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Thomas Schindler Das Wort ,,Wand" verleitet uns nicht gera- de dam, an eine auflerst komplexe, in ho- hem Mafie dynamische und mit vielfaltigen Funktionen ausgestattete Struktur zu den- ken. Im Gegenteil, Wande erscheinen uns als statische, einfach gebaute Trennberei- che, die ausschliefllich der Abgrenzung und Stabilitat dienen. Diese oberflachliche Be- trachtungsweise lafit sich nun ganz und gar nicht auf die pflanzliche Zell,,wand" anwenden, denn es gibt kaum eine Situati- on im Leben einer Pflanze, bei der sie keine Rolle spielt. Beim Wachstum und bei der Formgebung kommt ihr entscheidende Be- deutung zu; sie ist Gegenspieler des Tur- gors, Ionenspeicher, Transportraum und Signalgeber. Bei Verwundung, Infektion durch Pilze, Bakterien und Viren und bei osmotischem Strefi wird sie biochemisch veriindert. Doch obwohl die Zellwand fur die Pflanzen- zelle cine solch grundlegende Bcdcutung hat, wissen wir noch sehr weiiig uber sic. Laiigere Zeit galt sie in dcr Forschung als ,,totes Ab- scheidungsprodukt des (Icbcnden) Protopla- stcn" und erschien somit weiiig interessant [I]. Nach einer kurzen Phase dcs Iiiteresses Anfang der sicbziger Jahre wird sic erst wie- der seit Mitte der achtziger zunehmcnd cr- forscht. Diesc Forschungcn habcn zu einigcn iicuen An- und Einsichten gefuhrt, die itn fol- gendcii dargestellt werden sollcn. hi Zen- trum steht die Frage nach der Architcktur der Zellwand. Ein besoiidcrcs Augeiimerk sol1 je- doch dcm Zusammenhang zwischen der Struktur der Zellwand und Phinomenen wie Waclistuni und Differenzierung gclten. Dabei soll cs ausschliefllich urn die primire, das heitlt jungc, noch wachstumsfahige und nicht verholzte Zcllmand gehen. Mit dem Abschlull des Wachstums und dem Beginn der vollstan- digen Differenzierung wird die Primamand funktionell von dcr innen aufgclagcrten, meist mit Lignin verstarkten Sckundimand ab- geliist, die dann tatsachlich fast ausschlicillich Fcstigungsfunktion besitzt. Die Funktionen der Primarwand Die Struktur der Primarwand mui3 eiiier Viel- zahl widerspriichlicher Anfordcruii'gcn ge- Das neue Bild der Zellwand recht werden. Sic bildet eincrscits cine Grenze und Barriere, ist abcr gleichzeitig Komniun- kationsraum und Verbindung z\vischen den Nachbarzcllcn. Sie mula Iciclit uiid stabil, das lieifit zug- und druckbelasthar, und mit niiig- lichst geringem Energieaufwand herstellbar sein. Gleichzeitig muil ilire Struktur, mie bei- spielsweisc bcim Wachstuni, stindig wriin- dert werden kiinnen. Dahei dai-f sic nicht massiv gebaut scin, sondern mu13 so weitma- schig angelegt werden, dai3 nebcn Wasser und Ionen auch kleinere Proteiiie wic Enzyme leicht eindriiigen und passieren kiinncn. Die Zellwand muil auf Signale, heispielsweise Wachstumshormone odcr Licht, rasch und prizise in iliren Eigcnschaften ver? 'ii d ert wer- den kiinncn, ohne da13 ihre Stabilitat gefihr- det wird. Der Turgordruck, der von innen her wirkt, und der ihni entgegengesetztc Dcli- nungswiderstand der Zcllwand sorgen fur zusitzliche Festigkcit. Die Zellwand steht mit ,,ihrem" Protoplasten in viclfaltiger Verbindung. Sic dicnt walir- scheinlich auch als Orientierungsraliiiieii und ,,Aufhangung" fur das Cytoskclctt (sichc uiiten). Bei Infektionen durch Pilze, wclche die Zellwand angreifen uiid lokal verdaucn, habcn einige Abbauproduktc (Elicitoren) Signalfunktion bei der Ausliisung von Abwchrrcaktioncn der betroffencn Zelle uiid ihrer Nachbarzellcn [2]. Primarwand und Wachstum Itn Hinblick auf die Primarwand ist vor allem das Streckungswachstum interessant. In sei- nem Verlauf ,,streckt sich" cine embryonalc Zelle um ein Viclfaches ihrcr Anfangslange, ohne sich xu tcilcn. Betrachtet man game Or- gan~ uiid Gewebe, fiiidet inan selten rcines Strcckungswachstum. Ausnahinen bilden die Koleoptilcn der Griser und die Ilypocotyle der Dicotyledonen, die deshalb beliebtc S>.- steme zur Erforschung von Wachstum sind. Die treibcnde Kraft des Streckungsmaclis- tuns ist der Turgordruck. Wie der Luftdnick den Fahrradschlauch gegen den Mantel druckt, preilt dcr Turgor den Protoplasten (mit ungefahr 5-1 0 bar) gcgen die Zellwand. Dicsc wird dahei wic cin Fahrradmantcl gedchnt uiid unter Zugspannung gesetzt. Zunachst dachtc man, dafl bcim Strcckungs- ljidogic in unscrw Zcit / 23. Jhg. 199.3 / Nr. 2 6) VCH VL,rlilc.sc.csells~haft mbH. W-6940 Weinhcim. 1993 00-i5-205~//9.3/020~-0113 .S 5.00 + .2j/0 wachstuni einfach der Turgordruck erhiiht wiirde, der dann die Zellwand starker dehnte. Doch der Turgor verindert sicli mihrend des Wachstums nicht. Als einzige hliigliclikcit zur Regulation von Wachstum blcibt also die Veriiiideruiig der Dehnbarkcit der Zellwand. Nur dies ermiiglicht eine Langenzunahine bei konstantern Druck. Vide Forscheriiincn uiid Forscher gehen davon aus, dafl die Steigcrung der Delinbarkeit und damit Waclistum durch cine Lockcrung der Zellwand, das ,, cell-call looscning", bewcrkstelligt wird. Wie dies je- doch biochcmisch vonstatten gehcn soll, dar- iiber bestehen grofie Meiiiungsverschieden- heiten. Die Vorstellungcn reichen von eincr Ansiuening der Zellwand und einer damit verbundcnen Spaltung saurclabiler Bindun- gen uber den spczifischen Abbau bestirnmter Zellwandpolymcre bis hin zur Regulation dcr Lkhnungsfahigkcit durch die Biosynthese ei- ncs wachstumslimiticrcnden Proteins. Zellwandarchitektur und Wachstuni sind also untrennbar miteinander verknupft. Alle Wachstumsmodclle mussen folglich Aussagcn uber die Veranderung dcr Zellwand machen, wid alle Zellwandmodcllc sollten die physio- logischen Erkenntnisse uber Wachstum inte- gricrcn. In ciieser Hinsicht sind folgende phy- siologischc Bcfunde Zuni Wachstuni besoii- ders wichtig: 0 Streckungswachstum Mlt sich durch Hor- mone wie Auxiiie induzieren. Dicse Induk- tion erfolgt vergleichsweise rasch, nach nur 12 bis 15 Minuten sctzt bereits Wachstuni ein. 0 Kurzzcitiges Wachstuni (uber Stunden) latit sich durch Inkubation in stark sauretn Medium (pH 4) ausliisen. 0 Durch die Zugabe von Calcium (CaZ+) lafit sich Wachstum rasch blockicrcn. 0 Wachstum ist von (Glyko-) Protein-Syn- theseprozessen abhangig. 0 Die Hemmung der Hemicellulosc- und Cellulosesynthese vcrandcrt die Wachstums- rate erst nach vielen Stunden. Primarwand und Differenzierung Noch vor wenigen Jahren hatte man cinen Zusammenhang zwischcn Zcllwand und Dif- fcrcnzicrung oder Entwicklung dcr Zelle ver- 113

Das neue Bild der Zellwand

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Page 1: Das neue Bild der Zellwand

Thomas Schindler

Das Wort ,,Wand" verleitet uns nicht gera- de dam, an eine auflerst komplexe, in ho- hem Mafie dynamische und mit vielfaltigen Funktionen ausgestattete Struktur zu den- ken. Im Gegenteil, Wande erscheinen uns als statische, einfach gebaute Trennberei- che, die ausschliefllich der Abgrenzung und Stabilitat dienen. Diese oberflachliche Be- trachtungsweise lafit sich nun ganz und gar nicht auf die pflanzliche Zell,,wand" anwenden, denn es gibt kaum eine Situati- on im Leben einer Pflanze, bei der sie keine Rolle spielt. Beim Wachstum und bei der Formgebung kommt ihr entscheidende Be- deutung zu; sie ist Gegenspieler des Tur- gors, Ionenspeicher, Transportraum und Signalgeber. Bei Verwundung, Infektion durch Pilze, Bakterien und Viren und bei osmotischem Strefi wird sie biochemisch veriindert.

Doch obwohl die Zellwand fur die Pflanzen- zelle cine solch grundlegende Bcdcutung hat, wissen wir noch sehr weiiig uber sic. Laiigere Zeit galt s ie in dcr Forschung als ,,totes Ab- scheidungsprodukt des (Icbcnden) Protopla- stcn" und erschien somit weiiig interessant [I]. Nach einer kurzen Phase dcs Iiiteresses Anfang der sicbziger Jahre wird sic erst wie- der seit Mitte der achtziger zunehmcnd cr- forscht. Diesc Forschungcn habcn zu einigcn iicuen An- und Einsichten gefuhrt, die itn fol- gendcii dargestellt werden sollcn. hi Zen- trum steht die Frage nach der Architcktur der Zellwand. Ein besoiidcrcs Augeiimerk sol1 je- doch dcm Zusammenhang zwischen der Struktur der Zellwand und Phinomenen wie Waclistuni und Differenzierung gclten. Dabei soll cs ausschliefllich urn die primire, das heitlt jungc, noch wachstumsfahige und nicht verholzte Zcllmand gehen. Mit dem Abschlull des Wachstums und dem Beginn der vollstan- digen Differenzierung wird die Primamand funktionell von dcr innen aufgclagcrten, meist mit Lignin verstarkten Sckundimand ab- geliist, die dann tatsachlich fast ausschlicillich Fcstigungsfunktion besitzt.

Die Funktionen der Primarwand

Die Struktur der Primarwand mui3 eiiier Viel- zahl widerspriichlicher Anfordcruii'gcn ge-

Das neue Bild der Zellwand

recht werden. Sic bildet eincrscits cine Grenze und Barriere, ist abcr gleichzeitig Komniun- kationsraum und Verbindung z\vischen den Nachbarzcllcn. Sie mula Iciclit uiid stabil, das lieifit zug- und druckbelasthar, und mit niiig- lichst geringem Energieaufwand herstellbar sein. Gleichzeitig muil ilire Struktur, mie bei- spielsweisc bcim Wachstuni, stindig wriin- dert werden kiinnen. Dahei dai-f sic nicht massiv gebaut scin, sondern mu13 so weitma- schig angelegt werden, dai3 nebcn Wasser und Ionen auch kleinere Proteiiie wic Enzyme leicht eindriiigen und passieren kiinncn. Die Zellwand muil auf Signale, heispielsweise Wachstumshormone odcr Licht, rasch und prizise in iliren Eigcnschaften ver? 'ii d ert wer- den kiinncn, ohne da13 ihre Stabilitat gefihr- det wird. Der Turgordruck, der von innen her wirkt, und der ihni entgegengesetztc Dcli- nungswiderstand der Zcllwand sorgen fur zusitzliche Festigkcit. Die Zellwand steht mit ,,ihrem" Protoplasten in viclfaltiger Verbindung. Sic dicnt walir- scheinlich auch als Orientierungsraliiiieii und ,,Aufhangung" fur das Cytoskclctt (sichc uiiten). Bei Infektionen durch Pilze, wclche die Zellwand angreifen uiid lokal verdaucn, habcn einige Abbauproduktc (Elicitoren) Signalfunktion bei der Ausliisung von Abwchrrcaktioncn der betroffencn Zelle uiid ihrer Nachbarzellcn [2].

Primarwand und Wachstum

Itn Hinblick auf die Primarwand ist vor allem das Streckungswachstum interessant. In sei- nem Verlauf ,,streckt sich" cine embryonalc Zelle um ein Viclfaches ihrcr Anfangslange, ohne sich xu tcilcn. Betrachtet man game Or- g a n ~ uiid Gewebe, fiiidet inan selten rcines Strcckungswachstum. Ausnahinen bilden die Koleoptilcn der Griser und die Ilypocotyle der Dicotyledonen, die deshalb beliebtc S>.- steme zur Erforschung von Wachstum sind. Die treibcnde Kraft des Streckungsmaclis- t u n s ist der Turgordruck. Wie der Luftdnick den Fahrradschlauch gegen den Mantel druckt, preilt dcr Turgor den Protoplasten (mit ungefahr 5-1 0 bar) gcgen die Zellwand. Dicsc wird dahei wic cin Fahrradmantcl gedchnt uiid unter Zugspannung gesetzt. Zunachst dachtc man, dafl bcim Strcckungs-

l j idogic in unscrw Zcit / 23. J h g . 199.3 / N r . 2 6 ) VCH VL,rlilc.sc.csells~haft mbH. W-6940 Weinhcim. 1993 00-i5-205~//9.3/020~-0113 .S 5.00 + .2j/0

wachstuni einfach der Turgordruck erhiiht wiirde, der dann die Zellwand starker dehnte. Doch der Turgor verindert sicli mihrend des Wachstums nicht. Als einzige hliigliclikcit zur Regulation von Wachstum blcibt also die Veriiiideruiig der Dehnbarkcit der Zellwand. N u r dies ermiiglicht eine Langenzunahine bei konstantern Druck. Vide Forscheriiincn uiid Forscher gehen davon aus, dafl die Steigcrung der Delinbarkeit und damit Waclistum durch cine Lockcrung der Zellwand, das ,, cell-call looscning", bewcrkstelligt wird. Wie dies je- doch biochcmisch vonstatten gehcn soll, dar- iiber bestehen grofie Meiiiungsverschieden- heiten. Die Vorstellungcn reichen von eincr Ansiuening der Zellwand und einer damit verbundcnen Spaltung saurclabiler Bindun- gen uber den spczifischen Abbau bestirnmter Zellwandpolymcre bis hin zur Regulation dcr Lkhnungsfahigkcit durch die Biosynthese ei- ncs wachstumslimiticrcnden Proteins.

Zellwandarchitektur und Wachstuni sind also untrennbar miteinander verknupft. Alle Wachstumsmodclle mussen folglich Aussagcn uber die Veranderung dcr Zellwand machen, wid alle Zellwandmodcllc sollten die physio- logischen Erkenntnisse uber Wachstum inte- gricrcn. In ciieser Hinsicht sind folgende phy- siologischc Bcfunde Z u n i Wachstuni besoii- ders wichtig:

0 Streckungswachstum Mlt sich durch Hor - mone wie Auxiiie induzieren. Dicse Induk- tion erfolgt vergleichsweise rasch, nach nur 12 bis 15 Minuten sctzt bereits Wachstuni ein. 0 Kurzzcitiges Wachstuni (uber Stunden) latit sich durch Inkubation in stark sauretn Medium ( p H 4) ausliisen. 0 Durch die Zugabe von Calcium (CaZ+) lafit sich Wachstum rasch blockicrcn. 0 Wachstum ist von (Glyko-) Protein-Syn- theseprozessen abhangig. 0 Die Hemmung der Hemicellulosc- und Cellulosesynthese vcrandcrt die Wachstums- rate erst nach vielen Stunden.

Primarwand und Differenzierung

Noch vor wenigen Jahren hatte man cinen Zusammenhang zwischcn Zcllwand und Dif- fcrcnzicrung oder Entwicklung dcr Zelle ver-

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Die Pfinzenzellwand

Abb. 1. Ein stark vereinfachtes und sehr spekulatives Modell der Interaktion zwi- schen Cytoskelett und extrazellularer Ma- trix bzw. Zellwand. Bis auf die Actinfila- mente und die Mikrotubuli sind alle Elemente rein hypothetisch. Arabinogalac- tan-Proteine (AGP) werden als Extrazel- lular-Matrix-Bindeproteine diskutiert (aus Roberts 1990, verandert).

neint. Doch neueste Forschungen deuten auf eine wichtige Vermittlerrolle der Zellwand bei Differenzierungsprozessen hin. Haufig wird die Struktur der Zellwand modifiziert, be- vor wichtige morphologische Veranderungen sichtbar werden.

Das Interesse konzentrierte sich zunachst auf Molekule, die zwischen Plasmamembran und Zellwand (d. h. im extraplasmatischen Raum) vermitteln: die Arabinogalaktan-Pro- teine (AGPs) [3]. Pennell und Roberts zeigten, dai3 die meristematischen Vorlauferzellen von Stamina- und Karpellprimordien eine speziel- le Klasse von AGPs bilden, lange bevor die morphologische Differenzierung einsetzt [4]. Von AGPs wird auch angenommen, dafi sie uber Transmembranproteine mit dem Cyto- skelett aus Actinfilamenten und Mikrotubuli in Kontakt stehen und so neben Funktionen in der Zell-Zell-Erkennung als Sensoren fur den Dehnungszustand der Zellwand dienen (Abbildung 1).

In Maisembryonen werden von den Zellen, die sich spater zu Leitbundelzellen differen- zieren, sehr friih spezielle Zellwandproteine gebildet. Karottenembryonen konnen sich nur dann vollstandig entwickeln, wenn ihre Zellwandproteine richtig glykosyliert sind [5]. Schindler und Mitarbeiter demonstrier- ten, dafi Protoplasten iiber Plasmamembran- proteine an der Zellwand ,,aufgehangt" sind [6]. Hierfur ist die Peptid-Sequenz Arginin- Glycin-Asparagin entscheidend. Gibt man kunstliches Polypeptid gleicher Sequenz zu Sojabohnen-Zellkulturen, so losen sich die Protoplasten von der Zellwand, verlieren die Fahigkeit zu geordneter Teilung und sind nicht mehr in der Lage, eine neue funk- tionstiichtige Zellwand zu regenerieren.

Die Architektur der Primarwand

Den vielfaltigen Anforderungen entspre- chend ist der strukturelle Aufbau der Zell- wand aufierst komplex, und bis heute existiert

kein allgemein anerkanntes Modell fur ihren molekularen Aufbau. Auch uber ihre Biosyn- these und in-wiwo-Konstruktion ist nur wenig bekannt. Fur Stiitz- und Strukturgewebe scheint die Natur mehrere Male auf das glei- che Prinzip zuriickgegriffen zu haben. Denn die generelle Architektur der pflanzlichen Zellwand stimmt mit der Grundstruktur formgebender Gewebe anderer Organismen uberein. Das Prinzip lautet: Bette eine reiflfe- ste, fibrillare Substanz in eine amorphe Ma- trix ein [7]. Wahrend es sich bei hoheren Tie- ren dabei um Collagen, umgeben von Muco- polysacchariden, handelt, sind es bei Pflanzen Cellulosefibrillen, die von einer Matrix aus langkettigen Polysacchariden und Proteinen umgeben werden. Es gibt vier strukturell und biochemisch sehr unterschiedliche Hauptkomponenten von Zellwanden: Cellulose, Hemicellulose, Pekti- ne und Proteine. Bei den ersten dreien handelt es sich um Polysaccharide, lange Ketten ver- knupfter Zuckermolekule, die zusammen un- gefahr 90 % des Trockengewichts der Zell- wand ausmachen, hinzu kommen noch unge- fahr 10 % Strukturproteine.

Die Bestandteile der Primarwand

Auch heute noch beruht die Einteilung der Zellwandbestandteile auf operationalen Defi- nitionen. Das heifit, dafi vor allem Begriffe wie Pektin oder Hemicellulose keine che- misch einheitlichen Stoffe bezeichnen, son- dern Polymergemische, die unter definierten

Extraktionsbedingungen aus der Zellwand herausgelost werden konnen [S]. Viele Zell- wandpraparationen sind deshalb sequentiell: Zuerst werden die leichtloslichen Bestandteile entfernt, meist mit einem niedermolaren Puf- fer um pH 7, dann erfolgt die Extraktion der Pektine mit Chelatoren (CDTA, EDTA), anschliefiend wird mit starker Lauge wie 4 M KOH inkubiert, um die Hemicellulosen her- auszulosen. Nach der Alkali-Extraktion blei- ben lediglich die Cellulosefibrillen ubrig.

C e 11 u 1 o s e

Cellulose ist ein Bestandteil der Zellwand bei allen hoheren Pflanzen. Sie besteht aus P(l++)-verknupften Glucoseeinheiten, die unverzweigt als Kette angeordnet sind und bei der Biosynthese spontan zu Mikrofibrillen assoziieren. Diese Mikrofibrillen sind para- kristalline, fast wasserfreie Strukturen mit ei- nem elliptischen Querschnitt von 5 bis 15 nm. Sie bilden die Hauptkomponente der Primar- wand und machen 20 bis 30 % des Trocken- gewichts und 10 bis 15 % des Volumens aus. Sie sind verantwortlich fur die grofie Reifife- stigkeit pflanzlicher Zellwande. Die Zugbe- lastbarkeit von Cellulosefibrillen liegt nur wenig unter der von Stahl(l4 bis 20 kglmm2, Stahl: 25 kglmm2) [9].

Die Bestandteile der Matrix

Hinsichtlich der Matrixbestandteile, in wel- che die Cellulosefibrillen eingebettet sind,

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Die Ppnzenzellwand

gibt es zwischen einzelnen Taxa deutliche Unterschiede. Die Trennungslinien verlaufen vor allem zwischen Monocotylen und Dico- tylen, innerhalb der Monocotylen zwischen Gramineen und dem Rest [lo]. So verfugen die Zellwande der Graser im Gegensatz zu den anderen Gruppen uber sehr wenig Pek- tine, Xyloglucane und Proteine, enthalten je- doch viele Arabinoxylane (GAX, siehe unten) und P(1+3,1+4)-D-Glucane (siehe Tabelle 1).

Hemicellulosen

Bei den Hemicellulosen handelt es sich um die Zellwand-Fraktion mit der grogten Varia- bilitat, nicht nur zwischen unterschiedlichen Gattungen (siehe Tabelle I), sondern auch im Laufe der Entwicklung bei einer Pflanze. Die wichtigsten Hemicellulosen sind die Xylo- glucane die Xylane, und die B(1+3,1+4)-D- Glucane. Die Xyloglucane bilden die Hauptkomponente der Hemicellulosen bei dicotylen Pflanzen. Sie bestehen aus P(1+4)- verkniipften Glucoseeinheiten, von denen die meisten a( 1+6)-gebundene Xylose-Seitenket- ten tragen. Die Seitenketten konnen durch Fucose, Galactose und Arabinose erweitert sein. Sowohl in wivo als auch in vitro assoziie- ren Xyloglucane sehr stark mit Cellulosefi- brillen. Es wird daher angenommen, dai3 sie in der nativen Zellwand eine Schicht um die Mikrofibrillen bilden. Die Xylane oder Glucuronoarabinoxylane (GAX) bilden die wichtigste Hemicellulosekomponente der Graser. Ihre langen P(1+4)-verkniipften Xylose-Ketten tragen Seitenketten aus Me- thylglucuronsaure und Arabinose. Bei den Xylanen der Monocotylen wurde auch Feru- lasaure entdeckt, die als mogliche Verknup- fung mit anderen Zellwandbestandteilen dis- kutiert wird. Die B(1+3,1+4)-D-Glucane kommen nur in den Zellwinden der Mono- cotylen vor, insbesondere bei den Grasern. Bei diesen unverzweigten Glucosepolymeren liegen zwischen zwei (1+3)-Bindungen meh- rere (1+4)-gebundene Glucosemolekiile.. Es wird vermutet, dai3 diese Glucane in wivo mit Zellwandproteinen verkniipft sind.

Pektine

Die Pektine umfassen eine heterogene Gruppe verzweigter, stark hydratisierter Polysacchari- de, die unter milden Bedingungen aus der Zellwand herausgelost werden konnen. Zu ihnen gehoren neben den sauren Rhamnoga- lacturonanen und den Polygalacturonsaure- estern auch neutrale Polysaccharide wie die Arabinane, Galactane und Arabinogalactane.

Am detailliertesten sind die Rhamnogalactu- ronane erforscht. Sie weisen eine ,Block"- Struktur auf, in der lange ununterbroche- ne Bereiche aus unverzweigten a(1+4)- verkniipften Galacturonsauremolekulen mit stark verweigten Rhamnose-haltigen Berei- chen abwechseln. Die Galacturonsaureketten konnen uber ihre Carboxylgruppe zweiwerti- ge Kationen (Calcium) binden und so Netz- werke bilden (siehe unten). Pektine spielen moglicherweise einF wichtige Rolle beim Zu- sammenhalt von Geweben, indem sie als ,,Klebstoff" die Zellen miteinander verbinden (Abbildungen 2,3).

Die Proteine der Zellwand

Zellwandproteine lassen sich in zwei Klassen unterteilen. Eine Klasse bilden die Enzyme, die an der Zellwandsynthese oder am Zell- wandumbau beteiligt sind, die andere ist die fur die Architektur vie1 wichtigere Klasse der Strukturproteine, bei denen es sich ausnahms- 10s um Glykoproteine handelt.

Bereits 1960 fanden Lamport und Northcote erste Hinweise auf ein Strukturprotein der Zellwand. Da der Proteinanteil von Sekun- darwinden vernachlassigbar gering ist, wurde angenommen, dai3 dieses Protein etwas mit Wachstum und Dehnung (engl.: extension) der primaren Zellwande zu tun habe. Deshalb

Tabelle 1. Zusammensetzung der Primarwand bei Dicotylen und Grasern (nach Fry, 1988, Back et al., 1988, verandert).

Polymer Hauptbestandteile Ungefahrer Anteil an Trockenmasse in Prozent Dicotyle Graser

Cellulose 1-4 P-Glucose 20-40 20-40

Hemicellulosen Xyloglucan 1-4 P-Glucose, a-Xylose 25 2-5

a-Arabinose, P-Galactose, a-Fucose

X ylane 1+4 P-Xylose, 2-5 20-30 (GAX) (Heteroxylan) a-Arabinose, a-Glucuronsaure

Callose 1+3 P-Glucose Arabinogalactane 1+3,1+6 P-Galactose, Arabinose

(1+3,1+4) P-D-Glucan P-Glucose 0 15-30

Pektine Polygalcturonsaure a-Galacturonsaure Rhamnogalacturonan I a-Galacturonsaure, a-Rhamnose,

Rhamnogalacturonan I1 a-Galacturonsaure, P-Rhamnose 5 P-Galactose, a-Fucose

P-Galacturonsaure, Apiose u. a.

Arabinane a-Arabinose Galactane P-Galactose

gering ? gering ?

Gl ycoproteine HRGPs Hydroxyprolin, Prolin, Lysin, 5 O S (Hydroxyprolin-reiche Serin, P-Arabinose, a-Arabinose, Glykoproteine) a-Galactose GRP Glycin ? ? (Glycin-reiche Proteine)

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Die Pflanzenzellwand

gaben die Autoren ihm den Namen ,,Exten- sin". Dieses Molekiil enthdt sehr vie1 Hy- droxyprolin und Lysin, ist basisch und bildet schraubige Strukturen aus. Bis heute wurde eine Vielzahl ,,extensinahnlicher" Proteine gefunden. Da deren Funktion zum Teil noch vollig ungeklart ist, werden sie besser als HRGPs (engl.: Hydroxyproline-Rich-Glyco- Proteins) bezeichnet. Die HRGPs umfassen vier verwandte ,,Proteinfamilien", die repeti- tiven Prolin-reichen Proteine (RPRP), die Arabinogalaktan-Proteine (AGP), die Exten- sine und die Lectine der Solanaceen. Alle sind durch stark repetitive Sequenzen mit hohem Gehalt an Prolin oder Hydroxyprolin cha- rakterisiert. Die HRGPs stehen unter strenger Kontrolle im Entwicklungsprozefi und wer- den organ- und zustandsspezifisch gebildet. Bei Verwundung, der Abwehr von Krank- heitserregern und Strei3 reagieren viele Pflanzen mit einer vermehrten Produktion von Hydroxyprolin-reichen Glykoproteinen. Viele Forscherinnen und Forscher nehmen an, dai3 diesen Proteinen eine entscheidende Funktion bei der Architektur der Zellwand zukommt (siehe unten). Als basische Proteine mit vielen Tyrosinresten verfugen die HRGPs iiber eine Fiille von Interaktionsmoglichkei- ten mit anderen Zellwandpolymeren. Neben den HRGPs sind mittlerweile auch Glycin- reiche und Histidin-reiche Zellwandproteine gefunden worden, doch ist iiber deren Funk- tion noch nichts bekannt [I 11.

Modelle der Primarwand

Da beinahe alle Untersuchungen auf destruk- tiven Methoden (Extraktion) beruhen, kon- nen iiber die in-vivo-Anordnung der Zell- wandbestanteile nur vage Aussagen gemacht werden. Die folgenden Modelle sind Versu- che, die Fiille von Daten iiber die chemischen und biochemischen Eigenschaften der Zell- wandbestandteile ,,in einem Bild" zusammen- zufassen. Diese detaillierten Vorstellungen iiber die rnolekulare Architektur der Primar- wand dienen haufig als Grundlage, um phy- siologische Veranderungen zu interpretieren und zu verstehen.

Das ,Ein-Makromoleku1"-Model1

Dieses Model1 wurde 1973 von der Arbeits- gruppe um P. Albersheim vorgestellt. Es war der erste Versuch, eine genaue Vorstellung iiber die Architektur der primaren Zellwand auf ultrastrukturellem Niveau zu entwickeln. Die zugrundeliegenden Daten wurden vor al- lem durch den enzymatischen Abbau der

Zellwand von Bergahorn-Zellkulturen (Acer pseudoplatanus L.) gewonnen. Albersheim stellte sich damals vor, dai3 bis auf die Cellulo- se-Xyloglucan-Bindung alle Zellwandbe- standteile kovalent miteinander verkniipft sind, so dai3 die Zellwand in ihrer Gesamtheit ein gigantisches Makromolekiil bildet. Folgt man dieser Vorstellung, so handelt es sich bei der Zellwand um eine relativ steife und unfle- xible Struktur, deren rasche und dynamische Veranderung nur unter groflem Aufwand

Abb. 2. Verteilung der Zellwandpolymere am Beispiel primarer Zellwande zweier be- nachbarter Zellen, zusammengestellt aus Daten unterschiedlicher Gattungen. Die Cellulosefibrillen sind durchschnittlich 20 bis 40 nm voneinander entfernt, so dai3 nur drei bis vier ,Lagen" pro Zellwand unter- gebracht werden konnen. AGP, Arabino- galactan-Proteine; RG, Rhamnogalactu- ronan (aus Roberts 1989, verandert).

Abb. 3. Querschnitt durch die Zellen eines Cotyledonenblattes (Senf-Keimling). Die noch jungen Zellen besitzen nur relativ kleine Vakuolen (innere helle Flache). An den Kontaktstellen der Zellen 1ai3t sich die Mittellamelle als etwas dunkleres Band leicht erkennen. An den Zellecken bilden sich interzellulare Raume. Auch dies ist eine Differenzierungsleistung, da der Kon- takt zur Nachbarzelle an einigen Stellen spezifisch gelost werden kann, so dai3 ein neues apoplasmatisches Kompartiment entsteht (Aufnahme Dr. R. Bergfeld).

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Die Pflanzenzellwand

Abb. 4. Aufbau der Primarwand nach Al- bersheim (1978). Nach dem Kenntnisstand von heute besitzt dieses Modell in wesentli- chen Teilen keine Gultigkeit mehr. Dies gilt besonders fur die dargestellten kovalenten Verknupfungen der Zellwandbestandteile. Weitere Erlauterungen im Text.

moglich ware. Wachstum und Veranderung der Zellwand waren nur durch die Spaltung von Bindungen moglich, die jedoch zu einem spateren Zeitpunkt wieder geknupft werden miifiten, wenn eine gesteuerte Dehnung er- reicht werden soll. Obwohl hochspekulativ, hat dieses Modell einen sehr weitreichenden Einflui3 entfaltet, vielleicht auch deshalb, weil die Autoren es gewagt hatten, ihre Vorstel- lungen mit einer verfuhrerisch detaillierten Zeichnung zu veranschaulichen (Abbildung 4). So wurde es in viele Lehrbucher iibernom- men und rasch als generelles Abbild der Zell- wand dargestellt. Heute kann man wohl sa- gen, dai3 dieses Modell in wesentlichen Teilen keine Gultigkeit mehr beanspruchen kann. Bis heute wurden weder kovalente Bindungen zwischen den Polysaccharidmakromolekulen gefunden, noch konnten Enzyme isoliert werden, die diese Verknupfungen bewerkstel- ligen oder losen konnten [U]. Shedletzky und Mitarbeiter zeigten, dai3 Pflanzen, deren Cellulose- und Hemicellulosebiosynthese vollkommen unterbunden war, trotzdem eine funktionstuchtige, wenn auch weniger reg- feste Zellwand ausbildeten [13].

Das Proteinmodell

Als sich allmahlich die Erkenntnis durchzu- setzen begann, dai3 die Dynamik der Zell- wand nicht mit dem Bild eines riesigen Ma- kromolekuls vereinbar ist, prasentierte Lam- port, der die ersten Extensine isoliert hatte (siehe oben), 1983 ein eigenes Zellwand-Mo-

dell. Er vermied es dabei, Aussagen iiber die genaue Anordnung aller Zellwandbestandtei- le zu machen und konzentrierte sich auf die Rolle der Proteine. Das ,,Webwaren-Modell" geht davon aus, dai3, analog zur Struktur von Teppichen, langs angeordnete Cellulosefibril- len uber Extensinmolekule miteinander quer- vernetzt wiirden. Extensine sollten also Be- standteile eines zugbelasteten Geriists sein, das die ganze Zellwand durchzieht [14]. Ver- bindungen kamen zustande, indem Tyrosin- reste durch Peroxidasen zu Isodityrosin ver- knupft wiirden. Dieses Geriist sei in die stark hydratisierte Matrix der restlichen Zellwand- polymere eingebettet. Den Extensinen wurde somit eine Schlusselfunktion fix Wachstum und Veriinderung zuerkannt. Die dadurch ge- schaffene Beziehung zwischen Zellwand- wachstum und Proteinsynthese war ein erster Schritt zur Vorstellung der Zellwand als einer dynamischen Struktur. Doch bis heute konnte ein kausaler Zusammenhang zwischen Exten- sinen und Wachstum nicht nachgewiesen werden. Alle Hinweise blieben indirekt. Die schwierige Extraktion deutete zunachst auf eine wichtige strukturelle Funktion, denn trotz radikalem enzymatischem Verdau der Zellwand bleibt ein erheblicher Teil der Extensine unloslich in der Zellwand zuriick. Extensinvorstufen werden zwar langsam in die Zellwand eingebaut, und in vitro kon- nen Peroxidasen Extensinmolekule vernetzen, aber eine kovalente Verknupfung von Exten- sinen untereinander oder mit Cellulose ist noch nicht gefunden worden. Doch trotz al-

ler Einwiinde kann angenommen werden, dai3 Extensine bzw. HRGPs eine wichtige, wenn auch nicht die entscheidende Strukturkom- ponente der Zellwand darstellen.

Das Hemicellulose-Model1

Schon Albersheim zeigte, dai3 Xyloglucane, eine Hemicellulosefraktion, uber Wasserstoff- briicken fest an Cellulosemikrofibrillen ge- bunden sind. Fry entwickelte 1989 ein Mo- dell, um das Wachstum von Primarwanden der Erbse zu erklaren, das besonderen Nach- druck auf die Rolle der Xyloglucane legte [15]. Damit riickte neben den Proteinen eine weitere wichtige Komponente ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Zusammenspiel mit modifizierenden Enzymen wurde den Xylo- glucanen nun die entscheidende Bedeutung bei Wachstumsprozessen zugewiesen. Fry zufolge bestehen Xyloglucanmolekule aus drei funktionellen Bereichen. Die vorderen und hinteren Abschnitte binden an unter- schiedliche Mikrofibrillen, der Mittelteil ist mit den anderen Zellwandpolymeren ver- knupft (Abbildung 5). Die Verknupfung soll uber eine oxidative Kopplung phenolischer Reste erfolgen, die bei Dicotylen in pektini- schen Arabinogalactanen, bei Monocotylen in Glucuronoarabinoxylanen (GAX, siehe oben) vorkommen. Ein solches Netzwerk ware sehr starr und nur dehnbar und wachs- tumsfahig, wcnn die Mittelteile der Xyloglu- canketten durch Enzyme gespalten wiirden. Tatsachlich ist das dafiir zustandige Enzym,

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Die Pfinzenzellwand

Abb. 5. Hypothetisches Modell der Anord- nung verschiedener Zellwandpolymere in den Zellwanden des Zwiebelparenchyms. Die GroBenverhaltnisse der einzelnen Po- lymere zueinander wurden durch Visuali- sierung im Elektronenmikroskop und an- schlieflende Messung ermittelt. Es gibt zwei ineinander verwobene, aber voneinander unabhangige Netzwerke: eines aus Pektin und ein Hemicellulose-Cellulose-Netz- werk. Strukturproteine wurden nicht mit in das Schema aufgenommen, da die Zell- wande der Zwiebel sehr wenig Protein ent- halten (aus McCann & Roberts, 1991, ver- andert).

eine Endo-P-D-Glucanase, schon langer be- kannt. Auch die postulierten Verknupfungen mittels Ferulasaure, p-Cumarsaure und deren Ester wurden sowohl bei Dicotylen als auch bei Monocotylen gefunden. Ein weiterer Hinweis auf eine wichtige Rolle der Xyloglu- cane ist der Befund, dai3 bei hormoninduzier- tem Wachstum sehr rasch kleinere Xyloglu- canmolekule aus der Zellwand herausgelost werden konnen, also moglicherweise ein wachstumsinduzierender Abbau stattfindet [16]. Vieles spricht somit fur eine wichtige Funktion von Xyloglucanen in der Primar- wand. Probleme bereiten jedoch die bereits erwahnten Experimente, die zeigen, dai3 Pflanzen auch ohne Hemicellulose und Cel- lulose funktionsfahige Zellwande bilden [I 61. Hinzu kommt die Frage, ob dieses Modell auch fiir die Zellwande der Graser gelten kann, da diese nur sehr wenig Xyloglucane enthalten (siehe Tabelle 1).

,,Multi-Netzwerk-Gel"-Modelle

Die bisher vorgestellten Modelle versuchten, aus der Vielzahl der Zellwandkomponenten eine herauszustellen. Dabei trat nicht nur die Funktion der anderen Zellwandbestandteile in den Hintergrund, auch die Wechselwir- kung der Zellwandpolymere untereinander blieb auger Betracht. So ist es kaum uberra- ,

schend, dai3 diese Modelle mit dem zuneh- menden Wissen um die Komplexitat der Zell- wand mit einer wachsenden Anzahl experi- menteller Befunde in Konflikt kamen. Gerade

in den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dai3 die Komplexitat der Funktionen unmog- lich einer Komponente allein zugeschrieben werden kann. Hier nun setzen die ,,Multi- Netzwerk-Gel"-Modelle an. Sie begreifen die Zellwand als System interagierender Netz- werke und sind so in der Lage, eine Vielzahl von experimentellen Ergebnissen zu integrie- ren. Die Idee, dai3 die Makromolekule der Zell- wand nur zu einem sehr geringen Teil kova- lent miteinander verkniipft sind und als voneinander unabhangige Netzwerke die Zellwand aufbauen, wird seit Beginn der achtziger Jahre diskutiert [17]. Hinweise auf die Existenz unabhangiger Netzwerke ergab auch die Anwendung der elektronenmikro- skopischen ,,Gefrier-Atz-Technik" durch McCann und Roberts, die es erstmals ermog- lichte, einzelne Zellwandbestandteile unmit- telbar sichtbar zu machen [18]. Die Zellwan- de werden sequentiell extrahiert, und die verbleibende Struktur wird dann elektro- nenmikroskopisch dargestellt (Abbildungen 6, 7, 8). So lassen sich vie1 genauere Aussagen uber den in-vivo-Aufbau der Zellwand ma- chen. Die Untersuchungen von McCann und Roberts an Zwiebelzellwanden lassen sich dahingehend zusammenfassen, dai3 es minde- stens zwei nebeneinander existierende, aber voneinander unabhangige Polymernetzwerke in der Zellwand gibt: ein Hemicellulose-Cel- lulosefibrillen-Netzwerk und ein Pektin- Netzwerk. Die Mikrofibrillen werden durch Hemicellulosen quervernetzt; dabei sorgen

Xyloglucane dafur, dai3 die Mikrofibrillen nicht in Langsrichtung assoziieren. Es gibt zwei unterschiedliche Pektinfraktio- nen. Die Pektine der Mittellamellen sind uber Calciumbriicken miteinander verknupft und sorgen fur den Zell-Zell-Zusammenhalt. In der Zellwand legt ein Netzwerk aus verester- ten Pektinen die Porositat, die ,Maschenwei- te", fest. Die Pektine liegen dabei teilweise als Gel vor. Bezeichnenderweise blieb es Chemi- kern wie M. C. Jarvis uberlassen, darauf hin- zuweisen, dai3 die sauren Pektine in der Lage sind, Gele zu bilden. Man darf dabei getrost an Haargel oder Diat-Marmelade denken. Eine Pektinlosung in Wasser wird, je nach Struktur der Pektine, zahflussig, viskos. Inter- essanterweise 1ai3t sich die Viskositat uber die Zugabe von Calcium oder durch Verande- rung des pH-Wertes weiter beeinflussen. Auch elektrische Felder uber einem Gel be- einflussen dessen Struktur dramatisch (Ab- bildung 9) [19]. Alle diese Faktoren spielen auch beim Wachstum von Primarwanden eine wichtige Rolle. Im einzelnen wird angenom- men, dai3 die ,,Block"-Struktur der Pektine fur die Gelbildung verantwortlich ist. Die langen ununterbrochenen Abschnitte aus Galacturonsaure bilden dabei mittels Cal- cium die Knotenpunkte, wahrend die rham- nosehaltigen Abschnitte zum Teil mit Hemi- cellulosen glykosidisch verknupft sind.

Ausblick

Besonders ,,Multi-Netzwerk-Gel"-Modelle bieten eine attraktive Moglichkeit, die bioche- mischen, chemischen und physiologischen Erkenntnisse uber Zellwand und Wachstum zu vereinbaren. Sie scheinen wesentliche Aspekte der in-vzvo-Situation zu erfassen. In

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Die Pjlanzenzellwand

Abb. 6. Elektronenmikroskopisch sichtbar gemachte Zellwandpolymere. Es handelt sich um die Primarwand einer Parenchym- zelle der Zwiebel. Mit Chelatoren und Na- triumcarbonat wurden die Pektine ent- fernt. Zu sehen sind die in verschiedene Richtungen und in mehreren Lagen ver- laufenden Cellulose-Mikrofibrillen. Bei den kurzen Verbindungsstucken handelt es sich wahrscheinlich um Hemicellulose (Aufnah- me von M. McCann und B. Wells, aus Roberts, 1989). MaBstab: 200 nm.

Abb. 7. Die Zellwande von Zwiebelparen- chymzellen wurden von Pektinen befreit und anschliegend mit 1 M KOH extrahiert, urn den groaten Teil der Xyloglucane zu entfernen. Dadurch haben sich die Cellulo- sefibrillen aneinandergelagert (Aufnahme von M. McCann, aus McCann & Roberts, 1991). MaBstab: 200 nm.

Abb. 8. Querschnitt der Zellwande zweier Zwiebelzellen. Dieser Schnitt wurde mit ei- nem Gold-markierten Antikorper gegen nichtverestertes Pektin behandelt (kleine schwarze Punkte). Besonders deutlich ist die intensive Farbung langgestreckter Po- lymere der Mittellamelle. Deutlich lassen sich drei Zonen voneinander unterschei- den, (1) eine unscharfe aui3ere Zone ohne Markierung, (2) eine unscharf begrenzte in- nere Zone mit dichter Markierung und (3) eine Schicht deutlich gefarbter langlicher Polymere der Mittellamelle, die ebenfalls markiert wurde (Aufnahme M. McCann, aus McCann & Roberts, 1991). MaBstab: 500 nm.

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Die Pflanzenzellwand

Abb. 9. Die Veranderbarkeit eines Polymer- Gels durch elektrische Felder. Als Gelkom- ponenten wurden kunstliche Polymere, teilweise hydrolysiertes Polyacrylamid mit Bisacyamid in einem 50 AcetonlWasser- Gemisch, verwendet. Die Struktur dieses Gels lafit sich aufier durch elektrische Fel- der auch durch Anderungen des pH-Wer- tes, der Konzentration der Losungsmittel und der Temperatur verandern (aus Tana- ka et al., 1982).

diesem Zusammenhang argumentiert K. Roberts sogar dafur, den Begriff ,,Zellwand" ganz aufzugeben, da er dazu verfuhre, die Zellwand als etwas Statisches, Uniformes, von ihrem" Protoplasten Getrenntes, zu be- trachten. Er schlagt stattdessen den im tieri- schen Bereich verwendeten Begriff ,extrazel- lulare Matrix" vor, der besonders die Dyna- mik betont [20]. Trotz aller Modelle darf man nicht vergessen, dai3 es bei den vielfaltigen Unterschieden zwischen einzelnen Gattun- gen nicht ein fir alle Pflanzen giiltiges Zell- wandmodell geben kann.

Bildnachweis Abb. 1, 2 und 6 abgedruckt mit freundl. Ge- nehm. von Current Biology Ltd., London. Abb. 4 abgedruckt mit freundl. Genehm. von George V. Kelvin, Science Graphics, New York. Abb. 5, 7, 8 A t freundl. Genehm. von Academic Press Ltd., London. Abb. 9 abgedruckt mit freundl. Genehm. von Science, Washington.

Literatur und Anmerkungen [I] So etwa noch im ,,Strasburger", Lehrbuch der Botanik fiir Hochschulen, 32. Aufl. 1983, bearbei- tet von D. von Denffer u. a., Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, S.14. Das Zitat stammt aus der 31. Aufl. 1979, S.16. [2] Freytag, S. Hahlbrock, K. (1992) Abwehrreak- tionen von Pflanzen gegen Pilzbefall. BIUZ 22, 3,

[3] Roberts, K. (1990) Structures at the plant cell surface, Curr. Op. in Cell Biol. 2,920-928. [4] Pennell, R. I., K. Roberts (1990) Sexual development in the pea is presaged by altered ex- pression of arabinogalactan protein. Nature 344, 547-549. [5] De Vries, S., C., Boonj, H., Janssens, R., Vo- gels, R., Saris, L., LoSchiavo, F., Terzi, M., & A. v. Kammen (1988) Carrot somatic embryogenesis de- pends on the phytohormone-controlled presence of correctly glycosylated extracellular proteins. Genes Dev. 2,462-476. [6] Schindler, M., Meiners, S., Cheresh, D. A. (1989) RGD-dependent linkage between plant cell wall and plasmamembrane: consequences for gro- wth. J. Cell Biol. 108,1955-1965. [7] Wahrend bei hoheren Tieren Collagen in eine Matrix aus Mukopolysacchariden eingebettet wird, benutzen Pilze und Arthropoden Chitin und la- gern dies in eine Proteinmatrix ein. [8] Fry, S. C. (1988) The growing plant cell wall: chemical and metabolic analysis, Longman, Lon- don. [9] Cassab, G. I., Varner, J. E. (1988) Cell wall pro- teins. AM. Rev. Plant Physiol. Mol. Biol. 39,321- 353. [lo] Bacic, A., Harris, P. J., Stone, B. A. (1988) Structure and function of plant cell walls. In: J.Preiss (Hrsg.) The Biochemistry of Plants, Vol. 14, Carbohydrates, Academic Press, San Diego, New York, Berkeley, 297-358. [I11 Zheng-Hua, Y., Yan-Ru, S., Marcus, A., Var- ner, J.E. (1991) Comparative Localization of three classes of cell wall proteins. Plant Journal 1 (2),

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[18] McCann, M. C., Wells, B., Roberts, K. (1990) Direct visualisation of cross-links in the primary cell wall. J. Cell Sci. 96,323-334. [19] Tanaka, T., Nishio, I., Sun, S-T., Ueno-Nis- hio, S. (1982) Collapse of gels in an electric field. Science 218,467-469. [20] Roberts, K. (1989) The plant extracellular ma- trix. Curr. Op. Cell Biol. 1,1020-1027.

Danksagung Besonders danke ich Prof. Dr. K. Roberts, Dr. M. McCann und Dr. Bergfeld fur die elektro- nenmikroskopischen Aufnahmen. Herrn Dr. M. Hohl und Prof. Dr. P. Schopfer danke ich fiir die Durchsicht des Manuskripts.

7,153-164.

Thomas Schindler, geb. 1959 in Sulzburg. Studium Biologie, Deutsch, Geographie an der Univ. Freiburg und der University of Sus- sex, GB. Staatsexamen 1988, Forschungsauf- enthalt am AFRC Nitrogen Fixation Labor- atory in Brighton, GB. Seit 1989 Promotion am Biologischen Institut I1 der Univ. Freiburg in Pflanzenphysiologie bei Prof. P. Schopfer uber auxininduzierte Zellwand-Proteine. Anschrift: Thomas Schindler, Institut fur Biologie II/ Botanik, Schanzlestr. 1, W-7800 Freiburg i. Br.

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