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Das Rätsel der achten Farbe

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MARION ZIMMER BRADLEY

Das Rätsel der achten Farbe

(THE COLORS OF SPACE)

ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)

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PERSONEN: Bart Steele, Astrogator Tommy Kendron, Raumfahrer Edmund Briscoe, Raumfahrer Raynor I, Manager Raynor II, Verschwörer Raynor III, Arzt Moittano, Verschwörer Vorongil, Captain Rugel, Koordinator Ringg, Experte für Materialprüfung Meta, Medizinerin Baldy, Arzt

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1. Kapitel

Der Raumflughafen der Lhari gehörte nicht den Menschen. Bart Steele hatte das schon im Alter von zwölf Jahren er-fahren müssen, als er auf dem Ursprungsplaneten der Menschheit landete. Die Erde war vor dem Zeitalter des Raumfluges der einzige Wohnort der Menschen gewesen, die Heimat von Barts Vorfahren. Und doch hatte Bart nach der Landung zuerst den Flughafen Lhari gesehen.

„Das gehört nicht hierher“, hatte er damals gesagt. Sein Vater, Captain Rupert Steele hatte ernst genickt und

geantwortet: „Das denken viele Leute, mein Sohn. Aber wenn es diesen Flughafen nicht gäbe, wären wir jetzt nicht hier.“

Bart erinnerte sich daran. Nun sah er den Flughafen wie-der, volle fünf Jahre nach seiner Ankunft. Er trat von dem langsam gleitenden Transportband und wartete auf seinen Freund Tommy Kendron, der seine Koffer vom Band hob. Beide hatten die Raumfahrtakademie besucht und ihre Stu-dien erfolgreich abgeschlossen. Tommy stammte vom neunten Planeten des Systems Capella und wollte nun dorthin zurück. Barts Vater wollte zur Erde kommen, um seinen Sohn abzuholen.

Fünf Jahre sind eine lange Zeit, dachte Bart. Ob Vater mich erkennen wird?

„Ich werde dir helfen“, sagte er zu seinem Freund, doch Tommy lehnte grinsend ab und hob seine leichten Koffer hoch.

„Die Lhari erlauben nicht viel Gepäck, das weißt du ja. Ich schaffe es schon allein.“

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Die beiden Freunde blieben vor dem Eingang zum Flug-hafen stehen und betrachteten das hohe Tor. Es bestand aus einem farblosen, glasähnlichen Material und wurde von einem gezackten Blitz gekrönt, dem Symbol der Heimat der Lhari. Die beiden Jungen gingen durch das Tor und blieben unwillkürlich stehen. Die riesige freie Fläche be-eindruckte sie sehr stark. Einst eine Wüste, war sie mit ei-nem eigenartigen, durchsichtigen Material bedeckt. Es war kein Glas, kein Metall und auch kein künstliches Gestein, sondern eine aus unzähligen reflektierenden Kristallen be-stehende Masse, die unter den Füßen nachgab. Im Schein der Mittagssonne wirkte die große Fläche ungeheuer be-eindruckend, denn Millionen von kleinen Regenbogen fla-ckerten unablässig auf. Tommy bedeckte schnell seine Au-gen und schüttelte den Kopf.

„Die Lhari müssen eigenartige Augen haben, wenn sie das ertragen können“, sagte er.

Ein Uniformierter trat an die beiden Freunde heran und gab jedem eine dunkle Brille. „Setzt die Brillen auf! Und schaut vor allem nicht auf das landende Schiff!“ sagte er warnend.

Tommy setzte sich die Brille auf und wirkte erleichtert. Bart runzelte die Stirn und sah sich die Brille genauer an, ehe er sie aufsetzte. Er brauchte sie eigentlich nicht, denn seine Mutter stammte vom Planeten Mentor, dessen Sonne Deneb hundertmal heller schien als die irdische Sonne. Mentorianer waren auf der Erde aber nicht beliebt, und Bart hatte frühzeitig gelernt, seine Herkunft zu verschwei-gen. Durch die dunklen Brillen gesehen, war der Flugplatz gut zu erkennen. In der Mitte ragte ein gläserner Wolken-

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kratzer in den Himmel und reflektierte das helle Sonnen-licht. Hubschrauber und kleine Robotcabs flitzten hin und her, brachten Passagiere oder holten sie ab. Die Gleitbänder waren mit Menschen beladen und beförderten ihre lebende Fracht in alle Richtungen. Hier und da standen Lhari. Sie fielen durch ihre Größe und Kleidung auf, denn sie trugen alle silbrige Umhänge, die bis zum Boden reichten.

„Das Schiff wird in einer halben Stunde landen“, sagte Tommy nach einem Blick auf seine Uhr. „Wir müssen uns beeilen.“

Bart machte sich nur zögernd auf den Weg zu einem zum Wolkenkratzer führenden Gleitband. Er folgte seinem Freund und sprang erst kurz vor dem hohen Gebäude wie-der ab. Über den Türen befanden sich überall die gezackten Blitze, die Zeichen der Lhari. Aber hier stand unter jedem Zeichen der Spruch:

„Durch die Gnade der Lhari befindet sich hier das Portal zu den Sternen.“

Bart erinnerte sich wieder an seine Ankunft auf der Erde. Sein Vater hatte damals zu dem Spruch aufgesehen und leise gesagt: „Nicht für immer, mein Sohn. Eines Tages werden die Lhari nicht mehr in der Tür stehen.“

Im Innern des Gebäudes war es gleißend hell. Spiegel verstärkten das Licht, Rolltreppen, Gleitbänder, Wände – alles bestand aus einem glasähnlichen Material. Die Viel-zahl der Rolltreppen und Gleitbänder war verwirrend, doch die beiden Jungen fanden sich schnell zurecht.

„Ich werde mich um meine Platzbuchung kümmern“, sagte Tommy.

Bart nickte. „Wir treffen uns später. Ich fahre zur Infor-

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mationsabteilung hinauf.“ Gleich darauf sprang er auf ein Band und glitt schnell nach oben. Durch die transparenten Wände konnte er den Flughafen gut überblicken. Dicht vor ihm standen einige Lhari. Sie waren ungewöhnlich groß und hager, sahen aber den Erdbewohnern sehr ähnlich. Sie hatten einen Körper, zwei Arme, zwei Beine, Augen, Ohren, eine Nase und einen Mund. Trotzdem waren sie fremdarti-ge Wesen, denn ihre Haut war silbergrau, ihre Haare waren weiß und bildeten auf dem Kopf einen hohen Kamm. Sie hatten Schlitzaugen und schmale Nasen, mit weit außen angesetzten Löchern. Die Stirn war schmal, aber sehr hoch; die Ohren standen spitz in die Höhe und hatten keine Ohr-läppchen. Der Mund war dem der Menschen ähnlich, doch das Kinn lang und spitz. Auch die Hände glichen Men-schenhänden – bis auf die dreieckigen, spitz zulaufenden und wie Krallen aussehenden Nägel. Alle Lhari trugen hautenge Anzüge aus einem metallisch glänzenden Material und darüber den langen, silbrig leuchtenden Umhang. Sie wirkten elfenhaft und durchaus nicht häßlich.

Die beiden vor Bart auf dem Band stehenden Lhari un-terhielten sich leise. Ihre Stimmen klangen zwitschernd und hoch, so daß die Worte nicht zu verstehen waren. Weiter oben wurde aber der allgemeine Lärm so groß, daß die bei-den lauter sprechen mußten. Bart konnte nun jedes Wort verstehen. Es überraschte ihn, daß er die Sprache der Lhari noch so gut beherrschte. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er sich nicht mehr in dieser Sprache geübt. Die Lhari konnten nicht ahnen, daß der junge Mann hinter ihnen ihre Worte verstand, denn von den Erdenbewohnern beherrschte bes-tenfalls einer unter Millionen ein paar Worte der fremden

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Sprache. Nur die Mentorianer kannten das Idiom der Lhari genau.

„Glaubst du wirklich, daß dieser Mensch mit dem nächs-ten Schiff kommen wird?“ fragte der erste Lhari. Er sprach das Wort Mensch wie eine Beleidigung aus.

„Kein vernünftiges Wesen kann sagen, was so ein Mensch tun wird“, antwortete der andere Lhari. „Wenn wir die Nachricht früher bekommen hätten, wären bessere Vorbereitungen möglich gewesen. Jetzt müssen wir die Kontrolle improvisieren.“

Der jüngere Lhari machte ein wütendes Gesicht. „Wir haben nur eine Beschreibung, nicht aber den Namen. Wie sollen wir ihn unter diesen Umständen finden? Ich verstehe nicht, wie das überhaupt passieren konnte. Wie konnte der Mann nur entkommen? Stell dir vor, er hat sich inzwischen mit anderen verständigt! Die Idioten, die ihn entkommen ließen, wissen auch nicht, ob er Kontakte aufnehmen konn-te.“

„Nicht so laut“, mahnte der andere Lhari. „Es gibt auch hier Mentorianer, die uns verstehen können.“ Er drehte sich um und starrte Bart an, der sich so harmlos wie möglich gab. Bart hatte den Eindruck, daß der prüfende Blick bis auf den Grund seiner Seele drang.

„Wer bist du?“ fragte der Lhari in der Universalsprache. „Mein Vater kommt mit dem nächsten Schiff“, antworte-

te Bart höflich. „Ich will mich nur genau informieren.“ „Weiter oben“, sagte der Lhari und zeigte mit seiner

Krallenhand aufwärts. Er drehte sich wieder um und küm-merte sich nicht mehr um den harmlosen Jungen. „Ich habe nichts gegen die Menschen“, sagte er in der Lhari-Sprache

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zu seinem Begleiter. „Ich hasse solche Zwischenfälle. Der Mann hat wahrscheinlich eine Frau und Kinder, die um ihn trauern werden.“

„Er hätte sich nicht um unsere Angelegenheiten küm-mern dürfen“, sagte der jüngere Lhari haßerfüllt. „Sie hät-ten ihn gleich an Ort und Stelle töten sollen.“

Die beiden Lhari sprangen eine Etage höher vom Band und verschwanden in der Menge. Bart sah ihnen noch eine Weile nach, erreichte dann sein Ziel und sprang ebenfalls ab. Sie suchten also einen armen Teufel. Wahrscheinlich würden sie ihn erschlagen wie ein lästiges Ungeziefer. Sie waren eben keine Menschen. Bei allem Wohlwollen hatte Bart längst erkannt, daß die Lhari mit anderen Maßstäben zu messen waren.

Auf der Erde lebten die Menschen relativ sicher. Bart kannte sich aus, denn er hatte auch Universelles Recht stu-diert. Die Lhari unterhielten überall Raumflughäfen, auf denen sie die Macht ausübten. Verträge sicherten ihnen die Exterritorialität dieser Flughäfen zu. Die Macht der lokalen Behörde endete vor dem großen Tor mit dem grellen Blitz. Hier auf dem Flughafen herrschten die Lhari wie auf ihrem eigenen Planeten, obwohl dieser unendlich weit entfernt war.

Tommy kam auf einem anderen Gleitband heran und ge-sellte sich zu Bart. „Das Schiff kommt pünktlich“, sagte er.

„Luna City hat es eben gemeldet. Ich habe Durst. Wie wär’s mit einem kleinen Drink, Bart?“

Die beiden jungen Männer gingen zu einem Erfri-schungsstand und sahen sich die Angebote an. Sie ent-schieden sich für ein Getränk mit einem eigenartig klin-

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genden Lhari-Namen, der aber weiter nichts als kühl und süß bedeutete.

„Hoffentlich schadet es uns nicht“, murmelte Tommy bedenklich. „Es sieht wie eine synthetische Flüssigkeit aus.“

Bart lachte. „Wenn es schädlich wäre, würden sie es uns nicht geben. Ihre Körper sind im Grunde wie unsere. Sie atmen Sauerstoff und essen ungefähr die gleiche Nahrung. Der Körperhaushalt der Lhari ähnelt dem unseren. Weißt du, daß sogar ihr Blut nicht anders ist? Bei dem Unglück auf dem Orion-Flughafen vor sechzig Jahren bekamen Lhari normale Blutkonserven und vertrugen sie. Wenn man bedenkt, daß es bei uns verschiedene Blutgruppen gibt, ist das erstaunlich.“

Bart machte sich nichts vor. Die Lhari waren trotz allem anders als die Menschen. Das Getränk schmeckte gut und wurde seinem Namen gerecht. Es war kühl und süß. Bart trank es langsam und vorsichtig. Er war siebzehn Jahre alt, hochgewachsen und schlank. In den vergangenen Jahren hatte er nicht nur studiert, sondern auch viel Sport getrie-ben. Sein rotes, lockiges Haar fiel auf, ebenso seine Größe, denn er war fast so hochgewachsen wie ein Lhari.

Das bereitete ihm Sorgen, denn sein Vater konnte ihn unmöglich wiedererkennen. Er war jetzt kein Kind mehr, sondern ein junger Mann.

Tommy grinste ihn an. „Was willst du anfangen, wenn wir unsere sogenannte Erziehung hinter uns haben, Bart?“ fragte er.

„Was ich schon immer vorhatte“, erklärte Bart ent-schlossen. „Mein Vater wird mich mitnehmen. Er leitet die

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Wega-Interplanet-Gesellschaft. Ich werde ihm dabei hel-fen. Nur deshalb habe ich mich schließlich mit Astrogation und Mathematik abgequält.“

„Du hast Glück“, sagte Tommy. „Dein Vater besitzt ein Dutzend Raumschiffe. Wahrscheinlich ist er fast so reich wie ein Lhari.“

Bart schüttelte den Kopf. „Er hat es nicht leicht. Der Verkehr innerhalb eines Systems bringt nicht viel ein. Das große Geschäft bleibt den Lhari vorbehalten.“

Er trank sein Glas leer und beobachtete einen Lhari, dem zwei Mentorianer folgten. Der Lhari drängte sich durch die immer dichter werdende Menge und hatte es offensichtlich eilig.

Tommy stieß seinen Freund an und sagte verbittert: „Sieh dir das an, Bart! Diese lausigen Mentorianer beneh-men sich wie Sklaven.“

Bart fühlte eine unbeschreibliche Wut in sich aufsteigen. Er beherrschte sich aber und ließ sich nichts anmerken. „Du siehst das falsch.“, sagte er gelassen. „Meine Mutter war auch eine Mentorianerin. Als mein Vater sie heiratete, hatte sie schon fünf Reisen hinter sich gebracht.“

„Vielleicht bin ich nur neidisch“, murmelte Tommy und seufzte. „Mentorianer können bei den Lhari anheuern und die wirklich weiten Reisen machen. Wir beide werden nie die Gelegenheit dazu bekommen. Welchen Beruf hatte dei-ne Mutter, Bart, daß sie mit den Lhari fliegen durfte?“

„Sie war Mathematikerin“, erklärte Bart stolz. „Die Lhari hatten vor dem Zusammentreffen mit uns ein primitives mathematisches System. Es war so unbequem wie die rö-mischen Zahlen. Es ist erstaunlich und bewundernswert,

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daß sie mit diesem System durch den Weltraum navigieren konnten. Jetzt haben sie sich längst an unsere Mathematik gewöhnt und sie voll übernommen. Sie sind aber auch aus anderen Gründen auf uns angewiesen. Die Lhari sind unter anderem farbenblind und sehen alles nur dunkel, hell und in grauen Schattierungen. Sie fanden schnell heraus, wie nützlich es ist, Menschen an Bord zu haben. Sie benutzen die Mentorianer, um Farben zu erkennen. Mentor war der erste Planet, der engen Kontakt mit den Lhari aufnahm. Die enge Verbindung ist immer auf den Planeten Mentor beschränkt geblieben.“

Tommy nickte. „Ich wünschte, ich wäre auch einer“, sagte er seufzend. „Möchtest du nicht auch für die Lhari arbeiten und auf einem ihrer Schiffe anheuern?“

Bart lächelte grimmig. „Nein“, sagte er hart, „obwohl ich es könnte. Meine Mutter war ja eine Mentorianerin und brachte mir die Sprache der Lhari bei.“

„Und warum willst du nicht?“ „Das weißt du so gut wie ich“, antwortete Bart. „Das

Mißtrauen ist noch immer sehr stark. Früher versuchten die Mentorianer, das Geheimnis des Warp-Antriebs zu ergrün-den. Sie spionierten unentwegt und fielen immer wieder auf. Der Erfolg blieb jedoch aus. Jetzt werden alle mensch-lichen Besatzungsmitglieder vor dem Start einer Gehirnwä-sche unterzogen. Kein Mensch ist in der Lage, das Ge-heimnis der Lhari zu erkennen. Selbst Wahrheitsdrogen können die hypnotische Blockierung nicht aufheben. Man muß schon sehr fanatisch sein, um das in Kauf zu nehmen. Von meiner Mutter habe ich viel erfahren. Die Lhari kön-nen keinen Diamanten von einem Rubin unterscheiden und

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sind dabei auf spektrographische Analysen angewiesen. Darum …“

Irgendwo erklang eine Sirene. Gleich darauf ertönten überall Warnsignale.

Bart stellte sein Glas ab. „Das Schiff wird gleich lan-den“, sagte er aufgeregt.

Tommy streckte ihm die Hand entgegen. „Wir müssen uns jetzt verabschieden, Bart“, sagte er wehmütig.

Die jungen Männer schüttelten sich die Hände. Für beide war dieser Abschied so etwas wie der Abschluß einer wichtigen Lebensperiode.

„Viel Glück, Tom!“ sagte Bart bewegt. „Du wirst mir fehlen.“

„Du mir auch.“ Tommy drehte sich um und betrat ein Transportband, das ihn zur Kontrolle brachte.

Die Alarmglocken schrillten nun noch lauter. Gleißende Helligkeit strahlte durch die transparenten Wände und wurde vom Belag des Flughafens reflektiert. Bart erinnerte sich an die Warnung, verließ sich aber auf den Schutz der Brille und blickte trotzdem nach oben, um sich das nahen-de Raumschiff anzusehen.

Es war ein riesiges, bunt leuchtendes Gebilde. Bart er-blickte Farben, die er vorher noch nie gesehen hatte. Das Raumschiff senkte sich langsam herab, das bunte Leuchten wurde einheitlich rot, dann blau, durchlief die ganze Farb-skala und schließlich sah Bart nur das farblose Metall, aus dem die Lhari ihre Schiffe bauten. Hoch oben an dem Raumer wurde eine Öffnung sichtbar. Gleich darauf eilten die Lhari und Menschen über eine ausfahrbare Treppe nach unten.

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Bart rannte vorwärts und drängte sich durch die Menge. Er suchte die hohe Gestalt seines Vaters und stellte dabei überrascht fest, daß die Treppe von vier Lhari bewacht wurde. Alle trugen Energonwaffen und hatten einen Men-torianer hinter sich. Die Lhari fragten alle aus dem Schiff kommenden Passagiere nach den Papieren und sahen diese sehr sorgfältig durch. Bart ahnte, was sich abspielte. Die Lhari suchten den Mann, von dem die beiden auf der Roll-treppe gesprochen hatten.

Die Menge löste sich allmählich auf. Robotcabs und Hubschrauber holten die Menschen ab und brachten sie schnell fort. Die Öffnung im Raumschiff schloß sich wie-der, doch Bart hatte keinen hochgewachsenen Mann mit flammendroten Haaren herabkommen sehen. Er ging lang-sam weiter und näherte sich den vier Lhari. Einer der Be-wacher bemerkte ihn und musterte ihn kritisch, ehe er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.

Der junge Steele machte sich Sorgen. Sein Vater hatte noch nie eine Verabredung gebrochen. Bart sah aber nur ei-nen Passagier, der nicht von lärmenden und fröhlichen An-gehörigen abgeholt wurde. Der Mann kam zweifellos vom Wega-System, war aber nicht Barts Vater. Er war klein, dick und glatzköpfig. Vielleicht konnte er Auskunft geben.

Plötzlich bemerkte Bart den starren Blick des Mannes. Dieser Blick galt ihm. Bart Steele lächelte verlegen. Der Mann steuerte direkt auf ihn zu.

„Wie geht es dir mein Sohn?“ rief er fröhlich und streckte die Hände nach Bart aus. „Du bist mächtig in die Höhe ge-schossen. Aber bist du auch schon so erwachsen, daß du deinen Vater nicht mehr umarmen kannst?“ Der Mann zog

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Bart an sich und hielt ihn fest. Bart wollte sich aus der Umarmung lösen und den Irrtum aufklären, doch der Mann hielt ihn mit aller Kraft fest.

„Hör zu, Bart!“ flüsterte der Dicke eindringlich. „Du mußt mitspielen, oder wir sind beide verloren! Die Lhari sind schon auf uns aufmerksam geworden. Du mußt Vater zu mir sagen und mich umarmen. Aber laut. Wenn dir dein Leben lieb ist, mußt du jetzt wie ein vollendeter Schauspie-ler agieren. Du bist in Gefahr, Bart!“

Der junge Steele war wie gelähmt. Er vermochte nicht so schnell zu reagieren, wie der Fremde es verlangte, und brachte den Dicken damit in arge Verlegenheit. Er sah Schweißperlen auf der Stirn des Mannes glänzen.

„Du bist mächtig gewachsen, mein Junge“, sagte der Di-cke laut. Und dann fügte er leise hinzu: „Nun sag endlich was, Bart! Und starr mich nicht so stupide an!“

Bart blickte in die Augen des Fremden und erkannte dar-in die nackte Angst. Er erinnerte sich an das Gespräch der beiden Lhari und begriff endlich, was gespielt wurde. Er packte den Fremden an den Schultern und schüttelte ihn gutmütig.

„Es ist nur die Überraschung, Vater“, stotterte er. „Wir haben uns sehr lange nicht gesehen. Ich konnte mich kaum noch an dich erinnern. Wie war die Reise?“

„Wie immer, mein Junge.“ Der Dicke keuchte schwer. Er hatte offensichtlich Mühe, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. „Diese Schiffe sind natürlich nicht mit der alten ,Astorion’ zu vergleichen, mein Junge!“ Die „Astorion“ war das Flaggschiff des alten Rupert Steele. „Aber wie geht es dir?“

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Bart spürte den harten Griff des Fremden, der dessen Todesangst offenbarte. Er mußte etwas sagen und suchte verzweifelt nach Worten. „Du hättest die Abschlußfeier mitmachen sollen, Vater“, murmelte er. „Ich war drittbester von vierhundert Studenten.“

Die Lhari kamen näher und bildeten einen Kreis um die beiden Männer. Der Dicke atmete tief durch und drehte sich um. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte er unbefan-gen.

Der größte Lhari wandte sich an den Dicken. Seine Wor-te klangen zischend und fremdartig. Die Lhari beherrschten die Universalsprache, aber sie sprachen das S immer zi-schend und scharf.

„Darf ich Ihre Papiere sehen, Sir?“ fragte er. „Selbstverständlich!“ Der Dicke griff gelassen in seine

Brusttasche und holte seine Reiseausweise hervor. Bart konnte darin den Namen seines Vaters lesen und wunderte sich darüber.

Der Lhari winkte einen Mentorianer heran und fragte nach der Haarfarbe des Dicken.

„Seine Haare sind grau“, antwortete der Mentorianer. Er mußte die Farbbezeichnung der Universalsprache wählen, denn die Lhari hatten keine Worte für Farben.

„Wir suchen einen Rothaarigen“, sagte der Lhari ent-täuscht. „Außerdem ist dieser hier klein und fett.“

„Der Junge ist aber groß und rothaarig“, bemerkte ein Mentorianer diensteifrig.

Der Lhari winkte ab. „Der Mann, den wir suchen, ist mindestens zwanzig Jahre älter. Wir haben leider nur eine Beschreibung, keinen Namen, kein Bild.“

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Er wandte sich wieder an seine Gefährten und sagte in seiner Sprache: „Der Mann war verdächtig, weil er allein kam.“

Plötzlich sah er Bart an und fragte scharf: „Wer ist dieser Mann?“

Der junge Steele war betroffen. Er hatte die Energon-waffen an den Gürteln der Lhari bemerkt, und er wußte, daß die Strahlen dieser Waffen betäuben, aber auch töten konnten.

„Dieser Mann ist mein Vater“, antwortete er stockend. „Wollen Sie meinen Ausweis sehen? Ich bin Bart Steele.“

Der Lhari sah sich den Ausweis an und gab ihn zurück. Er entschuldigte sich höflich und ging mit den anderen davon.

„Gehen wir, mein Junge!“ sagte der Dicke. Hoffentlich kann er noch einen Fuß vor den anderen set-

zen, dachte Bart besorgt. Der Fremde schien einer Ohn-macht nahe zu sein.

Bart stützte den Mann, für den er ein gewisses Mitgefühl empfand. Gleichzeitig winkte er einen Hubschrauber heran. Warum hatte der Fremde die Papiere seines Vaters? Wa-rum war sein Vater nicht, wie verabredet, selbst gekom-men? Bart wäre am liebsten davongerannt, aber der Mann zitterte jetzt so heftig, daß er ihn nicht loslassen konnte.

Ein Hubschrauber senkte sich herab, doch der Fremde wollte ein Robotcab. Der Pilot des Hubschraubers warf den beiden einen bösen Blick zu und zog die Maschine wieder hoch. Bart ging zu einer Wählersäule und bestellte ein Ro-botcab. Eine Minute später senkte sich eine Maschine bis wenige Zentimeter über den glasartigen Bodenbelag herab. Bart half dem Dicken hinein und stieg dann ebenfalls ein.

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„Wähl den Kurs nach Denver“, sagte der Mann atemlos und ließ sich zurückfallen. Bart gehorchte und wartete ab. Aber schon nach einer Minute wurde er ungeduldig.

„Was soll das alles?“ fragte er den Fremden. „Wo ist mein Vater?“

Der Mann hielt die Augen halb geschlossen. „Laß mich für ein paar Minuten in Ruhe“, bat er erschöpft. Mit zit-ternden Händen öffnete er ein Tablettenröhrchen und schüttete sich einige weiße Pillen in den Mund. Danach wurde er schnell ruhiger.

„Wir sind im Augenblick sicher“, murmelte er. „Wenn die Lhari uns erkannt hätten, wären wir jetzt nicht mehr am Leben.“

„Sie vielleicht“, knurrte Bart. „Ich habe nichts ausge-fressen. Sie schulden mir eine Erklärung. Vielleicht sind Sie ein Verbrecher, und die Lhari hatten gute Gründe, Sie zu jagen. Haben Sie die Papiere meines Vaters gestohlen, um den Lhari zu entgehen?“

„Sie suchen deinen Vater, du Narr!“ erwiderte der Dicke wütend. „Sie hatten zum Glück nur seine Beschreibung, nicht aber seinen Namen. Sie werden aber bald ein Bild von ihm haben. Wenn sie erst deinen Namen wissen …“

„Wo ist mein Vater?“ fragte Bart beharrlich. „Ich weiß es nicht“, antwortete der Fremde mit einer

müden Geste. „Wenn er ist, wo ich ihn zurückgelassen habe, dann lebt er nicht mehr. Ich heiße Edmund Briscoe, mein Junge. Dein Vater hat mir einmal das Leben gerettet. Aber ich will dir nicht alles erzählen. Je weniger du weißt, desto besser ist es für dich. Dein Vater machte sich Sorgen um dich und schickte mich zu dir. Er fürchtete, daß du das

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nächste Schiff zum Wega-System nehmen würdest. Aus diesem Grund gab er mir seine Papiere und schickte mich her.“

Bart blieb mißtrauisch. „Das kommt mir alles etwas ei-genartig vor“, sagte er zweifelnd. „Warum soll ich Ihnen das alles glauben? Ich sollte gleich zur Polizei gehen und Sie dort abliefern. Wenn Sie nicht gesucht werden, haben Sie nichts zu befürchten.“

„Dazu ist keine Zeit!“ rief der Dicke aufgebracht. „Du kannst ja Fragen stellen, die nur ein Bekannter deines Va-ters zu beantworten vermag.“

„Wie war der Name meiner Mutter?“ fragte Bart. „O Gott, woher soll ich das wissen?“ stöhnte der Fremde.

„Ich habe deine Mutter nicht gekannt. Aber deinen Vater kannte ich schon lange vor deiner Geburt. Erst vor kurzem erfuhr ich, daß es dich gibt.“ Er schüttelte hilflos den Kopf. „Du bist sein Ebenbild, mein Junge.“ Der Atem des Man-nes ging keuchend. „Ich bin krank, Bart“, sagte der Fremde. „Ich werde sterben, das weiß ich. Aber ich will nicht ver-geblich sterben, sondern mit meinem Tod eine alte Schuld abtragen. Als dein Vater mein Leben rettete, war ich jung und gesund. Er schenkte mir weitere zwanzig Jahre. Ich will ihm dafür danken, Bart. Du sollst nicht zu Tode ge-hetzt werden wie mein eigener Sohn. Wenn sie deine Iden-tität erfahren, werden sie dich aber hetzen.“

„Warum denn?“ Bart empfand ein unheimliches Gefühl. „Sie sind krank“, sagte er. „Ich werde Sie zu einem Arzt bringen.“

Briscoe hörte nicht auf ihn. „Da ist noch etwas, mein Junge: Dein Vater sagte mir, er sei auf der Suche nach der

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achten Farbe. Er meinte, du würdest verstehen, was damit gemeint ist.“

„Das ist doch Irrsinn! Ich …“ Der junge Steele sprach nicht weiter, denn plötzlich ka-

men ihm Erinnerungen. Er entsann sich seiner Mutter, einer schlanken, wunderschönen Frau. Er war höchstens sechs Jahre alt gewesen, kaum in der Lage, sie zu verstehen. Sie hatte ihm eine Zeichnung gezeigt und mit ihrer harmonisch klingenden Stimme gesagt: „Das ist der Treibstoffkatalysa-tor. Das ist eine Farbe, die es sonst nicht gibt, Bart. Es ist keine der im Spektrum erkennbaren Farben, sondern tat-sächlich eine achte Farbe.“

Barts Vater hatte diese Bezeichnung aufgenommen und immer wieder benutzt. „Wenn wir diese Farbe kennen, dann können wir das Geheimnis des Treibstoffs lösen“, hatte er oft gesagt. „Dann werden wir wie die Lhari in die ungeheuren Tiefen des Alls vordringen können und nicht mehr von ihnen abhängig sein.“

Briscoe bemerkte den Wechsel in Barts Haltung und lä-chelte schwach. „Es bedeutet dir also etwas“, sagte er müde, aber zufrieden. „Willst du jetzt tun, was ich dir sage? Wir haben nicht viel Zeit. Sie werden bald die Erde nach dir ab-suchen, Bart. Du darfst dann nicht mehr hiersein. Das Schiff bleibt nur eine Stunde, um Passagiere, Fracht und Post auf-zunehmen. Die Behörden werden dich vielleicht schützen können, aber wenn du auf der Erde bleibst, wirst du nie wieder ein Schiff der Lhari besteigen können. Du mußt fort sein, bevor sie deine Identität kennen. Nimm das hier!“

Der Dicke zog eine Sprühflasche mit einem Haarfärbe-mittel aus der Tasche und sprühte Barts Kopf damit ein.

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Bart spürte die Feuchtigkeit und faßte sich an den Kopf. Dann sah er seine Hand an. Sie war schwarz.

„Halt still, Junge!“ sagte Briscoe nervös. „Das ist leider notwendig.“ Er drückte Bart noch einige Papiere in die Hand und riß dann die Maschine herum. Bart wurde bei dem überraschenden Manöver gegen den dicken Mann ge-drückt.

„Sind Sie verrückt?“ fragte er aufgebracht. „Wollen Sie uns umbringen?“

Briscoe starrte geradeaus. „Keine Sorge, Bart“, sagte er heiser. „Ich habe meine Mission erfüllt. Denk immer daran, daß dein Vater an einer großen Aufgabe arbeitet. Wenn du viele Fragen stellst oder dich ungeschickt benimmst, wirst du mindestens hundert Menschen in ernste Gefahr bringen. Hör gut zu, mein Junge! Ich fliege jetzt zum Flughafen zu-rück. Du springst sofort aus der Maschine und gehst zur Passagierrampe. Dann zeigst du deine Flugkarte vor und besteigst das Schiff. Kümmere dich um nichts, was auch geschehen mag!“

Bart war noch nicht völlig damit einverstanden. Die Ge-schichte kam ihm unwirklich vor. Briscoes beschwörende Worte stimmten ihn aber nachdenklich.

„Wohin soll ich denn reisen?“ fragte er verstört. „Ich weiß nur den Namen Raynor III“, erklärte Briscoe.

Er verstummte und zog eine schmerzliche Grimasse. Die Aufregungen machten ihm anscheinend sehr zu schaffen.

Die Maschine sauste steil nach unten. „Aber was dann?“ fragte Bart erregt. „Werde ich meinen Vater treffen?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete Briscoe. Er landete, öffnete die Tür und schob Bart hinaus. Der junge Steele

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taumelte ein paar Schritte und drehte sich dann rasch um. Die kleine Maschine jagte schon wieder steil in den Himmel hinauf. Bart richtete sich nach den überall angebrachten Zeichen und ging benommen weiter. Ein Lhari fragte nach seiner Flugkarte, und Bart hielt sie hoch.

„Procyon Alpha“, sagte der Lhari. „Rampe B.“ Bart ging wie betäubt weiter und bestieg eine Rolltreppe.

Die Treppe führte direkt zum Einstieg des riesigen Raum-schiffes hinauf. In wenigen Minuten würde er sich auf dem Weg zu fernen Planeten befinden. Worauf hatte er sich da eingelassen? Bart wollte umkehren, aber die Treppe hinter ihm war überfüllt.

Plötzlich deutete ein Passagier nach oben und stieß einen Schrei aus. Ein Robotcab kam in einer wilden Spirale her-abgestürzt und schoß genau auf eine Gruppe Lhari zu. Die Lhari erkannten die Gefahr und spritzten flink auseinander. Das Robotcab zog eine Kurve und stieß einen Lhari nieder. Bart stand mit offenem Mund auf der nach oben gleitenden Rolltreppe und starrte auf die Szene.

Das war Briscoe! Was hatte er vor? Der getroffene Lhari blieb reglos liegen. Das Robotcab

stieß wieder herab und suchte nach einem neuem Opfer. Aber dann schoß ein greller Strahl himmelwärts. Ein

Lhari hatte seine Waffe hochgerissen und abgedrückt. Das Robotcab glühte sofort auf, schmolz noch in der Luft und tropfte zu Boden. Die Menge stöhnte laut auf.

Bart wandte sich ab. Ihm wurde beinahe übel. Eben noch hatte er sein Erlebnis für ein absurdes Abenteuer gehalten. Aber jetzt war Briscoe tot. Er hatte sich bewußt geopfert, um die Lhari auf eine falsche Spur zu locken.

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„Weiter!“ rief ein Mann ungeduldig. „Das Schiff kann nicht warten, nur weil plötzlich einer verrückt geworden ist.“

Bart taumelte voran. Briscoe hatte sich geopfert, um ihm eine Chance zu geben. Jetzt konnte er nicht mehr umkehren.

Der Lhari am Eingang warf nur einen flüchtigen Blick auf Barts Papiere. Bart passierte die Luftschleuse und fand sich auf einem langen Gang. Er fühlte sich noch immer nicht recht wohl. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Akt der Gewalt miterlebt. Er zwang sich zu anderen Ge-danken, denn die Tränen saßen ihm locker. Sein Ziel hieß Procyon Alpha. Das Schiff gehörte also zur Linie Proxima. Centauri, Sirius, Pollux, Procyon, Capella, @Aldebaran.

Eine Frau in Barts Nähe war sehr nervös. „Werden wir sofort in den Kaltschlaf versetzt?“ fragte sie ängstlich.

Bart schüttelte den Kopf. „Wir müssen erst aus dem System heraus sein, ehe das Schiff auf Hyperantrieb gehen kann“, sagte er beruhigend. „Das wird ein paar Tage dau-ern.“

Er erreichte eine Tür, an der ein Mentorianer stand und ihm die dunkle Brille abnahm. Das Licht war jetzt nicht mehr so gleißend hell und ohne Brille zu ertragen.

„Bitte legen Sie alle Gegenstände aus Leder oder Metall ab, ehe Sie in die Desinfektionskammer treten!“ rief der Mann den Passagieren zu. „Diese Gegenstände erfahren eine Spezialbehandlung und werden Ihnen später wieder zurückgegeben.“

Steele bekam Angst. Würde der Mentorianer bemerken, daß einer der Passagiere zwei Brieftaschen besaß? Bart hatte ja noch seine eigenen Ausweise und Diplome bei sich.

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Der Mann achtete nicht auf die Gegenstände und steckte sie achtlos in einen Sack. Bart hielt seine Hose fest und trat erleichtert in eine der Desinfektionszellen. Bläuliches Licht strahlte von allen Seiten auf ihn ein. Es roch leicht nach Ozon, und die Haare sträubten sich ein wenig. Strahlen tö-teten sämtliche Mikroorganismen ab.

Das Licht verlöschte. Bart trat wieder auf den Gang, und der Mentorianer gab ihm seine Sachen zurück. Die Aus-weise blieben zum Glück in dem kleinen Sack. Dann drückte der Mann jedem Passagier einen Becher mit einer grünen Flüssigkeit in die Hand.

„Was ist das?“ fragte Bart. Die Strahlen haben alle Mikroorganismen getötet“, er-

klärte der Mann geduldig. „Der Körper braucht aber Darm-bakterien, weil er sonst die Nahrung nicht verdauen kann. Die Bakterien sind in dieser Flüssigkeit enthalten.“

Das Zeug schmeckte nicht gerade gut. Bei dem Gedan-ken, Bakterien zu trinken, war Bart nicht sehr wohl. Er sah aber die Notwendigkeit ein und schlürfte die grüne Flüs-sigkeit.

Eine Stewardeß, natürlich eine Mentorianerin, gab ihm einen Schlüssel mit einem Nummernschild und ein kleines Büchlein mit der Aufschrift: „Willkommen an Bord!“

Bart las die Nummer 246 B und pfiff leise durch die Zähne. Die B-Klasse war sehr teuer, wenn auch nicht ganz so teuer wie die den Diplomaten und Gouverneuren vorbe-haltene A-Klasse. Jedenfalls würde er sehr luxuriös reisen.

Das B-Deck war ein langer Gang, von dem viele ovale Türen abgingen. Bart lief zur Tür mit der Nummer 246 und öffnete sie. Er erblickte eine kleine, aber sehr bequem ein-

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gerichtete Kabine. Das Bett war lang genug für ihn und auch recht breit. Die Lampen waren abschaltbar. Das war ein besonderer Luxus, denn die Kabinen der billigeren Klassen hatten einfache Leuchtwände, die sich nicht ab-schalten ließen. Zur Kabine gehörten eine eigene Toilette und eine Dusche. Es gab sogar eine Anlage mit verschie-denen Wählerscheiben. Die Passagiere der B-Klasse konn-ten damit ihre Nahrung selber wählen und in der Kabine essen.

Ein Summton ertönte, und gleich darauf klang die Stimme eines Mentorianers in die Kabine. „Noch fünf Mi-nuten bis zur Raumkontrolle“, sagte der Mann. „Bitte legen Sie alle Metallteile in den Bleibehälter! Legen Sie sich in die Kojen und ziehen Sie die Haltegurte fest an. Die Ste-wards werden noch einmal in alle Kabinen kommen und nach Ihnen sehen.“

Der junge Steele nahm seinen Gürtel und seine Man-schettenknöpfe ab und steckte sie in den Bleibehälter. Er legte sich nieder, sprang aber gleich wieder auf. Seine ei-genen Papiere befanden sich ja noch in dem Sack! Er ent-schloß sich, alle Brücken hinter sich abzubrechen und die Papiere zu vernichten. Vorher sah er sich aber die neuen Papiere an. Sie lauteten auf den Namen David Warren Briscoe vom Aldebaran IV. Nach der Beschreibung war er zwanzig Jahre alt, schwarzhaarig und einsneunzig groß. In der Brieftasche befand sich auch eine Lizenz als Astrogator für die Aldebaran Intersatellite Cargo Company. In einer Seitentasche fand Bart noch ein Bündel Geldscheine.

Er zerriß seine eigenen Dokumente und warf sie in den Papierkorb, holte die Fetzen aber sofort wieder heraus,

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denn zerrissene Ausweispapiere mußten auffallen. Aber wohin damit?

Bart erinnerte sich an eine Vorlesung über die Lhari-Raumschiffe. Die Schiffe hatten in sich geschlossene Sys-teme; Abfälle wurden nicht ausgestoßen, sondern chemisch abgebaut. Die Grundelemente konnten dann wieder zu an-deren Stoffen aufgebaut werden.

Steele zerriß die Papiere in noch kleinere Teile, warf sie ins Toilettenbecken und spülte sie hinunter. Er war gerade damit fertig, als ein Mentorianer die Kabine betrat und vor-wurfsvoll den Kopf schüttelte.

„Legen Sie sich bitte sofort hin!“ sagte der Mann verär-gert. „Ihr jungen Leute glaubt wohl, daß ihr euch nicht an die Bestimmungen zu halten braucht, wie?“

Bart legte sich zögernd hin. Er war wütend, denn er är-gerte sich über das Verhalten des Mentorianers. Diese Bur-schen nahmen sieh überhaupt sehr viel heraus und bildeten sich etwas auf ihre Tätigkeit ein.

Nachdem der Mann die Kabine verlassen hatte, kamen Bart Bedenken. Hatte er sich richtig entschieden? Wenn er Briscoe der Polizei ausgeliefert hätte, lebte der Mann noch.

Eine Warnsirene schreckte ihn aus seinen Gedanken. Bart hatte plötzlich den Eindruck, das alles nicht wirklich zu erleben, sondern zu träumen. Sein Vater sollte ein Ver-folgter sein. Warum? Bart spannte alle Muskeln an und wartete auf den Start des Raumschiffes. Er wußte, daß der Schiffskörper bald vibrieren würde. Er hatte viele Reisen unternommen, allerdings immer nur innerhalb des irdi-schen Sonnensystems. Die Erregung kurz vor dem Start war immer die gleiche. Bart war aufgeregt und auch etwas

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ängstlich. Er fürchtete den plötzlichen Stoß, die nachfol-gende starke Beschleunigung und den schmerzhaften An-druck.

Die Tür wurde noch einmal geöffnet, und zwei Lhari tra-ten ein. Bart umklammerte die Haltegurte und starrte die beiden an. Aus! dachte er. Jetzt haben sie mich.

„Der da ist ungefähr so alt“, sagte der eine Lhari in seiner schrillen Sprache. Bart erstarrte. Der andere Lhari schüttel-te den Kopf. „Du siehst schon überall Spione, Ransel“, sagte er gleichgültig. Trotzdem fragte er Bart nach seinen Papieren.

Steele war von dem Steward fest angeschnallt worden und konnte sich nicht rühren. Er deutete mit dem Kopf zum Schrank. Es fiel ihm nicht leicht, seine Angst zu verbergen.

Der Lhari sah sich die Papiere an und fragte mißtrauisch: „Wie heißt dein Heimatplanet?“

Bart mußte erst überlegen. „Aldebaran IV“, sagte er dann. Der Lhari gab sich damit zufrieden. „Schade, daß Margil

nicht hier ist. Er hat die beiden gesehen“, sagte er. „Ich habe mir die Maschine angesehen“, erklärte der an-

dere. „Die Menge des Protoplasmas deutet auf zwei Perso-nen hin.“

Der junge Steele konnte jedes Wort verstehen. Das machte es ihm noch bedeutend schwerer, unbeteiligt zu wirken.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte er, um seine Unruhe zu verschleiern.

„Es ist vielleicht ein Blinder Passagier an Bord“, erklärte einer der Lhari. „Wir müssen den Mann natürlich schützen. Wenn das Schiff durch den Hyperraum fliegt, muß er sonst

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sterben.“ Er warf einen mißtrauischen Blick auf Bart und fragte: „Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?“

„Es ist – es ist nur das Zeug, das ich vorhin trinken muß-te“, murmelte Steele. „Ich fühle mich nicht wohl.“

„Sie können nachher einen Arzt rufen“, sagte der Lhari verständnisvoll. „Dazu brauchen Sie nur auf den Knopf am Bett zu drücken.“

Die beiden Lhari gingen hinaus und schlossen die Tür hinter sich. Bart atmete auf. Die Kontrollen wurden norma-lerweise von Mentorianern vorgenommen. Die Lhari schienen die Menschen nicht ernst zu nehmen und behan-delten sie immer etwas von oben herab. Ihre Aktivität ließ darauf schließen, daß sie die Feindschaft eines Menschen aber sehr fürchteten.

Bart fühlte sich einsam und verlassen. Er hatte Angst. Das Vibrieren des Raumschiffes lenkte ihn ab. Er spürte den starken Druck; seine Trommelfelle schienen platzen zu wollen. Es war, als setze sich ein Elefant langsam auf seine Brust. Bart konnte sich bald nicht mehr rühren, so stark war der Druck. Die Lhari-Schiffe starteten mit einer Be-schleunigung von zwölf g, was eine starke Belastung des menschlichen Körpers bedeutete. Bart hatte ein Gefühl, als werde er von einer Riesenfaust zerstampft. Dieses Gedan-kenbild erinnerte ihn an Briscoe, der sich für ihn geopfert hatte.

Der Druck ließ plötzlich nach, das Blut begann wieder durch die Adern zu fließen. Bart löste die Gurte und stand auf. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete mehrmals tief durch. Eine Stimme klang aus dem Laut-sprecher.

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„Die Passagiere der Klassen A und B können in den Be-obachtungsraum gehen und das Passieren der Satelliten beobachten.“

Steele ging in den Waschraum und wusch sich sein Ge-sicht. Er hatte kein Gepäck mitgebracht, nicht einmal eine Zahnbürste. Er dachte immer wieder an seinen Vater und an Briscoe. Das Entsetzen über den Tod des dicken Man-nes und die Angst vor den Lhari lähmten ihn fast. Er war im Augenblick sicher, denn die Lhari suchten nach einem Bart Steele, nicht aber nach David Briscoe. Bart nahm sich vor, den Flug zu genießen und die Entwicklung der Dinge abzuwarten.

Der Beobachtungsraum war verdunkelt. Eine Wand be-stand aus einem klaren Quarz und ermöglichte den freien Ausblick. Bart hielt den Atem an, so überwältigend war das Bild des Weltraumes.

Das Schiff entfernte sich schnell von der Sonne. Kosmi-scher Staub flutete an der Wandung des Schiffes entlang und leuchtete im Schein der Sonne auf. Die Fixsterne schienen unbeweglich vor dem tiefschwarzen Hintergrund zu hängen, gleißende Scheiben von unwahrscheinlicher Pracht. Bart machte die Konstellationen aus. Aldebaran leuchtete wie ein Rubin, und in der Lyra glomm blau und klar die Wega. Die Farben waren berauschend. Von der Erde aus gesehen, waren die Sterne weiße Punkte am Himmel, hier aber filterte keine Atmosphäre die Farben heraus, hier leuchteten die Gestirne in allen Farben – Anta-res blutrot, Capella wie geschmolzenes Gold. Bart hatte den Eindruck, ein Riese habe eine Handvoll Edelsteine wahllos verstreut. Die Farben des Kosmos waren berau-

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schend. Bart starrte gebannt auf das Panorama und kam sich winzig vor.

Hinter sich hörte er plötzlich eine Stimme. „Und all das können die Lhari nicht sehen. Sie können nur die Hellig-keitsgrade unterscheiden.“

Bart sah sich das wunderbare Bild an, bis ein Gong durch den Raum tönte.

„Das Abendessen“, sagte eine Stimme, die Bart merk-würdig bekannt vorkam. „Wahrscheinlich gibt es hier nur synthetische Nahrung.“

Auf dem Gang blieb Steele blinzelnd stehen, um sich an das Licht zu gewöhnen. „Bart!“ Das war wieder die be-kannte Stimme. „Bart, das kann doch nicht sein!“

Steele riß die Augen auf und erkannte Tommy Kendron. In der Aufregung hatte er völlig vergessen, daß Tommy mit diesem Schiff reisen wollte.

„Warum hast du mir nichts davon gesagt“, rief Tommy, „daß du im selben Raumer wie ich reisen würdest? Hat sich dein Vater vielleicht im letzten Augenblick dazu entschlos-sen?“

Bart mußte etwas tun. Wenn Tommy die gefärbten Haare bemerkte, würde es aus sein. „Tut mir leid“, sagte er freund-lich. „Sie verwechseln mich offenbar mit einem anderen.“

„Was soll der Unsinn, Bart? Ich …“ Tommy verstummte plötzlich und schüttelte den Kopf. „Ich hätte geschworen, daß Sie ein Freund von mir sind.“

„Ich habe Sie noch nie gesehen“, sagte Steele kühl. Tommy trat zurück und musterte Bart. „Die Ähnlichkeit

ist verblüffend“, sagte er kopfschüttelnd. „Sind Sie vom System Wega?“

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„Nein, ich komme vom Aldebaran. Mein Name ist Da-vid Briscoe“, antwortete Bart.

„Freut mich, Dave.“ Tommy streckte ihm freundschaft-lich die Hand entgegen. „Wollen wir zusammen essen? Ich kenne hier niemanden. Eigentlich ist es doch ein Glück, daß ich einen Mann gefunden habe, der meinem besten Freund so sehr ähnelt. Sie könnten sein Zwillingsbruder sein, Dave.“

Bart war unentschlossen. Er wußte, daß sein Schwindel früher oder später platzen mußte. Tommy würde ihn an einer typischen Redewendung oder Geste erkennen. Sollte er sich ihm besser gleich offenbaren? Er entschied sich da-gegen, denn es handelte sich ja nicht um ein Spiel, sondern um tödlichen Ernst. Es gab nur einen Ausweg, und der mußte beschritten werden.

„Ich habe zu tun“, sagte er distanziert. „Ich werde wäh-rend der Reise nicht viel freie Zeit haben.“ Nach dieser Absage drehte er sich um und ging fort. Tommys Lächeln erstarrte. Er fühlte sich zurückgewiesen und verletzt.

Steele kehrte in seine Kabine zurück und wählte mißmu-tig einige synthetische Speisen. Im Speiseraum gab es bes-seres Essen, doch er mußte darauf verzichten. Das Risiko einer erneuten Begegnung war ihm zu groß. Die Reise wür-de langweilig und einsam verlaufen.

2. Kapitel

Bart blieb eine volle Woche in seiner Kabine. Er wagte sich weder in den Beobachtungsraum noch in den Speise-saal. Die synthetische Nahrung hing ihm schon zum Hals

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heraus; die Bänder, die ihm der Steward aus der Bibliothek brachte, waren ebenfalls nicht mehr interessant. Das Er-scheinen des Arztes war eine willkommene Abwechslung. Der Mentorianer hatte die Aufgabe, die Passagiere in einen Kaltschlaf zu versetzen, weil sie nur so die Strapazen des Fluges durch den Hyperraum ertragen konnten.

Steele hatte eine gute Ausbildung genossen. Trotzdem wußte er kaum etwas über den Warp-Antrieb. Er hatte ge-hört, daß nur wenige Lhari mit diesem Geheimnis vertraut waren. Bart wußte nur, daß ein Raumschiff, wenn es schneller als mit Lichtgeschwindigkeit flog, in die vierte Dimension eintauchte, um an anderer Stelle wieder in die dreidimensionale Welt zurückzukehren. Er wußte auch, daß Menschen die ungeheure Beschleunigung nur im Kalt-schlaf überleben konnten.

Er legte sich in seine Koje und ließ sich vom Arzt fest-schnallen. Dabei dachte er an die Verwendungsmöglichkei-ten des Hyperantriebs. Konnten die Menschen ihn jemals ausnutzen? Wahrscheinlich würden sie erst eine Automatik erfinden müssen.

Der Mentorianer zog eine Flüssigkeit in eine Injektions-spritze. Er stellte sich neben die Koje und fragte: „Wollen Sie während der Pausen in den verschiedenen Systemen aufwachen oder durchschlafen? Wir steuern die Systeme Proxima, Sirius und Pollux an, Sir.“

Der junge Steele überlegte fieberhaft. Sicher hatte der Steward den Arzt über den merkwürdigen Passagier infor-miert, der nicht einmal in den Beobachtungsraum ging. Der Dauerschlaf war eine Versuchung, denn er würde ihn vor der Eintönigkeit der Kabine bewahren. Andererseits wollte

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Bart die verschiedenen Systeme sehen. Bei seiner ersten Reise zur Erde war er zu jung gewesen, um sie bewußt zu erleben. Er entschloß sich aber zum Dauerschlaf, denn nur so konnte er das Zusammentreffen mit anderen Passagieren vermeiden.

Gleich nach dem Einstich setzte die Müdigkeit ein. Bart hatte das Gefühl, in eine unermeßliche Tiefe zu sinken. Es drängte ihn wieder zur Oberfläche, denn eine entsetzliche Angst verdrängte alle anderen Gedanken. Er war jetzt hilflos dem Schicksal ausgeliefert. Die Lhari hatten inzwischen Zeit, sich eingehend zu informieren. Auf drei verschiedenen Systemen warteten sie vielleicht schon auf ihn. Sie würden ihn aus dem Schiff schleppen und nie wieder erwachen las-sen. Bart wollte aufbegehren, aber er konnte sich nicht mehr rühren. Eine Minute später spürte er einen durch den Körper rasenden Schmerz. Die Kälte verlangsamte alle Lebenspro-zesse auf ein Minimum und raubte Bart das Bewußtsein. Er fiel in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

*

Bart spürte die lähmende Kälte. Er konnte sich aber bewe-gen. Im nächsten Augenblick kamen die Erinnerungen zu-rück und schreckten ihn hoch. Er wollte aufstehen und sich verteidigen. Er wollte es seinen Feinden so schwer wie möglich machen.

„Nicht so hastig!“ sagte ein Mentorianer. Es war ein an-derer Arzt. „Wir haben den Gravitationsbereich des Plane-ten Alpha erreicht und werden in vier Stunden landen, Mr. Briscoe. Wie fühlen Sie sich?“

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Steele spürte das Blut durch die Glieder pulsen. Beine und Arme waren noch schwer wie Blei, aber das Gefühl kehrte schnell wieder zurück. Die Lebensprozesse waren während des langen Schlafes so verlangsamt worden, daß Bart keinen Hunger empfand.

Der Mentorianer ging in eine andere Kabine und emp-fahl Bart, sich kräftig zu bewegen. Steele hatte auch ein starkes Verlangen nach Bewegung. Er wollte in den Beo-bachtungsraum gehen, um die Landung bewußt zu erleben. Es bestand die Möglichkeit, Tommy zu begegnen. Kendron würde nach der kalten Abfuhr aber kaum versuchen, einen neuen Annäherungsversuch zu wagen.

Der leuchtende kosmische Staub war jetzt dichter, die Konstellationen wirkten seltsam abgeflacht. Bart erinnerte sich an den Text eines Lehrbuches. Er war jetzt siebenund-vierzig Lichtjahre von der Erde entfernt. Im Verhältnis zur Größe des Universums war das nur ein Katzensprung, aber er sah die Konstellationen jetzt aus einem anderen Blickwinkel.

Das Schiff raste auf Procyon zu, eine Sonne, die der irdi-schen sehr ähnelte. Die drei Planeten Alpha, Beta, Gamma waren wie der Saturn mit schimmernden Ringen umgeben. Im Hintergrund sah Bart grelle Riesensonnen, die unvor-stellbar weit entfernt waren. Diese Gestirne waren uner-reichbar, ferne Welten im unendlichen Raum.

„Hallo, Dave!“ Bart zuckte zusammen. „Erinnerst du dich nicht an mich? Wir sprachen uns kurz

nach dem Start. Warst du die ganze Zeit in deiner Kabine?“ „Ich war im Kaltschlaf“, antwortete Bart leise. Er konnte

einfach nicht abweisend sein.

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„Das ist auch eine Art, eine weite Reise zu machen“, sagte Tommy fröhlich. „Ich habe jeden Augenblick genos-sen.“

Es war schwer zu begreifen, daß seit dem Zusammen-treffen im Beobachtungsraum volle sechs Wochen vergan-gen sein sollten. Die Vergangenheit war für Bart wie ein Traum, an den er sich erst erinnern mußte. Er begriff, daß er in wenigen Stunden auf einem anderen Planeten landen würde. Das Schlüsselwort hieß Raynor III. Das war der einzige Hinweis, den Briscoe ihm gegeben hatte. Bart fühlte sich allein. Tommy hatte keine Ahnung, wie sehr seine Nähe dem Freund half.

„Vielleicht hätte ich mich doch wecken lassen sollen“, murmelte Bart.

„Du hast viel versäumt“, antwortete Tommy begeistert. „Wir blieben einen vollen Tag auf Sirius 18. Ich machte eine interessante Rundreise. Sonst habe ich mich fast im-mer hier aufgehalten. Die Welt sieht jetzt völlig anders aus. Kannst du die bekannten Konstellationen noch erkennen? Ich kann es nicht.“

Bart blickte durch die transparente Wand und deutete auf eine rote Sonne. „Das muß Aldebaran sein“, erklärte er. „Antares liegt viel weiter zurück und leuchtet in einem tie-feren Rot, fast wie eine glühende Kohle. Aldebaran leuch-tet jedoch wie ein klarer Rubin und …“

Steele verstummte. Er hatte sich verraten, denn bei ei-nem Examen hatte er die beiden Sterne mit den gleichen Worten beschrieben. Er sah Tommys triumphierenden Blick und kam dem Freund zuvor.

„Leise!“ sagte er warnend.

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Tommy grinste. „Ich wußte es“, flüsterte er. „Eine Ver-wechslung war unmöglich. Warum machst du dieses Thea-ter?“

„Du darfst meinen Namen nicht erwähnen!“ flüsterte Bart eindringlich. „Ich bin in Gefahr.“

„Warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Wozu bin ich denn dein Freund?“

„Wir können hier nicht offen miteinander reden“, flüster-te Bart. „Die Kabinen haben Abhöranlagen, für den Fall, daß einem die Luft wegbleibt oder einer Hilfe braucht.“

Die beiden Freunde traten dicht an die durchsichtige Wand heran. Die Nähe des gigantischen Abgrundes verur-sachte beiden Schwindelgefühle, aber sie überwanden die Angst und blieben stehen. Die Planeten Alpha, Beta und Gamma schienen bei der hohen Geschwindigkeit des Raumschiffes wie Ballone anzuschwellen.

Bart erzählt seine Geschichte und starrte in die Unend-lichkeit.

Tommy Kendron schüttelte verwundert den Kopf. „Und mit diesen mageren Informationen willst du deinen Vater finden?“ fragte er. „Das Universum ist groß. Wir wissen, daß die Lhari neunhundertzwanzig verschiedene Systeme anfliegen. Begleite mich, Bart. Meine Eltern werden dich gern aufnehmen. Sie werden die Interplanetarische Behörde mit der Suche nach deinem Vater beauftragen. Die Behör-de wird ihn vor den Lhari schützen. Du kannst doch nicht den intergalaktischen Spion spielen und von einem System zu anderen jagen.“

Steele dachte an Briscoe, der sich seinetwegen geopfert hatte. Er schüttelte traurig den Kopf und antwortete: „Vie-

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len Dank, Tommy! Ich muß die Angelegenheit auf meine Weise erledigen.“

„Na, schön!“ sagte Tommy entschlossen. „Aber nicht ohne mich. Ich kann die Reise überall unterbrechen.“

Bart legte seinem Freund die Rechte auf die Schulter. Er war ihm dankbar, aber er dachte an Briscoes Schicksal. Er konnte seinen Freund unmöglich in Gefahr bringen.

„Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Tommy“, murmelte er ergriffen. „Die Gefahr ist aber zu groß.“

Tommy ließ sich nicht abweisen. „Ich bleibe bei dir“, erklärte er ruhig. „Du wirst mich jetzt nicht mehr los. Wenn du spurlos verschwindest, werde ich mir ewig Vor-würfe machen.“

„Das brauchst du nicht, Tommy. Ich werde dich regel-mäßig benachrichtigen. Wenn du mir helfen willst, mußt du mich allein lassen.“

Ein Warnsignal schrillte durch den Beobachtungsraum. Bart drehte sich um und sagte noch einmal: „Das ist alles, was du tun kannst, Tommy. Halte dich heraus, hörst du!“

Kendron hielt Steele fest. „In Ordnung“, sagte er wider-willig. „Wenn ich nicht bald von dir höre, mach’ ich einen Krach, daß es von hier bis zur Wega schallt.“

Bart riß sich los und eilte fort. Er hatte Angst, weich zu werden. In seiner Kabine legte er sich auf sein Bett, um sich zu beruhigen. Der Mentorianer, der bald kommen würde, um ihn festzuschnallen, brauchte seine Erregung nicht zu erkennen.

*

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Nach der Landung mußte Bart wieder in die Desinfekti-onskammer. Danach folgte er den anderen Passagieren durch die Luftschleuse und dann in die Atmosphäre eines fremden Planten. Der erste Anblick war enttäuschend. Bart sah einen Flughafen der Lhari, der dem Platz auf der Erde in allen Einzelheiten glich. Der junge Steele erblickte den glänzenden Bodenbelag, die hohen Gebäude aus farblosem Baumaterial, die Rampen, Gleitwege und Rolltreppen.

Die hoch am Himmel stehende Sonne sah goldgelb aus, die Schatten der Gebäude waren dunkelviolett. In der Ferne bemerkte Bart hohe Hügel mit merkwürdig gefärbten Bäu-men.

An der Kontrolle mußte er seine Papiere und seine Flug-karte vorzeigen. Ein Lhari sah sie sehr sorgfältig durch. Dann sagte er zu dem hinter ihm stehenden Mentorianer: „Halten Sie ihn fest. Er braucht aber nicht zu wissen, wa-rum wir ihn verhören.“

Bart bekam einen eisigen Schreck. Sollte seine Reise ein so unrühmliches Ende nehmen?

Der Mentorianer nahm ihn mit und erklärte: „Wir müs-sen uns erst überzeugen, ob Sie die richtigen Impfungen bekommen haben.“

Steele wurde in einen Warteraum geführt und allein ge-lassen. Er bemerkte einen Bildschirm und sah darauf fremdartige Tiere in einer noch fremdartigeren Umgebung. Der Film fesselte ihn aber nicht lange. Ungeduldig ging er auf und ab. Bald sollte sich entscheiden, ob er verloren war oder nicht. Der Raum hatte zwei Türen. Hinter der Glastür, durch die er gekommen war, sah er den Schatten eines Mentorianers. An der anderen Tür las er die Aufschrift:

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GEFAHR

Eintritt ohne Schutzbrille gesundheitsschädlich. Gewöhnliche Schutzbrillen sind nicht ausreichend.

Bitte nicht ohne Spezialbrille eintreten!

Bart fühlte sich geschlagen. Die Sonne der Lhari war fünf-hundertmal heller als die irdische Sonne, die Warnung also durchaus berechtigt. Die Lhari erhellten die von ihnen be-nutzten Räume mit besonders starken Leuchtkörpern.

Steele faßte einen Plan. Er wußte nicht, welchen Grad von Helligkeit seine Augen ertragen konnten, ohne Scha-den zu nehmen. Er war nie auf dem Planeten Mentor gewe-sen, hatte aber die Augen seiner Mutter geerbt. Sie waren weitaus unempfindlicher als die der auf der Erde geborenen Menschen. Blindheit war besser als der Tod in einem Energonstrahl.

Bart stieß die Tür auf. Im nächsten Augenblick schien eine gleißende Helligkeit die Augen aus den Höhlen zu brennen. Er riß die Hände hoch, um die Augen zu schützen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine so intensive Hel-ligkeit gesehen. Obwohl er die Augen geschlossen hielt und sie mit den Händen schützte, fühlte er die Nachwir-kungen der Helligkeit. Erst nach einigen Minuten ließ er die Hände sinken und wagte einen Versuch. Er öffnete die Augenlider einen kleinen Spalt und stellte zu seiner Über-raschung fest, daß er sehen konnte. Bart erblickte eine Glasrampe und mehrere Türen. Am anderen Ende der Rampe sah er Lhari, die ihn aber noch nicht bemerkt hat-ten.

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Der junge Steele sah sich um. An einem Haken entdeck-te er einen silbrigen Umhang. Es war einer der von den Mentorianern benutzten Kleidungsstücke. Bart zögerte kei-nen Augenblick und warf sich den Umhang über die Schul-tern. Er fühlte sich gleich wohler, denn der metallische Umhang wirkte kühlend, und die Kapuze schirmte das grelle Licht ein wenig ab.

Bart ging ein paar Schritte weiter und entdeckte eine im steilen Winkel nach unten führende Rampe. Er klet-terte über den Rand und rutschte flach auf dem Rücken liegend mindestens drei Stockwerke tiefer. Trotz des schützenden Umhangs spürte er die enorme Reibungshit-ze. Am Ende der rasenden Fahrt verstauchte er sich fast die Beine. Er durfte aber nicht aufgeben. Entschlossen schritt er auf eine Tür zu. Vielleicht führte diese Tür in die Freiheit.

Plötzlich wurde er angerufen. „Hallo, Sie da!“ Er drehte sich um und erblickte einen Lhari. Die Gestalt

des anderen war in dem grellen Licht nur ein farbloser Um-riß.

„Ihr seid unvernünftig“, brummte der Lhari. „Immer wieder kommt einer ohne Schutzbrille herein. Sie wollen doch nicht blind werden, mein Freund?“ Die Worte des Lhari klangen besorgt und mitfühlend.

Barts Herz schlug wie ein Dampfhammer. Was jetzt? Er hatte sich seit Jahren nicht mehr mit der Lhari-Sprache be-schäftigt. Allerdings hatte er sie bereits in frühester Kind-heit erlernt und damals völlig akzentfrei gesprochen.

„Margil hat mich hergeschickt“, log er. „Da wurde ein Bursche zum Verhör festgehalten. Der Kerl hat sich aber

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aus dem Staub gemacht. Wir suchen ihn jetzt. Irgendwo muß er ja stecken.“

„Das verstehe ich nicht“, murmelte der Lhari. „Wenn der Bursche von einem System mit einer kleinen Sonne stammt, kann er die Helligkeit nicht ertragen. Wenn er durch diese Räume kommt, werden wir ihn bestimmt erwi-schen. Aber Sie können es auch nicht lange aushalten. Ho-len Sie sich sofort eine Schutzbrille!“

Bart riß sich zusammen und ging sehr langsam auf die Tür zu. Er öffnete sie, ging durch die Öffnung und schlug die Tür hinter sich zu. Er hatte den Eindruck, sich in tiefer Dunkelheit zu befinden, und mußte sich erst an die normale Lichtstärke gewöhnen. Aufatmend stellte er fest, daß er auf einer Straße stand. Durch Zufall hatte er einen Ausweg ge-funden und befand sich jetzt außerhalb des von den Lhari beherrschten Flughafens.

Trotzdem mußte er schnell fort. Er zog den Umhang aus, rollte im zusammen und steckte ihn unter den Arm. In der Zwischenzeit hatte Steele sich nun bereits an das milde Licht der Procyon-Sonne gewöhnt und konnte alle Einzelheiten unterscheiden. Schon nach wenigen Schritten blieb er stehen und starrte auf ein über einer Tür angebrachtes Firmenschild. Er glaubte zu träumen, denn die Aufschrift auf dem in allen Farben des Regenbogens gemalten Schild lautete:

Acht Farben Transportgesellschaft Fracht – Passagiere – Post

Manager: A. Raynor I

Bart wollte seinen Augen nicht trauen. Sollte er so schnell ans Ziel gekommen sein? Raynor I existierte also. Das gab

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berechtigten Anlaß zu der Hoffnung, daß dieser Name in enger Beziehung zum Namen Raynor III stand. Das Ge-bäude existierte offenbar schon sehr lange. Bart überquerte die Straße, öffnete die Tür und betrat den Bau.

Das Innere des Gebäudes war sehr hell. Alle Möbelstü-cke hatten leuchtende Neonkanten. Ein Mädchen saß an einem Schreibtisch aus Glas. Auch dieser Schreibtisch leuchtete in mehreren Farben. Die Platte war violett und gab dem Gesicht des Mädchens ein etwas gespenstisches Aussehen. Das Mädchen musterte den Mann sehr kritisch. Offenbar kamen Besucher wie Bart nur sehr selten.

„Ich möchte Raynor I sprechen“, sagte Steele. Das Mädchen drückte mit einem Finger auf einen

Leuchtknopf. Ihre lackierten Fingernägel glänzten dabei auf. „In welcher Angelegenheit?“ fragte es kühl.

„Es handelt sich um persönliche Dinge.“ „Dann suchen Sie ihn besser in seinem Haus auf.“ „Ich kann nicht warten“, antwortete Bart ungeduldig. Das Mädchen musterte ihn noch einmal und drückte auf

einen anderen Knopf. „Wie ist Ihr Name?“ fragte es schnippisch.

„David Briscoe.“ Bart hatte nicht geglaubt, daß das Gesicht des Mädchens

etwas anderes als Überheblichkeit ausdrücken könnte. Jetzt wußte er es besser, denn das Mädchen starrte ihn konster-niert an. „Er nennt sich David Briscoe“, sagte sie. Ein un-sichtbares Mikrophon nahm ihre Worte auf. Die Antwort empfing sie über einen kleinen Ohrhörer.

Nach kurzer Zeit zog sie die Augenbrauen hoch und sag-te zu Bart: „Raynor I will Sie empfangen. Gehen Sie bis

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zur Tür am Ende des Ganges!“ Bart passierte die Tür und stieg in einen kleinen Lift. Die

Tür glitt hinter ihm zu, und das verursachte in ihm ein star-kes Angstgefühl. War er in eine Falle getappt? Er beruhigte sich jedoch schnell. Der Lift sauste nach oben.

Ruckartig hielt er, die Tür öffnete sich, und Bart erblick-te ein geräumiges Büro. Hinter einem großen Schreibtisch saß ein Mann. Der Mann war groß und hager, seine grauen Augen leuchteten und verrieten seine Herkunft. Er stammte von Mentor.

War dieser Mann Raynor I? Nagende Zweifel befielen Bart. Er vermochte dem prü-

fenden Blick des Mannes nicht standzuhalten und sah zu Boden.

„Wer sind Sie?“ fragte der Mann hinter dem Schreib-tisch. Seine Stimme klang hart und autoritär.

„David Briscoe.“ Der Mund des Mannes wurde zu einem dünnen Schlitz.

„David Briscoe ist tot!“ sagte er anklagend. „Ich bringe eine Botschaft für Raynor III“, erklärte Bart

entschlossen. Der Blick des Mannes blieb abweisend und hart. „Wie lautet diese Botschaft?“ Bart ließ sich von einer Inspiration leiten und antwortete:

„Das will ich Ihnen sagen, wenn Sie mir die Natur der ach-ten Farbe nennen.“

„Das kann ich nicht. Der Gründer unserer Gesellschaft wollte diese Bezeichnung für die Firma.“

„Hieß dieser Gründer vielleicht Rupert Steele?“ fragte Bart hoffnungsvoll.

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Raynor I war sehr beherrscht, doch Bart glaubte, eine leichte Röte im Gesicht des Mannes zu erkennen. „Wie kommen Sie darauf?“ fragte Raynor I. „Sie sind doch gera-de von der Erde gekommen. Die Firma ist erst vor wenigen Wochen umbenannt worden. Nur wenige Leute wissen das. Die Nachricht kann noch nicht zur Erde gelangt sein. Mir fällt auf, daß Sie viele Namen nennen und nicht daran den-ken, den Grund Ihres Besuchs zu verraten.“

„Ich suche Rupert Steele“, erklärte Bart. „Nicht Raynor III?“ Raynor I warf einen mißtrauischen

Blick auf den zusammengerollten Umhang. „Viele Leute wollen herausfinden, wie ich auf die Nennung bestimmter Namen reagiere“, sagte er abwartend. „Es ist nicht gesund, die falschen Leute zu kennen.

Wie kommen Sie darauf, daß ich es ausgerechnet Ihnen gegenüber zugeben würde?“

Bart war verzweifelt. Er suchte Vertrauen. Das Gespräch würde zu nichts führen, wenn beide Partner immer nur auswichen und alle Fragen mit Gegenfragen beantworteten.

Bart Steele warf den Umhang auf den Schreibtisch. „Dieser Umhang war meine Rettung. Er gehört mir nicht, und ich habe nicht die Absicht, ihn noch einmal zu tragen. Ich bin gekommen, um Rupert Steele zu finden. Er ist mein Vater.“

Raynor I blieb unbewegt. „Und wie wollen Sie diese in-teressante Behauptung beweisen?“

Der junge Steele verlor die Geduld. „Ich will es nicht beweisen“, knurrte er wütend. „Warum fangen Sie nicht an, Beweise zu liefern? Kennen Sie Rupert Steele überhaupt? Muß ich beweisen, wer ich bin? Sehen Sie mich doch an!

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Briscoe hat mir die Papiere gegeben und mich auf eine Reise geschickt, die ich nicht antreten wollte. Dieser Bris-coe lebt nicht mehr.“

Weit beugte Bart sich vor, um besser in die Augen sei-nes Gegenübers sehen zu können. „Er gab mir den Auftrag, Raynor III zu suchen. Ich bin im Augenblick aber nur dar-an interessiert, meinen Vater zu finden.“

Raynor I sprang plötzlich auf. „Sind Sie hier gesehen worden?“ fragte er heiser.

„Nur von dem Mädchen unten in der Halle.“ „Und Sie sind den Lhari in dieser Verkleidung entkom-

men?“ Raynor I deutete auf den zusammengerollten Um-hang.

„Ja.“ Bart gab einen kurzen Bericht. Raynor I schüttelte staunend den Kopf. „Sie hatten gro-

ßes Glück“, sagte er betroffen. „Das grelle Licht hätte je-den anderen blind gemacht. Sie müssen die Unempfind-lichkeit von Ihrer Mutter geerbt haben, denn Ihr Vater hat sie nicht.“ Raynor I setzte sich wieder und sagte beiläufig: „Übrigens sind Sie mein Boß. Die Acht-Farben-Gesellschaft gehörte zur Firma Ihres Vaters.

Sie spielt hier die Mittlerrolle zwischen den einzelnen Transportgesellschaften, die sich auf das System beschrän-ken müssen. Außerdem sind wir die Verbindungsstelle zwischen den Transportgesellschaften und den Lhari, die die Frachten für intergalaktische Transporte übernehmen. Rupert war der Manager dieser Gesellschaft, bis er mir den Job übertrug.“

Raynor drückte auf einen Knopf, und das Mädchen in der Halle meldete sich. „Violet, verbinden Sie mich mit

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drei!“ verlangte Raynor. „Vielleicht müssen Sie eine Ver-bindung mit der Multiphase herstellen.“

Er wandte sich wieder Bart zu und sagte: „Sie wollen si-cher eine Menge erfahren, junger Mann. Von mir aber nicht. Ich habe mit den Lhari zu verhandeln und kann mich nur um die Geschäfte kümmern. Je weniger ich mich in andere Dinge einmische, desto besser. Dann komm’ ich wenigstens nicht in die Lage, etwas auszuplaudern. Aller-dings habe ich Raynor III versprochen, denjenigen zu ihm zu schicken, der ihn sehen will und nach der achten Farbe fragt.“

Jetzt erst bot er Bart einen Sessel an. Er machte aber den Eindruck, als ob er glaube, schon zuviel gesagt zu haben und seine Worte zu bereuen.

Bart und Raynor I warteten schweigend, bis sie den Lift hörten. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und ein Mann betrat das Büro. Es mußte Raynor III sein; daran bestand für Bart kein Zweifel. Der Mann war hager und groß wie Raynor I, wirkte grimmig und asketisch. Er trug die Uni-form eines Raumfahrers: einen weißen Umhang, einen blauen, metallischen Anzug und silbrige Sandalen. Das Abzeichen eines Arztes hob sich vom Blau der Uniform ab. Raynor III war wie der andere Mann im Büro Mentorianer. Er hatte aber die Lizenz, in den Raumschiffen der Lhari zu arbeiten.

„Was ist los?“ fragte er. „Violet …“ Erst in diesem Au-genblick bemerkte er Bart und verstummte. Sein Ge-sichtsausdruck verriet sein starkes Erstaunen.

Barts Anblick wirkte auf ihn wie ein Schock. „Das muß Ruperts Sohn sein!“ rief er aus.

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Bart bemerkte den Unterschied zwischen den beiden Männern, die er für Brüder hielt. Raynor I war beherrscht und kalt, sein Bruder freundlich und aufgeschlossen. „Er ist sein Ebenbild“, sagte er anerkennend. „Wie ist er herge-kommen? Doch nicht mit seinen eigenen Papieren?“

„Er kam mit David Briscoes Dokumenten.“ „Der alte Knabe hat es also geschafft“, sagte Raynor III

bewundernd. „Die Gefahr ist aber noch nicht vorbei. Gib mir die Papiere, Bart!“

„Die Lhari haben sie mir abgenommen.“ Raynor I ging zum Fenster und sagte mit seiner be-

herrschten Stimme: „Er muß fort, bevor sie herkommen.“ Der junge Steele trat ans Fenster und blickte auf die

Straße hinunter. Unzählige Mentorianer und Lhari sperrten sie ab und blockierten die Hauseingänge. „Eigentlich ist es ein Wunder, daß ich so weit gekommen bin“, murmelte er.

Raynor III lächelte. „Wir sind Ihnen in mancher Bezie-hung überlegen“, sagte er zuversichtlich. „Die Lhari sind manchmal etwas umständlich. Das gab uns die Möglich-keit, sie hinters Licht zu führen. Sie hatten die Personenbe-schreibung deines Vaters, nicht aber seinen Namen. Bris-coe reiste mit den falschen Papieren und kam durch. Die Lhari erfuhren deinen Namen, aber du warst schon mit fal-schen Papieren unterwegs. Vielleicht haben sie dich nicht gleich verhaftet, weil sie dich für einen unschuldigen Strohmann hielten. Sie wußten ja vom Tode Davids. Deine Verhaftung auf der Erde hätte Kreise gezogen, und gerade das wollten sie vermeiden. Ist der alte Briscoe mit heiler Haut davongekommen?“

„Nein“, antwortete Bart rauh. „Er ist tot.“

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Raynor III machte ein trauriges Gesicht. „Zwei tapfere Männer“, sagte er leise. „Erst David und nun auch sein Vater. Behalte die Namen, Bart, denn ich werde sie bald vergessen.“

„Warum denn das?“ fragte Bart verwirrt. Raynor III lächelte rätselhaft. „Weil ich ein Mentorianer

bin, mein Junge. Ich kann froh sein, daß ich mich noch an Rupert Steele entsinne. Wärst du nur ein paar Tage später gekommen, hätte ich mich nicht mehr an deinen Namen erinnert, obwohl ich Rupert versprochen habe, hier auf dich zu warten.“

„Ihr müßt euch beeilen!“ sagte Raynor I warnend. Raynor III deutete auf den Umhang und sagte: „Zieh ihn

über, Bart, und die Kapuze über den Kopf. Wenn uns ein Lhari begegnet, grüßt du ihn höflich. Du kennst doch die Lhari-Sprache?“

Bart nickte. Er folgte Raynor III nach unten und dann auf die Straße.

Die vielen Sucher flößten ihm Angst ein, doch sein Führer gab sich sehr sicher und wirkte beruhigend auf ihn. „Der Angriff ist die beste Verteidigung“, flüsterte Raynor III grinsend. Dann hielt er einen Lhari an und fragte nach dem Grund der Aufregung.

„Ein Passagier ist aus dem Flughafen gelangt, ohne durch die Desinfektion zu gehen“, erklärte der Lhari. „Es besteht die Gefahr, daß er eine Seuche einschleppt.“

Als Bart und Raynor III weitergingen, murmelte der Mentorianer: „Nicht dumm! Jetzt werden alle nach einem Fremden Ausschau halten. Wir müssen einen sicheren Ort aufsuchen. Mein Landhaus ist nicht weit entfernt. Mit ei-nem Hubschrauber können wir es schnell erreichen.“

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Bart folgte Raynor III zu einem Hubschrauber und klet-terte hinter ihm in die Kabine. „Bringen Sie mich zu mei-nem Vater?“ fragte er.

Raynor III startete die Maschine und zog sie steil hoch. „Abwarten, mein Junge“, sagte er grinsend. „Lehn dich zurück und genieße den Flug.“

Steele gehorchte. Ihm war aber nicht wohl zumute. Wo war sein Vater? Wenn er von den Lhari gehetzt wurde, konnte er sich auch am anderen Ende der Galaxis aufhal-ten. Bart tröstete sich aber mit dem Gedanken, daß sein Vater kein Lhari-Schiff betreten durfte. Wahrscheinlich befand er sich noch im Procyon-System.

Sie flogen über Hügel, Felder und Wälder hinweg. Städte glitten vorbei und verschwanden im Dunst. Dann flog der Hubschrauber lange Zeit über eine Wasserfläche. Der Men-torianer verhielt sich schweigend, und Bart respektierte dieses Schweigen, das ja einen bestimmten Grund haben mußte. Obwohl die Maschine eine automatische Steueran-lage hatte, flog der Mentorianer mit Handsteuerung.

Endlich tauchte wieder ein Landstreifen auf. Der Mento-rianer flog einen Hügel an und steuerte dann auf ein rosa-farbenes, domartiges Gebäude zu. Die Maschine landete auf einer Plattform, die sich danach wie eine Muschel schloß. Raynor III und Bart stiegen aus.

Bart wurde von seinem Begleiter in einen großen Auf-enthaltsraum gebeten, der seit langem nicht mehr benutzt worden war. Auf allem lag eine Staubschicht. Raynor III drückte auf einen Knopf, worauf melodische Musik durch den Raum flutete. Die dicken Teppiche dämpften die Schritte.

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Raynor III bot Bart einen Sessel an und ging unruhig auf und ab. „Hier wirst du vorläufig sicher sein“, erklärte er freundlich.

Steele lehnte sich zurück. Seine innere Unruhe wurde aber noch stärker. Er spürte instinktiv, daß Raynor III ihm etwas Wichtiges zu sagen hatte. „Wo ist mein Vater?“ frag-te er. „Ich will es endlich wissen.“

Der andere nickte beklommen. Dann wandte er sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. „Ich kann es dir nicht länger verheimlichen“, murmelte er und stammelte vor Er-regung. „Dein Vater ist tot, Bart! Ich – ich habe ihn – getö-tet.“

Bart wollte es nicht glauben. Er saß wie gelähmt da und starrte den Mentorianer an. War das ein Betrug, ein Verrat? Er sprang auf und sah sich um.

Er hatte den Eindruck, in einer gläsernen Falle zu ho-cken.

„Mörder!“ schrie er, halb wahnsinnig vor Schmerz, und stürzte sich auf Raynor III. Er riß seine Fäuste hoch und wollte den Mentorianer niederschlagen. Die aufgestaute Erregung machte sich nun Luft. Bart wollte sich jetzt von der drückenden Last befreien und dem Mentorianer alles heimzahlen, was er in den letzten Wochen erlebt hatte.

„Elender Mörder!“ brüllte er noch einmal und stürzte sich auf den Gegner, der keine Anstalten machte, sich zu verteidigen.

„Setz dich wieder und hör mir zu!“ bat Raynor III. „Ich bin kein Mörder. Ich habe mich nur falsch ausgedrückt, Bart.“

Steele ließ die Hände sinken. „Jetzt wollen Sie mir si-

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cher sagen, daß mein Vater ein Verräter war, daß Sie ihn umbringen mußten?“

„Nein, Bart“, antwortete Raynor III traurig. „Ich habe al-les Menschenmögliche unternommen, um deinen Vater zu retten. Trotzdem fühle ich mich schuldig. Ich werde mir dieses Versagen nie vergeben können.“

Bart starrte mit tränenden Augen auf den verzweifelten Mentorianer. „Ich habe es geahnt“, sagte er schluchzend. „Ich wollte es nicht glauben, aber ich wußte es von Anfang an.“

„Ich schätzte und bewunderte deinen Vater“, erklärte Raynor III. „Er riskierte zuviel und kam dabei ums Leben. Ich hätte ihn aufhalten können, aber dazu hatte ich kein Recht.“

Raynor III verstummte plötzlich. Bart bemerkte es nicht, denn sein Schmerz war zu groß. Er wandte sich ab und stürmte durch das Zimmer. Er war am Ende seiner Kraft. Jahrelang hatte er an seinen Vater gedacht und sich auf das Wiedersehen gefreut. Nun würde er ihn nie mehr sehen. Das war ein Schlag, den er nicht so schnell verwinden konnte. Bart bemerkte nicht, daß Raynor III den Raum ver-ließ. Er warf sich in einen Sessel und weinte hemmungslos.

Aber auch das ging vorüber. Nach zehn Minuten wischte er sich die Tränen vom Gesicht und richtete sich auf.

Seine Züge waren plötzlich härter geworden. Die Reali-täten waren bedenklich. Nach dem Fluchtabenteuer war er auf einem fremden Planeten gelandet, nur, um zu erfahren, daß sein Vater nicht mehr lebte. Er war in Gefahr, das spürte er genau, und er sah plötzlich älter und männlicher aus.

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Raynor III kam wieder herein. „Du mußt etwas essen, Bart“, sagte er sanft.

Steele schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Hunger“, antwortete er dumpf.

„Ich aber“, entgegnete Raynor III. „Und auch du solltest unbedingt etwas essen, Bart.“ Raynor III drückte auf ver-schiedene Knöpfe, worauf ein Tisch und zwei Sitzbänke aus einer Wand kamen. Danach öffnete er einige sich selbst erhitzende Büchsen und schüttete den Inhalt auf die Teller. „Die Büchsen kommen per Rohrpost“, erklärte er. „Das ist sehr bequem.“

Bart wollte nichts essen, aber der Geruch der Speisen war zu verlockend, und er aß schließlich doch eine große Portion. Nach dem Essen warf Raynor III die Teller und leeren Büchsen in einen Abfallschlucker und goß zwei Drinks ein.

„Trink das, Bart“, sagte er freundlich. Steele lehnte ab. „Ich trinke nicht“, sagte er rauh. „Betrachte das Zeug als Medizin. Du mußt dich auf al-

lerhand vorbereiten, mein Junge. Ich habe dir viel zu erzäh-len. Wenn du willst, kann ich dir auch eine Beruhigungs-spritze geben. Ich bin Arzt.“

Bart Steele schluckte das Getränk schnell hinunter. Es brannte wie Feuer, aber es beruhigte ihn schlagartig. „Vie-len Dank!“ murmelte er. „Warum machen Sie sich die Mü-he?“

„Du hast anscheinend keine Ahnung, was los ist“, ant-wortete Raynor III. „Deine Mutter hat sicher nie über ihre Familie gesprochen. Sie war eine Mentorianerin.“ Raynor III lächelte aufmunternd. „Ich maße mir deshalb keine

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Rechte an, Bart. Du sollst selber entscheiden, ob du mir vertrauen willst.“

Raynor III setzte sich in einen Sessel. „Es ist eine sehr lange Geschichte, Bart. Ich kenne nur einen Teil davon, aber selbst das ist genug. Unsere Familie hat seit Generati-onen engen Kontakt zu den Lhari. Ich wurde Arzt und flie-ge in den Lhari-Schiffen durch das All. Viele Menschen bezeichnen uns als die Sklaven der Lhari. Das ist aber nur teilweise richtig. Ich wurde Raumfahrer, weil ich diesen Beruf liebe. Für mich gibt es nichts anderes, und ich bin bereit, jeden Preis dafür zu zahlen. So war es wenigstens bis vor einigen Jahren. Ich habe nie gefragt, ob ich auch das Richtige tat, bis ich deinen Vater traf. Er ließ mich er-kennen, daß wir Mentorianer immer blind und eigennützig waren. Die Raumfahrt muß allen möglich, sie darf nicht das Privileg einer Gruppe sein. Ich gelangte mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß das Monopol der Lhari ein großes Unrecht ist. Meine Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun, waren aber sehr begrenzt. Die Lhari sind ja in der Lage, jeden von uns vor Antritt einer Reise einer Gehirnwäsche zu unterziehen.

Wir fanden aber einen Ausweg. Durch Selbsthypnose und Selbstsuggestion gelang es mir, alle Erinnerungen ein-zuschläfern. Die Lhari erfuhren von mir nur das, was sie erfahren sollten. Dieses Verfahren bedeutete aber auch, daß ich mich während der Reisen nicht an die vorangegangenen Ereignisse erinnern konnte. Wir bauten eine lose Organisa-tion auf, fügten alle erreichbaren Informationen zusammen. Der Durchbruch gelang uns aber erst mit Hilfe eines jun-gen Mannes, nämlich David Briscoe. Er war Astrogator

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und mit der Erprobung neuer Schiffstypen beauftragt. Bei seinen Forschungen stieß er auf Unterlagen aus den Jahren der ersten Kontakte zwischen uns und den Lhari. Dabei gewann er wichtige Erkenntnisse, die er uns unbedingt vermitteln wollte. Er warf alle seine Papiere weg und ver-steckte sich in einem Lhari-Schiff. Im Falle seines Todes sollten sie ihn nicht identifizieren können.“

Bart sah erstaunt auf. „Er ist natürlich umgekommen. Eine Raumreise in einem Schiff mit Warp-Antrieb konnte er nicht lebend überstehen.“

„Doch!“ Raynor III war sehr ernst geworden. „Obwohl er keine Spezialbehandlung erfuhr, überlebte er den Flug. Das war der Beweis für die Falschheit der Lhari, Bart. Sie belügen uns! Sie behaupten, wir könnten den Warp-Antrieb nur im Zustand des Kalt-Schlafs ertragen. Das ist aber eine Lüge, mit der sie uns an der Nase herumführen. Diese Lüge dient ihnen als Entschuldigung, Bart. Sie wollten uns nicht mit ihren Geheimnissen vertraut machen. Und diesen Schwindel betreiben sie schon seit langen Jahren.“

„Aber wie ging es weiter?“ fragte Bart erregt. „David Briscoe wurde von einem Mentorianer entdeckt.

Der Mann verriet ihn aber nicht und schmuggelte ihn aus dem Schiff. Der Mentorianer wurde vor dem nächsten Start der üblichen Gehirnwäsche unterzogen, und dabei erfuhren die Lhari alles. Sie quetschten den Armen aus, bis sie eine Personenbeschreibung hatten, Davids Namen allerdings konnte ihnen der Mentorianer nicht sagen, da er ihn selbst nicht kannte. Und dann begann das Morden. Zuerst kam David an die Reihe, dann zwei weitere Männer und etwas später dein Vater.“

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„Diese elenden Mörder!“ stöhnte Bart. Raynor III seufzte und fuhr dann fort: „Briscoes Vater

und dein Vater waren alte Freunde. Briscoe litt an einer unheilbaren Herzkrankheit. Er erfuhr vom Tod seines Soh-nes und wollte dafür sorgen, daß David nicht vergeblich gestorben war. Er nahm die Papiere deines Vaters, flog zur Erde, täuschte die Lhari und erfüllte seine Mission. Ist er an seiner Krankheit gestorben oder von den Lhari getötet worden?“

Bart erzählte es. „Wie ist mein Vater gestorben?“ fragte er danach.

„Dein Vater kam zu mir, weil er wiederholen wollte, was David Briscoe gelungen war. Er hatte sich einen ver-wegenen Plan ausgedacht, der ihm ein Davonkommen mit heiler Haut ermöglichen sollte: Er war entschlossen, bei den Lhari anzuheuern.“

„Als Mentorianer natürlich“, sagte Bart. „Aber wie hätte er der Gehirnwäsche entgehen können?“

„Nicht als Mentorianer“, widersprach Raynor III. „Er wollte die Kontrollen und Untersuchungen umgehen und als Lhari anheuern.“

Bart blieb die Luft weg. „Wie?“ fragte er schließlich. „Die Unterschiede sind nicht allzu groß“, antwortete

Raynor III. „Die Farbe der Haut, die Ohren und die Hände lassen sich von einem geschickten Chirurgen leicht verän-dern.“

„Die Lhari sind allesamt Teufel!“ knurrte Bart. „Sie sind mörderische Bestien, weiter nichts!“

Raynor III schüttelte ernst den Kopf. „Sie sind keine Teufel, Bart“, sagte er entschieden. „Sie sind Humanoiden

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und wahrscheinlich menschenähnlicher als wir Mentoria-ner. Dein Vater bestimmte mich dazu, die notwendigen Operationen an ihm vorzunehmen.“

„Und dabei brachten Sie ihn um?“ „Das läßt sich nicht so einfach beantworten“, murmelte

Raynor III schuldbewußt. „Ein Blutgerinnsel löste sich und gelangte ins Gehirn. Er starb sehr schnell. Es hätte ihm schon früher passieren können, Bart. Ich fühle mich schul-dig, obwohl ich es nicht bin. Ich will alles tun, um dir zu helfen. Die Lhari überwachen mich nicht allzu streng. Sie nehmen an, daß die Gehirnwäsche genügt. Ich bin ihnen aber einen Schritt voraus und kann meine Erinnerungen vor der Untersuchung löschen.“

Bart nahm alles in sich auf. „Warum hat er das nur ge-tan?“ fragte er schließlich. „Was erhoffte er sich davon?“

„Das ist schnell erklärt, Bart. Unsere Raumschiffe sind so gut wie die der Lhari. Uns fehlt lediglich der geheimnis-volle Treibstoffkatalysator, der den Lhari den Hyperantrieb ermöglicht. Dein Vater wollte herausfinden, wo die Lhari diesen seltenen Katalysator finden.“

„Wäre es nicht einfacher gewesen, ein Lhari-Schiff zu verfolgen? Irgendwo müssen sie den Treibstoff ja aufneh-men.“

„Wir können die Schiffe nur innerhalb der Systeme ver-folgen“, antwortete Raynor III. „Außerhalb der Systeme verschwinden sie urplötzlich aus unserem Gesichtskreis. Wir haben alle erreichbaren Informationen gesammelt und dabei festgestellt, daß alle Lhari-Schiffe in regelmäßigen Abständen einen Abstecher in Richtung Antares machen. Ein Lhari-Schiff, die .Swifting’, wird in zehn Tagen hier

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eintreffen und danach den geheimnisvollen Flug in Rich-tung Antares antreten. Dein Vater hat es irgendwie ge-schafft, eine Stelle in diesem Schiff freizumachen. Er hatte auch alle erforderlichen Papiere beisammen. Unser Spio-nagesystem funktioniert übrigens sehr gut. Die Schwierig-keit besteht aber darin, daß unsere Kuriere die Schiffe der Lhari benutzen müssen.“

Raynor III stand auf und lief unruhig hin und her. „Der Fall ist jedenfalls erledigt“, sagte er traurig. „Dein Vater ist tot, Bart. Was willst du tun? Zum Wega-System reisen? Vielleicht können wir die Lhari von deiner Unschuld über-zeugen. Sie sind nicht ungerecht oder schlecht, Bart. Sie sehen es nur als ihr Recht an, ihr Monopol zu schützen. Es gibt eine sehr sichere Methode. Ich nehme dir alle Erinne-rungen an unser Gespräch und spiele dich den Lhari in die Hände. Sie werden dich prüfen und dabei feststellen, daß du unschuldig bist. Danach werden sie dich nach Hause schicken und dir die Übernahme der Geschäfte deines Va-ters erlauben.“

Bart sprang wütend auf. „Nein, das kommt nicht in Fra-ge!“ rief er. „Ich weiß etwas Besseres. Ich werde anstelle meines Vaters mit der ,Swifting’ fliegen.“

„Bart, du bist noch ein Junge“, antwortete Raynor III mahnend.

„Und was war David Briscoe? Nein, Raynor, so einfach ist das nicht. Mein Vater hat mir mehr hinterlassen als eine interplanetarische Fluggesellschaft. Ich werde beenden, was er begonnen hat. Nur so verdiene ich mein Erbe wirk-lich.“

Raynor III griff bewegt nach Steeles rechter Hand. „Du

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bist wie dein Vater, Bart“, sagte er bewundernd. „Ich habe wohl kein Recht, dich zurückzuhalten. Du sollst deinen Willen haben.“

3. Kapitel

„Heute kannst du dich endlich im Spiegel bewundern, Bart“, sagte Raynor III lächelnd.

Steele wollte ebenfalls lächeln, doch die Bandagen hin-derten ihn daran. Sein Gesicht und seine Hände waren dick vermummt. Nach den Operationen hatte er keine Schmer-zen gespürt. Raynor III hatte ihn mit Drogen ständig in ei-ner stabilen und zufriedenen Stimmung gehalten. Die Farbe der Haut war durch einfache Injektionen verändert worden, doch die Veränderungen des Gesichts, der Ohren und der Hände hatten sehr schwierige Operationen erforderlich gemacht.

Bart mußte aufstehen und ein paar Schritte gehen. „Hast du Schmerzen?“ fragte Raynor III.“ „Nein. Aber ich kann nicht richtig laufen.“ „Das war zu erwarten. Ich mußte einige Sehnen verkür-

zen und Muskeln verändern. Bis sie sich den veränderten Anforderungen angepaßt haben, wirst du hinken müssen. Kannst du mich hören?“

„Genau wie vorher. Ohne die dicken Bandagen wird es noch besser sein.“

„Natürlich! Wie steht es mit der Atmung?“ „Ich habe keine Mühe.“ „Großartig, Bart. Ich mußte deine Nasenlöcher verän-

dern. Zum Glück sind dadurch keine Behinderungen ent-

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standen. Ich werde jetzt die Bandagen abnehmen. Du mußt dich wieder hinsetzen.“

Steele setzte sich und streckte die Hände vor. „Schließ die Augen!“ sagte Raynor III.

Bart gehorchte. Er spürte, wie die Bandagen von seinen Händen abgewickelt wurden. Danach mußte er jeden Fin-ger einzeln bewegen, bis Raynor III zufrieden war und ihn aufforderte, die Augen zu öffnen.

Der junge Steele hob die Lider. Er war gewarnt worden, aber der Schock war trotzdem tiefgreifend. Er sah Hände, die nicht seine Hände waren und doch seinen Befehlen ge-horchten. Er erblickte schmalgliedrige perlgraue Finger mit scharfen Krallen. Er machte einen Versuch und stellte fest, daß er sie wie die Krallen einer Katze einziehen und aus-strecken konnte.

„Mein Gott!“ murmelte er betroffen. „Eine gute Arbeit“, sagte Raynor III zufrieden. „In der

ersten Zeit mußt du vorsichtig sein.“ Bart starrte auf seine plötzlich zitternden Hände. „Wie

haben Sie das erreicht?“ fragte er fassungslos. „Das war kein Problem“, erklärte Raynor III. „Ich habe

einfach ein Wachstumshormon in die Fingerkuppen ge-spritzt und die schnell wachsenden Nägel geformt. Es war viel schwieriger, die Nägel mit den entsprechenden Mus-keln zu verbinden.“

Steel überwand den ersten Schreck und stellte fest, daß er seine Hände recht gut gebrauchen konnte. Die Krallen störten erst ein wenig, doch mit etwas Übung ließ sich das überwinden. Bart nahm einen Schreibstift und schrieb Lhari-Worte auf.

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Raynor III gab ihm einen Plastikumschlag mit Lhari-Papieren. Es waren Papiere für den Astrogator erster Klas-se Bartol. „Das ist jetzt dein Name“, sagte Raynor III. „Du mußt dich an ihn erinnern und alle in den Papieren stehen-den Einzelheiten studieren. Über die Stellung brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Es ist der Posten eines Anfän-gers. Wir haben auch ein Trainingsband für dich. Ich habe keine Ahnung, wie mein Bruder dazu gekommen ist, und will ihn auch nicht fragen.“

„Wann werde ich mein Gesicht sehen?“ fragte Bart. „Noch nicht“, antwortete Raynor III. „Der Schock würde

dich umwerfen. Schon der Anblick deiner Hände hat dich sehr erschüttert.“

Bart mußte noch viele Gehübungen machen und sich an den Gebrauch der veränderten Hände gewöhnen, ehe ihm die Bandagen vom Gesicht genommen wurden. Raynor III hatte einen Handspiegel mitgebracht, den er Steele in die Hand drückte.

Bart empfand keinen Schock, sondern Ekel vor sich sel-ber. Seine Haare waren gebleicht und zu fedrigen Gebilden aufgespalten worden. Augen, Ohren, Haut – alles war ver-ändert, sogar die Zunge fühlte sich merkwürdig spitz und dünn an.

„Ich habe deine Zähne so wenig wie möglich verändert“, erklärte Raynor III. „Die Vorderzähne habe ich mit kleinen Kronen versehen. Hoffentlich bekommst du keine Zahn-schmerzen. Wenn dieser Fall eintritt, darfst du auf keinen Fall zu einem Lhari-Zahnarzt gehen. Ich hätte noch mehr tun können, aber das hätte die Rückverwandlung er-schwert. Ich nehme an, du willst nach diesem Abenteuer

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wieder wie ein normaler Mensch aussehen. Wenn du es überlebst“, fügte er grimmig hinzu.

„Daran habe ich noch nicht gedacht“, murmelte Bart entsetzt. „Wenn Sie es aus irgendeinem Grunde nicht mehr können, wer soll es dann tun?“

Raynor III lächelte verständnisvoll. „Wir sind eine große Organisation. Ich kann dir leider nicht alles sagen. Es ist sicherer.“ Dann betastete er Steeles Hände. „Deine Hände werden immer etwas merkwürdig aussehen, Bart. Ich mußte die Finger verlängern und bin froh, daß es so gut geklappt hat. Die Lhari werden dich nur mit einem Röntgenbild ent-larven können. Du mußt vorsichtig sein und dir keine Kno-chen brechen.“

Er griff nach einem kleinen Päckchen und übergab es Bart. „Das ist ein Ausbildungsband. Hör es dir so oft wie möglich an und vernichte es kurz vor dem Start! Die ‚Swif-ting’ wird in drei Tagen landen und eine Woche später wieder starten. Ich weiß noch nicht, wie wir es bewerkstel-ligen, aber wir werden für eine freie Stelle sorgen. Jetzt muß ich zurück und meine Erinnerungen auslöschen, Bart. Das ist keine leichte Arbeit.“

Raynor III verabschiedete sich von Bart und sagte noch warnend: „Wenn du mich siehst, darfst du mich nicht an-sprechen! Ich werde dich nicht von den echten Lhari unter-scheiden können. Von jetzt an bist du allein.“ Er gab Bart die Hand. „Ich bin ein Rädchen in einer großen Organisati-on, Bart. Ich habe keine Ahnung, was ich schon getan habe und wie alles ausgehen wird. Es ist ein merkwürdiges Ge-fühl, vor dir zu stehen und genau zu wissen, daß ich mich nicht an dich erinnern werde.“ Raynor III wandte sich

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schnell ab. „Viel Glück, Junge!“ sagte er ergriffen. Im nächsten Augenblick schrie er leise auf. „Vorsichtig mit den Krallen, Bart. Die Lhari geben sich nicht die Hände.“

Bart sah Raynor III nach. Das Gefühl des Alleinseins senkte sich schwer auf ihn herab. Jetzt konnte er sich nur noch auf sich selber verlassen.

*

Bart Steele mußte sechs lange Tage warten. Er spielte das Band immer wieder ab, bis er es fast auswendig kannte. Da er eine gründliche Ausbildung hatte, begriff er den Text schnell. Er beschäftigte sich auch sehr lange mit seinen Pa-pieren und lernte jede Einzelheit auswendig. Er war nun der Astrogator Erster Klasse Bartol. War dieser Name nun eine Erfindung, oder gab es diesen Lhari wirklich?

In der letzten Nacht schlief Bart nicht gut. Nach dem Aufstehen aß er schnell und beseitigte alle Spuren seines Aufenthalts. Er verbrannte das kostbare Trainingsband und warf die Asche in den Abfallschlucker. Danach zog er sich die Kleidung an, die Raynor III für ihn besorgt hatte. An den Gebrauch seiner Hände hatte er sich schon gewöhnt und konnte sogar flüssig schreiben.

Nach Anbruch der Dunkelheit verließ er das Haus und schlich zum Rand einer nahe gelegenen Kleinstadt, wo er sich unauffällig unter die Menge mischte. Er winkte einen Hubschrauber heran und stieg ein. Der Pilot war erstaunt, denn die Lhari verließen ihre Flughäfen nur sehr selten.

„Haben Sie sich den Planeten angesehen?’’ fragte er freundlich.

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„Ja.“ Bart erinnerte sich an die Warnung, immer natür-lich zu sprechen. Er sollte nicht versuchen, die scharfen Zischlaute zu imitieren, denn die Lhari sprachen verschie-dene Akzente. Es war einfach nicht notwendig, sich durch riskante Versuche in Gefahr zu bringen.

Nach der Landung des Hubschraubers am Rande des Flugfeldes stellte Bart fest, daß ihm die Menschen auswi-chen, wenn er nahte. In einem großen Spiegel konnte er sich zum erstenmal in voller Größte sehen. Eine Art Heimweh setzte mit überraschender Intensität ein. Jetzt spürte er auch starken Hunger. Fast wäre er in das gewöhn-liche Restaurant gegangen. Bestimmte Gebäude am Rande des Flughafens waren nur für Lhari und Mentorianer be-stimmt: Hotels und Restaurants. Da jeden Tag viele Raum-schiffe landeten, würde ein fremdes Gesicht kaum auffal-len.

Bart öffnete eine Tür, die mit einem großen Warnzei-chen versehen war. Er ging durch einen langen Korridor und erreichte Warenlager und Geschäfte. Das Licht war gleißend hell, doch Bart machte sich keine Sorgen. Raynor III hatte seine Augen geprüft und ihre Unempfindlichkeit festgestellt, Bart konnte das grelle Licht ertragen, litt aber bald an Kopfschmerzen. Raynor III hatte ihm indessen ver-sichert, daß diese Kopfschmerzen nach einer kurzen Ge-wöhnungsperiode nicht mehr auftreten würden.

Vor einem Restaurant mit pompösen Reklamezeichen blieb Steele zögernd stehen und las die Anpreisungen. Plötzlich hörte er hinter sich eine Stimme. „Ist das nun wahr oder nur ein Trick, um einem Raumfahrer das Geld aus der Tasche zu ziehen?“ fragte ein Lhari.

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Bart drehte sich gelassen um. „Das frag’ ich mich auch“, sagte er so ruhig wie möglich. Jetzt mußte es sich zeigen, ob seine Maske gut war. Bart erblickte einen jungen Lhari mit einem noch blütenweißen Kamm und der schmucklosen Kleidung eines ranglosen Raumfahrers. Der junge Lhari streckte die Faust vor.

Bart wußte, daß dies der Gruß der Lhari war und streckte ebenfalls die Faust vor.

„Riskieren wir’s?“ fragte der Lhari. „Ich bin Ringg, Sohn des Rahan.“

„Bartol, Sohn des Berihum“, entgegnete Bart. „Ich habe dich noch nie gesehen, Bartol.“ „Ich bin fast immer die Polaris-Strecke geflogen“, ant-

wortete Bart. „So weit weg!“ Ringg war stark beeindruckt. „Du bist

weit herumgekommen“, sagte er bewundernd. „Setzen wir uns.“

Sie nahmen auf dreieckigen Stühlen an einem dreieckigen Tisch Platz. Bart ließ erst Ringg bestellen und verlangte dann das gleiche Essen. Es war eine aus Eiern und Fischen bestehende, sehr wohlschmeckende Mahlzeit. Die Tischsit-ten der Lhari unterschieden sich nicht wesentlich von denen der Menschen, so daß Bart keine Schwierigkeiten hatte.

„Bist du schon lange hier?“ fragte er beiläufig. „Erst einen Tag“, antwortete Ringg. „Ich bin von der

,Swifting’.“ Bart vertraute auf sein Glück und stieß sofort nach. „Ich

habe gehört, daß ihr einen Astrogator braucht.“ Ringg warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. „Das

stimmt“, sagte er zögernd. „Aber woher weißt du das? Wir

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haben alle strengste Schweigepflicht. Der Kapitän will Jeden, der darüber redet, für drei Zyklen nach Kleeto schicken. Warum fragst du? Hast du dein Schiff verpaßt?“

„Nein. Ich war eine Weile unterwegs, um mir den Plane-ten anzusehen“, antwortete Bart. „Ich habe das Herumtrei-ben satt und möchte jetzt wieder anheuern.“

„Wir brauchen einen neuen Mann“, sagte Ringg nach-denklich. „Wir machen die lange Reise zum Antares-System und von dort aus nach Hause. Wenn jeder Extra-schichten einlegen muß, ist das kein Vergnügen. Was ma-chen wir nur? Wenn Kapitän Vorongil erfährt, daß die De-sertation unseres Klanerol bekannt ist, wird er in die Luft gehen.“

Bart entspannte sich allmählich. Ringg schien ihn ohne weiteres als seinesgleichen zu ak-

zeptieren. Aus der Nähe gesehen, war Ringg kein Monster, sondern ein gutmütiger, harmloser Bursche wie Tommy.

„Ob es Zweck hat, mit deinem Kapitän zu sprechen?“ fragte er.

„Ich werde dich als einen alten Freund von mir vorstel-len“, sagte Ringg. „Ich habe keine Ahnung, wie der alte Vorongil darauf reagieren wird. Wir müssen es eben pro-bieren. Aber woher weißt du eigentlich, daß wir einen Mann brauchen?“

Das war eine schwere Hürde, die Bart überspringen mußte. Er suchte verzweifelt nach einer Ausrede. Bevor er noch eine plausible Erklärung gefunden hatte, sagte Ringg:

„Wahrscheinlich hat doch einer den Mund nicht halten können, und ein Mentorianer hat es aufgeschnappt. Hast du deine Papiere bei dir?“

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„Natürlich! Ich bin Astrogator Erster Klasse.“ „Klanerol war Zweiter Klasse. Aber das macht nichts.

Gehen wir, Bartol!“ Ringg führte Bart durch die nur für Raumfahrer be-

stimmten Gänge und dann an den riesigen Raumschiffen vorbei zur „Swifting“. Niemand hielt die beiden auf.

„Das ist der alte Kasten“, sagte Ringg schließlich und deutete nach oben.

Bart war immer nur in nagelneuen Passagierschiffen der Lhari geflogen. Die „Swifting“ hatte eine ovale Form, die Außenhaut war nicht überall glatt, und die riesigen Leit-flossen wiesen starke Verfärbungen auf. Er folgte Ringg über die Rampe nach oben. Jetzt konnte er nicht mehr zu-rück. Wenn alles klappte, würde er bald zur Mannschaft der „Swifting“ gehören, nicht als beargwöhnter Mentorianer, sondern als vollberechtigtes Mitglied der Lhari-Mannschaft.

In der Luftschleuse wurden sie von einem Offizier kon-trolliert. Ringg zeigte seinen Ausweis und stellte Bart vor. „Das ist ein alter Freund von mir“, erklärte er. „Ist der Alte an Bord?“

„Wo sollte er sonst sein, solange die Ladung noch nicht an Bord ist?“ antwortete der Offizier grinsend. „Der Alte gönnt sich doch keine Ruhe.“

Alles lief glatt ab. Die Lhari schöpften keinen Verdacht und sahen Bart als ihresgleichen an. Trotzdem fürchtete sich Steele vor der Begegnung mit dem Kapitän.

Die Gänge und Räume des großen Schiffes waren weit-räumiger als die der Passagierschiffe, aber nicht so sauber. Männer mit dunklen Schutzbrillen waren mit dem Beladen des Raumers beschäftigt und eilten hastig durch die Gänge.

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„Welchen Posten nimmst du hier ein?“ fragte Bart sei-nen neuen Freund.

„Nach dem Logbuch bin ich ein Experte Zweiter Klasse für Metallprüfung. Der Titel kling interessant, doch die Ar-beit ist stinklangweilig. Ich muß den Schiffskörper Zenti-meter für Zentimeter absuchen und Materialermüdungen ausfindig machen. Wenn ich damit fertig bin, fängt die Ge-schichte wieder von vorn an.“

Beide stiegen in einen kleinen Lift, der sie rumpelnd nach oben beförderte. „Seit sechs Monaten verlange ich ein neues Seil für diesen Lift“, knurrte Ringg. „Ich bekomme es aber nicht bewilligt. Übrigens darfst du dich nicht vom Alten erschrecken lassen. Er liebt den Klang seiner eigenen Stimme, ist im Grunde aber ein gutmütiger Bursche. Wenn er es verlangte, würden wir alle ohne Raumanzüge durch das Schott ins All springen.“

Die kleine Kabine hielt an. „Administrationsdeck“, las Bart auf dem Schild neben dem Knopf der Aufzugsmecha-nik. Ringg führte ihn durch den Gang und öffnete eine Tür.

„Was machen Sie denn hier?“ fragte ein Lhari mit au-ßergewöhnlich tiefer Stimme. „Sie haben doch Urlaub.“

Ringg betrat die Kabine und zog Bart mit sich. Steele erblickte eine ovale, von der Decke herabhängende Koje und einen dreieckigen Tisch. Der Kapitän war außerordent-lich groß und schwer. Er trug einen Umhang mit drei schwarzen Bändern, die seinen hohen Rang bezeichneten. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, und der Kamm war nicht mehr hoch und federig, sondern kurz und grau.

„Kommen Sie näher!“ grollte der Kapitän mit seiner tie-

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fen, getragenen Stimme. „Ringg hat Ihnen wohl schon ge-sagt, was ich für ein Tyrann bin? Was wollen Sie, Sie Fe-derkopf?“

Bart wußte, daß das die Bezeichnung für die jungen Lhari war. Er holte schnell seine Papiere hervor und sagte mit plötzlich schrill klingender Stimme: „Bartol, Sohn des Be-rihum, grüßt Sie respektvoll, Rieko Mori! Ringg sagte mir, daß Sie einen Astrogator brauchen.“

Vorongil lachte ärgerlich auf. „Sie haben also Ihren Mund nicht halten können, Ringg?“

„Ich hielt es für richtig“, entgegnete Ringg. „Es ist doch besser, einen neuen Mann anzuheuern, als den Deserteur zu suchen oder die lange Fahrt ohne einen Astrogator zu ma-chen.“

Vorongil erkannte dieses Motiv an und musterte Bart, dem dabei nicht wohl zumute war. „Einer meiner Männer ist verschwunden“, sagte er brummig. „Ich kann mir nicht erklären, wie das geschehen konnte. Vielleicht will er sich nur die Gegend ansehen. Vielleicht ist ihm aber ein Unfall zugestoßen.“ Der Kapitän machte einen sehr sorgenvollen Eindruck. „Möglicherweise ist er sogar entführt worden“, fügte er seufzend hinzu.

„Das würde niemand wagen!“ rief Ringg überzeugt aus. Bart wußte genau, daß der vermißte Astrogator tatsäch-

lich entführt worden war. Vielleicht war der Lhari sogar umgebracht worden.

Der Kapitän sah Steeles Papiere durch und nickte. „Pola-ris-Linie“, sagte er nachdenklich. „Sie sind weit vom Weg abgekommen, Bartol. Ich war noch nie dort draußen. Also gut, Sie können bleiben und die System-Programmierung

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übernehmen. Das ist die Arbeit eines Astrogators Zweiter Klasse.“

Der Kapitän holte ein Wachsblatt aus einer Schublade und drückte mit seinen Klauen verschiedene Buchstaben in das weiche Material. Bartol zögerte. Vorongil bemerkte es und sagte ungeduldig:

„Das ist ein Standardvertrag ohne Sonderklauseln. Drü-cken Sie das Zeichen ein, Federkopf!“

Bart wußte, daß sein Abdruck eine Art Fingerabdruck darstellte. Er drückte die Nägel seiner rechten Hand auf das Blatt und trat wieder zurück. Der Kapitän legte das Blatt in eine Ablage.

Die beiden jungen Leute verließen die Kabine und at-meten auf. Ringg lachte erleichtert und sagte: „Der Alte war zufälligerweise guter Laune. Das muß gefeiert wer-den.“

„Ich möchte gleich an Bord bleiben“, antwortete Bart. „Wie du willst. Ich gehe jedenfalls noch einmal weg.

Wir sehen uns später, Bartol.“ Ringg hob zum Gruß die Faust und ging durch den Gang davon.

Steele blieb noch eine Weile stehen. Er war jetzt auf sich selbst angewiesen und mußte sehr vorsichtig sein. Er hatte den ersten Schritt geschafft, wußte jedoch, daß noch viele Hürden zu nehmen waren.

Ein außergewöhnlich kleiner Lhari ging in die Kabine des Kapitäns und kam nach kurzer Zeit wieder heraus. „Sind Sie der neue Astrogator?“ fragte er Bart. „Ich bin der Koordinator. Mein Name ist Rugel.“

Eine dunkle Narbe lief quer über Rugels Gesicht. Er trug nur zwei schwarze Bänder, obwohl er schon sehr alt war.

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Sein Kamm war fast nicht mehr zu sehen, und beim Gehen wurde dem alten Lhari die Luft knapp.

„Ich werde Sie einweisen“, erklärte er. „Sie werden mit Ringg in einer Kabine schlafen. Wollen Sie erst Ihre Sa-chen in die Kabine bringen oder gleich in den Kartenraum gehen?“

„Ich besitze nicht viel“, antwortete Bart. Rugel nickte verständnisvoll. „So ist es richtig, Feder-

kopf. Wenn man jung ist und sich die Welt ansieht, braucht man nicht viel Gepäck.“

Der Lhari führte Bart durch den Maschinenraum. Steele staunte so sehr, daß er sich beinahe verriet. Der große Computer beeindruckte ihn weniger, denn damit kannte er sich aus.

Trotzdem wurde ihm ein wenig unbehaglich zumute, als er die vielen Schalter und Hebel betrachtete. Die Berech-nung von Tausenden von Himmelskörpern, die alle in ver-schiedenen Richtungen und mit verschiednen Geschwin-digkeiten durch das All rasten, war keine Kleinigkeit. Und doch mußte jede Berechnung genau stimmen, denn der kleinste Fehler konnte eine Katastrophe verursachen. Kein Mensch konnte derartig komplizierte Berechnungen durch-führen, auch kein Lhari. Alle waren auf die Rechenautoma-ten angewiesen, die allerdings mit genauen Programmen gefüttert werden mußten.

Rugel lachte leise vor sich hin. „Kommen Sie schon!“ sagte er gutmütig. „Ihr jungen Leute seid samt und sonders in die Arbeit verliebt. Sie werden noch lange an dem Ding da stehen müssen. Jetzt zeig’ ich Ihnen erst einmal die Ka-bine.“

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Die Kabine war sehr klein, aber zweckmäßig eingerich-tet.

Als Bart allein war, durchsuchte er Ringgs Besitz. Er schämte sich ein wenig, ließ sich aber nicht durch Gefühle beirren. Er mußte herausbringen, was ein junger Lhari normalerweise besaß.

Nach kurzer Zeit entschloß er sich, Einkäufe zu machen. Er fürchtete sich nicht vor der Arbeit, wohl aber vor den kleinen Alltäglichkeiten, bei denen er sich viel leichter ver-raten konnte. Auf seinem Weg zum Schott passierte er ei-nen Aufenthaltsraum, in dem viele Geschicklichkeitsspiele standen. Er hätte sich gern daran versucht, mußte das aber auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.

Durch Unachtsamkeit verfehlte er den Weg und betrat plötzlich einen scheinbar dunklen Raum. Dabei stolperte er gegen einen Mentorianer. Er entschuldigte sich über-schwenglich und gewöhnte sich dabei an das schwächere Licht.

„Ich gebe zu, das Licht ist hier nicht sehr gut“, hörte er ein Mädchen sagen und blickte verwirrt nach unten. Er sah ein zartes, sehr reizvolles Mädchen, das ihn mißtrauisch musterte.

Ja, ich bin ein Lhari, dachte er verärgert, ein häßliches Monster. Und dann sagte er laut: „Ich muß den Weg ver-fehlt haben.“

„Suchen Sie den Arzt, Sir?“ fragte das Mädchen. „Dann sind Sie auf dem richtigen Weg.“

„Nein, ich suche den Lift zum Ausgang für Besatzungs-angehörige“, murmelte Bart.

Das Mädchen öffnete die Tür, durch die er gerade ge-

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kommen war. Es mußte die Augen vor dem gleißenden Licht schützen. „Sie haben den falschen Weg gewählt, Sir“, erklärte es lächelnd. „Sind Sie neu an Bord?“ Nach einer kurzen Pause fügte es hinzu: „Ich dachte immer, alle Schif-fe seien nach dem gleichen Prinzip gebaut.“

„Ich bin bisher nur in Passagierschiffen gereist“, antwor-tete Bart ausweichend.

„Deshalb also!“ Das Mädchen zeigte ihm den Weg und wollte die Tür wieder schließen. Bart fühlte sich abgewie-sen und verletzt.

„Wie heißen Sie?“ fragte er. Das Mädchen salutierte plötzlich und nahm eine steife

Haltung an. „Meta aus dem Hause Marnay III, Sir“, sagte es in dienstlichem Ton.

Bart erkannte sofort, daß er etwas Ungewöhnliches getan hatte. Die Lhari pflegten nur dienstlichen Verkehr mit den Mentorianern und kümmerten sich nicht um deren Privat-leben. „Vielen Dank!“ murmelte er und ging. Er fühlte sich nun noch einsamer, noch ausgestoßener. Er spürte sehr deutlich, daß die freiwillig gewählte Einsamkeit große Op-fer von ihm verlangte.

* Bart sah Meta Marnay schon am nächsten Tag wieder. Sie saß an einem dreieckigen Tisch und registrierte die Namen der aus dem Desinfektionsraum kommenden Besatzungs-mitglieder. Alle Lhari und Mentorianer mußten die grüne Flüssigkeit trinken, die die für die Verdauung notwendigen Mikroorganismen enthielt.

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„Ihre Papiere, bitte!“ sagte sie zu Bart. Er nannte seinen neuen Namen und reichte ihr die Unterlagen. Sie machte ein paar Punkte hinter seinem Namen, wahrscheinlich war dies ein Hinweis, den kein anderer deuten konnte.

Steele war betrübt, weil das Mädchen keine Mathemati-kerin war und deshalb nicht in seiner Nähe arbeiten würde.

Rugel war allein im Maschinenraum. Er beobachtete Bart, als dieser sich an seinen Sitz schnallte. „Überzeugen Sie sich, daß alles auf null steht“, sagte er mahnend.

Bart wurde plötzlich das Opfer einer jäh aufkommenden Panikstimmung. Das Angstgefühl war überwältigend und ließ sich nur schwer zurückdrängen. Er hatte nur ein paar Übungsflüge gemacht, besaß aber die Papiere eines erfah-renen Mannes. Er mußte sich mit Gewalt zur Ruhe zwin-gen und das von dem Trainingsband gewonnene Wissen in sein Gedächtnis zurückrufen. Die Routinekontrolle aller Hebel und Schalter wirkte außerordentlich beruhigend auf ihn.

Ein Lhari mit einem gelben Kamm kam zur Gurtkontrolle heran. „Neu an Bord?“ fragte er kurz und warf nur einen flüchtigen Blick auf Barts Gurte. „Ich bin Karol, Sohn des Garin.“

Alarmglocken schrillten durch alle Abteilungen. Bart wurde flau im Magen. Jetzt sollte das Abenteuer erst rich-tig beginnen.

Vorongil kam in den Maschinenraum und setzte sich vor das Hauptpult. Nach und nach rief er alle Stationen an und schließlich Bart. Steele las seine Zahlen ab und wunderte sich über den ruhigen Klang seiner Stimme.

„Na, dann los!“ rief Vorongil zufrieden und legte den

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Hauptschalter um. Bart hörte das Summen der Maschinen und spürte den ungeheuren Andruck, der ihn zu zerquet-schen drohte.

Er mußte sich zusammenreißen, denn Vorongil forderte laufend Angaben. Barts Stimme klang heiser, seine Augen quollen fast aus den Höhlen, und die Skalen tanzten vor seinen Augen.

„Kurs eins, vier, vier, sechs“, sagte Vorongil ruhig. Bart wiederholte es und stellte seine Geräte darauf ein.

Plötzlich fühlte er sich leicht wie eine Feder. Er vermochte wieder tief durchzuatmen und seine Arme frei bewegen. Jetzt wußte er, daß er seine Arbeit leisten konnte, ohne auf-zufallen. Er war ein Astrogator.

Nach den einleitenden Manövern war nicht mehr viel zu tun. Die künstliche Schwerkraft des Schiffes ermöglichte freie und leichte Bewegungen. Bart ging mit Ringg in den Aufenthaltsraum und lernte dort die übrige Besatzung der „Swifting“ kennen. Es waren insgesamt zwölf Offiziere, zwölf einfache Raumfahrer und einige Anfänger, zu denen auch er und Ringg zählten. Es gab aber keine erkennbaren sozialen Unterschiede zwischen den Rängen. Offiziere und Mannschaften unterhielten sich frei und machten Wit-ze. Bart stellte verbittert fest, daß das in den nur mit Men-schen bemannten Raumschiffen nicht so war. Beruhigt konnte er feststellen, daß sich keiner besonders um ihn kümmerte. Er wurde ohne alle Formalitäten in die Ge-meinschaft aufgenommen. Ringg forderte ihn zu einem Geschicklichkeitsspiel auf. Bart hatte erst Angst, stellte aber zu seiner Überraschung fest, daß er Ringg mühelos schlagen konnte.

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Der alte Rugel drückte nach einiger Zeit auf einen Knopf, worauf sich die Schutzplatte an einer Wand öffnete. Bart hatte plötzlich das Gefühl, über einem bodenlosen Abgrund zu hängen, denn das Licht der Sonne Procyon leuchtete strahlend und ohne von einer Atmosphäre gefil-tert zu werden, in den Aufenthaltsraum des Raumschiffs. Die Planeten Alpha, Beta und Gamma hingen im Raum, ihre Ringe schillerten in verschiedenen Farben. Im Hinter-grund leuchteten ferne Sonnen und riesige Wolken kosmi-schen Staubes. Bart war überwältigt. Er vermochte nur schweigend zu staunen. Er stand zwischen fremden Mons-tern und gab vor, zu ihnen zu gehören.

„Auf welchem Planeten waren wir eigentlich?“ fragte Rugel. „Das läßt sich von hier schwer sagen.“

Bart hätte beinahe den Fehler gemacht, sich dazu zu äu-ßern. „Auf dem Blauen“, lag ihm schon auf der Zunge. Um seine Verlegenheit zu überspielen, sagte er rasch: „Auf dem großen da. Sein Ring steht jetzt fast senkrecht. Sie nennen ihn Alpha.“

Rugel nickte gleichgültig. „Wie wär’s jetzt mit einem neuen Spiel?“

Bart drehte sich um. Es fiel ihm nicht leicht, auf den Anblick der vielen herrlichen Farben zu verzichten. Er mußte aber seine Rolle konsequent spielen und sich in je-der Beziehung wie ein Lhari verhalten.

*

Die erste Woche der Reise war wie ein Alptraum. Bart mußte ständig aufpassen. Er sehnte sich nach den ruhigen

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Dienststunden, die er allein an seinem Computer verbrin-gen konnte. Er lebte ständig in der Angst, einen Fehler zu machen. Tatsächlich hatte er Aldebaran als einen roten Stern bezeichnet. Rugel und die anderen hatten diesen Lap-sus aber nicht bemerkt. Wahrscheinlich hatten sie geglaubt, daß er eine Äußerung der an Bord befindlichen Mentoria-ner wiederholt hatte.

Bart mußte sich erst an das Fehlen von Farbbezeichnun-gen im Wortschatz der Lhari gewöhnen. Die Sterne waren in den Büchern mit ihren Farbfrequenzen angegeben, und mußten immer mit Fotometern angepeilt werden. Bart är-gerte sich über die Mühe, die ihm das bereitete, aber er hielt mit eiserner Energie durch und machte es sich nicht leicht. Er war an farbige Warnzeichen gewöhnt und mußte sich erst auf die Vielzahl der akustischen Signale einstel-len. Das kostete Nerven und Energie. Manchmal glaubte er, daß er nicht durchhalten könne. Erst kurz vor dem Zu-sammenbruch riß er dann jedesmal alle noch verfügbare Energie zusammen und rettete sich weiter.

Und dann, nach schweren Tagen und schlaflosen Näch-ten, wußte er, daß er es geschafft hatte. Er war nun ein vollwertiges Mitglied der Mannschaft.

Procyon war noch immer als kleiner Stern zu erkennen, als die Besatzungsmitglieder besonders aktiv wurden. Die Ladung wurde kontrolliert, alle losen Teile wurden festge-zurrt. Ringg machte mit acht Helfern seine Runde durch das Schiff und prüfte alle wichtigen Stellen. Bart saß in einer Schlüsselstellung und konnte sich ausrechnen, daß sich das Schiff dem für das Eintauchen in den Hyperraum festgelegten Punkt näherte. Das Raumschiff sollte mit ei-

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nem gewaltigen Sprung volle fünfzehn Lichtjahre über-winden.

Wenige Stunden vor dem festgesetzten Zeitpunkt wur-den die Mentorianer von ihren Posten abgelöst. Bart sah ihnen mit gemischten Gefühlen nach. Selbst diese zuver-lässigen Helfer der Lhari besaßen nicht deren volles Ver-trauen. Sie sollten mit Drogen in den Kaltschlaf versetzt werden und das Abenteuer des Warp-Antriebs verschlafen.

Bart empfand plötzlich eine schreckliche Angst. Die Lhari behaupteten, daß kein Mensch den Hyperantrieb überstehen könne. Stimmte das? Hatte David wirklich be-wiesen, daß die Lhari diese Lüge benutzten, um ihr Mono-pol zu erhalten? Er konnte die Mentorianer nicht verstehen, die sich dieses Mißtrauen gefallen ließen und trotz der Ein-schränkungen der Zusammenarbeit für die Lhari waren.

Raynor III hatte ihm das erklärt. Vielleicht liebten die Mentorianer den Weltraum so sehr, daß sie zu jedem Opfer bereit waren. Steele starrte durch die transparente Wand auf die Orgie von Farben. Das war ein Anblick, der sich nicht beschreiben ließ. Sollte er nur den Lhari vergönnt sein?

Rugel sah den Mentorianern bedauernd nach. „Ich wünschte, die Mediziner könnten sie auch während des Warp-Fluges bei Bewußtsein halten“, murmelte er. „Meine Helferin könnte den Wechsel der Farben schneller ausma-chen, als ich es mit meinen Geräten schaffe.“

Bart bekam eine Gänsehaut. Auch die Lhari waren da-von überzeugt, daß kein Mensch den Hyperantrieb bei Be-wußtsein überleben konnte Waren auch sie Opfer einer gi-gantischen Täuschung?

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Vorongil setzte sich wieder an das Hauptpult. Bart biß die Zähne zusammen und starrte gespannt auf seine In-strumente. Die Farben der Sterne veränderten sich sehr schnell; die roten Sonnen waren kaum noch zu erkennen, während die gelben unwahrscheinlich hell wurden. Die grünen Sonnen wurden goldgelb, die gelben bläulich – alles veränderte sich ständig. Bart erinnerte sich schwach an die Theorie von der Rotverschiebung des Lichts näher kom-mender Sterne. Jetzt nahm er sie mit seinen Augen wahr. Er sah, was kein anderer Mensch vor ihm gesehen hatte, was kein Lhari erkennen konnte. „Noch fünfzehn Sekun-den!“ rief er Vorongil zu. Er bemerkte Rugels Blick. Der alte Lhari hatte sich festgeschnallt und schien Barts Angst deutlich zu erkennen. „Man kann noch so alt werden und fürchtet sich jedesmal von neuem“, sagte er tröstend. „Sie können sich aber beruhigen, junger Freund. Die Rechenau-tomaten arbeiten fehlerfrei.“

„Katalysator!“ rief Vorongil plötzlich erregt. „Jetzt!“ Im ersten Augenblick war kein Wechsel zu erkennen.

Dann bemerkte Bart, daß sich Größe und Form der Gestir-ne schnell veränderten. Auch die Farben wechselten jetzt unheimlich schnell und übergangslos. Die klaren Formen verwischten, wurden zu langen Streifen; das All wurde zu einem gigantischen feurigen Gitterwerk gleißender Strei-fen. Bart erkannte dieses Phänomen sehr schnell. Die Be-satzung des Schiffes sah das von den Sternen zurückgelas-sene Licht, denn das Raumschiff raste jetzt viel schneller als das Licht durch den Kosmos.

Bart spürte ein merkwürdiges Unbehagen, das sich schnell verstärkte. Die Körper der Lhari sind im Prinzip

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wie die unseren, sagte er sich. Der Weltraum war nicht länger eine mit leuchtenden Punkten angefüllte schwarze Unendlichkeit, sondern ein Gewirr farbiger Linien, das sich bald zu einer feurigen Wand verdichtete.

Das Licht in der Kabine wurde etwas schwächer. Oder verlor er das Bewußtsein? Bart krallte sich an seinen Sitz. David Briscoe hatte es doch auch überlebt.

Die Umgebung verschwamm vor Barts Augen. Er sah Rugel den Kopf gegen die Lehne pressen und hörte ihn leise stöhnen. Es wurde immer dunkler, alles schien sich rasch zu entfernen.

Umsonst! durchfuhr es Bart. Ich komme um! Die Lhari hatten doch recht. Aber wir mußten es versuchen.

„Bartol!“ Steele kam wieder zu sich und spürte eine sanfte Hand

auf seiner Schulter. Die Krallen waren eingezogen. Er sah Ringgs gutmütiges Gesicht über sich und riß sich zusam-men.

„Warum hast du uns nicht gesagt, daß du so schlecht re-agierst?“ fragte Ringg. „Du hättest doch eine Wache aus-lassen können. Dem alten Rugel geht es auch nicht besser. Er will einfach nicht zugeben, daß er es nicht ertragen kann.“

Bart war wieder voll bei Sinnen. Er hatte noch ein merkwürdiges Gefühl in den Gliedern, aber er lebte und war wohlbehalten.

„Es ist schon wieder besser“, sagte er selbstsicher. „Das sehe ich“, knurrte Ringg ironisch. „Kannst du mir

helfen, Rugel in seine Kabine zu tragen?“ „Selbstverständlich!“ Bart stand auf und fühlte sich so-

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fort besser. Er wollte schon erleichtert aufatmen, be-herrschte sich aber noch im letzten Augenblick. Er galt ja als erfahrener Raumfahrer und durfte sich nichts anmerken lassen. „Wie lange war ich ohne Besinnung?“ fragte er Ringg.

„Die übliche Zeit. Das sind ungefähr drei Sekunden“, erklärte Ringg ohne Argwohn. „Das tritt nur am Scheitel-punkt des Warp-Antriebs auf. Es kommt einem aber länger vor, nicht wahr? Die Ärzte erklären das auf verschiedene Weise. Mir juckt jedesmal das Fell.“ Ringg kratzte sich die Schulter und gab damit zu erkennen, daß auch er das ei-genartige Gefühl empfand, das Bart so stark zusetzte.

Ringg und Bart schleppten den alten Rugel in seine Ka-bine und legten ihn in die Koje.

„Und da sagen alle, der Kapitän sei hart!“ rief Ringg. „Da-bei bringt er es nicht einmal fertig, den guten Rugel vorher in seine Kabine zu schicken und ihn wie die Mentorianer betäuben zu lassen. Wir haben es jedesmal auszubaden.“

Er deckte Rugel zu und lachte. „Vielen Dank fürs Hel-fen, Bartol!“ sagte er. „Wir schleppen ihn immer hinaus, bevor sich Vorongil umdreht. Auf diese Weise braucht er das nicht offiziell zur Kenntnis zu nehmen.“

Bart lachte ebenfalls und folgte Ringg auf den Gang. Er ist ein prachtvoller Kerl, dachte er. Aber dann durchfuhr es ihn heiß. Er hatte den Warp-Antrieb überlebt – er, ein ge-wöhnlicher Mensch. Die Lhari logen also wirklich, um ihr Monopol zu erhalten. Jetzt fühlte er sich als ihr Feind, als ein weit vorgedrungener Spion, der eine heilige Mission zu erfüllen hatte. Das All gehörte allen, nicht nur den eigen-süchtigen Lhari.

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Im Kontrollraum stellte Bart fest, daß das All wieder die normale Form angenommen hatte. Die Gestirne wirkten noch etwas verwischt, aber die Bewegung hörte schnell auf, und die Farben wurden wieder deutlich.

*

Die „Swifting“ bewegte sich mit langen Sätzen durch das All. Aldebaran wurde angesteuert und diente nur als Navi-gationspunkt. Andere Gestirne tauchten auf – Sterne, deren Namen Bart nicht kannte. Hier und da landete das Schiff. Überall gab es einen Flughafen der Lhari, und überall exis-tierten Menschen, die das Raumflugmonopol der Fremden dulden mußten. Bart staunte über die vielen Güter, die in den Laderäumen verstaut wurden. Er benutzte nur noch die Lhari-Sprache und konzentrierte sich ganz darauf. Bei je-dem Sprung durch den Hyperraum verlor er für kurze Zeit das Bewußtsein. Vorongil wollte ihn mehrmals in die Ka-bine schicken, doch da die kurze Bewußtlosigkeit keine Folgen hatte, verzichtete Bart darauf und blieb auf seinem Posten. Von Rugel erfuhr er, daß die Anspannung am Scheitelpunkt der Flugbahn am schlimmsten war.

„Wahrscheinlich ist das die höchste erreichbare Ge-schwindigkeit“, erklärte Vorongil und blickte nachdenklich in die unermeßliche Ferne.

Rugel schüttelte nur den Kopf. „Es gibt keine Ge-schwindigkeitsgrenze“, sagte er mit Bestimmtheit. „Eines Tages werden wir die echte Simultanreaktion haben und genau an dem Punkt wieder in die vierdimensionale Welt zurückkehren, den wir ansteuern wollen. Und das ohne den

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geringsten Zeitverlust. Erst dann werden wir das Univer-sum erobern können und uns nicht mehr auf unsere Galaxis beschränken müssen.“

Ringg grinste wenig respektvoll und sagte: „Und dann werden wir irgendwo ankommen, bevor wir noch gestartet sind.“

Rugel nahm es nicht krumm und lächelte. Bart mußte sich abwenden und an andere Dinge denken. Es war sehr schwer, die Lhari als Feinde zu betrachten.

* Dann kam der Tag, an dem Bart zum erstenmal besorgte Lhari sah. Ringg stürzte in den Kontrollraum und schaltete sämtliche Funktionen auf Automatik um. Seine Brust hob und senkte sich erregt.

Vorongil packte den jungen Lhari und schüttelte ihn hef-tig. „Sie haben etwas gefunden?“ herrschte er ihn an.

„Ja. Im Wandbelag“, keuchte Ringg. Vorongil fluchte laut und ließ Ringg wieder los. „Ich lokalisiere dünne Stellen, aber ich kann sie nicht in-

stand setzen“, entschuldigte sich der junge Lhari. „Wir müssen auf jeden Fall landen, um den Schaden zu reparie-ren.“

„Wieviel Zeit bleibt uns noch, Ringg?“ fragte der Kapi-tän.

„Höchstens dreißig Stunden“, antwortete Ringg be-klommen.

Vorongil wandte sich an Bart: „Wie weit ist der nächste Flughafen entfernt?“

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Bart holte die entsprechenden Handbücher hervor und fütterte die Daten in seinen Computer. Die anderen Lhari bildeten einen dichten Ring um ihn und warteten auf das Ergebnis. Endlich konnte Bart das Resultat entschlüsseln und Auskunft geben.

„Der nächste Landeplatz ist Cottman IV, genau dreißig Stunden entfernt“, erklärte er.

„Das ist verdammt riskant“, knurrte Vorongil. Sein oh-nehin schon runzeliges Gesicht sah jetzt noch zerknitterter aus.

Er wandte sich wieder an Bart und befahl: „Stellen Sie den nächsten Stern mit einem Planeten fest, Bartol. Wir müssen so schnell wie möglich landen, ob der Planet nun einen Flughafen hat oder nicht.“

Barts Hände zitterten. Jetzt mußte er sich zusammenrei-ßen, denn er wurde von vielen Lhari kritisch beobachtet. Er suchte noch einmal die entsprechenden Daten heraus und bearbeitete sie. Endlich kam die Antwort aus dem Compu-ter. Bart brauchte sie nur noch zu übersetzen.

„Da ist ein kleiner Stern, Sir. Er heißt Meristem und ist …“ Bart biß sich auf die Lippen, denn beinahe hätte er die Farbe der Sonne genannt. „… vom Typ Q“, fuhr er rasch fort. „Er hat zwei Planeten mit annehmbarer Atmo-sphäre. Beide Planeten sind nicht als besiedelt klassifi-ziert.“

„Wer ist der Besitzer?“ „Ich habe keine entsprechenden Informationen, Sir.“

*

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Die „Swifting“ hatte die Landung ausgehalten. Die Repara-turkolonne arbeitete unablässig. Der Rest der Mannschaft hatte jedoch nichts zu tun und hielt sich in den Kabinen und Aufenthaltsräumen auf. Die meisten fluchten über die Hitze und das schlechte Licht.

Erst am dritten Tag gaben die Biologen den Planeten frei, und Kapitän Vorongil erlaubte seinen Besatzungs-mitgliedern kleine Abstecher in die nähere Umgebung.

Steele wartete auf seinen Gefährten und sah sich die Umgebung an. Hoch über dem Planeten stand eine grünlich schimmernde Sonne, deren Licht scharfe Schatten warf. Das Gras unter den Füßen war gelblich und mit unzähligen bunten Punkten besetzt. Bart hätte das Bild gern allein ge-nossen, aber er mußte alles vermeiden, was Anstoß und Verdacht erregen konnte.

„Wie steht’s mit den Reparaturen?“ fragte er Ringg. „Es geht schnell voran“, berichtete Ringg. „Der arme

Karol hat sich dabei seine Hände verbrannt. Der Arzt-Assistent Meta rettete mich vor dem gleichen Schicksal.“

„Das kleine Mädchen?“ fragte Bart erregt. „Ein Mädchen?“ Ringg zuckte die Achseln. „Ich kann

die Männlein und Weiblein nicht unterscheiden. Für mich sind sie alle einfach Mentorianer. Ich wollte mich gegen eine Wand lehnen, da brüllte diese Meta eine Warnung. Können die Mentorianer wirklich Hitzevibrationen sehen? Sie nannte die Platte glühend rot.“

Bart ging nicht darauf ein. Er hatte Angst, sich zu verra-ten, und ging schnell voran. Sie erreichten eine Stelle, an der das Gebirge steil abfiel. Kurz vor dem Abhang ent-deckten sie einen stillen See und einen kleinen Wald.

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Ringg warf sich ins Gras und streckte seine Glieder. „Großartig!“ rief er begeistert aus.

Steele schwieg. Er bedauerte den Gefährten, der die wunderbaren Farben dieser Welt nicht sehen konnte.

Ringg richtete sich nach einiger Zeit wieder auf und deu-tete auf verschiedene Löcher in einer Felswand. „Hättest du Lust, diese Höhlen zu erforschen, Bartol?“ fragte er ta-tendurstig.

„Vielleicht sind das die Wohnungen furchtbarer Mons-ter“, sagte Steele zurückhaltend.

Der Lhari schlug zuversichtlich auf seinen Energonstrah-ler. „Damit werden wir sogar mit Sauriern fertig.

Bart zögerte. Die Waffe gehörte zur Uniform, und er be-saß auch eine. Er hatte sich aber nicht damit vertraut ge-macht. „Ich bleibe lieber in der Sonne“, sagte er.

„Meinetwegen“, antwortete Ringg. „Die Sonne ist zwar schwach, aber ihre Strahlen sind besser als Vitaminlam-pen.“

Steele erschrak. Wie würde seine gefärbte Haut auf die Sonnenbestrahlung reagieren?

Ringg reckte sich und musterte den Himmel. „Es be-wölkt sich“, sagte er besorgt. „Wir müssen bald zum Schiff zurück. Wenn die Reparaturen beendet sind, geht es sofort weiter. Für mich war das ein angenehmer Aufschub. Wenn ich nach Hause komme, fängt der Streit mit der Familie wieder an. Mein Vater ist im Hotelgeschäft und möchte mich seßhaft machen. Möchtest du dein Leben lang an ei-nen Planeten gefesselt sein, Bartol?“

Bart schüttelte den Kopf. „Nur das nicht!“ sagte er. Plötzlich sah er die Lhari in einem anderen Licht. Sie wa-

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ren also nicht alle Raumfahrer, sondern Geschäftsleute, Industrielle. Die jungen Leute hatten ebenfalls mit Schwie-rigkeiten zu kämpfen, wenn sie das freie Leben eines Raumfahrers führen wollten.

„Wie ist es eigentlich bei dir?“ fragte Ringg. „Hast du keine Schwierigkeiten?“

„Meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war“, erklärte Bart. „Mein Vater besaß eine kleine Flotte und mochte mich natürlich bei sich haben.“

„Du möchtest aber lieber auf große Fahrt gehen, nicht wahr? Ist dein Vater damit einverstanden?“

„Er lebt nicht mehr“, antwortete Bart leise. „Er würde mich aber verstehen und mir nichts in den Weg legen.“

Steele spürte einen harten Schlag im Genick und er-schrak. Ringg zuckte ebenfalls zusammen. „Hagel!“ rief er. „Wir müssen zum Schiff zurück!“

Die Hagelkörner prasselten immer dichter herab und wurden immer größer. Eine schwarze Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben.

„Wir schaffen es nicht!“ rief Ringg. „Die Hagelkörner sind groß genug, um uns zu erschlagen.“

Blitze zuckten aus der Wolke in die Felsen, und der Donner rollte dumpf durch die Atmosphäre. Bart und Ringg rannten auf die Felswand zu. Ringg stürzte plötzlich vornüber und blieb liegen. Bart beugte sich über ihn und bemerkte eine stark blutende Stirnwunde. Die Hagelkörner prasselten hart auf seinen Rücken und mahnten zur Eile. Bart hob den Bewußtlosen hoch und schleppte ihn mit sich. Nach wenigen Schritten rutschte er aber aus und stürzte unglücklich. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen

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rechten Arm. Der Hagel wurde noch dichter und gefährli-cher. Bart sah einen der Höhleneingänge, packte seinen Gefährten und zerrte ihn in die dunkle Öffnung.

Endlich waren beide gerettet, denn jetzt wurden sie nur noch von abprallenden Eissplittern getroffen. Bart legte Ringg flach auf den Rücken und rief ihn an. Ringg stöhnte aber nur und bewegte sich krampfhaft. Die Stirnwunde blu-tete noch immer. Bart konnte aber nicht hinaus, um einen Arzt zu holen. Zu seinem Entsetzen hörte er nun noch ein schleifendes Geräusch. War das eine Täuschung? Viel-leicht kam ein Monster aus der Tiefe der Höhle gekrochen?

Bart Steele zog seine Waffe und schritt in die Höhle hin-ein. Er wollte sich nicht überraschen lassen. Zur Standard-ausführung gehörte auch eine starke Handlampe. Bart hak-te sie vom Gürtel und leuchtete in die Höhle hinein.

Er schloß geblendet die Augen und vergaß den stöhnen-den Gefährten, denn er erblickte eine völlig aus Riesenkris-tallen bestehende Wand. Diese Kristalle leuchteten in allen Farben und bildeten einen faszinierenden Anblick. Bart erblickte ein merkwürdiges Mineral, das er nicht klassifi-zieren konnte. Es schimmerte bläulich, dann rötlich. Bart schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich handelte es sich um eine durch Lichtreflexe verursachte Täuschung. Das Mine-ral konnte unmöglich mehrfarbig sein.

Ringg stöhnte und richtete sich verwirrt auf. Bart drehte sich um und beruhigte ihn. „Wir sind in Sicherheit, Ringg. Ich habe dich in eine der Höhlen getragen.“

Der Lhari fuhr sich über die Augen. „Was ist geschehen, Bart? Ich kann nichts sehen!“

Bart machte sich Sorgen. Ringg mußte eine schwere Ge-

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hirnerschütterung erlitten haben. Der Hagel hatte aufge-hört, die großen Körner schmolzen bereits. Es war aber sehr kalt geworden. Bart überlegte. Der Verletzte mußte liegenbleiben. Er mußte ihn zurücklassen und Hilfe holen. Entschlossen raffte er den wärmenden Umhang zusammen und machte sich auf den Weg. Die „Swifting“ wirkte im trüben Licht doppelt groß und beeindruckend. Bart taumel-te über die Rampe zum Schott. Der Zweite Offizier starrte ihn verblüfft an und rief entsetzt: „Sie sind verletzt, Bar-tol?“

Steele winkte ab. „Nur ein paar Kratzer. Aber Ringg hat es arg erwischt. Er braucht Hilfe. Wir müssen ihn holen.“

„Sie bleiben hier, Bartol! Das ist ein Befehl. Dieser Un-glücksplanet hat uns schon genug Unheil gebracht. Erst haben wir den Schaden am Schiff, dann verbrennt sich Ka-rol eine Hand, und jetzt ist Ringg verletzt. Lassen Sie sich sofort von der Mentorianerin behandeln, Bartol!“

Bart taumelte durch den Gang. Seine recht Hand schmerz-te stark. Er erreichte die Klinik, wo Karol stöhnend in einer Koje lag. Die Mentorianerin gab ihm gerade eine schmerz-stillende Injektion. Sie sah bleich und überfordert aus.

Meta drehte sich nach Bartol um und blickte auf dessen Hand. „Doch nicht noch eine schwere Verbrennung?“ rief sie aus.

Steele spürte die Erschöpfung und schüttelte nur den Kopf.

„Setzen Sie sich, Bartol!“ sagte die Mentorianerin mit-fühlend. „Was ist geschehen?“

„Wir sind in einen Hagelsturm geraten“, murmelte Bart. „Ringg liegt mit einer Gehirnerschütterung in einer Höhle.“

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Er benutzte die Universalsprache, weil er sich nach den gewohnten Lauten sehnte.

Das Mädchen säuberte die Wunden und behandelte sie mit kühlen Salben. „Das muß ein furchtbarer Sturm gewe-sen sein“, sagte sie mitleidig. „Warum haben Sie nicht rechtzeitig Schutz gesucht?“

„Der Hagel kam so plötzlich“, murmelte Bart. „Die Son-ne schien erst so wunderbar grün, und dann …“ Bart biß sich auf die Lippen. Das Mädchen schien aber nichts be-merkt zu haben, denn es arbeitete ruhig, weiter. Es beschäf-tigte sich mit der Hand und machte ein ernstes Gesicht. „Wir müssen das Gelenk röntgen“, entschied es schließ-lich.

Bart riß die Hand zurück. „Nein!“ sagte er rauh. „Das ist nicht nötig.“

Die Mentorianerin bewegte das Handgelenk. Bart hätte vor Schmerz schreien mögen. Sie betastete die Knochen und beugte sich über sein Gesicht. „Die Sonne schien also wunderbar grün“, sagte sie leise. „Wer sind Sie eigent-lich?“

Steele wäre fast in Ohnmacht gefallen. Er riß sich aber zusammen und sah Meta in die Augen.

„Ihre Augen sind wie meine“, sagte sie. „Ihre Wimpern sind gebleicht, nicht wahr? Sie sind kein Lhari, Bartol!“

Bart wimmerte vor Schmerzen. Meta bemerkte erst jetzt, daß sie das Handgelenk preßte „Kein Wunder, daß Sie keine Röntgenaufnahme wollten“, sagte sie freundlicher. Sie warf einen ängstlichen Blick auf Karol und atmete auf. „Der arme Kerl ist völlig betäubt, so daß er uns nicht hören kann.“

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„Worauf warten Sie denn noch?“ fragte Bart verbittert. „Verraten Sie mich doch an die Lhari.“

In ihren grauen Augen blitzte es kurz auf. Dann ging sie zur Tür und verschloß sie. „Wer sind Sie?“ fragte sie leise.

„Das ist jetzt nicht mehr wichtig.“ Meta war gekränkt. „Sie glauben doch nicht etwa, ich

würde Sie verraten, Bartol? Ich habe Gerüchte gehört, nach denen es einem von uns gelungen sein soll, als Spion in ein Lhari-Schiff zu gelangen.“ Sie überlegte kurz. „Ich muß Ihnen alles sagen, Bartol. Sie wissen, daß ich am Ende der Reise einer Gehirnwäsche unterzogen werde. Ich kann den Lhari nichts verheimlichen.“

Bart machte ein bekümmertes Gesicht. „Was werden Sie mit Ihnen machen, wenn sie feststellen, daß Sie mich nicht verraten haben?“ fragte er besorgt.

„Wahrscheinlich nichts!“ sagte sie mit Überzeugung. „Die Lhari tun keinem etwas zuleide.“

„Hoffentlich täuschen Sie sich da nicht!“ knurrte Bart skeptisch.

„Warum sollten sie mir etwas tun, Bartol? Sie löschen einfach meine Erinnerungen an diese Affäre, das genügt.“ Sie blickte ihm mitleidig in die Augen. „Sie sehen wie ein echter Lhari aus“, sagte sie. „Der Chirurg muß ein Meister sein. Armer Kerl! Sie sind wahrscheinlich der einsamste Mensch im Universum.“

Steele fühlte sich wohl in ihrer Nähe. Er war jetzt nicht mehr so allein. Er wollte mit der gesunden Hand nach ei-ner ihrer Hände greifen, doch Meta wich instinktiv zu-rück.

„Sie sehen so echt aus“, verteidigte sie sich. „Ich sehe

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die kleinen Halbmonde an Ihren Nägeln. Die Lhari haben sie nicht. Es ist entsetzlich. Wie konnten Sie das tun?“

Auf dem Gang wurden Geräusche laut. Meta konnte die Antwort nicht mehr abwarten. Sie mußte aufspringen und die Tür öffnen. Ein Arzt und der Zweite Offizier brachten Ringg herein und legten ihn auf eine Bahre.

„Ist das Handgelenk behandelt worden, Bartol?“ fragte der Arzt.

Die Mentorianerin griff geistesgegenwärtig ein und holte eine Binde. „Das Gelenk braucht nur stramm verbunden zu werden“, sagte sie gleichmütig. „Ich kümmere mich dar-um.“

Bart biß die Zähne zusammen, denn Meta mußte die Binde sehr fest anziehen. „Wie geht es Ringg?“ fragte er den Ersten Offizier.

„Ein Glück für ihn, daß Sie ihn in die Höhle bringen konnten, Bartol! Die Verletzungen sind nicht allzu schlimm.“

Ringg richtete sich ein wenig auf. „Vielen Dank, Bar-tol!“ sagte er schwach. „Die meisten anderen hätten sich selber in Sicherheit gebracht und mich liegenlassen.“

Meta befestigte den Verband und flüsterte Bart ins Ohr: „Die Hand ist vielleicht doch gebrochen. Wir dürfen aber keine Röntgenaufnahme riskieren.“

Steele nickte. Die Schmerzen waren fast unerträglich, aber der feste Verband erlaubte ihm die Benutzung der Hand. Der Arzt ordnete noch vier Stunden Ruhe für ihn an. Bart taumelte mit zusammengebissenen Zähnen in seine Kabine und warf sich auf seine Koje. Er dachte nicht an sich, sondern an Meta, die er jetzt in noch größere Gefahr

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gebracht hatte. Durfte er überhaupt Unschuldige mit in die Affäre ziehen? Bart Steele begann an sich zu zweifeln und warf sich unruhig hin und her.

4. Kapitel

Die grünlich schimmernde Sonne Meristem lag weit zu-rück. Karols Hand war geheilt, und an Ringgs Stirn waren nur noch die kleinen Narben einer verheilten Naht zu er-kennen. Bart hatte schwer leiden müssen, doch jetzt konnte er die Hand wieder benutzen und brauchte keine genaue Untersuchung durch den Arzt zu befürchten. Die „Swif-ting“ jagte mit kurzen Warp-Sprüngen auf den Rand der Galaxis zu, wo der Stern Antares wie eine gigantische Kohle glühte.

Antares hatte zwölf Satelliten, einer davon und der am weitesten entfernte war eine kleine Sonne, kaum größer als die Erde. Diese kleine Sonne brauchte für einen vollen Umlauf um ihre gigantische Schwester volle neunzig Jahre. Sie leuchtete blauweiß und hatte einen eigenen Planeten in ihrem Gravitationsbereich. Nach dem kurzen Aufenthalt auf dem siebenten Planeten des Systems sollte das Schiff den kleinen Planeten der gleißenden Zwergsonne anflie-gen.

Bart durfte sich glücklich schätzen, noch nicht entdeckt worden zu sein. Er sah der Landung und dem Zusammen-treffen mit den anderen Konspiratoren mit Unbehagen ent-gegen. War er nur ein Werkzeug? Vielleicht würden sich die anderen jetzt nicht mehr um ihn kümmern oder ihn ein-fach nach Hause schicken. Er hatte bewiesen, daß Men-

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schen den Hyperantrieb zu überleben vermochten. Jetzt brauchte er nur noch den geheimnisvollen Treibstoff zu finden, der den schnellen Flug ermöglichte.

Die „Swifting“ landete auf dem größten Lhari-Flughafen, den Bart je gesehen hatte. Der Zweite Offizier ging als erster von Bord und kam mit der Post zurück, als die anderen erst aus den Desinfektionskammern kamen. Er übergab Bart einen Brief und sagte freundlich: „Du bist also doch nicht das Waisenkind, für das wir dich gehalten haben.“

Steele nahm den Brief an sich und entfernte sich von den anderen. Sein Herz schlug rasend. Er riß den Brief auf und las eine Adresse. Unauffällig ging er in die für die Mento-rianer reservierte Abteilung und ließ sich von Meta einen Umhang geben. Sie fragte ihn nicht nach den Gründen für diese Verkleidung, denn was sie nicht wußte, konnten die Lhari später nicht von ihr erfahren. Sie hatte offensichtlich Angst, nicht nur um Bart, sondern auch vor seinen scharfen Krallen. Trotzdem hielt sie ihn einen Augenblick zurück und sah ihm in die Augen. „Wie heißen Sie wirklich? Doch nicht Bartol?“

„Nein. Bart Steele.“ „Viel Glück, Bart!“ sagte sie sanft. Steele machte sich frei. Er sah die Tränen in ihren Au-

gen und spürte ein starkes Unbehagen. Er hüllte sich in den Umhang und schlug die Kapuze hoch, bevor er das Schiff verließ. Er wollte seinen Auftrag konsequent ausführen, und nicht auf halbem Weg stehenbleiben.

Er fand die angegebene Adresse in der Nähe des Flugha-fens. Das Haus stand in einer Straße, in der es nach Ge-

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würzen und unbekannten Dingen roch. Die gewaltige Rie-sensonne tauchte alles in ein rotes Licht und machte die Umgebung noch abenteuerlicher.

Bart stieg die wenigen Stufen zu dem Haus hinauf. Er fühlte sich beobachtet und beargwöhnt. Die Tür öffnete sich selbsttätig, ebenso eine zweite. Bart betrat ein Zim-mer, in dem ein altmodisches Kaminfeuer brannte. Er be-merkte drei Männer, von denen ihm einer besonders auf-fiel. Der Mann am Feuer war sehr groß und hager und wirkte mit seinen weißen Haaren sehr eindrucksvoll. Bart dachte sofort, daß dieser Mann viel besser geeignet sei, als Lhari aufzutreten.

Im nächsten Augenblick wurde er von den anderen bei-den Männern in einen harten Griff genommen und durch-sucht. „Keine Waffen, Montano“, sagte einer.

„Hören Sie!“ protestierte Bart. Ich muß …“ Montano winkte ab. „Das ist nur eine Sicherheitsmaß-

nahme“, sagte er grimmig lächelnd. „Welche Farbe hat der Diwan?“

„Grün.“ „Und die Gardinen?“ „Sie sind dunkelgrün und haben ein Goldmuster.“ Montano lächelte, und die beiden Männer ließen Bart so-

fort frei. „Sie haben es also geschafft, Steele“, sagte er be-wundernd. „Ich habe die verschlüsselte Meldung für einen Betrug gehalten.“ Er trat dichter an Bart heran und schüt-telte ungläubig den Kopf. „Raynor III ist ein Genie. Sogar die Krallen sind absolut echt. Trotzdem war das Risiko sehr groß.“

„Sie kennen meinen Namen“, sagte Bart. „Wer sind Sie?“

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Der Mann runzelte die Stirn. „Haben Sie die Erinnerung verloren?“

„Nein. Aber ich bin nicht Rupert Steele, sondern sein Sohn Bart.“

Montano wich erschrocken zurück. „Das kann nur be-deuten, daß Rupert tot ist“, sagte er bekümmert.

Dann deutete er auf den einen Mann. „Das ist Hedrick. Raynor II brauche ich wohl nicht vorzustellen.“

Bart musterte Raynor II. Der Mann wirkte nicht so grimmig wie Raynor I, aber erst recht nicht so verständnis-voll und gütig wie Ragnor III. Er sah vielmehr gefährlich und bösartig aus.

Steele mußte seine Abenteuer berichten. „Sie sind erst siebzehn Jahre alt?“ fragte Montano ver-

blüfft. „Und trotzdem konnten Sie die Arbeit eines Astro-gators übernehmen? Erstaunlich! Aber wir dürfen keine Zeit verschwenden. Sie gehören jetzt zu uns und wollen sicher wissen, wie es weitergehen soll.“

Bart schüttelte den Kopf. „Raynor III ist der Meinung, daß der Plan nicht ausgeführt werden soll“, erklärte er.

„Das glaub’ ich!“ knurrte Raynor II böse. „Er ist zu weich und sentimental.“

Montano überlegte eine Weile, ehe er sich wieder an Steele wandte. „Wir brauchten einen Mann an Bord der ,Swifting’, Bart. Sie haben uns sehr geholfen, aber das ge-nügt leider noch nicht. Kennen Sie Lharillis?“

Steele schüttelte den Kopf. „Das ist Ihr nächstes Ziel. Es ist der Planet der kleinen

Sonne. Als die Lhari zum erstenmal in unser System ka-men, landeten sie dort draußen. Mentor war dann die zweite

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Station. Der Planet ist wegen der Nähe der weißen Sonne ein Inferno. Die Lhari lieben ihn, weil er sie so stark an ihre Heimat erinnert. Sie fanden erst später heraus, daß die inneren Planeten dieses Systems bewohnt sind, und bauten ihren Flughafen und Stützpunkt. Den kleinen Planeten der weißen Sonne wollten sie aber für sich allein haben. Bevor wir ihnen den Planeten für jeweils hundert Jahre verpachte-ten, überzeugten wir uns, daß dort keine seltenen Mineralien zu finden sind. Wir wissen jetzt, daß die Lhari auf Lharillis ein Mineral abbauen. Es soll sich um ein pulverisiertes Schmiermittel handeln. Der Abbau erfolgt automatisch, und die Schiffe nehmen das Zeug aus Betonbunkern auf. Wir brauchen Sie an Bord der ,Swifting’, damit Sie die Warnanlage für Radioaktivität außer Betrieb setzen.“

Montano nahm eine Karte aus dem Schubkasten und breitete sie aus. Es war ein genauer Schaltplan. „Diese bei-den Drähte müssen durchgeschnitten werden“, sagte er. „Wir brauchen das Raumschiff. Wenn wir es haben, kön-nen wir endlich den Treibstoff finden und an Hand der Karten die Heimat der Lhari lokalisieren.“

Bart war verwirrt. „Sie werden sich verteidigen“, sagte er erregt. „Sie können doch nicht gegen die Energonwaffen ankämpfen.“

Das Gesicht Montanos blieb kalt. „Das wollen wir auch nicht“, sagte er ruhig. Er holte eine kleine gelbe Scheibe aus der Tasche und gab sie Bart. „Die Lhari dürfen das nicht sehen. Wenn sich die Scheibe verfärbt, müssen Sie Schutz suchen.“

„Was ist das?“ Bart drehte die gelbe Scheibe hin und her.

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„Ein Material, das auf Radioaktivität reagiert“, antworte-te Montano. „Wenn es eine Orangefärbung annimmt, be-deutet das die Aufnahme von Radioaktivität. Die mit Blei ausgekleideten Maschinenräume des Raumschiffes sind sicher. Wenn Sie sich gerade im Freien befinden, müssen Sie schnell einen der Betonbunker aufsuchen. Wird die Plakette rot, werden alle der Strahlung ausgesetzten Perso-nen sterben.“

Steele starrte in die kalten Augen des hageren Mannes und ließ die gelbe Scheibe fallen. „Sie wollen die Besat-zung der ‚Swifting’ töten? Das ist doch Mord!“

„Nicht Mord, sondern Krieg!“ „Es besteht kein Kriegszustand zwischen uns und den

Lhari“, protestierte Bart. „Alle unsere Beziehungen sind vertraglich festgelegt.“

„Die Förderation hat diese Verträge akzeptiert, weil es keine andere Möglichkeit gab“, entgegnete Montano lei-denschaftlich. „Wir müssen um unsere Existenz kämpfen, Bart. Die Lhari schnüren uns wirtschaftlich ab. David Bris-coes Schicksal hat allen gezeigt, wie unbarmherzig dieser Krieg geführt wird.“

Bart wollte es nicht glauben. Gewiß, sie hatten den alten Briscoe getötet, aber es war Selbstverteidigung gewesen. „Sie sind keine Mörder“, sagte er entschieden. „Ich lebe lange genug mit ihnen in dem Raumschiff.“

Raynor II grunzte geringschätzig und murmelte. „Der spricht beinahe wie Raynor III.“

Hedrick trat dicht an Bart heran und sagte drohend: „Du tust, was dir befohlen wird, du Grünschnabel! Wenn nicht …“

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„Ruhe!“ donnerte Montano. Er ging um den Schreibtisch herum und legte einen Arm auf Steeles Schulter. „Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, Bart“, sagte er ver-ständnisvoll. „Sie müssen uns vertrauen. Sie sind Rupert Steeles Sohn. Fühlen Sie nicht die Verpflichtung in sich, die von Rupert begonnene Arbeit zu vollenden? Wenn wir jetzt versagen, werden wir kaum noch eine Chance haben.“

Bart dachte an Vorongil, an Ringg und den alten Rugel. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, murmelte er verzweifelt.

„Du kannst dich doch nicht auf die Seite unserer Feinde stellen“, sagte Montano geschickt. „Das trau’ ich Rupert Steeles Sohn einfach nicht zu.“

Das genügte. Bart war plötzlich zu allem entschlossen. Sein Vater sollte nicht vergeblich gestorben sein. Er begriff nicht alles, aber er war bereit, Montano zu vertrauen.

„Sie können mit mir rechnen“, sagte er kaum hörbar. Als er das Haus verließ, hatte er alle Einzelheiten des

Planes im Kopf. Montano hatte ihm noch ein Paar schüt-zender Kontaktlinsen gegeben, denn die Helligkeit der kleinen Sonne war selbst für Mentorianeraugen zu stark.

Bei der Rückkehr zum Schiff wurde Steele von Ringg angerufen. „Wo hast du gesteckt, Bartol? Wir wollten doch zusammen ausgehen. Wozu habe ich denn einen Freund?“

Bart stieß den jungen Lhari beiseite und stürmte die Rampe hinauf. In seiner Kabine warf er sich auf sein Bett und wälzte sich hin und her. Er war sich noch immer nicht über sich selbst im klaren und focht einen schweren inne-ren Kampf aus. Ringg war tatsächlich sein Freund gewor-den. Sollte er ihn kaltblütig töten?

Der Lhari kam in die Kabine und musterte Bart. „Was ist

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denn mit dir los?“ fragte er freundschaftlich. „Hast du schlechte Nachrichten bekommen? Wenn ich dir helfen kann …“

„Das kannst du!“ herrschte Bart ihn an. „Laß mich gefäl-ligst allein.“

„Wie du willst, Bartol.“ Ringg verließ die Kabine. Sein Kamm stand kerzengerade hoch, ein Zeichen für seine starke Erregung.

Barts Entschluß stand fest. Die Einsamkeit hatte ihn hart gemacht. Die Lhari hatten seinen Vater und David Briscoe getötet. Wenn sie ihn erkannten, würden sie ihn ebenso un-barmherzig umbringen. Er hatte keinen Grund, Rücksicht zu nehmen. Sollten sie sterben. Es ging ihn nichts an. Die Lhari waren seine Feinde, und er schuldete nur den Men-schen seine unabdingbare Treue.

Obwohl er sich entschieden hatte, kamen doch immer wieder Zweifel an der Richtigkeit seines Entschlusses in ihm auf. Er stand im Beobachtungsdom und betrachtete die Planeten des Antares-Systems. Das Schiff raste auf die gleißende Sonne mit dem Planeten Lharillis zu, dem Ziel, das den Lhari den Tod bringen sollte.

Es steht in meiner Macht, den Menschen das Geheimnis des wirklichen Raumfluges zu offenbaren, dachte er. Wenn ich versage, werden die Menschen noch lange darauf war-ten müssen. Ich will mein Leben nicht an ein System ge-kettet verbringen. Die von meinem Vater gegründete Ge-sellschaft soll ihre Schiffe weit ins All hinausschicken und mit den Lhari konkurrieren.

Einen Tag später wurde Bart zum Kapitän gerufen. Vo-rongil sah ihn nachdenklich an und sagte mild: „Sie und

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Ringg waren immer gute Freunde, Bartol. Ringg macht sich Sorgen, um Sie. Sie sind verändert, abweisend und un-freundlich. Ihre persönlichen Angelegenheiten gehen mich nichts an, aber als Kapitän des Schiffes habe ich für eine harmonische Stimmung zu sorgen. Mißstimmung ist anste-ckend und gefährlich, Federkopf.“

Bart kämpfte gegen den Impuls an, dem Kapitän alles zu beichten. Die Furcht vor den Folgen verschloß ihm aber den Mund.

„Wahrscheinlich ist es nur Heimweh“, sagte Vorongil gütig. „Nun, es wird ja nicht mehr lange dauern.“

Mit dem stärker werdenden Licht der weißen Sonne stieg auch Barts Angst. Er hatte noch keine Gelegenheit gefunden, den Strahlungsmesser im Kontrollraum un-brauchbar zu machen.

Durch Zufall bekam er Gelegenheit dazu, denn der Zweite Offizier ließ ihn während einer Wache für kurze Zeit allein.

Steele sprang sofort auf, löste eine Wandplatte und riß zwei Drähte auseinander. Er hatte Glück, denn kaum hatte er die Platte wieder angeschraubt und sich hingesetzt, da kam der Zweite Offizier wieder zurück.

Bart machte sich Sorgen um die Mentorianer. Er nahm jedoch an, daß sie sich während der Landung auf Lharillis im Kaltschlaf befinden würden. Die Schlafräume waren gegen schädliche Strahlungen abgesichert.

Er war auf Freiwache, als die „Swifting“ in einen Orbit um die weiße Zwergsonne ging. Als er in den Kontroll-raum zurückkehrte, bemerkte er sofort eine ungewöhnli-che Aufregung. Ein Blick auf die abgeschraubte Wand-

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platte ließ ihn erstarren. Die Sabotage war entdeckt wor-den.

Ringg schimpfte laut vor sich hin. „Das lasse ich nicht auf mir sitzen, Rugel. Ich habe die Verbindungen erst vor drei Tage kontrolliert. Sie waren in Ordnung.“

„Ich beschuldige keinen“, erklärte Rugel geduldig. „Es war sicher nur eine Unvorsichtigkeit.“

„Was ist denn geschehen?“ fragte Bart unschuldig. „Die Verbindung zum Strahlungsmesser ist unterbro-

chen“, antwortete Rugel. „Wahrscheinlich durch eine Un-achtsamkeit. Es ist aber nur das Meßgerät für Strahlungen auf Planetenoberflächen. Wir brauchen es jetzt nicht. Ich will dem jungen Federkopf da nur sagen, daß …“

„Er beschuldigt mich der Nachlässigkeit!“ brauste Ringg auf. „Dabei habe ich die letzte Kontrolle dieser Leitungen eingetragen. Wahrscheinlich hat einer die Drähte aus Ver-sehen beschädigt und war dann zu feige, den Schaden zu melden.“

„Nur Bartol war einmal allein hier im Kontrollraum“, schaltete sich der Zweite Offizier ein. „Welchen Grund sollte er haben, die Drähte zu zerreißen?“

„Keinen!“ knurrte Bart wütend. „Ringg will die Schuld für seine Nachlässigkeit auf einen anderen abwälzen.“

Ringg wurde so wütend, daß er Bart an der Schulter packte. Steele wollte die Hand abschütteln, doch die Kral-len fetzten tiefe Furchen in seine Haut. Der Schmerz war so heftig, daß Bart sich instinktiv wehrte und Ringg einen Schlag ins Gesicht versetzte. Seine Krallen rissen dem jun-gen Lhari das Gesicht auf.

Rugel und der Zweite Offizier griffen ein. Sie rissen die

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beiden Kampfhähne auseinander. Im selben Augenblick kam Vorongil herein und starrte auf die blutenden Wun-den.

„Was geht hier vor?“ rief er mit Donnerstimme. Bart erkannte die Verachtung in den Augen des Kapitäns

und schämte sich. „Wollt ihr Federköpfe euch wohl wie erwachsene Männer benehmen?“ brüllte Vorongil. „Je-mand hat einen Fehler gemacht, und ihr zerfetzt euch des-halb die Haut. Verschwindet aus meinem Gesichtskreis und laßt euch vor der Landung nicht mehr blicken!“

Ringg und Bart gingen schuldbewußt hinaus. Auf dem Gang wollte Ringg sich entschuldigen, doch Bart beachtete ihn nicht. Es war leichter, alle persönlichen Beziehungen rücksichtslos abzubrechen.

*

Das Licht der weißen Zwergsonne wurde unheimlich stark. Bart hatte noch nie eine so helle Sonne gesehen. Er war froh, daß Montano ihm die Kontaktlinsen gegeben hatte, denn damit konnte er das helle Licht ertragen. Allerdings wirkten seine Augen jetzt etwas anders. Er konnte nur hof-fen, daß keiner etwas bemerkte.

Die Angst machte ihn fast krank. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß es jetzt nicht mehr lange dauern wür-de.

Nach der Landung trat er hinter den anderen auf die Rampe und warf einen Blick auf das öde Land. Er erblickte weite Sandflächen und verstreute Felsbrocken. Diese Bro-cken waren eigentlich riesige Kristalle. Ihre Anordnung

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und die harmonische Zusammenstellung der Farben wirkte eigenartig. Rugel bemerkte Barts Erstaunen und lächelte.

„Du warst noch nie hier?“ Bart schüttelte den Kopf. „Ach ja, du warst immer auf der Polaris-Route. Diese

Brocken da sind keine Steine, sondern lebendige Kreatu-ren, intelligente Lebewesen, die mit Flechten in Symbiose leben. Sie lassen uns und unsere automatische Förderanlage in Ruhe. Allerdings versuchen die Flechten immer wieder, sich mit dem Beton der Vorratsbunker zu verbinden.“

„Hoffentlich finde ich bald eine Farbe, die diesen Flech-ten nicht schmeckt“, warf Ringg ein.

„Wollen Sie mit Ringg auf Entdeckungsfahrt gehen?“ fragte Rugel gutmütig. Ringg grinste. Er war bereit, die blutige Auseinandersetzung zu vergessen.

„Es ist sein erster Besuch!“ rief Vorongil. „Vielleicht möchte er das Denkmal sehen. Sie können mich begleiten, Bartol. Auf dem Rückweg werden wir die Förderanlage besichtigen.“

Bart war froh darüber, nicht mit Ringg gehen zu müssen. Er folgte dem Kapitän, der einen gepflasterten Weg ein-schlug.

„Dieser Weg ist die Arbeit der Kristallkreaturen“, erklärte Vorongil. „Ich glaube, sie können unsere Gedanken lesen. Früher war dieser Weg sehr beschwerlich. Eines Tages landete ein Schiff, und die Besatzung fand diesen schönen Weg vor. Die Kristalle werden nie von den Flechten über-wachsen und bleiben stets sauber. Aber das haben Sie ja alles in der Schule gelernt, Bartol. Aufgeregt?“

„Nein, Sir. Warum?“

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„Ihre Augen sehen etwas merkwürdig aus Aber diese Aufregung ist verständlich. Wenn ich hier bin, muß ich immer an Rhazon denken, der den ersten weiten Flug wagte. Es war ein Sprung ins Ungewisse, Bartol, ein unglaubliches Wagnis. Vor ihm hatte keiner den Sprung von einer Galaxis zur anderen gewagt. Wir müssen außerdem berücksichtigen, daß er damals auf die alte Mathematik angewiesen war.“

„Unglaublich!“ murmelte Bart und warf heimlich einen Blick auf die noch gelbe Plakette.

„Ihr jungen Leute wundert euch selten über etwas“, fuhr Vorongil fort. „Ihr habt keine Ahnung, wie es früher zu-ging. Der Verkehr stagnierte, weil es keinen Fortschritt mehr gab. Und jetzt? – Rhazon wurde ausgelacht, als er mit seinen Ideen an die Öffentlichkeit trat. Alle waren gegen ihn. Man glaubte, er würde nur schreckliche Monster fin-den. Er fand aber eine großartige Mathematik und die Men-torianer. Rhazon schaffte sich damals Freunde und Ver-bündete, von denen wir inzwischen viel gelernt haben.“ Vorongil lächelte. „Sie werden mich doch nicht an den Rat verraten, Bartol? Ich bin nämlich der Meinung, daß die Menschen weitaus mehr Beachtung verdienen, als ihnen im Augenblick zugestanden wird. Der nächste Hohe Rat wird sich dieser Erkenntnis vielleicht nicht mehr verschließen.“

Vorongil blieb stehen und deutete nach vorn. „Das ist das Denkmal“, sagte er ergriffen.

Das Monument bestand aus tiefblauem Sandstein. Die Buchstaben waren dunkel gehalten und bildeten einen scharfen Kontrast, der von den Lhari wahrgenommen wer-den konnte. Das Denkmal war ein hoher Obelisk, der schlank in den gleißenden Himmel ragte.

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Bart las die Inschrift. Sie lautete: „In Gedenken an unsere große Fahrt errichte ich, Rhazon

von Nedrun, dieses Denkmal. Ich errichte es an der Stelle, an der wir zum erstenmal in einer fremden Galaxis lande-ten. Laßt uns nie wieder das Unbekannte fürchten und dar-auf vertrauen, daß das Universum viele Überraschungen birgt.“

„Ich bewundere echten Mut mehr als alles andere“, sagte Vorongil. „Sind Sie nicht auch sehr stolz darauf, ein Lhari zu sein, Bartol?“

Steele war gerührt. Er riß sich aber zusammen. Ja, das Universum hielt viele Überraschungen bereit. Vorongil und die anderen Lhari sollten das sehr bald erfahren.

Die Plakette am Handgelenk verfärbte sich bereits ein wenig. Bart sah sich ängstlich um. Er mußte in Deckung gehen. Plötzlich sah er eine Bewegung.

„Die Felsen!“ rief er entsetzt. „Sie bewegen sich!“ Vorongil war beeindruckt. „Das hab’ ich noch nie gese-

hen“, sagte er staunend. „Sie scheinen den Weg zu verbrei-tern.“

Bart warf wieder einen Blick auf die sich schnell dunkler färbende Plakette. Montano und seine Leute hatten irgend-wo ein Gerät aufgestellt, das starke Strahlen abgab.

Steele begann plötzlich wieder zu zweifeln. War der Preis nicht zu hoch? Durften Vorongil, der alte Rugel und all die anderen bedenkenlos geopfert werden? Er dachte verzweifelt an seinen Vater. Was hätte der wohl in dieser Situation getan?

Er entschied sich schnell. „Ich muß zum Schiff zurück, Sir“, sagte er ruhig. „Vielen Dank für die Freundlichkeit,

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mir das Denkmal zu zeigen! Es gibt aber noch viel Arbeit zu verrichten.“

„Nicht so eilig, Federkopf!“ sagte Vorongil gutmütig. „Sehen Sie die Betonbunker? Prüfen Sie, ob die Bunker gefüllt sind.“

„Sind sie nicht verschlossen?“ Vorongil sah überrascht auf. „Sie haben zu lange unter

diebischen Menschen gelebt, Bartol“, sagte er vorwurfs-voll. „Warum sollten wir die Bunker verschließen, wenn doch nur unsere Schiffe auf diesem Planeten landen? Es wird Zeit, daß Sie wieder nach Hause kommen.“

Bart eilte zu den Bunkern. Die Plakette wurde immer dunkler. Die aufgenommene Strahlendosis war schon sehr gefährlich.

Zwei Bunker waren mit einem pulverisierten Gestein ge-füllt, doch der dritte war leer. Bart stürmte hinein und warf die schwere Tür hinter sich zu. Plötzlich hörte er Schritte.

„Keine Bewegung!“ hörte er einen Mann sagen. Er er-starrte und hob die Hände über den Kopf. Dann erkannte er Montano, der einen Raumanzug trug. Den Helm hatte er aber abgenommen. Seine Waffe war auf Bart gerichtet.

Nach dem ersten Schreck fand Bart seine Stimme wie-der. „Ich bin es, Bart Steele!“ rief er aufgeregt.

Montano steckte seine Waffe ein und kam näher. „Ich hätte Sie beinahe erschossen, Bart. Hier sind wir sicher. Die Radioaktivität hat eine Halbwertzeit von zwölf Minu-ten. Wir brauchen nur eine Stunde zu warten. Konnten Sie das Meßgerät unbrauchbar machen?“

Bart nickte. In einer halben Stunde würden sie alle tot sein, auch Vorongil, Rugel, der Zweite Offizier und Ringg.

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Und was sollte dann geschehen? Würde das Morden aufhören? Würde Montano dann jeden töten, der ebenfalls in den Besitz der neuen Erkenntnisse gelangen wollte? Schön, die Menschen wollten das Geheimnis des Hyperan-triebs ergründen. Aber war diese Methode zu rechtfertigen?

Steele betrachtete Montano, der sich gleichgültig an eine Wand lehnte. Es hatte keinen Sinn, sich auf Diskussionen einzulassen.

Bart griff unbewußt nach seiner Waffe. Sollte er Monta-no töten, um die Lhari zu retten? Es gab aber noch eine an-dere Möglichkeit. Er zog die Waffe und stellte sie auf die geringste Energieabgabe ein. Der Energiestrahl würde jetzt nicht töten, sondern nur betäuben.

Montano schien das Hantieren an der Waffe für Spielerei zu halten, denn er reagierte nicht darauf. „Wieviel Lhari sind an Bord?“ fragte er.

„Dreiundzwanzig.“ „Sind welche davon hinter den Schutzwänden?“ „Wahrscheinlich nicht. Sie sind alle ins Freie gegangen.“ Montana nickte zufrieden. „Dann haben wir nichts zu

befürchten.“ In diesem Augenblick riß Bart die Waffe hoch. Er sah

den Ausdruck der Verständnislosigkeit im Gesicht Monta-nos, dann das jähe Begreifen. Bart drückte ab, noch ehe Montano seine Waffe ziehen konnte. Montano fiel vorn-über und blieb still liegen.

Bart stöhnte auf. Hatte er den Mann umgebracht? Er eil-te hinüber und fühlte Montanos Pu]ß. Das Herz schlug noch. Im Bunker konnte ihm nichts passieren.

Steele eilte ins Freie. Hatten die Lhari schon eine tödli-

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che Strahlendosis aufgenommen? Die Plakette war nun schon dunkelrot. Bart eilte weiter und begegnete zwei Be-satzungsmitgliedern. „Wo ist der Kapitän?“ keuchte er.

„Wahrscheinlich noch am Denkmal. Was ist los?“ Bart hetzte weiter. Vorongil hörte das Stampfen und

drehte sich um. Steele war nicht mehr an die Gravitation eines Planeten gewöhnt und schon völlig außer Atem. Er bemerkte, daß er die Waffe noch in der Hand hielt. Mit ei-ner Geste des Abscheus warf er sie zu Boden.

„Sie müssen die Leute warnen, Kapitän!“ keuchte er. „Wenn sie nicht sofort Schutz suchen, werden sie in einer halben Stunde tot sein.“

„Sie haben wohl einen Sonnenstich?“ brummte Vorongil aufgebracht. Er bückte sich und hob die Waffe auf. „Reden Sie endlich vernünftig, Bartol.“

„Wir müssen sofort ins Schiff!“ sagte Bart fest. „Die ra-dioaktive Strahlung wird uns sonst töten.“

„Das Meßgerät ist nicht in Ordnung, Federkopf. Woher wollen Sie wissen, daß …?“

Steele war verzweifelt. Er konnte den Kapitän nicht in den Bunker schicken, denn das würde Montanos Ende be-deuten. Seine Stimme klang fast hysterisch. „Sie müssen mir glauben!“ schrie er und packte einen Arm Vorongils. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Sie müssen mir glau-ben.“ Er zögerte einen kurzen Augenblick und schrie dann: „Ich bin kein Lhari!“

„Wie?“ Zwei Lhari kamen eilig heran. „Rugel ist zusammen-

gebrochen!“ riefen sie aufgeregt.“ „Das erste Opfer!“ brüllte Bart.

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Vorongils Rechte schoß vor. Die Krallen bohrten sich in Barts Schulter. „Ich bin kein Lhari“, sagte Steele noch einmal. „Ich habe mich in das Schiff geschmuggelt. Die anderen wollten euch töten, um in den Besitz der ‚Swif-ting’ zu kommen. Ich kann euch aber nicht kaltblütig um-bringen.“

Bart sah, daß Vorongil ihm nicht glaubte. „Wie kann ich euch nur beweisen, daß ich die Wahrheit sage?“ rief er ver-zweifelt. Dann riß er sich die Kontaktlinsen von den Au-gen. Die gleißende Helligkeit blendete ihn augenblicklich. Er spürte einen höllischen Schmerz und sank zusammen. Zwei Lhari fingen ihn auf. Er hörte Vorongils Kommandos und wurde bewußtlos. Er glaubte noch, den Ton der Warn-sirene zu hören, bevor er in tiefe Dunkelheit sank und nichts mehr spürte. Etwas später kam er wieder zu sich. Er sah die Umrisse eines Kopfes, konnte aber die Gesichtszü-ge nicht erkennen. Ein gewaltiger Gong schien in seinem Kopf zu dröhnen und ihn wahnsinnig zu machen.

*

Als Bart endlich erwachte, wurde er von dem Druck der Beschleunigung in die Kissen gepreßt und bekam kaum Luft. Er wollte sich bewegen und stellte fest, daß er festge-bunden war. Seine Augen waren mit einer leichten Binde bedeckt. Der Druck ließ bald nach.

„Er kommt durch“, hörte er Vorongil sagen. „Leider“, antwortete der Schiffsarzt bitter. „Reden Sie keinen Unsinn, Baldy!“ sagte Vorongil

scharf. „Wer immer er ist, er hat uns gerettet und dabei sein

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Augenlicht, ja sogar sein Leben riskiert. Bartol, können Sie mich hören?“

Steele nickte leicht. „Welche Lichtstärke können Ihre Augen ertragen?“ „Ich habe die Augen eines Mentorianers“, antwortete

Bart schwach. Der Arzt nahm ihm die Binde von den Augen. Bart er-

blickte eine auf einem anderen Bett liegende Gestalt. Vorongil folgte seinem Blick und sagte rauh: „Das ist

Rugel. Sein Herz konnte die Belastung nicht ertragen.“ Vorongil senkte den Kopf. „Er hatte schon seinen Kamm im Dienst verloren, als meiner zum erstenmal richtig sproß.“

Bart zitterte vor Angst. Er war an das Bett gefesselt. Aus einer Flasche rann eine Flüssigkeit in seinen Kreislauf.

„Das Blut mußte erneuert werden“, erklärte Vorongil. „Zufällig hat einer der Mentorianer Ihre Blutgruppe. Sie hätten es beinahe nicht geschafft.“

Der Arzt blickte mit unverhohlener Neugier auf Bart. „Unglaublich!“ rief er. „Wenn ich mich nicht mit eigenen Augen von seinem Knochenbau überzeugt hätte, würde ich es nicht für möglich halten, daß er kein Lhari ist. Es hat wohl keinen Sinn, ihn zu fragen, wer die Operationen vor-genommen hat.“

„Warum haben Sie das getan, Bartol?“ fragte Vorongil. „Ich konnte Sie nicht sterben lassen“, murmelte Bart. „Hören Sie nicht auf ihn!“ knurrte der Arzt. „Das ist si-

cher nur ein Trick, mit dem er sich unser Vertrauen erwer-ben will.“

„Dafür hätte er kaum sein Leben riskiert“, antwortete

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Vorongil. „Übrigens haben wir noch vor dem Start die Bunker nachgesehen und einen Mann gefunden.“

„War er tot?“ fragte Bart gepreßt. „Nein.“ „Gott sei Dank!“ Aber nach der Erleichterung kam die

Angst. „Haben Sie ihn umbringen lassen?“ „Wofür halten Sie uns?“ fragte Vorongil gekränkt. „Er

ist wahrscheinlich schon in Sicherheit. Er hat nicht viel Strahlung abbekommen.“

Bart starrte auf die in seinem Arm steckende Nadel. „Warum machen Sie sich diese Mühe, wenn Sie mich doch umbringen werden?“ fragte er.

„Ihr habt eigenartige Vorstellungen“, murrte Vorondil. „Glauben Sie im Ernst, daß wir Ihnen unsere Rettung so danken?“

„Wenn es nach mir ginge, würde ich ihn sofort …“ „Seien Sie still!“ fuhr Vorongil den Arzt an. „Lassen Sie

uns jetzt allein!“ Nachdem der Arzt gegangen war, blickte Vorongil lange

in Barts Augen. „Ich weiß nicht, was ich denken soll“, sag-te er schließlich. „Was Sie getan haben, war sehr mutig. Sind Sie Mentorianer?“

„Nur zur Hälfte. Meine Mutter war Mentorianerin.“ Vorongil schüttelte immer wieder den Kopf. „Es ist

merkwürdig, daß ich am Denkmal mit Ihnen reden konnte wie mit einem …“

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Seine Stimme wurde plötzlich kälter und härter. „Ich habe mich noch nicht ent-schieden, Bartol. Die Besatzung ist noch nicht informiert. Je weniger Leute davon wissen, desto besser. Ich habe den

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Leuten nur gesagt, daß Sie an der Strahlenkrankheit leiden. Es ist ja auch die Wahrheit. Ruhen Sie sich aus. Sie werden alle Kraft brauchen.“

Bart sah dem Kapitän nach. Wozu sollte er sich erholen? Er fühlte sich schwach und elend. Ein Gedanke drängte sich immer wieder in den Vordergrund: Sie hatten ihn nicht getötet. Und er hatte das Gefühl, daß sie ihn auch nicht umbringen wollten.

*

Bart Steele wurde nicht wie ein Gefangener behandelt. Der Arzt brachte ihm die besten Speisen und Getränke. „Nach den erlittenen Strahlungsschäden brauchen Sie viel Ei-weiß“, erklärte er. Bart blieb in seinem Bett liegen, denn er fühlte sich noch sehr sehwach. Er wartete einfach ab und ließ die Dinge an sich herankommen.

Die Gedanken ließen sich aber nicht verscheuchen. Er hatte Montano verraten – ihn und die anderen Männer, die der Geheimorganisation angehörten.

Sie kennen die Lhari nicht, rechtfertigte er sich vor sei-nem Gewissen. Aber er hatte die einzige Chance verdorben, den geheimnisvollen Treibstoffkatalysator zu entdecken; er hatte sich gegen seine Mitmenschen entschieden. Aber hat-te er nicht etwas weit Besseres erreicht? Er hatte erkannt, daß Vorongil, Ringg und die anderen Lhari durchaus ak-zeptable Burschen waren. Doch würde das jemals ein ande-rer erfahren? Die Wahrheit läßt sich nicht unterdrücken, sagte er sich. Früher oder später wird sie allen bekannt sein. Mit diesem Gedanken schlief er beruhigt ein.

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Als er wieder erwachte, saß Meta an seinem Bett. Bart fühlte sich noch sehr schwach und konnte nur matt lächeln.

Meta inspizierte die Nadel in seiner Vene, durch die er noch immer mit Heilmitteln und Blutkonserven versorgt wurde. „Wissen die anderen wirklich noch nichts?“ fragte er angstvoll.

„Ich glaube nicht. Vorongil kam zu mir in die Kabine und fragte mich, ob ich ein Geheimnis wahren könne. Ich kam fast um vor Angst, als er mir alles erzählte. Ich hatte Angst, obwohl ich genau wußte, daß die Lhari Sie nicht töten würden, Bart.“

„Wie konnten Sie das wissen?“ fragte er verblüfft und dachte dabei an David Briscoe.

„Ich wußte es eben“, antwortete sie. „Die Lhari haben ja die Möglichkeit, die Erinnerungen an all diese Erfahrungen auszulöschen.“

Bart stöhnte auf. Ja, das war es! Meta erkannte seine Qual und zog die Nadel aus der

Vene. „Vorongil hat mir nicht erzählt, wie Sie erkannt worden sind, Bart. Wollen Sie es mir sagen?“

Steele erzählte alles. Es bestand kein Grund mehr, irgend etwas zu verschweigen. Er war in der Macht der Lhari und konnte sich nicht mehr befreien.

Meta hörte sich alles an und lächelte dann dankbar. „Das war richtig, Bart“, sagte sie. „Ein Mentorianer hätte nicht anders gehandelt. Ich weiß, viele halten uns für die Sklaven der Lhari. Das ist aber ein Irrtum. Wir sind lediglich be-müht, den Lhari zu beweisen, daß sie uns trauen können. Alle fühlen sich den Lhari ebenbürtig, aber nur die Mento-rianer sind bereit, das auch zu beweisen. Wir haben schon

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viel erreicht, Bart. In allen Lhari-Schiffen fliegen Mentori-aner als unentbehrliche Helfer. Unser Weg ist vielleicht länger als der der Gewalt, aber er wird zum Ziel führen.“

Bart war nicht ganz davon überzeugt. Nach seiner Mei-nung fehlte den Mentorianern das Unabhängigkeitsstre-ben.

„Ich muß zugeben, daß ich mich kaum mit solchen Ge-danken beschäftigt habe“, sagte er. „Ich wollte nur das Ge-heimnis des Hyperantriebs erkennen. Die Gewalt stieß mich ab. Ich will keinen Haß säen, Meta. Wenn es zu ei-nem offenen Krieg zwischen uns und den Lhari kommt, werden wir keinen Frieden mehr finden.“

*

Bart mußte lange in der Krankenabteilung liegen.

Er fühlte sich bald wohler und wurde ungeduldig. Eines Tages spürte er das Vibrieren des Hyperantriebs, kümmerte sich jedoch nicht weiter darum. Meta bekam aber große Angst und klammerte sich an ihn.

„Was ist das, Bart?“ fragte sie ängstlich. Steele wurde bewußt, daß Meta das nie erlebt hatte. Sie

schien nun aber zu erkennen, was vorging, und wurde bleich. „Ich darf mich nicht fürchten“, murmelte sie. „Nach allem, was Sie getan haben, wäre Feigheit unverzeihlich.“

„Sie brauchen sich nicht zu fürchten“, sagte Bart fröh-lich. „Es ist völlig ungefährlich. Wir können den Hyperan-trieb ohne Schwierigkeiten überstehen. Ich habe es oft ge-nug erlebt.“

„Sie sind ja auch ein Lhari!“ rief sie unwillkürlich aus.

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Dann schüttelte sie aber den Kopf. „Wie konnte ich nur!“ rief sie verzweifelt aus.

„Macht nichts, Meta! Ich sehe nur äußerlich wie ein Lhari aus. Meine inneren Organe sind nicht verändert wor-den.“

„Ich möchte es gern glauben“, schluchzte das Mädchen angstvoll. „Mein Leben lang ist mir erzählt worden, daß wir den Hyperantrieb nur im Zustand des Kaltschlafs ertra-gen können.“

Sie riß die Augen auf und setzte sich auf einen Stuhl. Sie wurde in den Sitz gepreßt und verlor beinahe das Bewußt-sein.

Bart brüllte sie unbarmherzig an: „Reißen Sie sich zu-sammen, Meta! Es passiert nichts!“ Er packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie. „Wenn Sie sterben, dann nur aus Angst!“

Die Mentorianerin überwand ihre Furcht. „Warum soll ich nicht schaffen, was Sie geschafft haben?“ murmelte sie und klammerte sich an Bart.

Steele war selig. Der ungeheure Druck der Beschleuni-gung preßte Meta fest an ihn. Ihm wurde schwarz vor Au-gen, und er schien in einen gähnenden Abgrund zu stürzen.

Aber dann war alles vorbei. „War es so schlimm, Meta?“ fragte er heiser.

Das Mädchen richtete sich staunend auf. Dann wich es entsetzt zurück. Bart hatte seine Maske vergessen und wie ein normaler Mensch gefühlt. Jetzt empfand er tiefe Bitter-keit.

„Sehe ich denn so schrecklich aus, Meta?“ fragte er be-drückt.

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Meta schüttelte den Kopf. Sie suchte offensichtlich nach Worten. „Es ist doch nur … Die Lhari sind …“

„Sie sind anders“, sagte Bart rauh. „Ich fühlte mich an-fangs auch abgestoßen. Ich hatte das Gefühl, zwischen fremdartigen Tieren zu leben. Aber dann gewöhnte ich mich an die Lhari; ich war ja einer von ihnen. Ringg war ein anderer netter Junge, weiter nichts. Er sah anders aus, aber er war wie ich, dachte, fühlte und reagierte genau wie ich.“

Meta strich Bart zärtlich über die Klauenhand. „Wir ha-ben lange versucht, den Lhari nahezukommen, Bart“, sagte sie bewegt. „Aber erst dir ist es richtig gelungen.“

Er zog Meta an sich. Sie wehrte sich nicht und hätte sich sicher von ihm küssen lassen, wenn sich die Tür nicht ge-öffnet hätte.

Ringg trat ein und warf einen erstaunten Blick auf die beiden. Doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Ich wollte nur mal nach dir sehen“, sagte er verlegen. „Jetzt erinnere ich mich aber an deine schlechte Reaktion und verschiedene andere Dinge.“ Er schloß die Tür hinter sich und fragte leise: „Du bist kein Lhari, nicht wahr?“

„Vorongil weiß es schon“, antwortete Bart. Ringg nickte. „Das dachte ich mir. Seit den Ereignissen

auf Lharillis gehen Gerüchte durch das Schiff. Es wird be-hauptet, daß du eine Überdosis Radioaktivität abbekom-men hast.“

„Das stimmt. Ich war sehr krank.“ Der Lhari hob gedankenlos die Hand und befühlte seine

noch immer nicht verheilten Narben. Dabei bemerkte er Barts schuldbewußtes Gesicht und lachte. „Mach dir keine

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Gedanken, Bartol! Ich schätze jeden, der einen ehrlichen Kampf liebt und seine Klauen zu benutzen versteht, beson-ders dann, wenn er sie noch nicht lange hat.“

Ringg trat näher an Bart heran. „Ich vergesse nicht, daß du mir das Leben gerettet hast. Du bist für alle ein Held, weil du uns auf Lharillis gewarnt hast. Bist du tatsächlich ein Mensch? Warum wirfst du die Maske nicht einfach ab?“

Bart lachte bitter auf. „Wenn das so einfach wäre, Ringg!“

Dann erklärte er dem Freund, wie schwer es sein würde, das frühere Aussehen zurückzuerlangen.

„Ich möchte zu gern wissen, was für ein Mensch ich sein würde“, sagte Ringg nachdenklich. Nach einem Blick auf Metas Hände fügte er schnell hinzu: „Ich hätte aber nicht die Nerven dazu.“

„Es macht dir nichts aus, daß ich ein Mensch bin?“ frag-te Bart gespannt.

„Es ist ein Schock für mich“, gab Ringg ehrlich zu. „Ich fürchte mich ein wenig vor dir. Aber ich erinnere mich auch an unsere Freundschaft. Diese Freundschaft war von Anfang an echt, Bartol.“

Ringg war noch immer in der Krankenabteilung, als Vo-rongil kam. „Ich hätte es wissen sollen“, brummte der Ka-pitän. „Wenn einer alles aufdecken würde, dann Sie, Ringg.“

„Soll ich gehen, Rieko Mori?“ fragte Ringg respektvoll. „Nein, bleiben Sie hier! Früher oder später müssen Sie

doch alles erfahren.“ Vorongil wandte sich an Meta. „Alles in Ordnung?“

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Die Mentorianerin blitzte den Kapitän vorwurfsvoll an. „Warum haben Sie uns so lange belogen, Sir?“

Vorongil wirkte ein wenig verwirrt. „Es war keine Lüge, Meta“, antwortete er. „Neun von zehn Kapitänen glauben tatsächlich, daß ihr Menschen den Hyperantrieb nur im Kaltschlaf überleben könnt. Ich glaubte es auch, bis ich die letzten Debatten des Hohen Rates hörte.“

„Aber warum?“ fragte Meta. Vorongil blickte Bart an. „Ich vermute, Sie sind mit der

Geschichte der Menschheit vertraut, Bart. Wir haben eine viel längere Geschichte, und doch hat es bei uns nie Kriege gegeben. Wir fürchteten uns vor euch und wollten euch keine Chance geben, Dinge herauszufinden, die uns gefähr-lich werden konnten. Die ersten in unseren Schiffen flie-genden Mentorianer wurden nicht betäubt. Es ist in den Logbüchern verzeichnet. Später wurden die Mentorianer immer wichtiger für uns. Wir bereuten unsere Maßnahmen, konnten sie aber nicht mehr ändern. Alle diesbezüglichen Versuche schlugen fehl. Wenn wir die Mentorianer nicht betäubten, starben sie vor Angst. Ich riskierte es mit Ihnen, Meta, weil Bart bei Ihnen war. Das Experiment ist ge-glückt.“

Bart konnte keine Freude empfinden. „Was soll aus uns werden, Sir?“ fragte er beklommen.

„Wir werden euch nichts tun“, antwortete Vorongil. „Glauben Sie das etwa nicht?“

„Nein, Sir. Ich denke an David Briscoe und drei andere Männer.“

Vorongil ging mehrmals auf und ab, ehe er sich zu einer Antwort entschloß. „Aus Angst begehen wir oft Fehler.

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Darin sind sich Lhari und Menschen wohl gleich. Eure merkwürdige Vergangenheit ängstigt uns. Können Sie ga-rantieren, daß nicht einige Menschen versuchen werden, uns gewaltsam zu überrumpeln, um in den Besitz unserer Erkenntnisse zu gelangen? Wir ließen einen Mann zurück, dem es nichts auszumachen schien, uns alle umzubringen. Der Kapitän der ‚Multiphase’ hat David Briscoe und seine Mitwisser umbringen lassen und damit gegen unsere Ge-setze verstoßen. Er hat es aber nur getan, um ein noch grö-ßeres Blutvergießen zu verhindern. David Briscoes Bericht hätte einen Krieg auslösen können – einen Krieg, der viele Millionen Opfer gefordert hätte. Ich will den Kapitän der ,Multiphase’ nicht verteidigen, sondern nur erklären, was sich zugetragen hat.“

Steele senkte den Blick. Er wußte keine Antwort. „Wir werden Sie nicht töten, Bart“, erklärte Vorongil.

„Mehr kann ich Ihnen aber nicht zusichern. Sie werden sich vor dem Hohen Rat verantworten müssen. Eine Psy-cho-Kontrolle ist unumgänglich. Das ist nicht illegal, son-dern vertraglich festgelegt. Wenn Sie etwas wissen, das uns gefährlich werden könnte, haben wir das Recht, Ihnen die-ses Wissen zu nehmen.“

Meta lächelte, doch Bart bekam eine Gänsehaut. Der Verlust der Erinnerungen schien ihm fast so schlimm wie der Tod.

5. Kapitel

Während das Raumschiff unaufhaltsam durch das All raste, steigerte sich Steeles Angst immer mehr, Schon kurz vor

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der Landung wurde er streng bewacht und keinen Augen-blick unbeobachtet gelassen. Durch eine dunkle Brille sah er die außerordentlich helle Sonne und die hoch in den gleißenden Himmel ragenden glitzernden Gebäude. Er wurde in einen Wagen gesetzt und fortgebracht. Er sah das Ziel nicht von außen, denn der Wagen fuhr in einen Keller und hielt vor einem Lift. Bart wurde nach oben gefahren und in ein Appartement gebracht. Die Einrichtung war lu-xuriös: Wände, Decken und Böden waren lichtdurchlässig, die Möbel leuchteten in harmonisch abgestimmten Farben. Und doch war alles weich gepolstert, so daß Bart sich un-möglich verletzen konnte. Er wußte nicht, ob er sich in ei-nem Luxushotel oder in einer Irrenanstalt befand.

Bart wurde regelmäßig mit Nahrung versorgt, und jede Stunde kamen zwei riesige Lhari, um nach ihm zu sehen. Sie waren aber entweder taubstumm oder nicht gewillt, sich mit ihm zu unterhalten. Die Einsamkeit wurde schließ-lich noch schlimmer als die Angst vor der Zukunft.

Aber auch das hatte ein Ende. Nach drei Tagen kamen ein Lhari und ein Mentorianer, Sie führten Steele durch viele Gänge in einen Raum, wo vier andere Lhari warteten. Bart durfte sich in einen bequemen Sessel setzen und seine dunkle Brille aufbehalten.

„Ich bin beauftragt, Ihnen zu sagen, daß Ihnen kein Schaden zugefügt werden soll“, erklärte der Mentorianer. „Wenn Sie zur Zusammenarbeit bereit sind, wird es über-haupt keine Schwierigkeiten geben. Ich muß Ihnen aber auch sagen, daß jeder Widerstand absolut sinnlos ist: Wenn Sie nicht zur Zusammenarbeit bereit sind, werden wir lei-der gröbere Mittel anwenden müssen.“

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Bart fühlte sich unsagbar gedemütigt. Die Vernunft sag-te ihm aber, daß jeder Widerstand sinnlos war. Er war Mil-lionen von Kilometern von der Heimat entfernt und den Lhari auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Bart Steele er-gab sich daher in sein Schicksal. Sollten sie seine Erinne-rungen auslöschen, ihn zu einer willenlosen Marionette machen.

„Also gut“, sagte er resigniert. „Ich werde mich nicht wehren.“

„Das ist vernünftig“, erwiderte der Mentorianer. „Geben Sie mir bitte den rechten Arm!“

Steele hob den Arm und starrte auf die blanke Nadel, die schmerzlos in seine Vene fuhr. Die Gedanken begannen in einem wilden Tanz durch sein Gehirn zu wirbeln, sich cha-otisch zu verwirren. Und dann war alles aus.

*

Bart lag auf einer Couch und schüttelte benommen den Kopf. Er richtete sich auf und spürte Schmerzen. Der Schädel brummte wie nach einer durchzechten Nacht. Je-mand hielt ihm eine Tasse mit einer kalten Flüssigkeit an die Lippen.

„Trinken Sie das!“ sagte eine Stimme. Steele spürte die kühle Flüssigkeit auf der Zunge. „Wenn Sie sich wieder besser fühlen, können wir gehen“,

sagte der Mentorianer. „Der Hohe Rat wartet auf Sie.“ Bart blinzelte. Er erinnerte sich an alles, nichts war ver-

loren. Sie hätten mir das alles nehmen können! durchfuhr es

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ihn. Sie hätten meine Haltung ändern und mich zu einem Freund der Lhari machen können. Ich bin immer noch ich selber.

„Ich bin bereit“, sagte er und sprang auf. Er mußte sich aber an dem Mentorianer festhalten und ums Gleichge-wicht kämpfen. Die kleine Störung war jedoch schnell überwunden. Der Mentorianer führte ihn durch einen lan-gen Gang bis an eine Tür. Durch einen vergitterten Schlitz sagte er: „Ich bringe den Weganer Bart Steele.“

Die Tür wurde sofort geöffnet, und Bart konnte einen Raum mit einem gewölbten Dach betreten. Das Licht schimmerte grünlich durch den hohen Dom, gedämpft, aber für Barts Augen noch sehr hell. Er fragte sich sofort, wie die Lhari dieses wunderbare Licht sahen.

Vor sich erblickte er einen glasartigen schwarzen Boden, und im Hintergrund des riesigen Raumes einen halbrunden Tisch, hinter dem acht Lhari saßen. Alle trugen helle Ro-ben mit hochgestellten Kragen. Diese Lhari waren offen-sichtlich alt, denn ihre Gesichter waren zerfurcht, ihre Kämme niedrig und grau oder überhaupt nicht mehr er-kennbar. Bart bemerkte den prüfenden Blick der intelligen-ten Augen und zögerte einen Moment. Dann richtete er sich aber stolz auf und ging auf den halbrunden Tisch zu. Sie hatten ihm sein Selbstbewußtsein und seine Erinnerun-gen gelassen.

Keiner rührte sich, bis Bart vor dem Tisch stand. Voron-gil lächelte ihm aufmunternd zu.

„Ist dieser Mann Bart Steele, Kapitän Vorongil?“ fragte der jüngste der Räte. Auf seinem Kopf saß noch ein Kamm, dessen federige Haare allerdings schon grau waren.

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„Er ist es“, antwortete Vorongil würdevoll. „Nun, Bart Steele, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung

zu sagen?“ fragte der Lhari. Bart antwortete nicht gleich. Sollte er sagen, wie einsam

er sich fühlte? Bis zu diesem Augenblick hatte er sich für einen tapferen Spion gehalten, doch unter den Blicken der weisen alten Lhari schrumpfte sein Selbstbewußtsein rapi-de zusammen. Er war plötzlich nicht mehr der tapfere Kämpfer für die Belange der Menschen, sondern ein irre-geleiteter, närrischer kleiner Junge. Bart senkte verlegen den Blick und fand keine Worte.

„Wir haben die Niederschrift Ihres gesamten Wissens gelesen“, fuhr der Lhari fort. „Wir konnten nichts Neues entdecken. Die Angelegenheiten der Menschen interessie-ren uns nur dann, wenn sie gegen uns gerichtet sind. Die Behörden des Antares-Systems werden diesen Montano aburteilen, weil er den Vertrag verletzt hat und auf Lharillis gelandet ist.“

Der Lhari lächelte plötzlich verständnisvoll. „Bart Steele“, fuhr er fort, „wir erkennen Ihren Mut an. Sie fürchten, daß wir Ihnen die Erinnerungen nehmen, nicht wahr?“

Bart nickte wortlos. Konnten die Lhari seine Gedanken lesen?

„Vor einem halben Jahr hätten wir das noch getan“, sag-te der Sprecher des Rates ernst. „Kapitän Vorongil, der Rat hat sich mit den von Ihnen eingebrachten Vorschlägen be-schäftigt. Das Geheimnis, daß Menschen den Hyperantrieb überleben können, ist kein Geheimnis mehr, ob uns das lieb ist oder nicht. Wir können die alten Berichte nicht ver-nichten und keinen Menschen davon abhalten, sie zu stu-

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dieren. Der Kapitän, der für David Briscoes Tod verant-wortlich ist, wird von unseren besten Psychologen behan-delt. Die Schuld lag bei ihm, denn er ermöglichte es Bris-coe, sich an Bord zu schleichen. Seine Entscheidung, den Mitwisser zu töten, war nicht bösartig, aber falsch. Und nun wieder zu Ihnen, Bart Steele. Sie wissen nichts, was uns gefährlich werden könnte. Die Lage unserer Heimat ist Ihnen nicht bekannt. Sie wissen nicht einmal, in welcher Galaxis wir leben. Das Geheimnis unseres Treibstoffkata-lysators ist Ihnen ebenfalls nicht bekannt. Was Sie erfahren haben, wird ohnehin bald allen Menschen bekannt sein, so daß kein Anlaß besteht, Ihre Erinnerungen an bestimmte Ereignisse zu blockieren.“

„Sie können also frei reden“, sagte ein anderer alter Lhari. „Vielleicht wird Ihr Bericht zur Verbesserung der Bezie-hungen zwischen den beiden Rassen beitragen. Ich wün-sche Ihnen jedenfalls viel Glück.“

„Es gibt aber noch einen anderen Aspekt“, sagte ein ande-res Ratsmitglied. „Sie haben einen zwischen Menschen und Lhari bestehenden Vertrag gebrochen. Wir haben Sie so be-handelt, wie unsere Gesetze es von uns verlangen. Wir erwar-ten, daß die Förderation Rechenschaft von Ihnen fordert. Sie werden also mit der ‚Swifting’ zu dem Planeten zurückge-bracht werden, wo sich der Übergriff ereignet hat. Das ist Procyon Alpha. Sie werden dort zusammen mit Raynor III vor ein Gericht gestellt werden. Kapitän Vorongil hat den Auftrag, die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zu überwachen.“

Ich habe trotz allem verloren, dachte Bart müde. Ich habe nichts Wichtiges erfahren. Die Lhari halten es nicht einmal für notwendig, meine Erinnerungen an diese denkwürdige

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Reise zu blockieren. Bart fühlte sich gekränkt. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der sich große Mühe gegeben hat, in eine Speisekammer einzudringen, um ein Stück Ku-chen zu erbeuten, und dabei ertappt wurde.

Vorongil berührte ihn sanft. „Kommen Sie, Bart“, sagte er mitfühlend. „Ich werde Sie zurückbringen. Ich muß Sie doch nicht wie einen Gefangenen behandeln?“

Bart schüttelte den Kopf. Wohin sollte er denn fliehen? Als er sich umdrehte, bedeckte er sein Gesicht mit den Händen. Dabei bemerkte er eine Veränderung. Seine Fin-ger waren schlanker und länger als sonst, aber sie waren wieder ohne Krallen. Die Haut war noch etwas grau, nahm aber schon die gewohnte rötliche Tönung an. Aufgeregt fuhr er sich mit der Hand über den Kopf. Der Kamm war verschwunden, und aus der kahlgeschorenen Kopfhaut sprossen bereits wieder Haare.

Vorongil blickte den Mentorianer vorwurfsvoll an und wetterte: „Warum haben Sie es ihm nicht gesagt?“ Er zog Bart an sich und tröstete ihn. „Ich dachte, Sie wüßten es schon, Bart. Unsere Ärzte haben Ihnen wieder das frühere Aussehen gegeben.“

Steele bekam Rugels Kabine zugewiesen. Er erfuhr, daß er drei Wochen lang in einem Krankenhaus gelegen hatte. Während dieser Zeit waren die notwendigen Operationen vorgenommen worden.

Er sah aber nicht ganz wie früher aus. Raynor III hatte ihn zu Recht gewarnt, daß die Rückwandlung nicht voll-ständig sein würde. Kinn und Nase waren länger und schlanker, und die Hände blieben fremdartig, wenn auch ohne die Krallen. Außerdem war er älter und reifer gewor-

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den. Sein Aussehen würde ihn sein Leben lang an sein Abenteuer erinnern.

Kurz vor dem Abflug kam Vorongil in die Kabine. „Sie haben wenig von unserer Welt gesehen, Bart“, sagte

er freundlich. „Ich habe eine Besuchsgenehmigung für Sie erwirkt. Sie können sich die Stadt ansehen.“

„Sie glauben, daß ich vertrauenswürdig bin?“ fragte Bart erstaunt.

„Das ist nicht wichtig“, antwortete Vorongil ernst. „Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden. Die Menschen haben auch keine Möglichkeit, uns zu erreichen. Wir haben also nichts zu befürchten.“

Steele überlegte nicht lange. Die Güte der Lhari be-schämte ihn sehr. Er sah aber ein, daß er durch bloßes He-rumsitzen und Grübeln nichts gewinnen konnte. Es war besser, die einmalige Gelegenheit zur Besichtigung der Stadt zu nutzen.

Ringg und Meta waren sehr erstaunt, als sie ihn sahen. Meta eilte auf ihn zu und ergriff seine Hände. „Es ist merkwürdig, wie unwichtig das Aussehen auf einmal ist“, sagte sie bewegt. „Es kommt anscheinend immer nur auf das Wesen an.“

Ringg schüttelte ungläubig den Kopf und musterte Bart von allen Seiten. „Sag etwas!“ rief er schließlich. „Ich kann nicht glauben, daß du es bist.“

Bart streckte seine Hände vor und sagte grinsend: „Auf einen Kampf mit dir kann ich es jetzt nicht mehr ankom-men lassen, Ringg.“

Der Lhari lachte auf. „Du bist tatsächlich Bartol!“ sagte er begeistert.

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*

Beim Verlassen des Raumschiffes bewunderte Bart den riesigen Flughafen. Jetzt verstand er, warum die Lhari überall ähnliche Häfen gebaut hatten. Die Anlagen erinner-ten sie an die Heimat und nahmen ihnen das Gefühl der Abgeschiedenheit, wenn sie auf fremden Planeten landeten. Hier war aber alles noch größer und eindrucksvoller. Auf der viele Kilometer langen glitzernden Fläche standen un-zählige Raumschiffe, Bindeglieder zwischen fernen Welten und der Heimat der Lhari.

Bart blickte nach oben und musterte blinzelnd die glei-ßende Sonne, deren Licht alles in unwahrscheinlicher Pracht erscheinen ließ. Er wandte sich irritiert an Meta. Hatte er die Fähigkeit verloren, Farben zu erkennen?

„Welche Farbe hat diese Sonne?“ fragte er gebannt. „Sie ist weder rot, noch violett, noch grün oder blau. Ich möchte sagen …“ Bart schlug sich plötzlich an die Stirn. „Das ist die achte Farbe!“ rief er entgeistert aus.

„Ihr mit euren Farben!“ knurrte Ringg unwillig. „Ich möchte gern wissen, was ihr da seht. Es ist ungefähr so, als könntet ihr Farben nach Geruch oder Gehör bestimmen. Ich kann es nicht begreifen.“

Meta blickte ebenfalls blinzelnd nach oben. „Diese Farbe ist noch nicht bestimmt worden“, erklärte sie. „Wir Mento-rianer nennen sie die Katalysatorfarbe.“

„Was soll das Gefasel?“ fragte Ringg ungeduldig. „Ich denke, ihr wollt euch die Stadt ansehen?“

„Natürlich“, sagte Bart und ließ sich umherführen. Die

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Stadt beeindruckte ihn stark, aber mit seinen Gedanken war er immer bei der merkwürdigen Sonnenfarbe. Das war also die achte Farbe! Es konnte nicht viele Sonnen geben, die dieses merkwürdige Licht ausstrahlten. Die Riesentelesko-pe hätten diese besonderen Sterne gewiß entdeckt.

Das war eine Hoffnung. Vielleicht war noch nicht alles verloren. Er wußte, wonach zu suchen war. Die Lhari schickten ihn fort, etwas geringschätzig und sogar noch mit Geschenken. Wußten sie, daß er diese Farbe nie wieder vergessen und nach ihr suchen würde?

Steele konnte seine Begeisterung nicht verbergen. Er war froh, als er wieder zum Flughafen zurückgebracht wurde. In Rugels Kabine fand er endlich Ruhe. Nicht ein-mal die Anstrengungen des Starts störten den Fluß seiner Gedanken. Es war nur noch möglich, alle sichtbaren Son-nen spektroskopisch zu untersuchen.

Nach längerem Nachdenken wurde er sich aber der zu erwartenden Schwierigkeiten bewußt. Es gab mehrere mit Riesenteleskopen sichtbare Sternenhaufen. In welcher Ga-laxis befand sich die Sonne der Lhari? Jede Galaxis ent-hielt Millionen von Sonnen. Es würde die Arbeit vieler Generationen erfordern, all die vielen Sonnen zu überprü-fen. Bart war enttäuscht. Die ungeheure Weite des Univer-sums schob einen Riegel vor seinen Ehrgeiz. Hundert oder tausend Leben würden nicht ausreichen, um diese giganti-sche Arbeit zu bewältigen.

Er hätte es wissen müssen. Die Lhari hätten ihm nie er-laubt, einen Blick auf die Sonne zu werfen, wenn auch nur die geringste Möglichkeit einer Entdeckung bestand. Sie konnten großzügig sein, weil sie absolut überlegen waren.

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Bart durfte in den Beobachtungsraum gehen. Das Betre-ten des Kontrollraumes war ihm aber versagt. Er starrte auf fremde Konstellationen und die schnell kleiner werdende Sonne der Lhari. Sie nannten sie einfach Le Khiro: die Sonne. Beim Anblick der schnell kleiner werdenden Sonne erinnerte sich Bart an etwas. Er war sicher, diese Farbe schon einmal gesehen zu haben. Aber wo? Täuschte er sich vielleicht? Möglicherweise war das Wunschdenken zu stark und spielte ihm einen Streich.

Nachdenklich ging er in seine Kabine zurück und be-gann zu träumen. Es waren hoffnungslose Träume, denn seine Wünsche würden sich nie erfüllen. Die weiten Reisen durch das All würden den Menschen vielleicht für immer versagt bleiben.

*

Nach dem Warp-Flug kam Vorongil in die Kabine. „Ru-gel fehlt uns sehr“, erklärte er. „Würden Sie uns helfen, Bart?“

Steele betrachtete seine Hände. „Es gibt keine entspre-chenden Gesetze“, sagte Vorongil. „Ich sehe nicht ein, wa-rum mein Astrogator unbedingt ein Lhari sein muß.“

Bart zögerte. „Ich bin kein Mentorianer“, sagte er dann. „Ich lasse mich nicht wie ein Mentorianer behandeln.“

„Das verlange ich auch nicht. Sie haben den Kurs in ent-gegengesetzter Richtung berechnet. Warum sollten Sie es jetzt nicht können?“

Bart überlegte. Es gefiel ihm nicht, untätig herumzusit-zen. Ja, er war ein guter Astrogator. Wenn es anders wäre,

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würde Vorongil jetzt nicht vor ihm stehen. „Einverstan-den“, sagte er dankbar.

Vorongil drehte sich sofort um und antwortete mit plötz-lich sehr strenger Stimme: „Sie treten die nächste Wache, an, Bart!“

Steele wunderte sich erst über den harten Ton. Doch dann begriff er den Kapitän. Er war jetzt nicht mehr Ge-fangener oder Gast, sondern wieder Besatzungsmitglied der „Swifting“. Von nun hatte er keine Privilegien mehr, sondern nur noch Pflichten.

*

Die Lhari verhielten sich anfangs etwas kühl und mißtrau-isch. Allein Ringg gab sich genau wie früher und unterhielt sich frei mit Bart. Aber schon nach kurzer Zeit bemerkte Steele, daß er von allen akzeptiert wurde. Keiner betrachte-te ihn als bösen Feind. Er war trotzdem traurig, denn diese Reise würde seine einzige große Fahrt bleiben. Er würde sein Leben an ein System gekettet verbringen müssen. Mit offenen Augen betrachtete er die vielen fremden Sterne und Konstellationen. Nach jedem Warp-Sprung befand sich das Schiff in einer anderen Gegend des Kosmos und tastete sich vorsichtig dem Ziel entgegen.

Und dann tauchte Procyon Alpha auf. Bart betrachtete den Planeten ohne Freude. Seit seinem Start hatte sich vie-les ereignet. Er dachte an Rugel, der seinetwegen gestorben war. Beim Start hatte er die Lhari noch als entsetzliche Monster angesehen, doch jetzt fühlte er sich ihnen verbun-den wie Brüdern.

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Meta kam in den Aufenthaltsraum und rief ihn an. Bart drehte sich langsam um und nickte schwer. „Jetzt

wird es nicht mehr lange dauern“, sagte er traurig. „Mor-gen werde ich wissen, was mit mir geschehen wird. Kon-spiration kann sehr streng bestraft werden. Selbst wenn ich straffrei ausgehe, werde ich mein Leben lang an ein System gekettet bleiben.“

„Das muß nicht sein, Bart.“ „Ich habe keine andere Möglichkeit.“ „Doch, Bart!“ rief Meta erregt. „Du bist ein halber Men-

torianer. Du liebst die ungeheuren Weiten des Alls. Bleibe bei uns!“

Steele antwortete nicht gleich. Er blickte durch das brei-te Beobachtungsfenster auf das grandiose Schauspiel, das sich seinen Augen bot. Er sah die Leuchtpartikelchen über die Schiffswandung streichen, die glitzernden Gestirne, die wie Juwelen auf schwarzem Samt leuchteten. Da war die Wega, der Stern seiner Heimat. Es war seine Heimat, denn von seinem Vater hatte er die Interplanetarische Raum-fluggesellschaft geerbt, dazu die Mittlerfirma „Acht Far-ben“.

Bart suchte den Himmel nach der irdischen Sonne ab, nach Procyon, wo er sich in einen Lhari verwandelt hatte. Er erblickte all die vielen leuchtenden Gestirne, deren Far-benpracht ihn verwirrte. Das waren die Farben des Alls, bekannte und unbekannte Gestirne, erreichbare und uner-reichbare.

Er riß sich mit Gewalt von dem überwältigend schönen Anblick los und machte ein verschlossenes Gesicht. Er sehnte sich nach dieser Welt, nach der ungeheuren Weite

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des Alls, das stimmte. Er war aber nicht bereit, sich zum Sklaven machen zu lassen, denn dieser Preis war ihm zu hoch.

„Ich kann nicht, Meta“, sagte er rauh. „Ich weiß, worum es geht. Ich habe das wunderbarste Erlebnis meines Da-seins hinter mir. Ich vermag mir nichts Schöneres vorzu-stellen, als das Leben eines Raumfahrers, Meta. Aber ich kann nicht den Weg einschlagen, den ihr Mentorianer be-schritten habt, selbst wenn ich dich dadurch verlieren muß.“

Bart schloß verbittert die Augen. Als er sie wieder öffne-te, war er allein.

*

Das Gebäude der Acht-Farben-Gesellschaft neben dem Flughafen der Lhari hatte sich nicht verändert. Als Bart eintrat, erblickte er dasselbe Mädchen, das ihn schon ein-mal empfangen hatte. Es saß an dem chromblitzenden Schreibtisch mit dem regenbogenfarbenen Rand und be-trachtete genau wie damals die auffällig gefärbten Finger-nägel.

Das Mädchen sah auf und musterte Bart, der noch immer die Kleidung eines Lhari trug. Dann betrachtete es Meta und Ringg, die sich etwas im Hintergrund hielten.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte es gleichgültig. „Wir möchten zu Raynor I“, sagte Bart. „In welcher Angelegenheit?“ Bart grinste befriedigt und antwortete: „Sagen Sie ihm,

sein Boß sei hier!“

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Die Wirkung war verblüffend. Das kühle und sich sehr überlegen gebende Mädchen geriet für einige Sekunden außer Fassung. Dann riß es sich aber zusammen, stellte die Verbindung her und informierte Raynor I. „Sie können so-fort zu ihm hinauf“, sagte es dann respektvoll.

Im Lift machte Bart ein weniger zufriedenes Gesicht. „Ich habe keine begeisterten Ovationen erwartet“, sagte er zu seinen beiden Gefährten. „Wenn ich dieses Abenteuer nicht überlebt hätte, wäre Raynor I jetzt der Besitzer der Firma.“

Der Lift hielt, und die Tür glitt auf. Ein Mann kam den drei Besuchern entgegen. Bart sah das freudige Lächeln des Mannes und war für einen Augenblick verblüfft. Doch dann erkannte er den Mann. Es war nicht Raynor I, sondern Raynor III. Bart umarmte ihn. Es war wie eine Heimkehr.

Die Reaktion Raynors wirkte trotzdem etwas kühl. Bart trat einen Schritt zurück. „Erkennen Sie mich nicht wieder?“ fragte er betrübt.

„Doch!“ Raynor III zögerte. „Sie wundern sich gewiß, mich hier zu sehen, Bart. Ich wollte nicht mehr in den Raum hinaus, wollte mir meine Erinnerungen nicht mehr nehmen lassen. Wäre ich mitgeflogen, hätte ich mich nie wieder an Sie erinnern können. Ich fühlte mich aber für Ihr Schicksal verantwortlich und wollte den Ausgang des Abenteuers erfahren.“

Bart pfiff leise durch die Zähne. Raynor III war also der Mentorianer, der David Briscoe aus der „Multiphase“ ge-schmuggelt hatte.

Jetzt kam auch Raynor I heran. „Sie sind es also wirklich!“ sagte er staunend. „Wir bekamen die Nachricht, wollten sie

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aber nicht glauben. Zuerst hörten wir von den Ereignissen auf Lharillis. Montano wurde verhaftet, sein Schiff wegen der illegalen Aktion eingezogen. Wir hielten Sie für tot, Bart.“

„Er ist es tatsächlich!“ murmelte Raynor III bewun-dernd. „Wir schickten einen Jungen auf die Reise. Er sollte die Arbeit eines Mannes erledigen. Er hat sie getan und ist als Mann zurückgekehrt.“ Raynor III blickte fragend auf Meta und Ringg. Bart stellte seine beiden Begleiter vor.

„Ich bin eigentlich gekommen, um Sie um Hilfe zu bitten“, sagte er dann. „Man wird mich vor ein Gericht stellen. Das gleiche Schicksal steht Ihnen auch bevor“, fügte er hinzu.

Raynor I drängte sich nach vorn. „Also doch eine Falle!“ sagte er wütend. „Er hat die Lhari auf unsere Spur gehetzt.“

Raynor III schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann nicht sein“, sagte er gelassen. „Er kann sich offenbar an alles erinnern. Erzählen Sie, Bart! Ich muß alles wissen.“

Bart berichtete. Raynor III hörte mit wachsender Begeisterung zu und

schlug Steele schließlich begeistert auf die Schulter. „Du hast es geschafft, Bart!“ rief er aus. „Wir Raynors arbeiten seit Rhazons Landung für die Lhari. Wir wollten endlich eine offizielle Stellungnahme der Lhari. Wir wollten eine offizielle Deutung ihrer Politik, Bart. Du hast dieses Ziel erreicht. Sie hätten dich einfach verschwinden lassen kön-nen. Sie haben es nicht getan und wollen eine öffentliche Gerichtsverhandlung. Die Lhari sind jetzt bereit, in aller Form zuzugeben, daß wir Menschen den Hyperantrieb überleben können, ohne vorher betäubt zu werden. Nur das wollten wir beweisen, Bart. Dein Vater und David Briscoe haben sich dafür geopfert.“

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Raynor I mischte sich ein. „Darf ich euch Idealisten mal unterbrechen? Bart ist noch nicht volljährig. Sein Vater hat mich zu seinem Vormund gemacht. Ich habe ihn trotzdem in dieses Abenteuer hineinschlittern lassen und bin deshalb voll verantwortlich. Nicht er, sondern ich muß vor Ge-richt.“

Bart lächelte überlegen. „Ich habe ungeheure Entfernun-gen zurückgelegt, eine andere Galaxis besucht und mich vor dem Hohen Rat der Lhari gerechtfertigt, ohne daß Sie mich an der Hand gehalten hätten, Raynor I. Jetzt bin ich durchaus in der Lage, mich vor einem Gericht der Galakti-schen Förderation zu verteidigen.“

„Ich bin trotzdem für Sie verantwortlich“, sagte Raynor I streng.

„Nein!“ Bart blieb unbeugsam. „Ich werde die Wahrheit sagen und nichts verschweigen. Es muß endlich reiner Tisch gemacht werden. Sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich Sie belaste.“

Raynor I zuckte die Achseln. „Das ist noch nicht alles. Ich habe es anscheinend mit Verrückten zu tun. Vor einiger Zeit kam noch so ein Bursche vom System Capell und be-schuldigte mich, Sie ermordet zu haben, Bart. Kennen Sie einen Tommy Kendron?“

„Er ist hier?“ rief Bart freudig erregt. „Rufen Sie ihn her! Ich will ihn begrüßen.“

*

Das Zusammentreffen fand eine Stunde später statt. Das Landhaus, in dem Bart sich auf sein Abenteuer vorbereitet

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hatte, bildete einen angenehmen Rahmen für das Wieder-sehen mit Tommy Kendron. Die beiden Raynors lauschten ebenso begierig wie Tommy, Meta und Ringg. Meta und Ringg hatten zwar alles miterlebt, aber sie waren begierig, die Anfänge des Abenteuers zu erfahren.

Bart machte sich keine Sorgen, obwohl er damit rechnen mußte, schon am nächsten Tag in ein Gefängnis gesteckt zu werden.

Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, langte Tom-my nach seiner Hand und drückte sie fest. „Du hast unser Weltbild verändert, Bart“, sagte er anerkennend. „Ich se-he die Lhari jetzt in einem anderen Licht. Es ist dir nicht gelungen, die achte Farbe zu finden, aber du hast zur Verständigung zwischen Lhari und Menschen beigetra-gen. Dein Unternehmen ist somit ein voller Erfolg ge-worden.“

„Das meine ich auch“, sagte Ringg. „Wir denken jetzt anders über euch, das könnt ihr mir glauben.“

Während er das sagte, betastete er die Narben an seiner Stirn. Das löste in Bart einen starken Schock aus. Er sah sich wieder mit Ringg in der Höhle, sah den bewußtlos da-liegenden Freund, aber auch die in wunderbaren Farben glitzernden Mineralien im Hintergrund der Höhle. Er hatte eine Farbe gesehen, die er nicht identifizieren konnte. Erst nachdem er die Lhari-Sonne gesehen hatte, erkannte er die Zusammenhänge.

Bart sprang erregt auf. „Ich bin ein Idiot!“ rief er. „Die achte Farbe, der geheimnisvolle Katalysator, ist kein Ge-heimnis mehr. Stellt bitte keine Fragen!“ wehrte er die er-regten Raynors ab. „Ich kann mich ja auch irren. Erst jetzt

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weiß ich, daß mein Abenteuer nicht vergebens war. Selbst wenn ich in eine Strafkolonie geschickt werde, kann mir keiner den Erfolg nehmen. Die achte Farbe ist kein Ge-heimnis mehr.“

Nachdem die anderen zur Stadt geflogen waren, blieben Raynor III und Bart allein in dem schönen Landhaus auf dem Hügel.

„Willst du wirklich keinen Verteidiger?“ fragte Raynor III. Bart schüttelte den Kopf. „Ich will nur eine Chance, öf-

fentlich zu sagen, was ich sagen muß. Alle sollen mich hö-ren.“

Raynor III sah ihn nachdenklich an. „Du verheimlichst mir etwas, Bart“, sagte er. „Hältst du das für angebracht?“

Steele kämpfte lange mit sich, ehe er den Kopf schüttelte. „Ich kann jetzt nichts sagen“, erklärte er. „Das ist kein Mißtrauen.“

„Natürlich nicht.“ Raynor III lächelte. „Ich habe wohl für einen Augenblick vergessen, daß du ein Mann gewor-den bist, Bart.“

* Bart Steele lebte endlich wieder in einer gewohnten Umge-bung. Es tat wohl, in einem richtigen Bett zu schlafen, sich am Morgen zu rasieren und ein gutes Frühstück zu genie-ßen. Später zog er sich seine alte Kleidung an und faltete die Lhari-Kleidung sorgfältig zusammen. Er strich sanft über die Metallgewebe und erinnerte sich an die damit zu-sammenhängenden Geschehnisse. Er hatte erlebt, was kaum ein Mensch nach ihm erleben würde.

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Bart erblickte Vorongil und Meta. Sie winkten ihm zu und nickten zuversichtlich.

Im Verhandlungsraum saßen vier ältere Lhari und vier Vertreter der Galaktischen Förderation. Der große Zu-schauerraum war voll besetzt, und auf den Korridoren drängten sich weitere Menschen, die die Verhandlung mit-erleben wollten.

Einer der Richter erhob sich und bat um Ruhe. „Wir hät-ten diesen Prozeß gern unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt“, erklärte er. „Wir haben aber nicht das Recht, die Publikationsorganisationen auszuschließen. Nur der Ange-klagte kann das fordern.“

„Das will ich aber nicht!“ rief Bart laut. „Alle sollen hö-ren, was ich zu sagen habe.“

Raynor I stand auf und meldete sich zu Wort. „Bart Steele ist mein Mündel“, erklärte er. „Ich fordere den Aus-schluß der Öffentlichkeit.“

„Ich verlange eine öffentliche Verhandlung!“ rief Bart hartnäckig.

Raynor I setzte sich wieder. „Ich lehne die Verantwor-tung ab“, sagte er grimmig. „Bart Steele ist für sein Tun voll verantwortlich.“ Insgeheim fürchtete er hauptsächlich, daß Barts Äußerungen der Firma schaden würden.

Bart erzählte seine Geschichte. Die Reporter hörten ge-bannt zu, als er von den Warp-Sprüngen sprach. Er berich-tete auch von den Ereignissen auf Lharillis und seinen Abenteuern in der Heimat der Lhari.

„Was soll das alles?“ rief einer der Richter ungeduldig. „Wollen Sie die Verhandlung zu einer Schau machen? Sie haben den Vertrag zwischen der Förderation und den Lhari

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gebrochen. Es geht uns allein um die Ahndung dieses Ver-gehens.“

„Mir nicht“, antwortete Bart. Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Alle Welt soll wissen, daß ich das Geheimnis des Katalysators kenne.“

Der Effekt dieser Worte war verblüffend. Die Lhari sprangen auf, ihre Kämme richteten sich steil empor. Vo-rongil hatte offensichtlich große Angst. Einer der Richter beugte sich vor und fragte rauh: „Kennen Sie die Koordi-nation unserer Heimat?“

„Nein.“ „Dann lügen Sie!“ „Nein.“ Bart blieb gelassen. „Ich habe auch nicht die

Absicht, Le Khiro zu suchen. Wir brauchen nicht erst eine ferne Galaxis anzufliegen, um den geheimnisvollen Kata-lysator zu finden, der die Warp-Frequenzen erzeugt. Dieser Katalysator wird von den Mentorianern als die achte Farbe bezeichnet. Es gibt nicht weit von hier eine grünlich schei-nende Sonne namens Meristem. Eine spektroskopische Un-tersuchung wird die Existenz des Katalysators beweisen. Wir brauchen also nicht sehr weit zu fliegen, um in den Besitz des Katalysators zu gelangen.“

Vorongil sprang auf. „Mir wurde versichert, daß Sie sich an nichts erinnern können, das uns gefährden könnte!“ rief er entsetzt.

Bart freute sich nicht über seinen Sieg. Vorongil tat ihm leid. „Meine Erinnerungen wurden geprüft und umgekrem-pelt. Die Kontrolleure fanden nichts, weil Farben keine Bedeutung für sie haben. Sie konnten alle meine Gedanken prüfen, aber nicht meine Erinnerungen an bestimmte Far-

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ben. Die Lhari, die Ringg aus der Höhle holten, konnten die Farben der Mineralien nicht erkennen. Die Mediziner in eurer Heimat fragten mich nie nach der achten Farbe, weil sie diesen Begriff nicht kennen.“

Ein gewaltiger Tumult brach los. Die vier Lhari steckten die Köpfe zusammen und berieten. Danach verließen sie den Gerichtssaal. Vorongil stand wie gelähmt da und starrte Bart an. Raynor I kam herbeigestürmt und schüttelte Stee-le.

„Sie verdammter Idiot!“ brüllte er. „Mußten Sie das in aller Öffentlichkeit preisgeben? Dieses Wissen hätte uns ein Monopol verschafft!“

Raynor I bemerkte die vielen auf ihn und Bart gerichte-ten Kameras und riß sich zusammen. „Wir können viel-leicht noch etwas retten“, flüsterte er. „Schweigen Sie! Verweisen Sie alle Frager an mich. Ich bin Ihr Vormund und Geschäftsführer.“

„Gerade das will ich nicht tun“, antwortete Bart kalt und stellte sich den Reportern und Kameramännern.

Raynor I gab sich geschlagen. Bart sah Raynor III lä-cheln. Meta war ebenfalls mit seiner Entscheidung einver-standen. Fragen über Fragen prasselten auf ihn ein. Bart hatte Mühe, sie alle zu beantworten.

*

Bart wurde in Schutzhaft genommen. Er wurde nicht verur-teilt, denn kein Richter wagte den Mann zu verurteilen, der das so lange ersehnte Wissen allen zugänglich gemacht hatte. Steele galt in der Öffentlichkeit als Held. Er erfuhr,

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daß Raynor I keine Zeit verloren und die Ansprüche an dem Fund geltend gemacht hatte.

Der junge Steele fühlte sich einsam und verlassen. Die Entwicklung ließ sich noch nicht absehen. Manchmal be-drückte ihn die Verantwortung.

Und dann kam der Tag, an dem Raynor I und III zu ihm in den Raum stürmten. Sie schalteten das Videogerät ein und warteten aufgeregt. „Der Hohe Rat der Lhari hat einen Entschluß gefaßt, der jetzt veröffentlicht werden soll“, sag-te Raynor I, heiser vor Aufregung.

Bart war ebenfalls sehr erregt. Zum Glück brauchten sie nicht lange zu warten, denn auf dem Bildschirm erschien das Bild eines sehr alten und weisen Lhari.

Steele erinnerte sich mit Rührung an ihn. Er wartete ge-spannt auf die Erklärung des Sprechers.

„Wir waren die ersten intelligenten Wesen, die das All durchquerten“, erklärte der alte Lhari. „Lange Zeit begnüg-ten wir uns mit Reisen innerhalb der eigenen Galaxis. Aber Macht und Ruhm stagnieren, wenn es keine Konkurrenz gibt. Auch wir standen vor diesem Problem, bis Kapitän Rhazon die Furcht überwand und den Flug in unbekannte Regionen wagte. Er fand die Menschen und knüpfte Han-delsbeziehungen an. Die Mentorianer wurden unsere ersten Verbündeten. Von ihnen lernten wir vieles, unter anderem auch ein besseres mathematisches System. Aber auch ihr habt wagemutige Männer, die nicht mit dem bestehenden Zustand zufrieden sind. Bart Steele unternahm ein Wagnis und erlöste uns alle aus einer gefährlichen Erstarrung. Wir bereuen, daß wir die Menschen nicht schon vorher als gleichberechtigte Partner anerkannt haben. Im Universum

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ist Platz genug für alle. Der Wettbewerb ist die treibende Kraft des Fortschritts. Von nun an soll euch nichts mehr in den Weg gelegt werden. Der Weg zu den Sternen steht euch offen. Wir heißen euch willkommen!“

Bart war sprachlos. Die Tür wurde aufgerissen. Ringg, Meta und Tommy Kendron stürmten herein. Sie führten einen wilden Tanz auf und schwangen Bart mit sich herum.

Steele machte sich frei und ging langsam zur Tür, um auch Kapitän Vorongil zu begrüßen. „Sie hassen mich nicht, Rieko Mori?“ fragte er respektvoll.

Vorongil schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich zu deutlich an die gemeinsam überstandene Gefahr, Bart“, sagte er bewegt. „Sie riskierten Ihr Leben, um uns zu ret-ten. Der Rat hat mich um meine Meinung gebeten. Die Entscheidung ist weitgehend auf meine Auskunft zurück-zuführen.“

„Das muß gefeiert werden!“ rief Ringg. „Meta, Sie ha-ben ihm noch nicht gesagt, daß er frei ist.“

Der Jubel war grenzenlos. Bart sonderte sich aber bald ab und trat auf den Balkon hinaus. Er war wieder frei. Was sollte er jetzt beginnen? Unter sich sah er die glitzernde Fläche des Flughafens und die gigantische Form der „Swif-ting“.

„Was jetzt, Bart?“ Steele erkannte Vorongils Stimme und fuhr herum. „Sie

sind berühmt, reich und ein Held.“ Bart nickte. „Ich wünschte, ich könnte mich heimlich

davonmachen“, murmelte er. „Es ging mir nicht um den Ruhm.“

„Warum zögern Sie dann? Die ‚Swifting’ startet noch

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heute nacht. Es wird eine Weile dauern, bis Ihre Gesell-schaft eine Interstellare Linie geworden ist. Raynor I ist gewiß in der Lage, diese Entwicklung in die richtigen Bah-nen zu leiten. Sie sind noch jung, Bart. Der zukünftige Boß eines so wichtigen Unternehmens sollte sich mit allen Pro-blemen der Raumfahrt vertraut machen. Ich habe lange nachgedacht, Bart. Sie müssen Leute ausbilden, denn die weiten Fahrten sind gefährlich.“

Tommy tauchte auf. „Sag ja, Bart“, bat er. „Dann kön-nen wir zusammen fliegen.“

Bart war erschüttert. Seine Augen füllten sich mit Trä-nen. Er spürte die Last der Verantwortung. Er hatte den Lhari ein Geheimnis entrissen. Jetzt war es seine Pflicht, den Mißbrauch zu verhindern. Das konnte er nur, wenn er sich mit allen damit zusammenhängenden Problemen ver-traut machte.

„Ich mache mit“, sagte er ernst. Ringg, der bis dahin an der Tür gestanden hatte, führte

einen Kriegstanz auf, so sehr freute er sich über Barts Ent-schluß.

Kurze Zeit später schritten Vorongil, Bart, Ringg, Meta und Tommy Kendron durch das glitzernde Tor des Flugha-fens. Das große Zeichen der Lhari kam den Menschen nicht mehr anmaßend und feindlich vor. Das Tor war tat-sächlich ein Tor zu den Gestirnen.

Bart war glücklich. Er fühlte sich in einer Gemeinschaft geborgen. Er wurde noch glücklicher, als Meta ihm heim-lich die Hand reichte und sich an ihn schmiegte. Er umarm-te sie und schritt schneller voran. Die Ungeduld trieb ihn vorwärts. Er hatte das Vermächtnis seines Vater erfüllt und

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den ersten und entscheidenden Schritt getan. Jetzt waren seinem Tatendrang und seiner Sehnsucht keine Grenzen mehr gesetzt. Nachdenklich blieb er vor der „Swifting“ stehen und blickte nach oben. Die Spitze des Raumschiffes wies in den Himmel, wo unzählige Gestirne glitzerten.

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Schicksal aus Bohnen (The woman who thought she could read)

von Avram Davidson

Vor vielleicht hundert Jahren baute ein Mann namens Van-derhorn ein kleines Haus. Er baute es anderthalb Stock-werke hoch, mit den üblichen Schuppen daran und darum; und er bedeckte es mit Schindeln, die er im eigenen Betrieb schnitt; denn er besaß eine alte Sägemühle unten am Bach. Danach lebte der alte Vanderhorn in dem kleinen Haus mit seiner Tochter und deren Gatten, bis er starb. So kamen Tochter und Schwiegersohn zu seinen Ersparnissen und bauten ein großes neues Haus neben dem alten, nur ein wenig weiter von der Straße ab. Auch sie hatten keine Söhne, und ein Schwiegersohn machte aus der alten Säge-mühle eine Kutschenfabrik. Schließlich kaufte ein Mann namens Carmichael, der Milchfuhrwerke und Transport-wagen herstellte, den ganzen Vanderhornbesitz. Er reno-vierte das große Haus und ließ Wohnungen ausbauen. Als er sich vom Geschäft zurückzog, verkaufte er es meinem Vater.

Ich war noch ziemlich klein, als wir einzogen, meine Schwester erheblich älter. Das alte Vanderhornhaus war nicht länger Teil des Besitzes. Eine Frau Grummick wohn-te darin. Mr. Carmichael hatte ihr das ganze Grundstück verkauft. Von unserem war es durch einen Bretterzaun ge-trennt. Vor dem alten Haus standen eine uralte Trauerweide

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und ein großer Fliederbusch, der wie ein Baum aussah. Mrs. Grummicks Haus stand so nahe an dem Zaun, daß ich in ihr Zimmer sehen konnte. Eines Tages bemerkte ich, daß sie Bohnen sortierte.

Sie blickte durchs Fenster und lächelte mir zu. Sie hatte ein breites Gesicht mit hohen Backenknochen, und wenn sie lachte, war von ihren kleinen, schwarzen Augen fast nichts mehr zu sehen.

„Hallo, kleiner Mann!“ sagte sie. Ich erwiderte den Gruß und starrte weiter. Und sie sor-

tierte weiter ihre Bohnen. Auf dem Kopf trug sie ein Tuch, und in den dicken Ohrläppchen hingen kleine, goldene Ringe. Die Bohnen lagen in zwei Töpfen, die auf dem Tisch standen, und ein Teil häufte sich vor ihr. Sie sortierte sie in kleine Haufen. Weitere Töpfe standen auf Regalen neben Gläsern und Krautköpfen. Aufgefädelte Zwiebel– und Knoblauchbündel hingen überall im Zimmer. Ich starr-te durch das Zimmer und das gegenüberliegende Fenster und bemerkte ein Schild vor dem Haus. „Anastasia Grum-mick, Hebamme“, stand darauf.

„Was ist eine Hebamme?“ fragte ich. „Das bin ich“, antwortete sie. Und sie fuhr fort, ihre

Bohnen zu sortieren. „Haben Sie Kinder, Mrs. Grummick?“ „Eins. Einen großen Jungen.“ Sie lachte. „Wo ist er denn?“ „Ich glaube, er kommt heute nach Hause. Ja, ich weiß

sogar, daß er heute kommt.“ Sie nickte bei diesen Worten. „Wieso wissen Sie das denn?“ „Ich weiß es, weil ich es eben weiß. Er kommt heim,

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und ich mach’ eine Bohnensuppe für ihn. Gehst du mir et-was besorgen?“

„Sicher!“ Sie stand auf und zog eine Geldbörse aus ihrer Schür-

zentasche. Sie zählte ein wenig Kleingeld ab und reichte es mir durch das Fenster.

„Sag dem Fleischer, er soll etwas Fleisch für eine Boh-nensuppe zurechtmachen. Und du holst dir ein Vanille-Eis. Magst du?“

Ich war schon im Gehen begriffen, als sie mich zurück-hielt. „Warte!“ sagte sie und gab mir noch Geld. „Hol zwei Vanille-Eis! Für mich auch eins!“ Sie lachte. Dann ging sie zum Tisch, warf einen Teil der auf der Platte liegenden Bohnen in die Töpfe und schob den Rest in ihre Schürze. Ich holte ihr das Fleisch, aß mein Vanille-Eis und ging dann spielen.

Einige Stunden später hielt ein Mietauto vor dem klei-nen, grauen Haus, und ein großer Mann stieg aus. Mrs. Grummick empfing ihn an der Tür.

„Eddie!“ sagte sie. Und sie umarmten und küßten sich. „Mutter“, sagte er, „riech’ ich Bohnensuppe, oder irre

ich mich?“ „Nein, ich habe sie eben für dich gemacht“, antwortete

Mrs. Grummick. Er lachte. „Du wußtest wohl, daß ich komme, hm? Du hast

wieder mal in den Bohnen gelesen, nicht wahr, Mutter?“ Sie nickte, und beide gingen zusammen ins Haus. Nachdenklich lief ich nach Hause. Meine Mutter stand

über den Waschtrog gebeugt. „Mama“, sagte ich, „kann man in Bohnen lesen?“

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„Hast du deinen Lebertran genommen?“ fragte sie mich. So, als hätte ich überhaupt nicht gesprochen. „Hast du ihn genommen?“

Ich probierte es mit einem Bluff. „M-hm“, sagte ich. „Nein, du hast nicht. Gib mir einen Löffel!“ „Warum fragst du, wenn du mir doch nicht glaubst?“ „Mund auf!“ befahl sie. „Weiter! Schlucken! Das auch

noch! Alles. Wenn du dein Gesicht sehen könntest. Stell dir vor, es erstarrt und bleibt so. Geh und wasch deine Löf-fel!“

*

Am nächsten Morgen sah ich Eddie mit einer Haue am oberen Ende des Gartens. Sein Hemd stand offen und gab den Blick auf breite starke Arme und einen mächtigen Brustkorb frei. Meine Mutter war auch im Garten, und sie wollte alles ganz genau wissen.

„Ist das Ihr Sohn, Mrs. Grummick?“ fragte sie. „Ja, das ist er.“ „Was arbeitet er denn?“ „Er ist Ringer und fährt im ganzen Land umher.“ Sie zeigte uns ein Bild von einem Mann in Badehose

und einer Kapuze auf dem Kopf. „Das maskierte Wunder! Der geheimnisvolle Ringer!“ stand auf dem Rand. Andere Bilder zeigten Eddie in verschiedenen Posen. Darunter standen Bezeichnungen wie „Der Sklaventöter“, „Häupt-ling Donnerschwinge“ und so weiter. Jeden Monat sandte Eddie seiner Mutter ein weiteres Bild. Das war seine Art von Briefen, denn er wußte, daß seine Mutter nicht lesen

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konnte. Hinten im Gemüsegarten begann Eddie einen zu der Zeit

sehr populären Schlager zu singen. „Dann fall ich um und mache bum!“

*

Der Sommer war lang und heiß. Eines Tages saßen wir un-ter dem Baum vor unserem Haus und tranken Limonade.

„Als ich noch klein war“, sagte mein Vater, „machten wir Limonade aus braunem Zucker; und die verkauften wir dann auf der Straße. Dabei riefen wir:

,Braune Limonade, im kühlen Schatten gerührt, von ei-ner alten Jungfer serviert!’

Die Leute hielten das für mächtig spaßig.“ Plötzlich rief Mrs. Grummick: „Huhu! Mister! Hu-hu!“ „Ich glaube, sie meint mich“, sagte mein Vater. Er ging

über die Wiese auf sie zu. „Ja, Mrs. Grummick?“ „Schon Kohle gekauft, Mister?“ „Kohle? Warum? Nein – noch nicht. Sieht nach einem

ziemlich milden Winter aus. Glauben Sie nicht?“ Sie preßte die Lippen zusammen, schloß die Augen und

schüttelte den Kopf. „Nein! Kaufen Sie Ihre Kohlen lieber bald. Viel Kohlen. Schlechtes Wetter im Anzug. Bald!“

Mein Vater kratzte sich am Kopf. „Sie scheinen ziemlich sicher, Mrs. Grummick, aber wieso eigentlich?“

„Ich weiß es, Mister. Wenn ich es sage, dann glauben Sie mir nur, dann weiß ich es wirklich.“

„Haben Sie es vielleicht aus den Bohnen gelesen, Mrs. Grummick?“ mischte ich mich ein.

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„He!“ Sie blickte mich überrascht an. „Woher weißt du das, kleiner Mann?“

„Sie meinen, Sie können tatsächlich aus den Bohnen le-sen, daß ein strenger Winter kommt?“ fragte mein Vater ungläubig.

„Kann ich. Steht alles drin!“ behauptete sie. „Nun, das ist sehr interessant. Wo ich herkomme, da leb-

te ein Mann – einen Wetterpropheten nannten sie ihn –, der las das Wetter aus den Streifen des Stinktieres heraus. Er behauptete, sein Großvater hätte es von den Indianern ge-lernt. Seine Voraussagen waren immer richtig. Sie benut-zen also Bohnen?“

„Aber solche Bohnen wie Jack in dem Märchen von dem Bohnenstrauch haben Sie sicher nicht“, sagte ich.

„Nun halte Mrs. Grummick nicht länger auf“, sagte mein Vater. Aber sie beugte sich über den Zaun und hob mich darüber hinweg.

„So, kleiner Mann, du kommt und erzählst mir etwas. Und Sie, Mister, gehen Kohlen kaufen!“

Mrs. Grummick gab mir ein Glas Milch von der Zie-ge, die in einem Schuppen hauste, und ein Stück Zwie-back. Ich erzählte ihr dafür die Geschichte von Jakob und dem Bohnenstrauch. Dann erzählte sie mir eine Ge-schichte:

„Auf der anderen Seite des Ozeans, in irgendeinem weltabgeschiedenen Teil Europas, lehrte man die Jungen lesen, aber nicht die Mädchen. Ein kleines Mädchen, des-sen Brüder alle in der Schule waren, sortierte zu Hause Bohnen. Es sollte die schlechten von den guten sondern. Dabei begann das Mädchen bitterlich zu weinen.

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Plötzlich blickte es auf, und eine alte Frau stand vor ihm. Sie fragte das Kind, warum es weine.

,Weil alle Jungen lesen lernen dürfen, und ich nicht’, erwiderte das Mädchen.

,Ist das alles?’ fragte die alte Dame. ,Ja’, sagte das Mädchen. ,Weine nicht’, tröstete sie die Frau. ,Ich werde dich lesen

lehren, aber nicht aus Büchern. Laß die Männer Bücher lesen. Bücher sind neumodischer Kram. Die Leute konnten schon lesen, bevor es Bücher gab. Bücher erzählen dir, was geschehen ist. Aber du wirst erzählen können, was gesche-hen wird.’ Und die alte Dame lehrte das kleine Mädchen, wie man aus den Bohnen lesen konnte, statt in Büchern.“

*

Von einem Tag auf den anderen änderte sich das Wetter. Von Oktober bis April hatten wir einen eisigen Winter mit schrecklichen Schneestürmen. Die Flüsse froren zu und die Kanäle. Sogar die Eisenbahnen standen still. Die Straßen waren häufiger unpassierbar als frei. Und Kohlen waren nicht zu bekommen. Überall erfroren die Menschen. Aber Mrs. Grummicks kleines Haus war immer warm, und es roch würzig inmitten all der Zwiebeln und trockenen Blu-men, die überall herumhingen.

*

Ein paar Jahre später heiratete meine Schwester Helen. Danach besuchten sie und Jim, ihr Gatte, uns jedes Jahr

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den Sommer über. Sie hatten keine Kinder, und so war ich der Hahn im Korb. Ich werde diese wundervollen Som-mermonate nie vergessen.

Jeden Sommer wurden Ausflüge per Schiff gemacht. Alle jungen Paare beteiligten sich, nur meine Schwester hatte immer eine Ausrede. Sie fürchtete sich vor dem Wasser. Auch in diesem Sommer versuchten ihre Freunde, sie zum Mitkommen zu überreden. Dabei sagte jemand:

„Fragen wir doch Mrs. Grummick, ob deine Angst be-gründet ist, Helen. Sie soll in den Bohnen lesen!“

Alle lachten und gingen dann hinüber zu der Frau. Sie sagte, meine Helen und Jim könnten hineinkommen, für alle sei aber nicht genug Platz. So drängten wir anderen uns am Fenster.

Mrs. Grummick streute ihre Bohnen auf den Tisch und begann sie umherzuschieben. Einige legte sie auf die Seite, den Rest reihte sie nach und nach auf. Dann vertauschte sie einige. Und während der ganzen Prozedur murmelte sie unablässig vor sich hin. Endlich blickte sie auf und sagte laut:

„Geht nicht ans Wasser!“ Das war alles. Aber es genügte, daß sich meine Schwes-

ter und Jim entschieden, am Tag des Schiffsausflugs per Auto zu einem Picknick zu fahren. Ich hätte sie gern be-gleitet, aber sie wollten ein bißchen allein sein. Jim gab mir einen Zehner, und ich ging ins Kino und kaufte mir Eis.

Als ich herauskam, sah ich Bill Baumgardner, einen Jungen in meinem Alter, heulend die Straße entlangrennen. Sein Hemd hing aus der Hose, seine Nase war feucht, und er schrie entnervend. Ich rief ihn, aber er achtete nicht auf

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mich. Jemand hatte ihm erzählt, daß das Ausflugsboot, auf dem sich seine Eltern befanden, in Flammen aufgegangen sei. Diese Nachricht verbreitete sich blitzartig in der gan-zen Stadt, und jeder, der Angehörige auf dem Schiff hatte, war bald in ähnlicher Verfassung wie der arme Billy.

Zuerst kursierte das Gerücht, alle seien verbrannt, er-trunken oder zertrampelt worden. Später stellte sich heraus, daß es nicht so schlimm war, wenn auch schlimm genug.

Ich erinnere mich, daß ich die Kirchenglocke sechs Uhr schlagen hörte, als meine Mutter sagte: „Ich werde niemals mehr über Mrs. Grummick lachen, solange ich lebe.“

Fast alle, die Verwandte oder Freunde auf dem Boot hat-ten, begaben sich flußaufwärts, wo es schließlich am Ufer auf Grund gelaufen war, oder sie warteten vor der Polizei-station auf Neuigkeiten.

Ein Polizist kam zu uns. Er war jung und sein Gesicht sehr blaß. Ich hörte ihn schwer atmen. Dann nannte er Jims Namen.

„O nein“, sagte meine Mutter hastig. „Sie waren nicht auf dem Boot.“ Er wollte etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor. „Aber ich sage Ihnen doch, sie waren nicht auf dem Boot.“ Dabei blickte sie um sich, als suche sie jemanden, der den Polizisten wegschicken würde.

Aber keiner tat es. Wir mußten ihn anhören. Ein großer Laster war außer Kontrolle geraten und in Jims Wagen ge-rast. Dieser wurde von der Straße geschleudert und stürzte in den Kanal. Die Polizei war sofort verständigt worden und konnte ihn bergen.

„Oh, dann sind sie also beide wohlauf!“ schrie meine Mutter.

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Aber Jim und Helen waren nicht wohlauf. Sie waren er-trunken.

Mutter erlitt einen hysterischen Anfall. Mein Vater und der Polizist halfen Ihr Ins Haus, und nach einer Welle lag sie ruhig auf der Couch und stöhnte nur leise.

Die Tür öffnete sich, und Mrs. Grummick trat leise ein. Sie hatte die Zähne in ihrer Unterlippe vergraben. Ihre Augen waren weit geöffnet, und ihr Kopf schien hin und her zu pendeln. In jeder Hand hielt sie ein Fläschchen – Riechsalz wahrscheinlich und Herztropfen. Ich war froh, sie zu sehen, und ich glaube, Vater war es auch. Der Poli-zist war sichtlich erleichtert. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, nickte meinem Vater kurz zu und eilte da-von.

Meine Mutter sagte mit schwacher, dünner Stimme: „Sie waren nicht auf dem Boot. Sie gingen nicht, weil sie ge-warnt waren. Darum …“ Sie unterbrach sich jäh, als sie Mrs. Grummick bemerkte. Ihr Gesicht rötete sich. Sie sprang von der Couch und drang auf Mrs. Grummick ein. Mit einer heiseren Stimme, wie ich sie noch nie an ihr ge-hört hatte, schrie sie sie an und belegte sie mit unflätigen Schimpfworten. Diese Beleidigungen aus dem Mund mei-ner Mutter zu hören, schockierte und betäubte mich mehr als die Tatsache, daß meine Schwester und Jim tot waren.

Vater und ich hielten sie fest. „Sie wußten es!“ schrie meine Mutter Mrs. Grummick

an, und versuchte sich von Vater und mir zu befreien. „Sie wußten es! Sie lasen es, Sie Hexe! Und Sie haben nichts gesagt. Sie haben nicht einen Ton gesagt. Die beiden wür-den leben, wenn sie mit dem Boot gefahren wären. Es sind

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nicht alle tot, die auf dem Boot waren. – Aber Sie haben nicht ein Wort gesagt!“

Mrs. Grummick öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Sie war aber so durcheinander, daß sie keinen Ton hervor-brachte.

Mein Vater wandte sich an sie und sagte: „Sie gehen jetzt am besten.“

Mrs. Grummick gab einen eigentümlichen Laut von sich, dann stammelte sie: „Aber – Mister – ich sage nur, was ich sehe. Ich las: ,Geh nicht ans Wasser’. Ich kann nicht mehr sagen, als ich vor mir sehe – als ich lesen kann. Nichts sonst. Vielleicht bedeutet es dies, vielleicht etwas anderes. Ich kann es nur lesen. Sie haben mich gefragt. Sie haben gesagt, ich solle lesen.“

Meine Mutter schien in sich zusammenzufallen. Sie schluchzte laut. Vater sagte: „Gehen Sie! Lassen Sie uns jetzt allein!“

Ich vernahm eine Kinderstimme, hoch und zittrig: „Wir brauchen Sie hier nicht, Sie alte Hexe! Wir hassen Sie!“

Das war meine Stimme. Mrs. Grummicks Schultern fie-len herunter, und sie sah zum erstenmal wie eine sehr alte Frau aus. Sie drehte sich müde um und ging leise zur Tür. Dort blieb sie einen Augenblick stehen und wandte sich halb um. „Ich werde nicht mehr lesen“, sagte sie. „Nie wieder. Es ist besser, gar nichts zu wissen.“ Dann ging sie.

Kurz nach dem Begräbnis von Jim und Helen wachten wir eines Morgens auf, und das kleine Haus nebenan war leer. Wir haben niemals mehr etwas von ihr gehört. Aber jetzt erst habe ich begonnen, über Mrs. Grummick nachzu-denken.

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Fort mit dem Alten? … und andere Utopia-Kurzgeschichten von J. G. Ballard, Av-ram Davidson, Philip K. Dick, Jack Vance Nächste Woche bringt Utopia wieder einen Leckerbissen für alle SF-Leser, den Storyband

FORT MIT DEM ALTEN! In der Titelstory zeigt der namhafte Autor J. G. Ballard eine zukünftige Gesellschaft, die daran krankt, daß zuviel produziert wird. Die Drahtzieher verfallen auf äußerst merkwürdige Ab-satzmethoden. Und niemand hört die Warnungen des „Sehers“ Hathaway.

Avram Davidson erzählt die Geschichte der PRIMITIVEN VON BARNUMLAND,

Philip K. Dick schildert, wie Außerirdische einen Roboter einschmuggeln, der den Menschen Tod und Verderben bringen soll,

im RAUMSEGLER 25 läßt Jack Vance junge Raumanwärter zu Männern reifen.

DAS LETZTE SPIEL bildet den Schluß dieses packenden Utopia-Zukunftsromans Es ist ein Spiel, bei dem es um Tod oder Leben geht.

Sichern Sie sich rechtzeitig eine Nummer dieser Utopia-Ausgabe, denn die wird jeder SF-Leser haben wollen. UTOPIA-KURZGESCHICHTEN SIND ORIGINELL, SPAN-

NEND UND VOLLER POINTEN!

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Utopia-Zukunft erscheint wöchentlich im Verlagshaus Erich Pabel GmbH & Co. 7550 Rastatt (Baden), Pabel-Haus. Einzelpreis 0,70 DM. Anzeigenpreise laut Preis-liste Nr. 16. Die Gesamtherstellung erfolgt in Druckerei Erich Pabel GmbH. 7550 Rastatt (Baden). Verantwortlich für die Herausgabe und den Inhalt in Osterreich: Eduard Verbik. Alleinvertrieb und -auslieferung in Österreich: Zeitschriftenver-trieb Verbik & Pabel KG – alle in Salzburg, Bahnhofstraße 15. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Ver-leih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany 1965. Titel der amerikanischen Original-ausgabe: THE COLORS OF SPACE von Marion Zimmer Bradley. Copyright © 1943 by Marion Zimmer Bradley. – Die Kurzgeschichte ist aus OR ALL THE SEAS WITH OYSTERS, published by arrangement with Berkley Publishing Corporation, 15 East 26th Street, New York, N. Y. 10010; © 1962, by Avram Davidson.

Gepr. Rechtsanwalt Horn