geschichte

61MUSIK�ORUM

ein Gesprächskonzert zur Tradition der Lü-becker Abendmusiken zu erleben sein.

Um das ambitionierte Jahresprogramm rea-lisieren zu können, war man in Lübeck aufgroße Unterstützung angewiesen – so wieeinst Buxtehude selbst, der die berühmten„Abendmusiken“ nicht ohne das Engagementwohlhabender und kunstsinniger Kaufleuteder Hansestadt hätte umsetzen können. Haupt-sponsor des Festjahres ist die Possehl-Stiftung.Zu den weiteren Förderern zählen die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, die Ge-meinnützige Sparkassenstiftung zu Lübeck,die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschafts-förderung, die Dräger-Stiftung und die vonKeller-Stiftung. Die Possehl-Stiftung Lübeckerklärte sich zudem bereit, nicht nur die Fi-nanzierungslücken der Veranstaltungen zuschließen, sondern zusätzlich Mittel zur Ver-fügung zu stellen, die ein professionelles Mar-keting und Erscheinungsbild ermöglichten.

Die Aktivitäten im PR-Bereich folgten ei-ner vom Runden Tisch „Lübeck feiert Bux-tehude“ verabschiedeten Vermarktungskon-zeption. Deren kurzfristige Ziele: die optimaleAuslastung der Konzerte, die Generierungeines überregionalen Publikums und – als mit-telfristiges Ziel – ein nachhaltiger Imagege-winn für Lübeck als Kulturstandort. Als Ziel-gruppen wurden die lokale Bevölkerung mitInteresse an klassischer Musik, die kulturin-teressierten Touristen der touristischen Quell-märkte Lübecks sowie die so genannte Kern-zielgruppe aller an Alter Musik interessierten

Festspielfieber: Überregional lockten Plakate(oben links) zum Buxtehude-Jahr nach Lübeck.Vom Jubilar selbst gibt es keine Abbildungen.Man geht davon aus, dass Buxtehude auf demGemälde „Häusliche Musizierszene“ vonJohannes Voorhout (1674) als Gambe spielen-der Musiker zu sehen ist (Ausschnitt obenlinks). In der Marienkirche (oben) führte erseine Abendmusiken auf. Hier konzertierteauch der Knabenchor Hannover (oben rechts)im Rahmen des Festprogramms.

Personen definiert. Überregionale Plakatie-rung und Werbung in den einschlägigen Pub-likationen hat so Kulturinteressierte nachLübeck gelockt. Der anhaltende Trend zu Städ-tereisen, zu denen ein reizvolles kulturellesProfil einer Stadt meist der wichtigste Anreizist, überzeugte alle Veranstalter des Buxte-hude-Jahres, dass das Festjahr einen wichti-gen Beitrag leisten kann, Lübeck als Besuchs-ziel noch attraktiver zu machen. Immerhinbietet das Festjahr die Möglichkeit, Alte Musikgleichsam am Ort ihrer Entstehung zu erle-ben: in den einzigartigen Kirchen der Lübe-cker Altstadt, die von der UNESCO in denRang eines Weltkulturerbes erhoben wurde.

Für einen hohen Wiedererkennungswertwurde ein einheitliches, modern anmuten-des Erscheinungsbild mit Logo, Plakaten, Pro-grammbuch, Flyern und Internetpräsenz inAuftrag gegeben. Selbstverständlich bewer-ben alle Veranstalter das Festjahr immer alsGanzes. Ein einheitliches Ticketsystem machtes den Konzertbesuchern leicht, für alle Kon-zerte an einem Ort Karten zu erhalten.

Dankbar sind die Veranstalter vor allemdem Jubilar selbst, denn Buxtehude – dieszeigt sich inzwischen immer deutlicher – bietetLübeck eine große Zukunftschance. Keineandere Persönlichkeit der Kulturgeschichte,auch kein anderes Thema hat die Kulturins-titutionen in der Hansestadt zuletzt so engzusammenarbeiten lassen. Dieterich Buxte-hude hat sich als große Identifikationsfigurerwiesen.

Eine erste Bilanz des Festjahres fällt übrigenssehr positiv aus: Zahlreiche internationaleMedien haben über die vielfach ausverkauf-ten Konzerte des Festjahrs überschwänglichberichtet, durch den Medienpartner NDR wur-den etliche Konzerte sogar im Rahmen des„European Radio Special Evenings“ der Eu-ropean Broadcasting Union europaweit ge-sendet. Die Feuilletons der großen deutschenTageszeitungen nahmen das Thema oft aufmehrseitigen Berichten in den Blick. Für dieWelt war Lübeck in der Buxtehude-Wocheim Mai „ein bisschen wie Salzburg im August:Festspielfieber, ausgebucht, sonnenverwöhnt“.Dies mag ein gewagter Vergleich sein, vielleichtaber besitzt die Konzeption dieses Festjahresdoch genügend Potenzial für ein zukünftigesFestival, das sich auf Buxtehude und die nord-deutsche Musiktradition auch in den kom-menden Jahren konzentrieren mag – vielleichtals Biennale?

Wolfgang Sandberger

U www.buxtehude2007.de

Der Autor:Prof. Dr. Wolfgang Sandberger ist Projektleiter desFestjahres „Lübeck feiert Buxtehude“. Er ist Professorfür Musikwissenschaft und Leiter des Brahms-Instituts ander Musikhochschule Lübeck. Zudem arbeitet er auchals Autor und Moderator für mehrere ARD-Anstalten.

Barockkomponisten

Foto: Schöning © Knabenchor Hannover

MUSIK�ORUM62

NEUE TÖNE

Über den Tellerandhinausgesungen:Matthias Becker,künstlerischer Leiter derVoacal Jazz-Kurse, beimFortbildungsseminar.Foto: Jan Karow

Wie schon 2003 hatte der Deutsche Musik-rat (DMR) die Dirigenten der Preisträgerchöredes Deutschen Chorwettbewerbs (DCW) –insbesondere der Kategorie „Jazz-vokal etcetera“ – zu einem Förderkurs in die AndreasHermes Akademie nach Bonn eingeladen.Die Zahl von 56 Anmeldungen bedeuteteTeilnehmerrekord für die bereits seit 1984als Anschlussmaßnahme des DMR nach denDeutschen Chorwettbewerben stattfindendenFörderseminare. Diese stets von renommier-ten Dozenten geleiteten Kurse dürften – wieauch die Förderstipendien für ausgewählteChorleiter des DCW, die Fördermaßnahmenim Anschluss an „Jugend musiziert“ sowie dasDirigentenforum des DMR – zu den besondersnachhaltigen Aktivitäten des Deutschen Mu-sikrats gehören.

Wechselnde Schwerpunkte

In den Anfangsjahren des DCW lag derAkzent der Kurse eher auf dem klassischenund zeitgenössischen Repertoire. Dozentenwie Laszlo Heltay, Marinus Voorberg, HeinzHennig, Paul Brandvik, Rupert Huber, Ga-bor Hollerung, Kurt Suttner und Uwe Gro-nostay bürgten für Qualität und stilistischeVielfalt. Aus gutem Grund gab es wegen derbei den Deutschen Chorwettbewerben boo-menden Kategorie ‚Jazz-vokal et cetera“ bereits

2003 ein Angebot für den Vocal Jazz. Dankder guten Kontakte des künstlerischen Lei-ters der Kurse von 2003 und 2007, Mat-thias Becker, konnten für beide Seminareinternationale Kapazitäten gewonnen wer-den: Michelle Weir, Darmon Meader, TomGentry und Reinette van Zijtveld-Lustig imJahr 2003, Rhiannon, Roger Treece, Jens Jo-hansen, Andea Figallo, Hans Frambach so-wie Reinette van Zijtveld 2007, die wie schonbeim ersten Vocal Jazz-Kurs jedem Teilneh-mer 30 Minuten individuelle Jazz-Stimmbil-dung erteilte.

Was war neu 2007?

Wiederum gab es verschiedene Akzente.So sorgten Rhiannon und Roger Treece –beide Musizierpartner und Arrangeure vonBobby McFerrin – durch ihre professionell-authentischen und zugleich einfühlsamenAnimationen zur Improvisation für (Jazz-)Flow-Effekte. Die schon von Bobby McFerrin aufCD veröffentlichten Circle Songs waren dieEntdeckung des Kurses. Treece komponierteeinzelne Teile erst zu Beginn des Kurses, dieergänzenden Abschnitte wurden dann unterseiner Leitung von den chorischen Stimm-gruppen mit in teilweise minimalistisch-re-petitiver Art vorgetragenen Patterns impro-visiert. Das Aufeinander-Hören und -Reagieren

in einem zum Teil 45-minütigen chorisch im-provisierten Circle Song stand hier im Vor-dergrund, sogar Kursteilnehmer wurden alsLeiter eingebunden.

Hervorzuheben sind auch Jens JohansensArrangier-Workshops, in denen der Kopf derdänischen „Vocal Line“ Einblicke in dieGestaltungstechnik seiner mitreißenden Pop-und Gospelarrangements gewährte. WährendAndrea Figallo (von den Flying Pickets) mitguten praktischen Tipps und Musikalität über-zeugte, war der diesjährige Barbershop-Teileher entbehrlich.

Starker Live-Eindruck

Als richtige Entscheidung erwies sich diegemeinsame Mitwirkung aller Kursteilnehmerim Abschlusskonzert in der überfüllten Bon-ner Trinitatiskirche. Es sprach für die großeLivewirkung des Jazz, dass es im Konzert –mit allen Dozenten und auch einem Teilneh-mer als Dirigenten – viele berührende Mo-mente gab, in denen vor allem das Könnender Dozenten, aber auch einer Reihe vonvokal improvisierenden Teilnehmern aufblitzte.Eine ausgezeichnete Visitenkarte gab in ei-ner Konzerthälfte der Bonner Jazzchor unterTono Wissing ab, der den Chor erst 2003 –unter dem starken Eindruck seiner Teilnah-me am ersten Vocal Jazz-Seminar des DMR– gegründet hatte.

Pläne für die Zukunft

Mit der Ankündigung eines weiteren Kursesfür 2008 ist eine „klassisch-moderne“ Aus-richtung inklusive Stimmbildung vorgesehen,wodurch auch die traditionellen Kategoriendes DCW bedient werden. Eine Fortsetzungder Vocal Jazz-Seminare wird erwogen. Zumanderen ist eine noch breitere Teilnahme vonDirigenten beabsichtigt, auch mit anderenSchwerpunkten und Stilen. Die intensivenmusikalischen Erfahrungen in der direktenBegegnung mit Weltklasse-Dozenten und derBlick über den Tellerrand des eigenen Re-pertoires bieten jedenfalls einen persönlichenund musikalischen Gewinn.

Klaus-Jürgen Etzold

»…das Beste,WAS ICH JE GEMACHT HABE«

Fortbildungsseminar „Vocal Jazz & jazzverwandte Chormusik“Die spontane Äußerungeines Teilnehmers aus der

Abschlussrunde des Fortbildungs-seminars „Vocal Jazz und jazzver-wandte Chormusik“ steht für eingroßes Echo auf einen besonde-ren Kurs: „Das war musikalischdas Beste, was ich je gemachthabe!“

63MUSIK�ORUM

TONTRÄGER REZENSIONEN

Falsche FährtenDie zwei Gesichter des Ludwig vanBeethoven (Musikkrimi, ab 10 Jahre)Text/Musik: Lutz Gümbel undJochen Hering; Musik von Ludwig vanBeethovenUniversal Music, ISBN 978-3829117319

Eisblumen für dichKlassische Musik und Sprache (ab 4 J.)Text: Ute Kleeberg, Erzähler: Ulrich Noethen;Musik: Darius Milhaud, Felix Mendelssohn Bartholdy, Wolfgang Amadeus Mozartu. a.Edition See-Igel,ISBN 3-935261-11-X

Falsche Fährten ist eine raffiniertaufgehängte Detektivgeschichte umden Diebstahl einer Beethoven-Schall-plattensammlung, deren Dieb die Pri-vatdetektive Schmitz und Gärtnervermeintlich nur über das Studiumder Person Ludwig van Beethovensauf die Spur kommen können. Da-durch ergeben sich vielfältige Anknüp-fungspunkte zu seiner Musik, wovonbekannte Werke auf dem Rest derCD gespielt werden.

Die Detektive ermitteln Beetho-vens nicht unproblematische Charak-terzüge und gelangen so zu ihrer ers-ten Spur, die zur Schülerin Katrin führt,die ähnlich gestrickt ist. Die Spur er-weist sich aber als falsch, da sich Katrinzum Tatzeitpunkt gar nicht in derSchule befand.

Diese „neue“ Seite an Beethovenführt sie zum Schüler Till. Es stelltsich heraus, dass die beiden Schülergemeinsam die Platten gestohlenhaben – aber in der durchaus gutenAbsicht, sie vor Beschädigungen durchdie vom Musikunterricht frustriertenMitschüler (!) zu bewahren.

Wenn auch nicht alle Detailsletztlich total überzeugend sind (wel-cher Schüler, wenn er nicht einen DJzum Freund hat, kennt noch Schall-platten und warum sollten Schüler,die klassische Musik hassen, einenMusikkurs wählen?), ist das Hörspieldoch spannend und die Geschichtegut erzählt und daher als quasi „di-daktische Verpackung“ für Beetho-vens Musik in sich schlüssig.

Seit 1997 schreibt derVerband deutscherMusikschulen (VdM) allezwei Jahre den Medien-preis „Leopold“ aus, derals Qualitätszeichen fürbesonders empfehlens-werte Musik für Kinder insLeben gerufen wurde(www.musikschulen.de).Siehe auch Meldung in denNACHRICHTEN auf Seite 6.

„Leopold“ stehtfür Qualität

Das MUSIKFORUM stelltauf dieser Seite zwei CDsvor, die in diesem Jahr mitdem Prädikat „Gute Musikfür Kinder – empfohlen vomVerband deutscher Musik-schulen“ ausgezeichnetwurden.Autor der Rezensionen istWalter Lindenbaum vonder Universität Münster, derals Jurymitglied des Medien-preises fungiert.

Eisblumen für dich ist die dezentund unaufdringlich von Ulrich Noe-then erzählte Geschichte eines klei-nen Jungen, Paul, der mit seinen El-tern in eine neue Stadt zieht. Ervermisst seine Freunde sehr und hatdes Nachts Angst allein in seinem Zim-mer, vor allem vor den Geräuschen,die die Gespenster machen.

Das ändert sich erst, als er einenSchneemann baut, der ihm zuhört undihn zu verstehen scheint, wo-raus sichalsbald eine richtige Freundschaftentwickelt. Paul unterhält sich inGedanken mit dem Schneemann. EinStofftiger, den er geschenkt bekommt,wird als Dritter im Bunde einbezo-gen. Als Paul sich einen anderenSchneemann anschaut, entwickelt sichmit dem Erbauerjungen ein erster Kon-takt in Form einer kleinen Schneeball-schlacht, der sich später intensiviert,als der Schneemann repariert wer-den muss.

Sie helfen sich auch gegenseitigbeim Aufstellen eines Sonnenschirms,als der Schneemann zu schmelzen be-ginnt. Die Lücke, die der geschmol-zene Schneemann hinterlässt, wirdfolgerichtig einerseits durch „Tiger“,andererseits durch den beim Schnee-mannbau kennen gelernten neuenFreund gefüllt, die Paul über den Ab-schiedsschmerz hinwegtrösten.

Die jeweils etwa zweiminütigenErzählpassagen werden, intern odernachfolgend, angereichert durch Mu-sikeinspielungen „leichter Klassik“, wiez. B. Lieder ohne Worte von Felix Men-delssohn Bartholdy oder Bartóks EinAbend auf dem Lande, hier in einerBearbeitung für Klarinette und Kla-vier. Die vertraute Fremdheit desSchneelandes, das Paul mit Tiger mit-tels einer Schneeflocke und einesSchlittens im Traum bereist, drückt

sich aus im Caprice für Klarinette undKlavier von Milhaud.

Wie sich die Gestaltung musikali-scher Klischees bedient, aber auchAnalogien nutzt, wird deutlich an derVerwendung des Andante KV 616von Wolfgang Amadeus Mozart ineiner Bearbeitung für Celesta, als esum die Eisblumen geht, die der Schnee-mann als Gruß schickt, oder aber amPrelude op. 15 Nr. 5 für Klarinetteund Klavier von Alexander Scriabinals Illustration des Rollens der gro-ßen Kugeln, aus denen der Schnee-mann entstehen soll.

Als der neue Winter wiederumSchnee bringt, baut Paul erneut ei-nen Schneemann, nun aber zusam-men mit seinen neuen Freunden inder Stadt.

REZENSIONEN

MUSIK�ORUM64

Johann Sebastian BachMotettenJoanne Lunn, Rebecca Outram (Sopran), David Gould (Altus), Robert Macdonald (Bass)Hilliard-EnsembleECM 1875-4765776

Über den Parnass etwas zu schrei-ben – das war schon immer ein ge-wagtes Unterfangen. Ein Werk, garein musikalisches auf dem Parnass derKompositionsgeschichte, war stets einVersuch, einen Berg zu erklimmen,ohne die Garantie zu haben, es kön-ne am Ende auch klappen. Beetho-vens späte Streichquartette, MahlersLied von der Erde, Weberns Bagatel-len, Mozarts Don Giovanni oder ebenauch die Motetten von Johann Sebas-tian Bach gehören dazu. Für Chöre gibtes kaum etwas Gewagteres, weil dieunterschiedlichen Kompositionstech-niken, die Bach anwendet, im Regel-fall instrumental gehalten sind. Daserfordert eine Flexibilität in der Stimmeund die Bereitschaft (und Fähigkeit) zumutigen Tempi. Ein „schlichtschönesSingen“ allein reicht schon längst nichtmehr aus, es muss unbedingt aucheine stilistische Erfahrung hinzukom-men, die nur über Jahre und mit pa-ralleler Literatur geschult werden kann.

Fast jedes Jahr wird mindestenseine Neueinspielung von den bekann-ten Ensembles vorgelegt, ob von Ja-cobs, Bernius, Koopman, Gardineroder Herreweghe. Und sie alle sindin ihrer Art herausragend, beachtlich,in sich geschlossen und manchmalauch originell. Doch sie können beiallem Anstrengen ein Problem letztlichnicht lösen: die Besetzungsfrage. Dabeigeht es nicht darum, ob man liebernur mit Knabenchören arbeiten soll-te. Klanglich bleibt es das Ideal, an demman sich orientieren muss. Allein diefrüh einsetzende Mutation fordert ih-ren Tribut; es fehlt an der Zeit einerhochkomplexen Arbeit mit dieser He-rausforderung, die eine Ausdrucks-differenzierung braucht, die uns Heu-tigen nicht mehr selbstverständlich ist.

Was nicht leistbar schien, liegt jetztvor: Das Hilliard Ensemble, nicht gera-de spezialisiert für die Musik des 18.Jahrhunderts, hat die Lösung für die

vielen kleinen und größeren Proble-me gefunden. Dies scheint nur in die-ser solistischen Besetzung mit derartintelligenten Sängern möglich. Wennman auf den Punkt bringen will, wa-rum diese Einspielung zukünftig zurReferenz werden wird, dann deswe-gen, weil die Wortbezogenheit der bach-schen Musik nicht aus aufgesetztemInterpretationsgehabe entsteht, sondernaus der „natürlichen“ Rede, die sichweder in agogischen Mätzchen nochin klanglichen Forcierungen gefällt.

So hört man das längst Bekannteneu – als Rede und als Anrede zugleich.Die Motetten waren zum größten Teilals Trauermotetten gedacht. WennBach den Menschen erreicht, danndeswegen, weil er in seiner musikali-schen Rhetorik grundsätzliche mensch-liche Erfahrung vermitteln kann – auchüber den christologischen Bezug hi-naus. Die Existenz des Menschen zwi-schen Scheitern und Hoffen, zwischenVerzweiflung und Trost, zwischenEinsamkeit und Sich-Geborgen-Wis-sen – diese Spannung erlebt der Hörerhier in beglückender Weise.

Freilich sollte hier nicht nur das groß-artige Hilliard Ensemble gelobt werden,sondern auch Peter Laenger, der Ton-meister dieser Aufnahme. Ihm gelingtein Klangbild, das die Linearität undden Zusammenklang äußerst sensi-bel einfängt. Und der Text des Bei-hefts? Martin Geck ist ein Meister-stück der Musikvermittlung gelungen,das dem Verstehen dient und nichtder philologischen Selbstdarstellung. Mitdem Text versteht man neu und bes-ser, worum es dem Hilliard Ensembleauch gegangen ist: der Musik den Platzeinzuräumen, den sie zumindest inden großen Kunstwerken einnimmt.Sie vermittelt zwischen dem Nicht-Aussprechlichen und dem Hörer. Hierbeginnt das Schweigen beim Aufstiegauf den Parnass!

Hans Bäßler

TONTRÄGER

chormusik

Mit der soeben erschienenen Ein-spielung von Felix Mendelssohn Bar-tholdys Oratorium Paulus gelingt Frie-der Bernius erneut eine Referenz-Aufnahme. Sein vor allem als Inter-pret von deutscher romantischerVokalmusik vielfach preisgekrönterKammerchor Stuttgart und die ex-zellente Deutsche Kammerphilhar-monie Bremen musizieren auf höchs-tem Niveau und finden eine konge-niale Interpretation fernab aller tra-dierten romantischen Schwülstigkeit.

Der Kammerchor Stuttgart singtmit 46 Choristinnen und Choristenin bemerkenswert kleiner Besetzung.Dadurch erreicht Bernius einen schlan-ken, obertonreichen und zugleichlebendigen Chorklang, der selbst inTurbachören mit Intensität überzeugt.Das biegsam, mit Verve und unge-mein sprachbezogen musizierendeOrchester sowie die hervorragendeAufnahmetechnik im neuen SuperAudio-Verfahren tragen zu einemunmittelbar ansprechenden Hörerleb-nis in bemerkenswerter Transparenzbei.

Die Vokalsolisten fügen sich prin-zipiell gut in Bernius’ Konzept ein.Die als Barock-Spezialistin hoch ge-handelte Maria Cristina Kiehr bestichtdurch Tonschönheit und eine schlankgeführte Stimme, die sie ganz imDienste des Textes einsetzt. Profundund dennoch wandlungsfähig verkör-pert Michael Volle die Bass-Partie.Genauso glaubwürdig, aber gelegent-lich in der Höhe etwas forcierend wirktder leicht metallische Tenor WernerGueras. Es spricht für die Qualität desChors, dass die kleineren Solopartiendurch Chormitglieder sehr gut besetztsind.

Bernius gelingt mit seinem durch-dachten Konzept eine überzeugen-de Balance zwischen den lyrischenund dramatischen Elementen, wo-durch zugleich das Lebenswerk des

Paulus für den Hörer nachvollzieh-bar abgebildet wird.

Höchstnoten für die nahezu alsperfekt zu bezeichnende Realisierung.Man darf auf weitere mustergültigeMendelssohn-Einspielungen durchBernius gespannt sein.

Klaus-Jürgen Etzold

Felix Mendelssohn BartholdyPaulusMaria Cristina Kiehr, Werner Guera, Michael Volle, Kammerchor Stuttgart, DeutscheKammerphilharmonie Bremen, Ltg. Frieder BerniusCarus 83.214

BÜCHER

65MUSIK�ORUM

Die Humanität der MusikEssays aus dem 21. JahrhundertClaus-Steffen MahnkopfWolke, Hofheim 2007, 324 Seiten, 29 Euro

Von Augustinus (De musica) überAlbertus Magnus (De homine) bis Ni-kolaus von Kues (De docta ignoran-tia) gehörte es zum guten Ton, Texteüber die großen Existenzialia im Wis-sen um ihre Unabschließbarkeit prä-positional abzufedern, also „über“, „zu“oder „von“ etwas zu schreiben. Gleichdas erste Titelwort des vorliegendenBandes indessen signalisiert, dass kir-chenväterliche „modestia“ Claus-Stef-fen Mahnkopfs Sache nicht ist, unddas schon gar nicht, wenn es ihm da-rum geht, „den Menschen als den zent-ralen Bezugspunkt für die „Künste“zu exponieren. So artikuIiert sich dennin dem bestimmten Artikel „die“ eineentschiedene Setzung und zugleichdie eigentliche Bestimmung der 25Essays, nämlich der „Humanitas in musi-cis“ ein Forum zu verschaffen, derenKonturen argumentativ zu schärfen,ihre Spuren im Gelingen wie im Schei-tern bedeutender Werke freizulegen,vor allem aber sie für das komposi-torische Schaffen der Gegenwart ein-zuklagen und als dessen eigentlichenSkopus zu begründen.

Als inneres Datum schwingt in fastallen Beiträgen der 11. September mit,an dem im Jahr 2001 Theodor W.Adornos Geburtstag für immer zumMenetekel eingedunkelt worden ist.Aus diesem abgründigen Zentrum be-ziehen die Texte Mahnkopfs ihrenKassandra-Duktus und ihre kritischeVerve, aber – gewissermaßen als schöp-ferische Gegenkraft – unüberhörbarauch einen utopischen Beiklang undden Appellcharakter eines Manifests.So vernimmt der Leser neben einemeifernden Bußprediger und Zucht-meister, der sich Wut I (S. 11) undWut II (S. 18) von der Seele schreibt,auch den Anwalt jener Humanität derMusik, die Mahnkopf vor allem imŒuvre von Helmut Lachenmann,Brian Ferneyhough und Klaus Hubergrundgelegt sieht. Musik als „figure

humaine“ entdeckt er bei JosquinDesprez ebenso wie bei György Kur-tág, Anton Webern und Steven Ka-zuo Tagasuki. Mit seiner Kritik einer„falschen Distinktion von Herz undHirn in der Musik“ (S. 105) gibt Mahn-kopf zugleich einen Hinweis auf dieEinlösung des Humanum im eigenenkompositorischen Schaffen, das sichder „komplexistischen Herausforde-rung“ stellt, das dem Postulat unbe-dingter Expressivität verpflichtet istund sich am dekonstruktivistischenArchitekturkonzept von Daniel Libes-kind orientiert, wie es andererseits ausdem verängstigten Staunen des Kom-ponisten bei der Lektüre der Roma-ne von Thomas Pynchon schöpferi-sche Impulse bezieht.

Wo jedoch die „oratio directa“ desstreitbaren Autors die (nur vermeint-liche) moralische Demontage Karl-heinz Stockhausens allzu lustvoll be-treibt, will er als Anwalt des Humanumnicht mehr so recht taugen. Zumindestkönnen diese vielperspektivischen,philosophisch und politisch weit aus-greifenden und auf einen kritischenWeltentwurf zielenden Texte einenpartiellen Nachholbedarf in SachenContenance und Fairness nicht ver-hehlen. Dass man unter den Kron-zeugen der „Humanität der Musik“den Namen von Karl Amadeus Hart-mann vermisst, sei am Rande ver-merkt. Der Titel von Hartmanns Kla-viersonate 27. April 1945 könnteebenso im Fokus der hier gebündel-ten Reflexionen stehen wie der vomAutor beschworene Geburtstag Ador-nos.

Summa: Unbequem, erhellend, fas-zinierend, verstörend und notwendigzugleich sind die hier zusammenge-stellten Essays. Frei nach FernandoPessoa: ein „Buch der Unruhe“, die,wie man weiß, sehr heilsam sein kann.

Peter Becker

„[...] nur Zierde, niemals Grund-bass“ ihres „Seins und Tuns“ sollte dieMusik für Fanny Mendelssohn, spä-ter Fanny Hensel, sein. So wollten esihr Vater und ihre ganze Familie. Undso wollte sie es auch selbst, jedenfallsglaubte sie, es zu wollen – Ergebnisjahre- und jahrzehntelanger Gehirn-wäsche. Wer sich mit der musizie-renden und komponierenden Schwes-ter des berühmten Felix MendelssohnBartholdy beschäftigt, wird sich desGefühls von Empörung oder Bedau-ern über solche Einengung kaum er-wehren können.

Und so schwingt es auch mit inder neuen Fanny-Hensel-Biografie vonPeter Schleuning in der von AnnetteKreutziger-Herr und Melanie Unseldherausgegebenen Reihe „EuropäischeKomponistinnen“. Anhand von Ta-gebucheinträgen und Briefen zeich-net der Professor am Institut für Musikder Universität Oldenburg das Lebender Künstlerin nach – von ihrer Kind-heit über die Hochzeit mit dem Ma-ler Wilhelm Hensel und die gemein-same Italienreise bis zum frühen Todder erst 42-Jährigen.

Dabei wird deutlich, dass selbst derBruder, zu dem Fanny doch so eineinnige Beziehung hatte, sie nicht inihren musikalischen Ambitionen un-terstützte, sondern ihr letztlich immerneue Selbstzweifel einimpfte. FannyHensel war hervorragend ausgebildetund sie bereicherte das Berliner Musik-leben durch ihre berühmten „Sonn-tagsmusiken“, doch diese fanden stetsvor einem geladenen, nicht vor einemzahlenden Publikum statt. An echte,öffentliche Auftritte wagte sich die be-gabte Musikerin kaum heran. Zu langewar ihr eingebläut worden, eine Kar-riere sei mit ihrer Rolle als Frau nichtzu vereinbaren. Und auch die Entschei-dung, mit der Herausgabe ihrer Werkezu beginnen, traf sie erst gegen Endeihres Lebens – bis ein Schlaganfall

ihre Herausgebertätigkeit sogleichwieder beendete.

Schleunings Buch ist, wenn es auchkeine durchschlagend neuen Erkennt-nisse liefert, umfassend in der Darstel-lung und wissenschaftlich korrekt: EineBetrachtung der familiären und poli-tischen Hintergründe, die das Lebender Komponistin prägten, findet eben-so statt wie eine kritische Auseinan-dersetzung mit den oft fehlerhaftenBriefausgaben. Zudem gelingt es demAutor, die Persönlichkeit der Musi-kerin – ihren Humor, ihre Moralvor-stellungen – treffend und ehrlich zucharakterisieren sowie immer wiederdie fast lebenslange psychische Ma-nipulation durch ihr Umfeld heraus-zuarbeiten. Mit Spekulationen überfehlende Informationen wird ange-nehm sparsam umgegangen. Undnicht zuletzt stellt die Biografie alsMittelding zwischen Lehr- und Lese-buch zumeist auch eine angenehmeLektüre dar, wobei allenfalls die manch-mal plötzlich stattfindenden Wechselin eine tabellarische Auflistung vonEreignissen das Lesevergnügen trübenkönnen.

Einzig für das Verständnis der imzweiten Teil enthaltenen Werkana-lysen ist ein musikwissenschaftlichesHintergrundwissen unabdingbar. Dochwenn es vorhanden ist, bieten dieUntersuchungen der Lieder, Chöreund Klavierwerke sowie der Orches-terouvertüre und der so genannten„Choleramusik“ interessante Erkennt-nisse, was zum Beispiel die kreativenLösungen Fanny Hensels im Bereichder Sonatensatzform angeht.

Julia Hartel

Fanny Hensel geb. MendelssohnMusikerin der RomantikPeter SchleuningBöhlau, Köln 2007, 350 Seiten, 24,90 Euro

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Das nächste MUSIKFORUMerscheint am 15. Januar 2008

MUSIK�ORUM66

Eine bessere Welt…darum geht es doch im Grunde, oder nicht?Soll Politik nicht – über Organisation undKonfliktregulierung – Freiheit und Friedeschaffen und in diesem Zuge auch Freudeund gerne den einen oder anderen Eier-kuchen unter die Menschen bringen?Jawohl, eine schöne, sinnliche, kuscheligeWelt möge uns die Politik gestalten, ohneArmut, Aggression und Apokalypse, abermit Liebe, Eiscreme, Blumen – und Musik!

Ob ich ein Spät-Hippie bin? Selbstver-ständlich! Schlimmer noch: Ich bin auchMusiker, einer mit Illusionen und Visionendazu! Auf der Popkomm 2007 in Berlintraf ich mich mit vielen Gleichgesinnten.Wir sprachen und sangen genau von dieserbesseren Welt, plädierten auf einem Aktions-tag für sauberes Wasser und mehr Bildung,protestierten gegen Hunger, Krankheit undvergessliche Politiker. Funktionierten maleben den Slogan der Popkomm um: „Pluginto future“ statt „…success“.

Eine friedliche Welt…schafft man nicht mit Liedern allein. Klar.Aber Musik machen, darf auch heißen:ein Weltbild zu haben – und dieses gleich-sam als „Bühnenbild“ bei Konzerten aufzu-hängen: zwischen „Live 8“, Rostock-Heiligen-damm, den Clubs der Popkomm und demDirigentenpult eines Kurt Masur (den diePolitik nie losgelassen hat).

Auch – oder gerade – in Zeiten vonweichgespültem Pop und gefälligem Klassik-radio muss Musik nicht unpolitisch sein. Esscheint sogar, als gäbe es eine Renaissancedes Politischen in der Musik: Auf dem Pop-komm-Festival glänzte plötzlich wieder einkämpferischer Songaktivist wie Billy Braggals Star- und Diskussionsgast; immer mehrHipHopper und Rockmusiker packen ihrenZorn über lokale und globale Zustände in

Folklorist desProtest-Punk:Billy Bragg

Liedtexte; sogar Politbarden der alten Schulemelden sich auf Songfesten wieder zu Wortund Gitarre.

Eine fremde Welt…scheint die Musik – umgekehrt – freilichfür manche Politiker zu bleiben (mit Rück-wirkung auf die Musikpolitik?). Einige wirk-ten bei ihrem Pflichtbesuch auf der Pop-komm doch etwas verunsichert angesichtsvon Messethemen und Attraktionen wieArtist Generated Business, AutomotiveEntertainment oder Latin Rap, vielleichtauch angesichts dieser „hippieesken“ Zurück-besinnung auf die Weltverbesserung.Dabei ist die Politik doch auf dem Sprungins „gemeinsame Boot“: Immer bereitwilligerbetont sie das bedeutsame Kreativpotenzialder deutschen Musikszene. Und beweistdamit Sinn für Perspektiven.

Weitsicht offenbarten – im Jahr 1989 –auch die Machthaber der DDR, die besagtenBilly Bragg zu einem Festival des politischenLiedes nach Berlin-Ost einluden. Nach sei-ner Meinung zur Perestroika befragt, antwor-tete der unkorrumpierbare Engländer imFernsehen, Glasnost und die Berliner Mauergingen nicht zusammen – worauf ihn dieVerantwortlichen prompt ausluden und-flogen: „Sie werden nie wieder in der DDRauftreten!“

Siehste da, die Politiker behielten Recht.

Werner Bohl

Eine kunterbunte Welt…öffnet sich dem Leser der nächsten Ausgabedes MUSIKFORUM. Der Themenkreis„Kulturelle Vielfalt“ steht dann im Fokus.Was bedeutet kulturelle Vielfalt? Wie undwo kann man interkulturelle Kompetenzenerlernen? Wie kann das Thema politischbefördert werden? Wir hinterfragen Ver-mittlungskonzepte in der musikalischenAusbildung, beschreiben die Vielfalt derStile und Ethnien im Bereich des Laien-musizierens und stellen die neue Wettbe-werbskategorie Baglama (die türkischeLaute) bei „Jugend musiziert“ vor.