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Ulrich Steltner
Das russische Drama und die Literaturgeschichte
Das Drama gehört zu den ältesten Gattungen der europäischen Litera‐tur. Es führt von seinen griechischen Anfängen bis auf den heutigen Tag ein hybrides Dasein zwischen literarischem Text und Theaterauf‐führung und hat in den Literaturgeschichten deshalb keinen rechten Platz; seine Geschichte entwickelt sich eben im Wechselspiel von „Schöner Literatur“ und Theater. Seit dem Aufkommen einer Thea‐terwissenschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es zudem eine institutionelle Teilung in zwei Wissenschaftssparten, die einer „Ent‐fesselung“ des Theaters im 20. Jahrhundert entspricht: Mit der Ein‐führung des Regietheaters (vgl. z.B. die „Meininger Reform“ seit 1869) wurde zwar einerseits der Texttreue gedient, andererseits aber wuchs das Bewusstsein der ureigensten künstlerischen Möglichkeiten des Theaters jenseits aller literarischen Vorgaben. Die Literaturwissen‐schaft hat wiederum erst im Zeitalter semiotischer Theorien die „Plu‐rimedialität“ des dramatischen Konstruktes ansatzweise zu berück‐sichtigen vermocht.1 So darf also von den „Literaturgeschichten“ nicht zu viel verlangt werden, zumal da der Ausweg aus dem Dilemma, nämlich der Weg in eine separate Geschichte des russischen Dramas/Theaters, bislang nicht beschritten worden ist, zumindest nicht im deutschen Sprach‐raum. Selbst in russischer Sprache gibt es erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hinreichend differenzierte Gesamtdarstellungen.2 Nur der historischen Kuriosität halber sei erwähnt, dass in Deutsch‐land immerhin schon in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Publi‐kation von Jakob von Stählin, „Zur Geschichte des Theaters in Russ‐land. Nachrichten von der Tanzkunst und Balletten in Russland. Nachrichten von der Musik in Rußland.“ erschienen ist.3 In der be‐kannten „Theatergeschichte Europas“ (Kindermann 1957‐74) wird Russland neben Polen, Böhmen und Südosteuropa in aller Kürze in den jeweiligen Bänden berücksichtigt. Leider enthält sie aber die übli‐
1 Vgl. die Publikation von Pfister 1977. 2 Istorija 1977‐87; Istorija 1982/87. 3 Schreibweise des Originals; vgl. den fotomechanischen Nachdruck mit Kom‐
mentar von E. Stöckl, Leipzig 1982, „aus Johann Joseph Haigold’s Beylagen zum neuveränderten Russland. 1769/1770“.
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chen Fehler und Ungereimtheiten, die den in gewisser Weise ver‐ständnislosen Blick „von außen“ auf (Süd‐)Osteuropa nun einmal kennzeichnen. Hinzu treten die spezifisch russischen Probleme, einerseits in den Bereichen Sprache, Schulbildung und Zensur, andererseits im Hin‐blick auf die besondere Konventionalität des Dramas, wie eingangs vermerkt, und die daraus folgende besondere Abhängigkeit von ‚aus‐ländischer Ware‘. Diese Abhängigkeit betrifft zwar augenscheinlich alle europäischen Literaturen und Theater, sie macht sich aber in Russland wegen der Phasenverschiebung im Vergleich zu Westeuro‐pa, z.B. bei der Abschaffung des (mittelalterlichen) Bildungsmonopols der Kirche und der allgemeinen Modernisierung des Staatswesens seit Anfang des 18. Jahrhunderts, nur besonders bemerkbar. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch ist die russische Dramenproduktion von den „Umarbeitungen (peredelki)“ bestimmt, die mehr oder weniger ge‐schickt ausländische Vorlagen in die russische Sprache und vor allem ins russische Milieu transponieren.4 Nach einer wohl auf den Kritiker Belinskij zurückgehenden Äußerung des russischen Symbolisten A‐leksandr Blok ist die russische Dramenproduktion durch einige weni‐ge Glanzlichter gekennzeichnet, die quasi „Zufälle“ gewesen seien und keineswegs etwa das Produkt einer kontinuierlichen Entwick‐lung, z.B. Fonvizin, „Nedorosl’ (Der Landjunker)“, Griboedov, „Gore ot uma (Verstand schafft Leiden)“ oder Gogol’, „Revizor (Der Revi‐sor)“ (Blok 1962, 168ff.). Es handelt sich um Dramen, die sozusagen im Gedächtnis geblieben waren. Erst mit Lev Tolstojs „Vlast’ t’my (Die Macht der Finsternis)“ erregte ein russisches Drama auch im Westen, und zwar in Paris, der „Hauptstadt der Kunst“, Aufmerk‐samkeit, – vermutlich auf Grund eines Missverständnisses5, sicherlich aber auf Grund der Berühmtheit, die Tolstoj mittlerweile als Roman‐cier erlangt hatte. Der produktivste und folgenreichste russische Dramatiker des 19. Jahrhunderts, A.N. Ostrovskij mit seinem „russi‐schen Repertoire“ von fast 50 Stücken, blieb dagegen außerhalb Russ‐lands unbekannt, obwohl er doch Tolstoj das russische Muster geliefert hatte.6 Erst mit Čechov beginnt schließlich der russische Dramen ‐e x p o r t , wesentlich begünstigt durch den Aufstieg des russischen
4 Vgl. Istorija 1977‐87, die Repertoireverzeichnisse v.a. ab Bd. 2. 5 Unter Vermittlung von Zola wurde das Stück als Beweis aufgeführt, dass der
Naturalismus bereits auch in Russland Fuß gefasst habe. 6 Muster in Bezug auf Milieu und Sprachverwendung. Er war allerdings wenige
Jahre zuvor in Paris mit „Groza (Das Gewitter)“ durchgefallen.
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Privattheaters seit 1882 und seiner experimentierfreudigen Regisseu‐re, wie beispielsweise Stanislavskij und Meyerhold (Mejerchol’d). Überhaupt ist das russische Theater bzw. seine Geschichte wohl der letzte Grund für die wenigen Dramen, die i.S. von Aleksandr Blok ihre Zeit überdauert haben. Wenn es für den Zusammenhang von Drama und Theater eines Beweises bedürfte, aus der russischen Thea‐tergeschichte könnte man ihn erbringen. Sie ist nämlich bis in die Sowjetzeit gekennzeichnet von Verboten, Zugangsbeschränkungen und nicht zuletzt einer äußerst rigiden Zensur. Der Vater Peters d. Gr. ließ 1672 zur geistigen Entspannung und geistlichen Erbauung des Hofes und des diplomatischen Corps ein Hoftheater gründen. Das Er‐öffnungsstück stammte im übrigen aus der Feder eines deutschen Pastors.7 Peter selbst versuchte Anfang des 18. Jahrhunderts das Thea‐ters politisch dienstbar zu machen. Zu seiner Zeit wurde das erste all‐gemein zugängliche Theater auf dem Roten Platz in Moskau eröffnet, bespielt z.T. von ausländischen (deutschen) Theatertruppen. Nach mancherlei Verboten wurde erst 1756 das erste öffentliche Theater von Bestand gegründet (Aleksandrinskij teatr in Sankt Petersburg). Damit etablierte sich ein kaiserliches, d.h. staatliches, Monopol; mobi‐le Privattheater gab es seit Ende des 18. Jahrhunderts, feste private Häuser wurden, wie erwähnt, erst 1882 erlaubt. Damit ist in aller Kürze der Kreis abgesteckt, innerhalb dessen sich die Geschichte der dramatischen Gattung in Russland vollzogen hat. Im Folgenden wäre nun zu prüfen, in welcher Weise und in welchem Umfang Drama und Theater in den Literaturgeschichten berücksich‐tigt werden, und zwar nach den Problemen, wie sie gerade umrissen worden sind, d.h. Dramenproduktion und Theaterwesen in Russland sowie die russischen Dramatiker und ihre Werke.
*
Die Frage nach den Wurzeln des russischen Dramas bzw. Theaters greift weit über die Grenze des Jahres 1700 zurück, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass bestimmte Jahrmarktsbelustigungen da‐zuzurechnen seien.8 Fasst man aber die erwähnte europäische Dra‐men‐ und Theaterkonvention in den Blick, so lassen sich Daten 7 Gottfried Gregorii, „Artakserksovo dejstvo (Die Handlung um Artaxerxes)“;
vgl. Schellenberger 1993. 8 Vgl. Vsevolodskij‐Gerngross 1957; es geht um die historische Einordnung des
russischen „skomorošestvo“, d.h. die Zunft der russischen Spaßmacher und Gaukler und ihr Weiterwirken im Sinne einer Art Volkstheaters.
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bestimmen und dramatische Werke nennen, die geschrieben worden waren, um ein Theater in Russland zu etablieren und zu nähren. Für die Darstellung dieses einigermaßen komplizierten Wechselspiels ver‐fügt allein die Literaturgeschichte von Düwel/Graßhoff 1986 über den Umfang und vor allem über die Spezialisierung der Bearbeiter nach bestimmten Zeitabschnitten. Allerdings verwenden diese kein ange‐messen kritisches Instrumentarium, ein Sachverhalt, der letztlich nicht überraschen kann, der aber angesichts der potenziellen Möglichkeiten dieser Publikation besonders bedauert werden muss. Beispielsweise wird Gregorii nicht erwähnt, statt dessen aber Simeon Polockij (1629‐80), „Poet und Dramatiker“, der „den Zaren zur Gründung des russi‐schen Hoftheaters“ bewegte.9 Aus seiner Feder stammten die ersten kryptokatholischen Schuldramen: „O Navuchodonosore care (Über den König Nebukadnezar)“ und „Komidija pritči o Bludnom syne (Die Komödie über das Gleichnis vom Verlorenen Sohn)“. Der „Verlo‐rene Sohn“, nach Düwel/Graßhoff 1986 angeblich das erste „russi‐sche“ Drama, wurde erst 1679 (!) und nur in der Akademie aufge‐führt. Man kann die Frage nach der Premiere des russischen Dra‐mas/Theaters für zweitrangig oder für Ansichtssache halten, aber sie muss als solche doch erörtert werden. Und so hat die Behandlung des Ursprungs von Drama und Theater in Russland eben als Symptom zu gelten. Die Darstellung bei Düwel/Graßhoff 1986 wird nämlich unter dem Stichwort der „nationalen“ Kultur stark auf Russland verengt. Die Tradition des stalinistischen Ansatzes, westliche Einflüsse zu ver‐schweigen (vgl. Einführung) oder doch zu verkleinern, macht sich – immerhin 4 Jahre vor Ende der DDR – noch bemerkbar. Wenn etwa Aleksandr Sumarokov (1718‐77)10 als „Begründer des russischen Nati‐
9 Düwel/Graßhoff 1986, I, 118 (verfasst von Ulf Lehmann); vgl. angesichts dieser
Epitheta aber Setschkareff 1962, 189: „Simeón Pólockij. (1629‐80). Studiert an der geistlichen Akademie in Kijev, wird 1656 Mönch und Lehrer in Pólock; geht 1664 nach Moskau, wo er als Lehrer, Prinzenerzieher, Hofdichter, Predi‐ger und Verfasser polemischer Schriften vom offiziellen Standpunkt der Regie‐rung aus wirkt. – Gedichtbände: Rifmológion, Der vielblumige Garten (1678/79); Predigten in zwei Sammelbänden: Das Mittagsmahl der Seele, Das Abendmahl der Seele (1682/83); polemische Schrift gegen die Altgläubigen: Der Stab der Regie‐rung (1667 bis 1668); Schuldramen: Komödie vom Kaiser Nebukadnezar, Komödie der Parabel vom verlorenen Sohn (1678/79); Psalterübersetzung (1680).“
10 Vgl. Setschkareff 1962, 191: „Sumarókov, Aleksándr (1718‐77). Aus einer Adels‐familie; 1732‐40 Zögling der Kadettenschule in Petersburg; Militärdienst; 1756‐61 erster Direktor des Petersburger Theaters; 1759 Herausgeber der Zeitschrift Die arbeitsame Biene; ab 1761 literarische Tätigkeit in Moskau. – Tragödien: Chorjóv, Sináv und Truvór, Hamlet, Pseudodemetrius u. a.; Komödien: Der Vor‐
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onaltheaters“11 gefeiert wird, so mag das wohl in Bezug auf den Thea‐terdirektor Sumarokov stimmen. Aber seine Dramenkunst bleibt zweifelhaft. Auch hier ist vieles Ansichtssache, beweisbar sind aller‐dings die Abhängigkeiten vom Vorbild des französischen Klassizis‐mus und v.a. die Sprachverwendung, die nicht nur angesichts der Entwicklung der russischen Sprache im 18. Jahrhundert wesentlich ist12, sondern die auch das Medium der Schönen Literatur bildet und die ästhetische Auffassung der gelesenen und vor allem der aufge‐führten Texte bestimmt. Mirskij, dessen Literaturgeschichte sich im übrigen ganz allgemein durch die Beachtung der Sprachverwendung in den jeweils behandelten Texten auszeichnet, schrieb zu Sumarokov schon in den 20er Jahren (amerikanisches Original: New York 1926):
Seine Tragödien sind eine lächerliche Simplifizierung der klassizistischen Me‐thode; seine Alexandriner sind ungewöhnlich schwerfällig, die Figuren reine Marionetten. Auch seine Komödien sind Bearbeitungen französischer Stücke, in die fast unmerklich russische Züge eingestreut wurden. Die Dialoge prä‐sentieren sich in einer gestelzten Prosa, die nie gesprochen wurde und gera‐dezu nach Übersetzung schmeckt. (Mirskij 1964, 57)
Für Mirskijs gewiss polemisch zugespitztes Urteil spricht, dass Suma‐rokov schon zum Ende des 18. Jahrhunderts vergessen war. Waegemans berücksichtigt recht ausgiebig Drama, Theater und Oper, v.a. im 18. Jahrhundert (z.B. die Rolle Katharinas II.), ebenso die spezifischen Abhängigkeiten und Bindungen der dramatischen Gat‐tung, leider aber pflegt gerade er eine besondere Unlogik, so dass sich z.T. groteske Reihungen ergeben. Sumarokovs Sprache hält er bei‐spielsweise für „einfach, klar und emotional“ (Waegemans 1998, 33). Das 18. Jahrhundert und das frühe 19. Jahrhundert sind die eigent‐liche Domäne von Lauer. Hier findet man die Entwicklung von Dra‐ma und Theater eindrucksvoll dargestellt, auch weil Lauer für jedes Jahrhundert unterschiedliche Ansätze verfolgt:
Im 18. Jahrhundert steht das Gattungsprinzip im Vordergrund; in der Puškin‐Zeit und im Realismus die überragenden Dichterpersönlichkeiten; in der Mo‐derne die Vielheit konkurrierender Strömungen; in der geteilten Literatur der
mund, Narciss, Die Ungetüme, Tresotinius u. a.; Satiren, Episteln, Lyrik, Lieder; sprachtheoretische und kritische Abhandlungen.“
11 Düwel/Graßhoff 1986, I, 150‐155; ihm wird ein eigenes (von Ulf Lehmann ver‐fasstes) Kapitel gewidmet!
12 Es geht nicht nur um die Herausbildung des neurussischen Standards, sondern auch um die „Sprechbarkeit“ der Texte auf der Bühne im Zuge einer Auffüh‐rung. Ganz allgemein erreicht das russische Drama erst mit Puškins „Königs‐drama“ à la Shakespeare „Boris Godunov“ (1825) die notwendige sprachliche Variabilität bzw. ein differenziertes stilistisches Register.
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1920er Jahre die Zentren der Emigration auf der einen Seite und die sowjeti‐schen Literatengruppen auf der anderen.13
Die Entwicklung der dramatischen Gattung lässt sich solchermaßen im 18. Jahrhundert besonders gut erfassen. Ein gewisses Manko aber bleibt auch hier die mangelnde Beachtung der sprachlichen Entwick‐lung der russischen Literatur. Um im Beispiel Sumarokovs zu bleiben, wird sein Wirken in der Literatur v.a. in Hinblick auf die „Begrün‐dung einer neuen Gattungstradition“ (Lauer 2000, 82) gewürdigt, sein eigentliches Scheitern an der russischen Sprache bleibt dagegen im Dunkeln. Stender‐Petersens ist es schon 1957 gelungen, bei der Darstellung des russischen Dramas/Theaters die Balance zwischen Gattungspoetik und Theatergründung, Typologie und Sprachverwendung, russi‐schem Anstrich und französischem Vorbild zu halten. Nur bei ihm wird klar, warum beispielsweise Sumarokov den Russen weder als der russische Racine noch als der russische Molière, beides Epitheta der Zeit, im Gedächtnis geblieben ist und warum seine Stücke rasch aus dem Repertoire verschwanden (Stender‐Petersen 1957, I, 365‐370). Der nächste Wendepunkt im Wechselspiel von Drama und Thea‐ter, bei dem auch die Zensur eine wesentliche Rolle übernommen hat‐te, liegt sichtbar erst Ende des 19. Jahrhunderts, da russischen Privat‐unternehmern erlaubt wird, feste Häuser zu führen. Ursächlich dafür wird sicherlich auch die Umwälzung, die in der Auffassung des Sprechtheaters seit Ende der 60er Jahre in Europa stattgefunden hatte (s.o.). An die Stelle der ad hoc und schnell aufgeführten Stücke, und zwar durch Ensembles, die wesentlich von Stars und ihren Allüren geprägt waren, ggf. ohne große Rücksicht auf den Text und in Deko‐rationen, die immer gleich blieben, tritt jetzt das Bemühen um be‐wusste Inszenierung, Texttreue und Ausgewogenheit des Spiels. Es ist der Beginn des Regietheaters, das alsbald in Russland zu einer beson‐deren Blüte gedeiht. In dessen Aufstieg wird ein Dramatiker einge‐bunden, der schließlich Drama und Theater im 20. Jahrhundert auch außerhalb Russlands mitbestimmt: Anton P. Čechov (1860‐1904). Soweit zu sehen, wird dieser Prozess in den Literaturgeschichten nicht reflektiert. Allenfalls wird auf die Bedeutung des „Moskauer Künstlertheaters“14 für Čechov verwiesen, nicht aber auf Čechovs Un‐behagen über das forciert „naturalistische“ Prinzip des Künstlerthea‐ters, ein Widerspruch zwischen Erfolg und Anspruch, der eigentlich doch den Stoff liefern könnte, aus dem „Geschichte“ entsteht. Nur 13 Lauer 2000, 16; diesen Ansatz gibt es im Prinzip schon bei Polonskij 1902. 14 Russ.: „MCh(A)T“ = „Moskovskij Chudožestvennyj (Akademičeskij) Teatr“.
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Lauer vermerkt abschließend, dass „Čechovs Stücke erst in den letz‐ten Jahrzehnten, nach Überwindung des von Stanislavskij geschaffe‐nen Aufführungsstils, [...] ihre volle künstlerische Potenz“ erwiesen haben (Lauer 2000, 446):
Sie haben das moderne Theater, nicht zuletzt auch die absurden Theaterfor‐men, nachhaltig beeinflußt. [...] Erst durch die Regiekonzepte Giorgio Streh‐lers, Peter Steins und Peter Zadeks kam Čechov zu der ihm angemessenen Bühnendeutung. (Ebenda)
Waegemans hebt hervor, dass Čechovs „Beliebtheit im Westen“ vor allem auf seinen Theaterstücken beruhe, „in denen seine Auffassung vom Russland seiner Zeit deutlich zum Ausdruck kommt.“ (Waege‐mans 1998, 202) Nur er stellt Stanislavskijs Theaterreform in den eu‐ropäischen Rahmen und zieht Parallelen zwischen Čechov und Hauptmann, Ibsen, Strindberg und Shaw (ebenda). Er verweist auf unterschiedliche Interpretationen, freilich in anderen Literaturge‐schichten (!), nicht etwa in der Sekundärliteratur zu Čechov, und ist wohl geneigt, i.S. des obigen Zitates Čechov für einen Realisten zu halten, dessen Dramen „nicht nur als Stimmungsdramen abgetan werden können.“ (Waegemans 1998, 203) Stender‐Petersen vermittelt über eigene Interpretationen die inno‐vatorische Kraft von Čechovs Stücken, auf das Theater geht er nicht ein – im übrigen ist vermutlich er der Adressat von Waegemans Be‐hauptung hinsichtlich der „Stimmungsdramen“:
Das ganze Spiel von Gegensätzen, von Anziehung und Abstoßung, das in der Kunst des Schauspiels sonst in dem Bereich des Voluntativen vor sich ging und in einen sorgfältig vorbereiteten Konflikt und dessen heftige Auslösung mündete, war in seinen Schauspielen in den Bereich des Emotionalen verlegt und vollzog sich in fein berechneten, kaum merkbaren, leise angedeuteten Kontroversen von Stimmungen, Tönungen von Stimmungen, Spielarten von Stimmungen. (Stender‐Petersen 1957, II, 465)
Historisch aufschlussreich ist schließlich der Blick in Literaturge‐schichten, die im zeitlichen Umkreis von höchstens einer Generation zu Čechov erschienen sind. Polonskij 1902 weiß nichts von Čechovs Dramen, obwohl er doch in „Tschechow und Gorjkij“ die vorläufige Krönung der russischen Literatur sieht (vgl. Einführung, S.16). Mirskij – Original des Textes wohlgemerkt von 1926! – schreibt:
In Rußland gehört Čechov heute vollständig der Vergangenheit an, einer Ver‐gangenheit, die noch weiter zurückliegt als Turgenev, von Gogol’ ganz zu schweigen, oder Leskov. Außerhalb von Rußlands Grenzen ist es anders [...]. (Mirskij 1964, 344)
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Wie zur Illustration dieser Aussage, geht Arthur Luther ausführlich nicht nur auf Čechovs Dramen, sondern auch auf das Künstlertheater ein, und begründet somit als einziger den engen Zusammenhang zwi‐schen beiden, und zwar im Sinne eines „beseelten Naturalismus“ (Lu‐ther 1924, 385). Die Frage bleibt freilich, ob Mirskijs Urteil die nachre‐volutionären Verhältnisse in Russland meint oder ob es s e i n Urteil ist, wie man angesichts seiner grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber der postrealistischen Literatur auf jeden Fall auch denken könnte.
*
Die Frage ist schließlich, wer von den russischen Dramatikern in den Literaturgeschichten überhaupt erwähnt wird. Reine Dramatiker, wie Aleksandr N. Ostrovskij, sind ohnehin selten. Deshalb geht es eher um die Dramen. Viele russische Schriftsteller, die eigentlich wegen anderer Gattungen bekannt geworden sind, haben nämlich auch Dra‐men verfasst. Das Beispiel von Lev N. Tolstoj wurde schon erwähnt. Ihm zur Seite gestellt werden kann Ivan S. Turgenev, der eine Reihe Dramen geschrieben hat, ohne dass er als Dramatiker in die Literatur‐geschichte eingegangen wäre. Im 20. Jahrhundert figurieren hier – ne‐ben den russischen Symbolisten Fedor Sologub und Aleksandr Blok – aus den 20er Jahren Vladimir Majakovskij und v.a. Michail Bulgakov. Das 18. Jahrhundert stellt in der russischen Literatur nicht nur den schon mehrfach behandelten Sonderfall eines ‚Laboratoriums‘ der russischen Sprache dar, sondern wird in seiner zweiten Hälfte genau‐so von der Gattungspoetik dominiert, deren Vertretung in den Litera‐turgeschichten weiter oben schon hinreichend gewürdigt worden ist. Zudem spielt in der akademischen Lehre das russische 18. Jahrhun‐dert nur eine untergeordnete Rolle. Wiederum im Blick auf die eini‐gen wenigen Namen, die die Geschichte des russischen Dramas aus‐machen, hat aus dem 18. Jahrhundert allenfalls Denis Fonvizins „Ne‐dorosl’“ überlebt. So mag es wegen der notwendigen Kürze erlaubt sein, einen Überblick über die Repräsentanz des Dramas vor allem für das 19. Jahrhundert zu geben, und für das 20. Jahrhundert, soweit es wiederum in den Literaturgeschichten berücksichtigt ist, wie etwa bei Waegemans 1998 oder Lauer 2000. Holthusen, der schließlich allein das 20. Jahrhundert (bis zum Jahr 1975) behandelt, schließt leider das Drama gänzlich aus, immerhin mit einer beachtenswerten Begrün‐dung:
Die Tendenz, die sich schon bei der ersten Auflage angebahnt hatte, mit abso‐lutem Vorrang die erzählende Prosa und die Lyrik zu behandeln, bedeutet
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keineswegs eine Geringschätzung der Gattung Drama, sondern die immer klarere Erkenntnis, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, die eigenständi‐ge Entwicklung der modernen Dramatik und Dramaturgie im Rahmen einer „Literaturgeschichte“ angemessen darzustellen. Spezialveröffentlichungen der letzten Jahre wie etwa H. Kunstmanns „Moderne polnische Dramatik“ (1965) haben mich in dieser Überzeugung nur noch bestärkt. (Holthusen 1978, 11)
Die Geschichten speziell zur Sowjetliteratur15 betreffen einen Aus‐schnitt aus dem 20. Jahrhundert, und zwar sowohl in zeitlicher Hin‐sicht als auch in Hinsicht auf das erkenntnistheoretische Sonderprob‐lem Sowjetliteratur. Sie werden deswegen hier nicht näher betrachtet. Die ‚Glanzlichter‘ des russischen Dramas von Fonvizin bis Čechov werden zwar in aller Regel vermerkt, aber doch ganz unterschiedlich im Kontext verankert. Um bei Fonvizin zu beginnen, findet sich zu seinem Drama „Nedorosl’“ bei Düwel/Graßhoff (verfasst von Anne‐lies Graßhoff):
Die gegen viele Widerstände durchgesetzte Aufführung der Komödie (Nedo‐rosl’) erntete in der russischen Öffentlichkeit triumphale Erfolge. Das lebens‐wahre Abbild der dem russischen Publikum vertrauten russischen Wirklich‐keit und v.a. Starodums politisch pointierte Enthüllungen lösten im Theater wahre Ovationen aus. Man warf sogar Geldbörsen auf die Bühne. Die Bühne war zum öffentlichen Forum geworden, wo das gesprochene Wort als Stimme der Nation gehört zu werden forderte. (Düwel/Graßhoff 1986, I, 206)
Die Stichworte „lebenswahres Abbild“, „russische Wirklichkeit“ und „Stimme der Nation“ lassen die weiter oben vermerkte Grundtendenz der gesamten Publikation erkennen, die jenseits aller Plausibilität hin‐sichtlich der Entwicklung der Kunst, im engeren von Drama und The‐ater, in Russland stets ‚realistische‘ (Stil‐)Momente erkennen will, von der gerade für Russland aberwitzigen Formulierung „Stimme der Na‐tion“ einmal ganz abgesehen.16 Johannes von Guenther weist dagegen auf das prinzipielle Fortle‐ben des Stückes als Muster der russischen Komödie hin:
15 Vgl. z.B. die Literaturgeschichten von Beitz 1994, Jünger 1973, Slonim 1972 oder
Struve 1957. 16 Um die gesellschaftliche Wirkung der Komödie Fonvizins zu deuten, würde im
autokratischen Vielvölkerstaat Russland wohl eher die Frage nach Staatsver‐ständnis, Herrschaftsausübung, „Aufklärung“ etc. zu stellen sein. Vgl. Lauer 2000, 86: „In Nedorosl’ [...] führte Fonvizin das Kernproblem der Aufklärung unmittelbar vor Augen: die – im gegebenen Fall schlechte – Erziehung des Menschen.“
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Das erste russische Theaterstück aus der heiteren Reihe jener russischen Ko‐mödien und Schauspiele, deren vorläufig letztes der heute noch lebende sow‐jetische Schriftsteller Valentin Kataev geschrieben hat. (von Guenther 1968, 13)
Stender‐Petersen urteilt ähnlich, allerdings mit einer angemessenen Begründung:
So wurde Fonvizin der erste russische Komödiendichter, der den entschei‐denden Schritt von der abstrakten Charakterkomödie zur aktuell eingestell‐ten, konkreten Milieukomödie tat. Er wurde zum Vorläufer jener Entlarvungs‐literatur, die im folgenden Jahrhundert mit ständig wachsender Stärke zur Geltung kommen sollte. (Stender‐Petersen 1957, I, 416; Hervorhebung im Ori‐ginal)
Lauer stellt Fonvizin in die russische Tradition von Sumarokov, Lukin u.a., nennt aber auch die westeuropäischen Muster der Zeit. Sein Schwerpunkt liegt auf Fonvizins erstem Drama „Brigadir (Der Briga‐dier)“17 (1769), „das erste dramatische Werk in Rußland, das sich nicht vor den ausländischen Mustern zu verstecken brauchte.“18 Das 19. Jahrhundert wird von den Namen Griboedov, Gogol’ und Ostrovskij19 gekennzeichnet, die selbstverständlich in allen Literatur‐geschichten genannt werden. Sie alle zehren demnach teilweise von Fonvizin in Sprachgestalt und Situationsbezogenheit, allerdings neben den westeuropäischen Mustern, die als „peredelki (Umarbeitungen)“ erscheinen und in der Struktur der Stücke in Handlungsaufbau und Thematik wiederzufinden sind. Dieser Umstand muss immer mitbe‐dacht werden, und wird es in aller Regel auch, insbesondere bei Sten‐der‐Petersen 1957, Tschižewskij 1964/1967, Waegemans 1998 und Lauer 2000, obwohl häufig die Verteilung zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ nicht klar wird. Jeder Dramatiker bietet darüber hinaus spezifische Probleme. Griboedov hat nur mit einem Drama, nämlich „Gore ot uma“ lite‐rarisch überlebt, das wiederum erst nach seiner (Griboedovs) spekta‐kulären Ermordung aufgeführt worden ist. Daher bietet die Rezeption gewisse Besonderheiten.20 Lauer geht zwar auf die Rezeptionsge‐schichte, die ja auch Theatergeschichte ist, nicht ein, dafür bezieht er den Text auf die innerrussische und auf die westeuropäische Traditi‐
17 Gemeint ist der militärische Rang. 18 Lauer 2000, 84; im Ganzen ähnlich Waegemans 1998, 50f. 19 Und natürlich Čechov, dessen Behandlung oben im Rahmen der Theaterent‐
wicklung schon umrissen wurde. Schließlich darf Puškin nicht vergessen wer‐den. Er wurde hier anlässlich der Sprachproblematik bereits in Fußnote 12 er‐wähnt.
20 Vgl. Kośny 1985.
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on, hier v.a. Molières „Le misanthrope (Der Menschenfeind)“. Daneben werden der Übergangscharakter vom Klassizismus zur Ro‐mantik und die Mischung komischer und tragischer Elemente her‐vorgehoben sowie, für Lauers Literaturgeschichte einigermaßen über‐raschend, die besondere Sprachverwendung (Lauer 2000, 176f.). Gri‐boedovs Drama hat eine Reihe „geflügelter Worte“ sozusagen für den Hausgebrauch geliefert, vergleichbar mit Friedrich Schiller im Deut‐schen. Für Tschižewskij scheint genau das die wesentliche literarische Bedeutung des „Klassizisten“ Griboedov auszumachen (Tschižewskij 1964, 49). Waegemans behauptet gar, das Vers(!)‐Drama sei „in Um‐gangssprache“ verfasst, und:
Die einzige Konzession, die der Autor an den Klassizismus macht, ist die Ein‐heit von Zeit und Ort. (Waegemans 1998, 74f.)
Stender‐Petersen schließlich nennt Griboedov einen „neuklassischen Dramatiker“ und begründet dieses Epitheton historisch mit der Geg‐nerschaft des Kreises, zu dem Griboedov gehörte, gegen Sentimenta‐lismus und aufkommende Romantik. Das „Gerüst“ der Komödie sei französisch, der „Stoff“ russisch (Stender‐Petersen 1957, II, 84):
Die russische Literatur hatte – nach dem Kampf so vieler Jahrzehnte und Ge‐nerationen gegen die strenge Poetik des Klassizismus – endlich ein eigen‐wüchsiges, nationales Meisterwerk erhalten. (Stender‐Petersen 1957, II, 89)
Weil Gogol’ zu den Schriftstellern gehört, die n i c h t n u r Dra‐men geschrieben haben, sind neben seiner mittlerweile weltberühm‐ten Komödie „Revizor“ zwei weitere Dramen(‐Fragmente) aus seiner Feder nicht vergessen, „Ženit’ba (Die Heirat/Die Brautwahl)“ und „Igroki (Die Spieler)“. Hinzu kommt eine Rezeption seines „Revizor“, die gekennzeichnet war von der Spannung zwischen Gogol’s metaphy‐sischer Intention21 und der satirischen Wirkung des Stückes auf der Bühne, weswegen Gogol’ Russland verließ:
Der fromme gottesgläubige Dichter ahnte nicht einmal die Tragweite seines Lachens, die ihm erst andere erklärten, und er erschrak vor dessen Wirkung. Er verfiel in düsteren, prüden Mystizismus, der seiner literarischen Laufbahn wie seinem ganzen Lebensabend einen tragischen Zug verlieh. (Polonskij 1902, 59)
21 Der echte Revisor als das Gewissen oder gar der Weltenrichter, vor dem die
Menschen ihre Handlungen zu vertreten haben.
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Von heute aus vermag angesichts einer geradezu kleinlichen Theater‐zensur die unmittelbare Freigabe des Stückes zur Aufführung auf den kaiserlichen Theatern zu überraschen.22 Bei Gogol’ entstand der Anschein des „Eigenen“, typisch Russi‐schen, offenbar vor allem als Wirkung der Bühne, vermutlich auch auf Grundlage der Sprachverwendung, jedenfalls wimmelt es in den Lite‐raturgeschichten von Hinweisen auf die Dramentradition, die von Gogol’ „verarbeitet“ worden ist, wenn auch erst in denen aus dem 20. Jahrhundert.23 Den Anfang macht Arthur Luther. Er nennt in Be‐zug auf den deus ex machina, die Lösung des Stückes im Auftauchen des echten Revisors, Molières „Tartuffe“, Fonvizins „Nedorosl’“ und Kapnists „Jabeda (Die Prozessschikane)“ (Luther 1924, 204), in Bezug auf das Verwechslungsmotiv August von Kotzebues „Die deutschen Kleinstädter“ (Luther 1924, 205), die auch nach Handlungssequenzen und Merkmalen des dargestellten Raumes (Kleinstadt/Provinz) häufi‐ger als „Vorlage“ angenommen werden.24 Stender‐Petersen zieht ein Fazit, dem man sich ohne weiteres anschließen kann:
Der Revisor (1835) war die Frucht eines sehr verwickelten literarischen Ar‐beitsprozesses, dessen einzelne Abschnitte jetzt in der Hauptsache erhellt sein dürften. Fremde und einheimische Vorbilder, eine Komödienliteratur, die Go‐gol’ in ganz verblüffendem Ausmaß beherrschte, hatten bei dem Zustande‐kommen dieser Komödie mittelbar und unmittelbar eine Rolle gespielt. Ein‐flüsse und Einwirkungen kamen aus den verschiedensten Quellen. Durch ge‐schickte Behandlung einer der gewöhnlichsten Anekdoten des russischen Alltagslebens war es Gogol’ gelungen, ein Werk zu schaffen, das trotz seiner nachweisbaren Anlehnung an bestimmte Vorbilder in höchstem Maße ur‐sprünglich und selbständig war. Diese Originalität kam in der Technik der Charakterisierung, in der Führung der Handlung, in der Kunst des Dialogs, in der szenischen Beweglichkeit und in der Darbietung des Stoffes überhaupt
22 Nach der Überlieferung wurde die Aufführung durch den Zaren Nikolaj I.
selbst gestattet, der das Stück damit tatsächlich wohl eher im Sinne Gogol’s verstanden hatte, d.h. eben nicht als Angriff auf das russische Herrschaftssys‐tem oder gar als „Anklage“. Der Zar hatte „besser als seine Beamten und die meisten Zuschauer die konservative Gesinnung Gogols erkannt“ (Luther 1924, 204).
23 Waegemans ignoriert gänzlich diese Problematik (Waegemans 1998, 102f.); Koenig ist der bezeichnenden Ansicht, „daß freilich auch Gogols nicht genaue Bekanntschaft mit ausländischen Literaturen ihn auch weniger irre macht, sei‐nen eigenen Weg zu gehen, und es seinem Talent erleichtert, sich eigenthüm‐lich zu entfalten.“ (Koenig 1837, 222)
24 Ähnlich Lauer, der noch die Komödie „Priezžij iz stolicy (Der Ankömmling aus der Hauptstadt)“ des ukrainischen Autors Kvitka‐Osnov’janenko anführt, we‐gen der bis zum Plagiatsvorwurf „überdeutlich[en] Koinzidenzen“. (Lauer 2000, 236)
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zum Ausdruck. Der Revisor bedeutete eine ungemein wichtige Stufe in der Entwicklung nicht nur der speziell russischen, sondern auch der gesamteuro‐päischen Komödie, eine ganz neue Auffassung des Komischen. (Stender‐Pe‐tersen 1957,II, 175)
Ostrovskijs Dramenwerk von rund 50 Stücken schließlich liegt wie ein erratischer Block in der literarischen Landschaft. An ihm scheidet sich die Entwicklung des russischen Dramas und Theaters, und an ihm scheiden sich offenbar auch die Literaturgeschichten.25 Neben banalen Verwechslungen mit seinem Namensvetter aus Sowjetzeiten Nikolaj Ostrovskij, bekannt durch den Roman „Kak zakaljalas’ stal’ (Wie der Stahl gehärtet wurde)“26, geht es zunächst um die angemessene Aus‐wahl aus den 50 Stücken und um deren Maßstäbe. Alexander Brück‐ner stellt seine Erörterung unter die wohl berühmteste Deutung des 19. Jahrhunderts, wenn er „Ostrovskij und seine Dramen aus dem Reich der Finsternis“ behandelt.27 Tendenziell folgen alle Verfasser die‐sem Muster, so dass – hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte durch‐aus nicht abwegig – ein bestimmter Teil der Stücke, nämlich die aus dem Milieu der Kaufleute, besonders hervorgehoben wird. Es handelt sich um knapp die Hälfte von Ostrovskijs Dramenproduktion. Histo‐rischen Sinn macht diese Hervorhebung aber nur dann, wenn auch der damit vollzogene Paradigmenwechsel im russischen Drama ver‐merkt wird, sprachlich zum Substandard, darstellungsmäßig in das, was im Westen als „bürgerliches Drama“ figuriert. Der auffällige Mi‐lieuwechsel vom Adel, der die russische Literatur als Darstellungs‐objekt im 19. Jahrhundert beherrscht28, zum „Bürgertum“ hat einen strukturellen Hintergrund, nämlich in erster Linie das sentimentale
25 2Verf. hat sich mit Ostrovskij eingehend beschäftigt; vgl. Steltner 1977; 1981;
2002. So zeigt sich vielleicht der Effekt des literaturwissenschaftlichen Spezialis‐ten, dem allgemeine und relativ undifferenzierte Aussagen über ‚seinen‘ Ge‐genstand nicht stimmig erscheinen. Für auf andere Gegenstände spezialisierte Literaturwissenschaftler würde dann Ähnliches gelten. Hier zeigt sich aber einmal mehr auch das Manko einer generalisierenden Literaturgeschichts‐schreibung durch Einzelpersonen.
26 Lauer 2000, 193; im Register allerdings richtig zugeordnet. 27 Brückner 1909, 447; es ist die Deutung des „linken“ Kritikers N.A. Dobroljubov
(Dobroljubov 1962 und 1963), die Ostrovskijs dargestellte Welt politisch‐allego‐risch auffasst: die abstruse familiäre Rechtsordnung mit einem unbeschränkt agierenden „pater familias“, einem „samodur“ (so Ostrovskijs negativer Aus‐druck), als Bild für die despotische Autokratie.
28 Angesichts des verbreiteten Analphabetismus in Russland bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts gilt die Dominanz des Adels in Literaturproduktion und ‐Rezeption ohnehin!
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bürgerliche Drama der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert29. Ein Bürgertum im westeuropäischen Sinn gibt es in Russland allerdings nicht, in Ostrovskijs Übernahme figuriert statt dessen sozusagen als lebensweltlicher Ersatz der Stand der russischen Kaufleute. In einer Zeit, da eigentlich der ‚Gott‘ des westeuropäischen, sprich: französi‐schen Theaters, Eugène Scribe mit seinen „gut gemachten Stücken“, strukturell dominierte30, wandelt Ostrovskij eben gerade andere Mus‐ter um. Das wird ihm von den Zeitgenossen durchweg als Mangel angekreidet. Er sei eher Epiker, und Dramatiker nur aus einem kolos‐salen Missverständnis31, ein merkwürdiges Urteil über einen Schrift‐steller, der nichts als Dramen geschrieben hat und damit auf dem Theater äußerst erfolgreich gewesen ist. Des Weiteren werden in den Literaturgeschichten Ostrovskijs His‐torienstücke, zumeist in Versen (!), ebenso sein bis heute als Neujahrs‐spiel32 populäres „Sneguročka (Schneeflöckchen)“33, wenn überhaupt, nur am Rande vermerkt. Ebenso wird die interessante Tatsache, dass Ostrovskij v o r der Meininger Reform, quasi aus schlichter Not‐wendigkeit, selbst inszeniert hat, meist nicht erwähnt. Immerhin am‐tierte er zum Ende seines Lebens als dramaturgischer Leiter des Mos‐kauer Schauspielhauses („Malyj teatr“). In seinem Wirken erweist sich das für die Literaturgeschichten nicht recht fassbare Zusammenspiel zwischen Drama und Theater besonders deutlich. Über die bedeutendsten Stücke von Ostrovskij könnte die Auffüh‐rungsstatistik Auskunft geben. Im Westen ist es auf jeden Fall „Les (Der Wald)“, in Russland zusätzlich vielleicht noch „Groza (Das Ge‐witter)“34. Wenn Tschižewskij meint, Ostrovskij würde auf westeuro‐päschen Bühnen zunehmend heimisch, so ist das nur eine Frage der
29 Vgl. z.B. Steltner 2002. 30 Ein Echo dieser Vorliebe findet sich noch in Gustav Freytags wirkungsmächti‐
ger Publikation „Die Technik des Dramas“ von 1863. Vgl. Freytag 1969. 31 Meinung des Kritikers Boborykin von 1871; vgl. Steltner 2002, 184. 32 Im deutschen Kontext wäre es ein Weihnachtsstück für Kinder. 33 In der dreibändigen aus dem Russischen übersetzten Literaturgeschichte von
Brodski und Timofejew, wird Ostrovskij viel Platz eingeräumt (Brodski/Timo‐fejew 1952‐1954, II, 206‐235), darin auch ein Abschnitt über „Schneeflöckchen“ (Brodski/Timofejew 1952‐1954, II, 216‐218). Neben Hinweisen auf die russische Folklore findet sich auch die Erwähnung der (entsprechenden) Opern von Čaj‐kovskij und Rimskij‐Korsakov (ebenda, 218).
34 Im Westen ist die Verarbeitung des Stückes zur Oper „Katja Kabanova“ durch Leoš Janáček, vermutlich bekannter.
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Relation35. Tschižewskij schreibt in seiner Literaturgeschichte, die wahrscheinlich den ausgewogensten und differenziertesten Beitrag zu Ostrovskij liefert, die Aufführungszahlen zeugten „von den hohen theatralischen Qualitäten der Schauspiele Ostrovskijs, die jedoch mit den literarischen nicht unbedingt identisch sein müssen.“ (Tschižew‐skij 1967, 141) Auf den Unterschied zwischen „literarischen“ und „theatralischen“ Qualitäten gehen auch andere Verfasser ein, ohne ihn recht zu bestimmen.36 Geradezu einhellig wird das mangelnde „Form‐bewusstsein“ vermerkt, das ja eigentlich den „theatralischen Qualitä‐ten“ Hohn spricht.
Seine Dramen zeichneten sich auch nicht durch straffe Handlungsführung oder zielbewußte Dramatik aus. Auch hier hinderte ihn seine naturalistische Einstellung, die reale Wirklichkeit einer arrangierten oder konstruierten dy‐namischen Theaterwirkung zu opfern. Fast alle seine Schauspiele beruhen in weitem Maße auf zufälligen Geschehnissen und Zusammenstößen. Eine kon‐struierte Motivierung der Szenenfolge war ihm zuwider. (Stender‐Petersen 1957, II, 314)
Stender‐Petersen versucht wenigstens, eine These, nämlich die Be‐hauptung eines vorgezogenen „Naturalismus“, zu belegen. Ansons‐ten verbirgt sich hinter derartigen Urteilen aber vermutlich nur die ungeprüfte Übernahme des Urteils der Zeit, das weiter oben objekti‐viert wurde, wie z.B.:
Die ganz auf Schilderung und Aussage gerichtete Kunst Ostrowskijs verzich‐tete auf alles formale Raffinement. (Düwel 1965, 558)
In den sowjetisch inspirierten Publikationen bildet überhaupt die i‐deologische Wirkung den Maßstab, und zwar als bloße Fortschrei‐bung des erwähnten Urteils von Dobroljubov.37 Selbst wenn eine der‐artige Situationsbezogenheit als Merkmal zur Kunstauffassung der realistischen Epoche gehört hat, darf sie wohl nicht einfach als Merk‐mal der Texte verlängert werden; denn es ist „außerordentlich schwie‐
35 Tschižewskij 1967, 141; in der westdeutschen Theaterstatistik für die Jahre
1955‐75 hat Ostrovskij einen Platz unter den ersten 50 meistgespielten Autoren, d.h. von den Russen als Dritter nach Čechov und Gogol’; vgl. Hadamczik u.a. 1978, 33. Die Liste wird übrigens von Shakespeare angeführt.
36 Mirskij nimmt eine originelle Einordnung der Theaterkunst Ostrovskijs vor: „Er ist der am wenigsten subjektive russische Schriftsteller, ein hoffnungsloser Fall für einen Psychoanalytiker. Seine Gestalten sind in gar keiner Weise Ema‐nationen seines Selbst“, bei ihm herrsche „ein wirklich dramatischer Realis‐mus.“ (Mirskij 1964, 227)
37 Z.B. Düwel/Graßhoff 1986, II, 96‐113, hier 102 (verfasst von Erhard Hexel‐schneider).
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rig, aus dem Werke Ostrovskijs eine soziale oder politische Weltan‐schauung herauszulösen.“ (Mirskij 1964, 228) Tschižewskij meint:
Der ideologische Gehalt der Werke Ostrovskijs entspricht keinesfalls ihrem sprachlichen Reichtum und ihren szenischen Qualitäten. Wollten Tolstoj und Dostoevskij Lehrer und Prediger sein, konnte man auch aus den Werken Tur‐genevs, Gončarovs und sogar Grigorovičs durch eigenes Nachdenken man‐cherlei Belehrung ziehen, [...] so konnte doch Ostrovskij kaum gleiche oder ähnliche Wirkungen erzielen. Ob Ostrovskij etwas beabsichtigte oder nicht, spielt dabei keine Rolle. (Tschižewskij 1967, 149)
Waegemans 1998 und Lauer 2000 gelangen in Bezug auf Ostrovskij nicht wesentlich über unspektakuläre Paraphrasen seiner (wichtigs‐ten38) Stücke hinaus, und werden damit dem Problem Ostrovskij wohl kaum gerecht.39 Die vielen anderen Dramen bzw. Dramatiker des 19. Jahrhunderts werden nur am Rande erwähnt, ohne dass sich ein wirkliches Bild der russischen Dramenproduktion ergäbe. Die am besten nutzbare Dar‐stellung mit Querverweisen auf die verstreuten Fundstellen bietet Tschižewskij (1967, 149ff.): Neben I.S. Turgenev und L.N. Tolstoj nennt er aus der Epoche des russischen Realismus Pisemskij, Leskov, Saltykov‐Ščedrin, Graf Sollogub, Mej, Aleksandr Konstantinovič Tols‐toj, Potechin und Suchovo‐Kobylin. A.K. Tolstoj und Suchovo‐Kobylin werden als die bedeutendsten dieser Reihe noch einmal besonders gewürdigt40; Tolstoj mit seiner historischen Trilogie über die Zeit der „Wirren“ an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert41, Suchovo‐Ko‐
38 Waegemans nennt 7 Stücke, Lauer 6. 39 Bei Lauer gibt es darüber hinaus Verwechslungen von Titeln und Stücken. So
bringt er „Svoi ljudi ‐ sočtemsja! (Unter Brüdern wird man sich schon einig/Es bleibt ja in der Familie)“ unrichtig mit „Za čem pojdeš’, to i najdeš’ (Was einer sucht, das findet er)“, dem dritten Teil der sog. „Bal’zaminovskaja trilogija (Bal’zaminov‐Trilogie)“, zusammen, u.a.m. (Lauer 2000, 302f.). Die Bal’zami‐nov‐Trilogie wird gebildet von den Dramen „Prazdničnyj son – do obeda (Bal‐saminov will heiraten/Feiertagstraum vor dem Essen)“, „Svoi sobyki gryzutsja – čužaja ne pristavaj! (Wo eigene Hunde raufen, bleibe ein fremder fern)“ und „Za čem pojdeš’, to i najdeš’ (Was einer sucht, das findet er)“.
40 Auch Düwel/Graßhoff gehen im Kapitel „Aleksandr Ostrowskij und das zeit‐genössische Theater“ auf diese beiden Dramatiker ein und stellen sie in den Kontext von Ostrovskijs Bühnenerfolgen (Düwel 1986, II, 96‐113; verfasst von Erhard Hexelschneider).
41 „Smert’ Ivana Groznogo (Der Tod Ivans des Schrecklichen)“(1865), „Car’ Fedor Ioannovič (Zar Fedor Ioannovič)“ (1868), „Car’ Boris (Zar Boris)“ (1870); sie werden in ihrer Abhängigkeit von Puškins „Boris Godunov“ beschrieben. Auch wird auf die Aufführungsgeschichte bzw. den Aufführungserfolg einge‐gangen, z.B. die berühmte Premiere des Stückes u n d des Theaters im Jahre
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bylin mit seinem einzigen Werk, einer sich grotesker Prinzipien be‐dienenden Trilogie, deren letzter Teil „das erst ein halbes Jahrhundert später [...] entstandene ‚symbolistische‘ Theater ahnen“ lässt (Tschi‐žewskij 1967, 150). Das symbolistische Theater ist allerdings in den Literaturgeschich‐ten nicht präsent, und auch die symbolistischen Dramen führen nur ein Schattendasein. Sie teilen das Schicksal der zugehörigen 1. Phase der russischen Moderne. Wie bereits erwähnt, haben die Literaturge‐schichten mit ihr eigenartige Schwierigkeiten. Der zu den verschiede‐nen Zeiten am meisten akzeptierte der Symbolisten, der auch Dramen geschrieben hat, ist vermutlich Aleksandr Blok.42 Sein „lyrisches Dra‐ma“ „Balagančik (Die Schaubude)“ (1906) wurde in der Inszenierung von Vsevolod Meyerhold ein großer Erfolg, ein Meilenstein in Mey‐erholds Aufstieg zu einem der bedeutendsten Regisseure des 20. Jahr‐hunderts. So sollen denn die Literaturgeschichten nach Bloks „Balagančik“ befragt werden, stellvertretend für die experimentelle Dramatik der Zeit. Stender‐Petersen nennt das Drama nicht. Bei Wae‐gemans finden sich zwei Halbsätze, die über Bloks angeblichen Bruch mit dem Symbolismus berichten und dabei auch „Balagančik“ (ver‐mutlich das Drama43) nennen, das von „Pessimismus und Desillusi‐on“ zeuge (Waegemans 1998, 227). Lauer schreibt unter dem Stich‐wort „Phase der Desillusionierung“ (in Bloks Schaffen):
Bloks eigene Stücke waren von symbolistischem Lyrismus getragen und stell‐ten für die russische Literatur einen neuen Dramentypus dar. Die realistische Mimesis war in ihnen zurückgedrängt, mit der aristotelischen Dramaturgie wurde rigoros gebrochen und statt dessen auf die lange verdrängten Formen
1898: „Erst das K ü n s t l e r t h e a t e r konnte das Stück [Zar Fedor Ioan‐novič], wenn auch mit Kürzungen, aufführen. [...] Die Rolle des Zaren Feodor wurde zur Lieblingsrolle begabter russischer Schauspieler.“ (Tschižewskij 1967, 153; Hervorhebung v. U.S.)
42 Vgl. Setschkareff 1962, 162f.: „Blok, Aleksándr (1880‐1921). Vater Professor für öffentliches Recht an der Universität Warschau; wächst bei der Mutter auf (Tochter des Universitätsprofessors Bekétov); studiert in Moskau Jura und Phi‐lologie; heiratet die Tochter des Chemikers Mendeléjev (1903); nimmt 1917 eine probolschewistische Haltung ein; erhält bedeutende öffentliche Stellungen. – Gedichtbände: Verse von der schönen Dame (1905), Unerwartete Freude (1907), Schneemaske (1907), Erde im Schnee (1907), Gesammelte Gedichte (1904‐08, 1908‐16); Poeme: Die Skythen, Die Zwölf (1920); Lyrische Dramen: Schaubudentheater, Die Unbekannte (1906), Rose und Kreuz (1912) u. a.; Kriti‐sche Essays: u. a. Über die gegenwärtige Lage des russischen Symbolismus (1910).“
43 Das Drama hat nämlich in dem gleichnamigen Gedicht Bloks einen Prätext.
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des Volkstheaters und des Schaubudenspiels zurückgegriffen. (Lauer 2000, 470)
Vom ursächlichen Zusammenhang mit dem Theater44 erfährt man al‐lenfalls indirekt über die Erwähnung des romanischen (!) „Volksthea‐ters“ bzw. des „russkij balagan“, hier „Schaubudenspiel“, eigentlich aber wohl russisches „Puppentheater“ oder „Kasperletheater“. Gleich‐wohl vermittelt Lauer als einziger etwas Wesentliches über das ‚neue‘ Drama. Je weiter die Darstellung ins 20. Jahrhundert hineinreicht, desto sporadischer werden die Dramen (geschweige denn das Theater) be‐rücksichtigt. Die Gründe liegen sowohl im Erkennen „historischer“ Daten und Fakten der jüngsten Vergangenheit als auch in der zuneh‐menden Eigendynamik der dramatischen Gattung. Diese Dynamik und vor allem ihr Zusammenhang mit dem Theater werden vielleicht als solche auch nur wegen ihrer Gegenwartsnähe stärker bewusst. Drama und Theater des 20. Jahrhunderts stehen noch im unmittelbar lebensweltlichen Wahrnehmungshorizont der Verfasser. Für die ver‐gangenen Jahrhunderte würde dann nur die fehlende zugehörige Si‐tuation erlaubt haben, bei der historischen Behandlung der Gattung Drama das Theater weitgehend zu ignorieren. Jedenfalls lassen sich anhand des Namensregisters Fehlbestand oder ‚Atomisierung‘ der Fakten recht schnell prüfen: Erdmann, Majakovskij, Charms, Bulga‐kov – um nur Namen aus den 20er Jahren zu nennen – erscheinen (e‐ventuell) mit ihren Dramen bei Waegemans und Lauer, aber mehr auch nicht, ohne dass sie – wie von Holthusen 1978 – explizit und be‐gründet ausgeschlossen wären.
Literaturverzeichnis
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44 Vgl. auch Stephan 1980; Ohme 2000.
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