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Das russische Drama und die Literaturgeschichte · PDF fileDas Drama gehört zu den ältesten Gattungen der europäischen Litera ‐ tur ... 2 Istorija 1977‐87; Istorija 1982/87

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Ulrich Steltner  

Das russische Drama und die Literaturgeschichte 

Das Drama gehört zu den ältesten Gattungen der europäischen Litera‐tur. Es  führt von seinen griechischen Anfängen bis auf den heutigen Tag ein hybrides Dasein zwischen literarischem Text und Theaterauf‐führung und hat  in den Literaturgeschichten deshalb keinen  rechten Platz;  seine  Geschichte  entwickelt  sich  eben  im  Wechselspiel  von „Schöner Literatur“ und Theater.  Seit dem Aufkommen  einer Thea‐terwissenschaft  zu Anfang  des  20. Jahrhunderts  gibt  es  zudem  eine institutionelle Teilung  in  zwei Wissenschaftssparten, die  einer  „Ent‐fesselung“  des  Theaters  im  20. Jahrhundert  entspricht: Mit  der  Ein‐führung des Regietheaters (vgl. z.B. die „Meininger Reform“ seit 1869) wurde zwar einerseits der Texttreue gedient, andererseits aber wuchs das  Bewusstsein  der  ureigensten  künstlerischen Möglichkeiten  des Theaters  jenseits  aller  literarischen  Vorgaben.  Die  Literaturwissen‐schaft hat wiederum erst im Zeitalter semiotischer Theorien die „Plu‐rimedialität“  des  dramatischen Konstruktes  ansatzweise  zu  berück‐sichtigen vermocht.1   So darf also von den „Literaturgeschichten“ nicht zu viel verlangt werden, zumal da der Ausweg aus dem Dilemma, nämlich der Weg in  eine  separate Geschichte des  russischen Dramas/Theaters, bislang nicht  beschritten worden  ist,  zumindest nicht  im deutschen  Sprach‐raum. Selbst in russischer Sprache gibt es erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hinreichend differenzierte Gesamtdarstellungen.2 Nur der historischen Kuriosität halber sei erwähnt, dass  in Deutsch‐land  immerhin schon  in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Publi‐kation von  Jakob von Stählin, „Zur Geschichte des Theaters  in Russ‐land.  Nachrichten  von  der  Tanzkunst  und  Balletten  in  Russland. Nachrichten  von der Musik  in Rußland.“  erschienen  ist.3  In der  be‐kannten  „Theatergeschichte  Europas“  (Kindermann  1957‐74)  wird Russland neben Polen, Böhmen und Südosteuropa  in  aller Kürze  in den jeweiligen Bänden berücksichtigt. Leider enthält sie aber die übli‐

1   Vgl. die Publikation von Pfister 1977. 2   Istorija 1977‐87; Istorija 1982/87. 3   Schreibweise des Originals; vgl. den  fotomechanischen Nachdruck mit Kom‐

mentar  von  E.  Stöckl,  Leipzig  1982,  „aus  Johann  Joseph Haigold’s  Beylagen zum neuveränderten Russland. 1769/1770“. 

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Die Geschichte der russischen Literatur 

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chen  Fehler  und  Ungereimtheiten,  die  den  in  gewisser Weise  ver‐ständnislosen Blick „von außen“ auf  (Süd‐)Osteuropa nun einmal kennzeichnen.   Hinzu treten die spezifisch russischen Probleme, einerseits  in den Bereichen  Sprache,  Schulbildung  und  Zensur,  andererseits  im Hin‐blick  auf die  besondere Konventionalität des Dramas, wie  eingangs vermerkt, und die daraus folgende besondere Abhängigkeit von ‚aus‐ländischer Ware‘. Diese Abhängigkeit  betrifft  zwar  augenscheinlich alle  europäischen  Literaturen  und  Theater,  sie  macht  sich  aber  in Russland wegen der Phasenverschiebung  im Vergleich zu Westeuro‐pa, z.B. bei der Abschaffung des (mittelalterlichen) Bildungsmonopols der Kirche und der allgemeinen Modernisierung des Staatswesens seit Anfang des 18. Jahrhunderts, nur besonders bemerkbar. Das ganze 19. Jahrhundert  hindurch  ist  die  russische Dramenproduktion  von  den „Umarbeitungen  (peredelki)“  bestimmt,  die mehr  oder weniger  ge‐schickt ausländische Vorlagen in die russische Sprache und vor allem ins russische Milieu transponieren.4 Nach einer wohl auf den Kritiker Belinskij  zurückgehenden Äußerung  des  russischen  Symbolisten A‐leksandr Blok ist die russische Dramenproduktion durch einige weni‐ge  Glanzlichter  gekennzeichnet,  die  quasi  „Zufälle“  gewesen  seien und  keineswegs  etwa  das  Produkt  einer  kontinuierlichen  Entwick‐lung, z.B. Fonvizin, „Nedorosl’ (Der Landjunker)“, Griboedov, „Gore ot uma  (Verstand  schafft Leiden)“ oder Gogol’, „Revizor  (Der Revi‐sor)“  (Blok 1962, 168ff.). Es handelt  sich um Dramen, die  sozusagen im Gedächtnis  geblieben waren.  Erst mit  Lev  Tolstojs  „Vlast’  t’my (Die Macht  der  Finsternis)“  erregte  ein  russisches  Drama  auch  im Westen,  und  zwar  in  Paris,  der  „Hauptstadt  der Kunst“, Aufmerk‐samkeit, – vermutlich auf Grund eines Missverständnisses5, sicherlich aber auf Grund der Berühmtheit, die Tolstoj mittlerweile als Roman‐cier  erlangt  hatte.  Der  produktivste  und  folgenreichste  russische Dramatiker des 19. Jahrhunderts, A.N. Ostrovskij mit  seinem „russi‐schen Repertoire“ von fast 50 Stücken, blieb dagegen außerhalb Russ‐lands unbekannt, obwohl er doch Tolstoj das russische Muster geliefert hatte.6  Erst mit  Čechov  beginnt  schließlich  der  russische Dramen ‐e x p o r t , wesentlich begünstigt durch den Aufstieg des  russischen 

4   Vgl. Istorija 1977‐87, die Repertoireverzeichnisse v.a. ab Bd. 2. 5   Unter Vermittlung von Zola wurde das Stück als Beweis aufgeführt, dass der 

Naturalismus bereits auch in Russland Fuß gefasst habe. 6   Muster in Bezug auf Milieu und Sprachverwendung. Er war allerdings wenige 

Jahre zuvor in Paris mit „Groza (Das Gewitter)“ durchgefallen. 

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Privattheaters seit 1882 und seiner experimentierfreudigen Regisseu‐re, wie beispielsweise Stanislavskij und Meyerhold (Mejerchol’d).   Überhaupt  ist  das  russische Theater  bzw.  seine Geschichte wohl der letzte Grund für die wenigen Dramen, die i.S. von Aleksandr Blok ihre  Zeit  überdauert  haben. Wenn  es  für  den  Zusammenhang  von Drama und Theater eines Beweises bedürfte, aus der russischen Thea‐tergeschichte  könnte man  ihn  erbringen.  Sie  ist  nämlich  bis  in  die Sowjetzeit  gekennzeichnet  von  Verboten,  Zugangsbeschränkungen und nicht zuletzt einer äußerst rigiden Zensur. Der Vater Peters d. Gr. ließ  1672  zur  geistigen  Entspannung  und  geistlichen  Erbauung  des Hofes und des diplomatischen Corps ein Hoftheater gründen. Das Er‐öffnungsstück  stammte  im  übrigen  aus  der  Feder  eines  deutschen Pastors.7 Peter selbst versuchte Anfang des 18. Jahrhunderts das Thea‐ters politisch dienstbar zu machen. Zu seiner Zeit wurde das erste all‐gemein zugängliche Theater auf dem Roten Platz in Moskau eröffnet, bespielt  z.T.  von  ausländischen  (deutschen)  Theatertruppen.  Nach mancherlei  Verboten wurde  erst  1756  das  erste  öffentliche  Theater von  Bestand  gegründet  (Aleksandrinskij  teatr  in  Sankt  Petersburg). Damit etablierte sich ein kaiserliches, d.h. staatliches, Monopol; mobi‐le  Privattheater  gab  es  seit  Ende  des  18. Jahrhunderts,  feste  private Häuser wurden, wie erwähnt, erst 1882 erlaubt.   Damit ist in aller Kürze der Kreis abgesteckt, innerhalb dessen sich die Geschichte der dramatischen Gattung  in Russland vollzogen hat. Im Folgenden wäre nun zu prüfen, in welcher Weise und in welchem Umfang Drama und Theater  in den Literaturgeschichten berücksich‐tigt werden, und zwar nach den Problemen, wie sie gerade umrissen worden sind, d.h. Dramenproduktion und Theaterwesen in Russland sowie die russischen Dramatiker und ihre Werke. 

Die  Frage  nach  den Wurzeln  des  russischen Dramas  bzw.  Theaters greift weit über die Grenze des Jahres 1700 zurück, wenn man sich auf den  Standpunkt  stellt,  dass  bestimmte  Jahrmarktsbelustigungen  da‐zuzurechnen  seien.8  Fasst man  aber  die  erwähnte  europäische Dra‐men‐  und  Theaterkonvention  in  den  Blick,  so  lassen  sich  Daten  7   Gottfried Gregorii,  „Artakserksovo  dejstvo  (Die Handlung  um Artaxerxes)“; 

vgl. Schellenberger 1993. 8   Vgl. Vsevolodskij‐Gerngross 1957; es geht um die historische Einordnung des 

russischen  „skomorošestvo“,  d.h.  die  Zunft  der  russischen  Spaßmacher  und Gaukler und ihr Weiterwirken im Sinne einer Art Volkstheaters. 

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Die Geschichte der russischen Literatur 

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bestimmen und dramatische Werke nennen, die geschrieben worden waren, um ein Theater  in Russland zu etablieren und zu nähren. Für die Darstellung dieses einigermaßen komplizierten Wechselspiels ver‐fügt allein die Literaturgeschichte von Düwel/Graßhoff 1986 über den Umfang und vor allem über die Spezialisierung der Bearbeiter nach bestimmten Zeitabschnitten. Allerdings verwenden diese kein  ange‐messen kritisches Instrumentarium, ein Sachverhalt, der letztlich nicht überraschen kann, der aber angesichts der potenziellen Möglichkeiten dieser Publikation  besonders  bedauert werden muss. Beispielsweise wird Gregorii nicht erwähnt, statt dessen aber Simeon Polockij (1629‐80), „Poet und Dramatiker“, der „den Zaren zur Gründung des russi‐schen Hoftheaters“ bewegte.9 Aus  seiner Feder  stammten die  ersten kryptokatholischen  Schuldramen:  „O  Navuchodonosore  care  (Über den  König Nebukadnezar)“  und  „Komidija  pritči  o  Bludnom  syne (Die Komödie über das Gleichnis vom Verlorenen Sohn)“. Der „Verlo‐rene  Sohn“,  nach  Düwel/Graßhoff  1986  angeblich  das  erste  „russi‐sche“ Drama, wurde  erst  1679  (!)  und  nur  in  der Akademie  aufge‐führt. Man  kann  die  Frage  nach  der  Premiere  des  russischen Dra‐mas/Theaters  für zweitrangig oder  für Ansichtssache halten, aber sie muss als solche doch erörtert werden. Und so hat die Behandlung des Ursprungs von Drama und Theater in Russland eben als Symptom zu gelten. Die Darstellung bei Düwel/Graßhoff 1986 wird nämlich unter dem  Stichwort  der  „nationalen“ Kultur  stark  auf Russland  verengt. Die Tradition des stalinistischen Ansatzes, westliche Einflüsse zu ver‐schweigen  (vgl. Einführung) oder doch zu verkleinern, macht  sich – immerhin 4  Jahre vor Ende der DDR – noch bemerkbar. Wenn etwa Aleksandr Sumarokov (1718‐77)10 als „Begründer des russischen Nati‐

9   Düwel/Graßhoff 1986, I, 118 (verfasst von Ulf Lehmann); vgl. angesichts dieser 

Epitheta  aber  Setschkareff  1962,  189:  „Simeón Pólockij.  (1629‐80).  Studiert  an der  geistlichen Akademie  in Kijev, wird  1656 Mönch  und  Lehrer  in  Pólock; geht 1664 nach Moskau, wo er als Lehrer, Prinzenerzieher, Hofdichter, Predi‐ger und Verfasser polemischer Schriften vom offiziellen Standpunkt der Regie‐rung aus wirkt. – Gedichtbände: Rifmológion, Der vielblumige Garten  (1678/79); Predigten in zwei Sammelbänden: Das Mittagsmahl der Seele, Das Abendmahl der Seele  (1682/83); polemische Schrift gegen die Altgläubigen: Der Stab der Regie‐rung  (1667 bis 1668); Schuldramen: Komödie vom Kaiser Nebukadnezar, Komödie der Parabel vom verlorenen Sohn (1678/79); Psalterübersetzung (1680).“ 

10  Vgl. Setschkareff 1962, 191: „Sumarókov, Aleksándr (1718‐77). Aus einer Adels‐familie; 1732‐40 Zögling der Kadettenschule in Petersburg; Militärdienst; 1756‐61 erster Direktor des Petersburger Theaters; 1759 Herausgeber der Zeitschrift Die  arbeitsame  Biene;  ab  1761  literarische  Tätigkeit  in Moskau.  –  Tragödien: Chorjóv,  Sináv  und  Truvór, Hamlet,  Pseudodemetrius  u.  a.; Komödien: Der Vor‐

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onaltheaters“11 gefeiert wird, so mag das wohl in Bezug auf den Thea‐terdirektor  Sumarokov  stimmen.  Aber  seine  Dramenkunst  bleibt zweifelhaft. Auch hier  ist vieles Ansichtssache, beweisbar  sind aller‐dings  die Abhängigkeiten  vom Vorbild  des  französischen Klassizis‐mus  und  v.a.  die  Sprachverwendung,  die  nicht  nur  angesichts  der Entwicklung  der  russischen  Sprache  im  18. Jahrhundert  wesentlich ist12, sondern die auch das Medium der Schönen Literatur bildet und die  ästhetische Auffassung  der  gelesenen  und  vor  allem  der  aufge‐führten  Texte  bestimmt. Mirskij,  dessen  Literaturgeschichte  sich  im übrigen ganz allgemein durch die Beachtung der Sprachverwendung in den jeweils behandelten Texten auszeichnet, schrieb zu Sumarokov schon in den 20er Jahren (amerikanisches Original: New York 1926): 

Seine Tragödien sind eine lächerliche Simplifizierung der klassizistischen Me‐thode; seine Alexandriner sind ungewöhnlich schwerfällig, die Figuren reine Marionetten. Auch seine Komödien sind Bearbeitungen französischer Stücke, in die  fast unmerklich  russische Züge eingestreut wurden. Die Dialoge prä‐sentieren sich  in einer gestelzten Prosa, die nie gesprochen wurde und gera‐dezu nach Übersetzung schmeckt. (Mirskij 1964, 57) 

Für Mirskijs gewiss polemisch zugespitztes Urteil spricht, dass Suma‐rokov schon zum Ende des 18. Jahrhunderts vergessen war.   Waegemans  berücksichtigt  recht  ausgiebig  Drama,  Theater  und Oper, v.a. im 18. Jahrhundert (z.B. die Rolle Katharinas II.), ebenso die spezifischen Abhängigkeiten und Bindungen der dramatischen Gat‐tung, leider aber pflegt gerade er eine besondere Unlogik, so dass sich z.T.  groteske  Reihungen  ergeben.  Sumarokovs  Sprache  hält  er  bei‐spielsweise für „einfach, klar und emotional“ (Waegemans 1998, 33).   Das 18. Jahrhundert und das frühe 19. Jahrhundert sind die eigent‐liche Domäne von Lauer. Hier findet man die Entwicklung von Dra‐ma und Theater eindrucksvoll dargestellt, auch weil Lauer  für  jedes Jahrhundert unterschiedliche Ansätze verfolgt: 

Im 18. Jahrhundert steht das Gattungsprinzip im Vordergrund; in der Puškin‐Zeit und im Realismus die überragenden Dichterpersönlichkeiten; in der Mo‐derne die Vielheit konkurrierender Strömungen; in der geteilten Literatur der 

mund, Narciss, Die Ungetüme, Tresotinius u. a.; Satiren, Episteln, Lyrik, Lieder; sprachtheoretische und kritische Abhandlungen.“ 

11  Düwel/Graßhoff 1986, I, 150‐155; ihm wird ein eigenes (von Ulf Lehmann ver‐fasstes) Kapitel gewidmet! 

12  Es geht nicht nur um die Herausbildung des neurussischen Standards, sondern auch um die „Sprechbarkeit“ der Texte auf der Bühne  im Zuge einer Auffüh‐rung. Ganz allgemein erreicht das russische Drama erst mit Puškins „Königs‐drama“ à  la Shakespeare „Boris Godunov“  (1825) die notwendige sprachliche Variabilität bzw. ein differenziertes stilistisches Register. 

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1920er Jahre die Zentren der Emigration auf der einen Seite und die sowjeti‐schen Literatengruppen auf der anderen.13 

Die Entwicklung der dramatischen Gattung  lässt  sich  solchermaßen im 18. Jahrhundert besonders gut erfassen. Ein gewisses Manko aber bleibt auch hier die mangelnde Beachtung der sprachlichen Entwick‐lung der russischen Literatur. Um im Beispiel Sumarokovs zu bleiben, wird  sein Wirken  in der Literatur v.a.  in Hinblick  auf die  „Begrün‐dung einer neuen Gattungstradition“ (Lauer 2000, 82) gewürdigt, sein eigentliches  Scheitern  an  der  russischen  Sprache  bleibt  dagegen  im Dunkeln.   Stender‐Petersens  ist es schon 1957 gelungen, bei der Darstellung des russischen Dramas/Theaters die Balance zwischen Gattungspoetik und  Theatergründung,  Typologie  und  Sprachverwendung,  russi‐schem Anstrich  und  französischem Vorbild  zu  halten. Nur  bei  ihm wird  klar, warum  beispielsweise  Sumarokov  den Russen weder  als der russische Racine noch als der russische Molière, beides Epitheta der Zeit,  im Gedächtnis geblieben  ist und warum seine Stücke rasch aus dem Repertoire verschwanden (Stender‐Petersen 1957, I, 365‐370).   Der nächste Wendepunkt  im Wechselspiel von Drama und Thea‐ter, bei dem auch die Zensur eine wesentliche Rolle übernommen hat‐te, liegt sichtbar erst Ende des 19. Jahrhunderts, da russischen Privat‐unternehmern erlaubt wird, feste Häuser zu führen. Ursächlich dafür wird  sicherlich  auch  die  Umwälzung,  die  in  der  Auffassung  des Sprechtheaters seit Ende der 60er Jahre in Europa stattgefunden hatte (s.o.). An die Stelle der ad hoc und schnell aufgeführten Stücke, und zwar durch Ensembles, die wesentlich  von  Stars und  ihren Allüren geprägt waren, ggf. ohne große Rücksicht auf den Text und in Deko‐rationen,  die  immer  gleich  blieben,  tritt  jetzt  das  Bemühen  um  be‐wusste Inszenierung, Texttreue und Ausgewogenheit des Spiels. Es ist der Beginn des Regietheaters, das alsbald in Russland zu einer beson‐deren Blüte gedeiht.  In dessen Aufstieg wird  ein Dramatiker  einge‐bunden, der schließlich Drama und Theater  im 20. Jahrhundert auch außerhalb Russlands mitbestimmt: Anton P. Čechov (1860‐1904).   Soweit zu  sehen, wird dieser Prozess  in den Literaturgeschichten nicht  reflektiert. Allenfalls wird  auf  die  Bedeutung  des  „Moskauer Künstlertheaters“14 für Čechov verwiesen, nicht aber auf Čechovs Un‐behagen über das forciert „naturalistische“ Prinzip des Künstlerthea‐ters, ein Widerspruch zwischen Erfolg und Anspruch, der eigentlich doch  den  Stoff  liefern  könnte,  aus  dem  „Geschichte“  entsteht. Nur  13  Lauer 2000, 16; diesen Ansatz gibt es im Prinzip schon bei Polonskij 1902. 14  Russ.: „MCh(A)T“ = „Moskovskij Chudožestvennyj (Akademičeskij) Teatr“. 

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Lauer vermerkt abschließend, dass „Čechovs Stücke erst  in den  letz‐ten  Jahrzehnten, nach Überwindung des von Stanislavskij geschaffe‐nen Aufführungsstils,  [...]  ihre  volle  künstlerische  Potenz“  erwiesen haben (Lauer 2000, 446): 

Sie haben das moderne Theater, nicht zuletzt auch die absurden Theaterfor‐men, nachhaltig beeinflußt.  [...] Erst durch die Regiekonzepte Giorgio Streh‐lers, Peter  Steins und Peter Zadeks  kam  Čechov  zu der  ihm  angemessenen Bühnendeutung. (Ebenda) 

Waegemans hebt hervor, dass  Čechovs  „Beliebtheit  im Westen“ vor allem auf seinen Theaterstücken beruhe, „in denen seine Auffassung vom Russland  seiner Zeit deutlich zum Ausdruck kommt.“  (Waege‐mans 1998, 202) Nur er stellt Stanislavskijs Theaterreform  in den eu‐ropäischen  Rahmen  und  zieht  Parallelen  zwischen  Čechov  und Hauptmann,  Ibsen,  Strindberg  und  Shaw  (ebenda).  Er  verweist  auf unterschiedliche  Interpretationen,  freilich  in  anderen  Literaturge‐schichten  (!), nicht etwa  in der Sekundärliteratur zu Čechov, und  ist wohl  geneigt,  i.S.  des  obigen Zitates  Čechov  für  einen Realisten  zu halten,  dessen  Dramen  „nicht  nur  als  Stimmungsdramen  abgetan werden können.“ (Waegemans 1998, 203)   Stender‐Petersen vermittelt über eigene Interpretationen die  inno‐vatorische Kraft von Čechovs Stücken, auf das Theater geht er nicht ein –  im übrigen  ist vermutlich er der Adressat von Waegemans Be‐hauptung hinsichtlich der „Stimmungsdramen“: 

Das ganze Spiel von Gegensätzen, von Anziehung und Abstoßung, das in der Kunst des Schauspiels  sonst  in dem Bereich des Voluntativen vor  sich ging und  in einen sorgfältig vorbereiteten Konflikt und dessen heftige Auslösung mündete, war in seinen Schauspielen in den Bereich des Emotionalen verlegt und  vollzog  sich  in  fein  berechneten,  kaum merkbaren,  leise  angedeuteten Kontroversen von Stimmungen, Tönungen von Stimmungen, Spielarten von Stimmungen. (Stender‐Petersen 1957, II, 465) 

Historisch  aufschlussreich  ist  schließlich  der  Blick  in  Literaturge‐schichten, die  im zeitlichen Umkreis von höchstens einer Generation zu Čechov erschienen  sind. Polonskij 1902 weiß nichts von Čechovs Dramen, obwohl er doch  in „Tschechow und Gorjkij“ die vorläufige Krönung der russischen Literatur sieht (vgl. Einführung, S.16). Mirskij – Original des Textes wohlgemerkt von 1926! – schreibt: 

In Rußland gehört Čechov heute vollständig der Vergangenheit an, einer Ver‐gangenheit,  die  noch weiter  zurückliegt  als  Turgenev,  von Gogol’  ganz  zu schweigen, oder Leskov. Außerhalb von Rußlands Grenzen ist es anders [...]. (Mirskij 1964, 344) 

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Wie  zur  Illustration dieser Aussage, geht Arthur Luther  ausführlich nicht nur auf Čechovs Dramen, sondern auch auf das Künstlertheater ein, und begründet somit als einziger den engen Zusammenhang zwi‐schen beiden, und zwar im Sinne eines „beseelten Naturalismus“ (Lu‐ther 1924, 385). Die Frage bleibt freilich, ob Mirskijs Urteil die nachre‐volutionären Verhältnisse in Russland meint oder ob es s e i n   Urteil ist, wie man angesichts seiner grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber der postrealistischen Literatur auf jeden Fall auch denken könnte. 

Die Frage ist schließlich, wer von den russischen Dramatikern in den Literaturgeschichten überhaupt erwähnt wird. Reine Dramatiker, wie Aleksandr N. Ostrovskij,  sind  ohnehin  selten. Deshalb  geht  es  eher um  die Dramen. Viele  russische  Schriftsteller,  die  eigentlich wegen anderer Gattungen bekannt geworden sind, haben nämlich auch Dra‐men verfasst. Das Beispiel von Lev N. Tolstoj wurde schon erwähnt. Ihm zur Seite gestellt werden kann  Ivan S. Turgenev, der eine Reihe Dramen geschrieben hat, ohne dass er als Dramatiker in die Literatur‐geschichte eingegangen wäre. Im 20. Jahrhundert figurieren hier – ne‐ben den russischen Symbolisten Fedor Sologub und Aleksandr Blok – aus den 20er Jahren Vladimir Majakovskij und v.a. Michail Bulgakov.   Das 18. Jahrhundert stellt in der russischen Literatur nicht nur den schon  mehrfach  behandelten  Sonderfall  eines  ‚Laboratoriums‘  der russischen Sprache dar, sondern wird in seiner zweiten Hälfte genau‐so von der Gattungspoetik dominiert, deren Vertretung in den Litera‐turgeschichten weiter oben schon hinreichend gewürdigt worden  ist. Zudem  spielt  in der  akademischen Lehre das  russische  18. Jahrhun‐dert nur eine untergeordnete Rolle. Wiederum  im Blick auf die eini‐gen wenigen Namen, die die Geschichte des russischen Dramas aus‐machen, hat aus dem 18. Jahrhundert allenfalls Denis Fonvizins „Ne‐dorosl’“ überlebt. So mag  es wegen der notwendigen Kürze  erlaubt sein, einen Überblick über die Repräsentanz des Dramas vor allem für das 19. Jahrhundert zu geben, und  für das 20. Jahrhundert, soweit es wiederum in den Literaturgeschichten berücksichtigt ist, wie etwa bei Waegemans  1998  oder Lauer  2000. Holthusen, der  schließlich  allein das 20. Jahrhundert (bis zum Jahr 1975) behandelt, schließt leider das Drama  gänzlich  aus,  immerhin mit  einer  beachtenswerten  Begrün‐dung: 

Die Tendenz, die sich schon bei der ersten Auflage angebahnt hatte, mit abso‐lutem Vorrang die  erzählende Prosa und die Lyrik  zu  behandeln,  bedeutet 

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Ulrich Steltner: Das russische Drama 

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keineswegs  eine  Geringschätzung  der  Gattung Drama,  sondern  die  immer klarere Erkenntnis, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, die eigenständi‐ge Entwicklung der modernen Dramatik und Dramaturgie  im Rahmen einer „Literaturgeschichte“  angemessen  darzustellen.  Spezialveröffentlichungen der  letzten  Jahre wie  etwa H. Kunstmanns  „Moderne  polnische Dramatik“ (1965) haben mich in dieser Überzeugung nur noch bestärkt. (Holthusen 1978, 11) 

Die  Geschichten  speziell  zur  Sowjetliteratur15  betreffen  einen  Aus‐schnitt aus dem 20. Jahrhundert, und zwar sowohl  in zeitlicher Hin‐sicht als auch in Hinsicht auf das erkenntnistheoretische Sonderprob‐lem Sowjetliteratur. Sie werden deswegen hier nicht näher betrachtet.   Die ‚Glanzlichter‘ des russischen Dramas von Fonvizin bis Čechov werden zwar in aller Regel vermerkt, aber doch ganz unterschiedlich im Kontext verankert. Um  bei Fonvizin  zu  beginnen,  findet  sich  zu seinem Drama „Nedorosl’“ bei Düwel/Graßhoff  (verfasst von Anne‐lies Graßhoff): 

Die gegen viele Widerstände durchgesetzte Aufführung der Komödie (Nedo‐rosl’) erntete in der russischen Öffentlichkeit triumphale Erfolge. Das lebens‐wahre Abbild der dem russischen Publikum vertrauten russischen Wirklich‐keit und v.a. Starodums politisch pointierte Enthüllungen  lösten  im Theater wahre Ovationen aus. Man warf sogar Geldbörsen auf die Bühne. Die Bühne war zum öffentlichen Forum geworden, wo das gesprochene Wort als Stimme der Nation gehört zu werden forderte. (Düwel/Graßhoff 1986, I, 206) 

Die Stichworte „lebenswahres Abbild“, „russische Wirklichkeit“ und „Stimme der Nation“ lassen die weiter oben vermerkte Grundtendenz der gesamten Publikation erkennen, die jenseits aller Plausibilität hin‐sichtlich der Entwicklung der Kunst, im engeren von Drama und The‐ater, in Russland stets ‚realistische‘ (Stil‐)Momente erkennen will, von der gerade für Russland aberwitzigen Formulierung „Stimme der Na‐tion“ einmal ganz abgesehen.16   Johannes von Guenther weist dagegen auf das prinzipielle Fortle‐ben des Stückes als Muster der russischen Komödie hin: 

15  Vgl. z.B. die Literaturgeschichten von Beitz 1994, Jünger 1973, Slonim 1972 oder 

Struve 1957. 16  Um die gesellschaftliche Wirkung der Komödie Fonvizins zu deuten, würde im 

autokratischen Vielvölkerstaat Russland wohl  eher die Frage nach  Staatsver‐ständnis, Herrschaftsausübung,  „Aufklärung“  etc.  zu  stellen  sein. Vgl. Lauer 2000,  86:  „In Nedorosl’  [...]  führte  Fonvizin das Kernproblem der Aufklärung unmittelbar  vor Augen:  die  –  im  gegebenen  Fall  schlechte  –  Erziehung  des Menschen.“ 

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Das erste russische Theaterstück aus der heiteren Reihe  jener russischen Ko‐mödien und Schauspiele, deren vorläufig letztes der heute noch lebende sow‐jetische Schriftsteller Valentin Kataev geschrieben hat. (von Guenther 1968, 13) 

Stender‐Petersen  urteilt  ähnlich,  allerdings mit  einer  angemessenen Begründung: 

So wurde  Fonvizin  der  erste  russische Komödiendichter,  der  den  entschei‐denden Schritt von der  abstrakten Charakterkomödie  zur  aktuell  eingestell‐ten, konkreten Milieukomödie tat. Er wurde zum Vorläufer jener Entlarvungs‐literatur,  die  im  folgenden  Jahrhundert mit  ständig wachsender  Stärke  zur Geltung kommen sollte. (Stender‐Petersen 1957, I, 416; Hervorhebung im Ori‐ginal) 

Lauer stellt Fonvizin in die russische Tradition von Sumarokov, Lukin u.a.,  nennt  aber  auch  die  westeuropäischen Muster  der  Zeit.  Sein Schwerpunkt liegt auf Fonvizins erstem Drama „Brigadir (Der Briga‐dier)“17 (1769), „das erste dramatische Werk in Rußland, das sich nicht vor den ausländischen Mustern zu verstecken brauchte.“18   Das 19. Jahrhundert wird von den Namen Griboedov, Gogol’ und Ostrovskij19 gekennzeichnet, die selbstverständlich  in allen Literatur‐geschichten genannt werden. Sie  alle  zehren demnach  teilweise von Fonvizin in Sprachgestalt und Situationsbezogenheit, allerdings neben den westeuropäischen Mustern, die als „peredelki (Umarbeitungen)“ erscheinen und  in der Struktur der Stücke  in Handlungsaufbau und Thematik wiederzufinden  sind. Dieser Umstand muss  immer mitbe‐dacht werden, und wird es in aller Regel auch, insbesondere bei Sten‐der‐Petersen  1957,  Tschižewskij  1964/1967,  Waegemans  1998  und Lauer 2000, obwohl häufig die Verteilung zwischen  „Eigenem“ und „Fremdem“ nicht klar wird.  Jeder Dramatiker bietet darüber hinaus spezifische Probleme.   Griboedov hat nur mit einem Drama, nämlich „Gore ot uma“ lite‐rarisch überlebt, das wiederum erst nach seiner (Griboedovs) spekta‐kulären Ermordung aufgeführt worden ist. Daher bietet die Rezeption gewisse  Besonderheiten.20  Lauer  geht  zwar  auf  die  Rezeptionsge‐schichte, die  ja auch Theatergeschichte  ist, nicht ein, dafür bezieht er den Text auf die innerrussische und auf die westeuropäische Traditi‐

17  Gemeint ist der militärische Rang. 18  Lauer 2000, 84; im Ganzen ähnlich Waegemans 1998, 50f. 19  Und natürlich  Čechov, dessen Behandlung oben  im Rahmen der Theaterent‐

wicklung schon umrissen wurde. Schließlich darf Puškin nicht vergessen wer‐den. Er wurde hier anlässlich der Sprachproblematik bereits in Fußnote 12 er‐wähnt. 

20  Vgl. Kośny 1985. 

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on,  hier  v.a.  Molières  „Le  misanthrope  (Der  Menschenfeind)“. Daneben werden der Übergangscharakter vom Klassizismus zur Ro‐mantik  und  die Mischung  komischer  und  tragischer  Elemente  her‐vorgehoben sowie, für Lauers Literaturgeschichte einigermaßen über‐raschend, die besondere Sprachverwendung  (Lauer 2000, 176f.). Gri‐boedovs Drama hat eine Reihe „geflügelter Worte“ sozusagen für den Hausgebrauch geliefert, vergleichbar mit Friedrich Schiller  im Deut‐schen. Für Tschižewskij scheint genau das die wesentliche literarische Bedeutung des „Klassizisten“ Griboedov auszumachen (Tschižewskij 1964, 49). Waegemans behauptet gar, das Vers(!)‐Drama sei „in Um‐gangssprache“ verfasst, und: 

Die einzige Konzession, die der Autor an den Klassizismus macht, ist die Ein‐heit von Zeit und Ort. (Waegemans 1998, 74f.) 

Stender‐Petersen  schließlich  nennt Griboedov  einen  „neuklassischen Dramatiker“ und begründet dieses Epitheton historisch mit der Geg‐nerschaft des Kreises, zu dem Griboedov gehörte, gegen Sentimenta‐lismus und aufkommende Romantik. Das „Gerüst“ der Komödie sei französisch, der „Stoff“ russisch (Stender‐Petersen 1957, II, 84): 

Die russische Literatur hatte – nach dem Kampf so vieler Jahrzehnte und Ge‐nerationen  gegen  die  strenge  Poetik  des  Klassizismus  –  endlich  ein  eigen‐wüchsiges, nationales Meisterwerk erhalten. (Stender‐Petersen 1957, II, 89) 

Weil Gogol’  zu den  Schriftstellern gehört, die  n i c h t   n u r   Dra‐men geschrieben haben,  sind neben  seiner mittlerweile weltberühm‐ten Komödie „Revizor“ zwei weitere Dramen(‐Fragmente) aus seiner Feder  nicht  vergessen,  „Ženit’ba  (Die  Heirat/Die  Brautwahl)“  und „Igroki (Die Spieler)“. Hinzu kommt eine Rezeption seines „Revizor“, die gekennzeichnet war von der Spannung zwischen Gogol’s metaphy‐sischer  Intention21  und  der  satirischen Wirkung  des  Stückes  auf  der Bühne, weswegen Gogol’ Russland verließ: 

Der  fromme gottesgläubige Dichter ahnte nicht einmal die Tragweite  seines Lachens, die ihm erst andere erklärten, und er erschrak vor dessen Wirkung. Er verfiel in düsteren, prüden Mystizismus, der seiner literarischen Laufbahn wie  seinem  ganzen  Lebensabend  einen  tragischen  Zug  verlieh.  (Polonskij 1902, 59) 

21  Der echte Revisor als das Gewissen oder gar der Weltenrichter, vor dem die 

Menschen ihre Handlungen zu vertreten haben. 

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Von heute aus vermag angesichts einer geradezu kleinlichen Theater‐zensur die unmittelbare Freigabe des Stückes zur Aufführung auf den kaiserlichen Theatern zu überraschen.22   Bei Gogol’  entstand  der Anschein  des  „Eigenen“,  typisch  Russi‐schen, offenbar vor allem als Wirkung der Bühne, vermutlich auch auf Grundlage der Sprachverwendung, jedenfalls wimmelt es in den Lite‐raturgeschichten  von  Hinweisen  auf  die  Dramentradition,  die  von Gogol’  „verarbeitet“ worden  ist, wenn  auch  erst  in  denen  aus  dem 20. Jahrhundert.23 Den Anfang macht Arthur Luther. Er nennt  in Be‐zug auf den deus ex machina, die Lösung des Stückes  im Auftauchen des echten Revisors, Molières „Tartuffe“, Fonvizins „Nedorosl’“ und Kapnists „Jabeda (Die Prozessschikane)“ (Luther 1924, 204), in Bezug auf das Verwechslungsmotiv August von Kotzebues „Die deutschen Kleinstädter“ (Luther 1924, 205), die auch nach Handlungssequenzen und Merkmalen des dargestellten Raumes (Kleinstadt/Provinz) häufi‐ger als „Vorlage“ angenommen werden.24 Stender‐Petersen zieht ein Fazit, dem man sich ohne weiteres anschließen kann: 

Der Revisor  (1835) war  die  Frucht  eines  sehr  verwickelten  literarischen Ar‐beitsprozesses, dessen einzelne Abschnitte jetzt in der Hauptsache erhellt sein dürften. Fremde und einheimische Vorbilder, eine Komödienliteratur, die Go‐gol’  in ganz verblüffendem Ausmaß beherrschte, hatten bei dem Zustande‐kommen dieser Komödie mittelbar und unmittelbar eine Rolle gespielt. Ein‐flüsse und Einwirkungen kamen aus den verschiedensten Quellen. Durch ge‐schickte  Behandlung  einer  der  gewöhnlichsten  Anekdoten  des  russischen Alltagslebens war es Gogol’ gelungen, ein Werk zu schaffen, das trotz seiner nachweisbaren  Anlehnung  an  bestimmte  Vorbilder  in  höchstem Maße  ur‐sprünglich und  selbständig war. Diese Originalität  kam  in der Technik der Charakterisierung, in der Führung der Handlung, in der Kunst des Dialogs, in der  szenischen Beweglichkeit und  in der Darbietung  des  Stoffes überhaupt 

22  Nach  der Überlieferung wurde  die Aufführung  durch  den  Zaren Nikolaj  I. 

selbst  gestattet, der das  Stück damit  tatsächlich wohl  eher  im  Sinne Gogol’s verstanden hatte, d.h. eben nicht als Angriff auf das russische Herrschaftssys‐tem oder gar als „Anklage“. Der Zar hatte „besser als seine Beamten und die meisten Zuschauer die konservative Gesinnung Gogols erkannt“ (Luther 1924, 204). 

23  Waegemans  ignoriert  gänzlich  diese  Problematik  (Waegemans  1998,  102f.); Koenig ist der bezeichnenden Ansicht, „daß freilich auch Gogols nicht genaue Bekanntschaft mit ausländischen Literaturen ihn auch weniger irre macht, sei‐nen eigenen Weg zu gehen, und es seinem Talent erleichtert, sich eigenthüm‐lich zu entfalten.“ (Koenig 1837, 222) 

24  Ähnlich Lauer, der noch die Komödie „Priezžij iz stolicy (Der Ankömmling aus der Hauptstadt)“ des ukrainischen Autors Kvitka‐Osnov’janenko anführt, we‐gen  der  bis  zum  Plagiatsvorwurf  „überdeutlich[en]  Koinzidenzen“.  (Lauer 2000, 236) 

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Ulrich Steltner: Das russische Drama 

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zum Ausdruck. Der Revisor  bedeutete  eine ungemein wichtige  Stufe  in der Entwicklung nicht nur der speziell russischen, sondern auch der gesamteuro‐päischen Komödie, eine ganz neue Auffassung des Komischen.  (Stender‐Pe‐tersen 1957,II, 175) 

Ostrovskijs Dramenwerk von rund 50 Stücken schließlich liegt wie ein erratischer Block in der literarischen Landschaft. An ihm scheidet sich die  Entwicklung  des  russischen Dramas  und  Theaters,  und  an  ihm scheiden sich offenbar auch die Literaturgeschichten.25 Neben banalen Verwechslungen mit  seinem Namensvetter  aus  Sowjetzeiten Nikolaj Ostrovskij, bekannt durch den Roman „Kak zakaljalas’ stal’ (Wie der Stahl gehärtet wurde)“26, geht es zunächst um die angemessene Aus‐wahl aus den 50 Stücken und um deren Maßstäbe. Alexander Brück‐ner  stellt  seine Erörterung unter die wohl berühmteste Deutung des 19. Jahrhunderts,  wenn  er  „Ostrovskij  und  seine  Dramen  aus  dem Reich der Finsternis“ behandelt.27 Tendenziell folgen alle Verfasser die‐sem Muster,  so  dass  –  hinsichtlich  der Rezeptionsgeschichte  durch‐aus nicht abwegig – ein bestimmter Teil der Stücke, nämlich die aus dem Milieu der Kaufleute, besonders hervorgehoben wird. Es handelt sich um knapp die Hälfte von Ostrovskijs Dramenproduktion. Histo‐rischen  Sinn macht diese Hervorhebung  aber nur dann, wenn  auch der damit vollzogene Paradigmenwechsel  im  russischen Drama ver‐merkt wird,  sprachlich  zum Substandard, darstellungsmäßig  in das, was im Westen als „bürgerliches Drama“ figuriert. Der auffällige Mi‐lieuwechsel  vom Adel,  der  die  russische  Literatur  als Darstellungs‐objekt  im  19. Jahrhundert  beherrscht28,  zum  „Bürgertum“  hat  einen strukturellen Hintergrund,  nämlich  in  erster  Linie  das  sentimentale 

25  2Verf. hat  sich mit Ostrovskij  eingehend  beschäftigt;  vgl.  Steltner  1977;  1981; 

2002. So zeigt sich vielleicht der Effekt des literaturwissenschaftlichen Spezialis‐ten, dem  allgemeine und  relativ undifferenzierte Aussagen über  ‚seinen‘ Ge‐genstand nicht stimmig erscheinen. Für auf andere Gegenstände spezialisierte Literaturwissenschaftler  würde  dann  Ähnliches  gelten.  Hier  zeigt  sich  aber einmal  mehr  auch  das  Manko  einer  generalisierenden  Literaturgeschichts‐schreibung durch Einzelpersonen. 

26  Lauer 2000, 193; im Register allerdings richtig zugeordnet. 27  Brückner 1909, 447; es ist die Deutung des „linken“ Kritikers N.A. Dobroljubov 

(Dobroljubov 1962 und 1963), die Ostrovskijs dargestellte Welt politisch‐allego‐risch  auffasst: die  abstruse  familiäre Rechtsordnung mit  einem unbeschränkt agierenden „pater  familias“, einem „samodur“  (so Ostrovskijs negativer Aus‐druck), als Bild für die despotische Autokratie. 

28  Angesichts des verbreiteten Analphabetismus in Russland bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts gilt die Dominanz des Adels in Literaturproduktion und ‐Rezeption ohnehin! 

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Die Geschichte der russischen Literatur 

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bürgerliche  Drama  der Wende  vom  18.  zum  19. Jahrhundert29.  Ein Bürgertum  im westeuropäischen Sinn gibt  es  in Russland allerdings nicht,  in Ostrovskijs Übernahme  figuriert  statt dessen  sozusagen  als lebensweltlicher Ersatz der  Stand der  russischen Kaufleute.  In  einer Zeit, da eigentlich der  ‚Gott‘ des westeuropäischen,  sprich:  französi‐schen Theaters, Eugène Scribe mit  seinen „gut gemachten Stücken“, strukturell dominierte30, wandelt Ostrovskij eben gerade andere Mus‐ter  um. Das wird  ihm  von  den Zeitgenossen  durchweg  als Mangel angekreidet. Er sei eher Epiker, und Dramatiker nur aus einem kolos‐salen Missverständnis31, ein merkwürdiges Urteil über einen Schrift‐steller,  der  nichts  als Dramen  geschrieben  hat  und  damit  auf  dem Theater äußerst erfolgreich gewesen ist.   Des Weiteren werden in den Literaturgeschichten Ostrovskijs His‐torienstücke, zumeist in Versen (!), ebenso sein bis heute als Neujahrs‐spiel32 populäres „Sneguročka (Schneeflöckchen)“33, wenn überhaupt, nur am Rande vermerkt. Ebenso wird die interessante Tatsache, dass Ostrovskij  v o r   der Meininger  Reform,  quasi  aus  schlichter  Not‐wendigkeit, selbst  inszeniert hat, meist nicht erwähnt. Immerhin am‐tierte er zum Ende seines Lebens als dramaturgischer Leiter des Mos‐kauer Schauspielhauses („Malyj teatr“). In seinem Wirken erweist sich das  für die Literaturgeschichten nicht  recht  fassbare Zusammenspiel zwischen Drama und Theater besonders deutlich.   Über die bedeutendsten Stücke von Ostrovskij könnte die Auffüh‐rungsstatistik Auskunft geben.  Im Westen  ist  es  auf  jeden Fall  „Les (Der Wald)“,  in Russland zusätzlich vielleicht noch „Groza  (Das Ge‐witter)“34. Wenn Tschižewskij meint, Ostrovskij würde auf westeuro‐päschen Bühnen zunehmend heimisch, so  ist das nur eine Frage der 

29  Vgl. z.B. Steltner 2002. 30  Ein Echo dieser Vorliebe findet sich noch in Gustav Freytags wirkungsmächti‐

ger Publikation „Die Technik des Dramas“ von 1863. Vgl. Freytag 1969. 31  Meinung des Kritikers Boborykin von 1871; vgl. Steltner 2002, 184. 32  Im deutschen Kontext wäre es ein Weihnachtsstück für Kinder. 33  In der dreibändigen aus dem Russischen übersetzten Literaturgeschichte von 

Brodski und Timofejew, wird Ostrovskij viel Platz eingeräumt (Brodski/Timo‐fejew 1952‐1954, II, 206‐235), darin auch ein Abschnitt über „Schneeflöckchen“ (Brodski/Timofejew 1952‐1954, II, 216‐218). Neben Hinweisen auf die russische Folklore findet sich auch die Erwähnung der (entsprechenden) Opern von Čaj‐kovskij und Rimskij‐Korsakov (ebenda, 218). 

34  Im Westen ist die Verarbeitung des Stückes zur Oper „Katja Kabanova“ durch Leoš Janáček, vermutlich bekannter. 

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Ulrich Steltner: Das russische Drama 

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Relation35.  Tschižewskij  schreibt  in  seiner  Literaturgeschichte,  die wahrscheinlich den ausgewogensten und differenziertesten Beitrag zu Ostrovskij  liefert,  die  Aufführungszahlen  zeugten  „von  den  hohen theatralischen Qualitäten der Schauspiele Ostrovskijs, die  jedoch mit den  literarischen nicht unbedingt  identisch sein müssen.“ (Tschižew‐skij  1967,  141)  Auf  den  Unterschied  zwischen  „literarischen“  und „theatralischen“ Qualitäten gehen auch andere Verfasser ein, ohne ihn recht zu bestimmen.36 Geradezu einhellig wird das mangelnde „Form‐bewusstsein“ vermerkt, das  ja eigentlich den „theatralischen Qualitä‐ten“ Hohn spricht. 

Seine Dramen  zeichneten  sich  auch  nicht  durch  straffe Handlungsführung oder zielbewußte Dramatik aus. Auch hier hinderte  ihn seine naturalistische Einstellung, die  reale Wirklichkeit  einer arrangierten oder konstruierten dy‐namischen Theaterwirkung zu opfern. Fast alle seine Schauspiele beruhen  in weitem Maße auf zufälligen Geschehnissen und Zusammenstößen. Eine kon‐struierte Motivierung  der  Szenenfolge war  ihm  zuwider.  (Stender‐Petersen 1957, II, 314) 

Stender‐Petersen  versucht  wenigstens,  eine  These,  nämlich  die  Be‐hauptung  eines  vorgezogenen  „Naturalismus“,  zu  belegen. Ansons‐ten  verbirgt  sich  hinter derartigen Urteilen  aber  vermutlich  nur die ungeprüfte Übernahme des Urteils der Zeit, das weiter oben objekti‐viert wurde, wie z.B.: 

Die ganz auf Schilderung und Aussage gerichtete Kunst Ostrowskijs verzich‐tete auf alles formale Raffinement. (Düwel 1965, 558) 

In  den  sowjetisch  inspirierten  Publikationen  bildet  überhaupt die  i‐deologische Wirkung  den Maßstab,  und  zwar  als  bloße  Fortschrei‐bung des erwähnten Urteils von Dobroljubov.37 Selbst wenn eine der‐artige  Situationsbezogenheit  als Merkmal  zur  Kunstauffassung  der realistischen Epoche gehört hat, darf sie wohl nicht einfach als Merk‐mal der Texte verlängert werden; denn es ist „außerordentlich schwie‐

35  Tschižewskij  1967,  141;  in  der  westdeutschen  Theaterstatistik  für  die  Jahre 

1955‐75 hat Ostrovskij einen Platz unter den ersten 50 meistgespielten Autoren, d.h. von den Russen als Dritter nach Čechov und Gogol’; vgl. Hadamczik u.a. 1978, 33. Die Liste wird übrigens von Shakespeare angeführt. 

36  Mirskij  nimmt  eine  originelle  Einordnung  der  Theaterkunst Ostrovskijs  vor: „Er ist der am wenigsten subjektive russische Schriftsteller, ein hoffnungsloser Fall für einen Psychoanalytiker. Seine Gestalten sind in gar keiner Weise Ema‐nationen  seines  Selbst“,  bei  ihm  herrsche  „ein wirklich  dramatischer Realis‐mus.“ (Mirskij 1964, 227) 

37  Z.B.  Düwel/Graßhoff  1986,  II,  96‐113,  hier  102  (verfasst  von  Erhard  Hexel‐schneider). 

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rig,  aus dem Werke Ostrovskijs  eine  soziale oder politische Weltan‐schauung herauszulösen.“ (Mirskij 1964, 228) Tschižewskij meint: 

Der  ideologische Gehalt  der Werke Ostrovskijs  entspricht  keinesfalls  ihrem sprachlichen Reichtum und ihren szenischen Qualitäten. Wollten Tolstoj und Dostoevskij Lehrer und Prediger sein, konnte man auch aus den Werken Tur‐genevs, Gončarovs und  sogar Grigorovičs durch  eigenes Nachdenken man‐cherlei Belehrung  ziehen,  [...]  so konnte doch Ostrovskij kaum gleiche  oder ähnliche Wirkungen  erzielen. Ob Ostrovskij  etwas  beabsichtigte  oder  nicht, spielt dabei keine Rolle. (Tschižewskij 1967, 149) 

Waegemans  1998 und Lauer  2000 gelangen  in Bezug  auf Ostrovskij nicht wesentlich  über  unspektakuläre  Paraphrasen  seiner  (wichtigs‐ten38) Stücke hinaus, und werden damit dem Problem Ostrovskij wohl kaum gerecht.39   Die vielen anderen Dramen bzw. Dramatiker des 19. Jahrhunderts werden nur am Rande erwähnt, ohne dass sich ein wirkliches Bild der russischen Dramenproduktion  ergäbe. Die  am  besten nutzbare Dar‐stellung  mit  Querverweisen  auf  die  verstreuten  Fundstellen  bietet Tschižewskij  (1967,  149ff.):  Neben  I.S.  Turgenev  und  L.N.  Tolstoj nennt er aus der Epoche des russischen Realismus Pisemskij, Leskov, Saltykov‐Ščedrin, Graf Sollogub, Mej, Aleksandr Konstantinovič Tols‐toj, Potechin und Suchovo‐Kobylin. A.K. Tolstoj und Suchovo‐Kobylin werden  als  die  bedeutendsten  dieser  Reihe  noch  einmal  besonders gewürdigt40; Tolstoj mit seiner historischen Trilogie über die Zeit der „Wirren“ an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert41, Suchovo‐Ko‐

38  Waegemans nennt 7 Stücke, Lauer 6. 39  Bei Lauer gibt es darüber hinaus Verwechslungen von Titeln und Stücken. So 

bringt er „Svoi ljudi ‐ sočtemsja! (Unter Brüdern wird man sich schon einig/Es bleibt ja in der Familie)“ unrichtig mit „Za čem pojdeš’, to i najdeš’ (Was einer sucht,  das  findet  er)“,  dem  dritten  Teil  der  sog.  „Bal’zaminovskaja  trilogija (Bal’zaminov‐Trilogie)“,  zusammen, u.a.m.  (Lauer  2000,  302f.). Die Bal’zami‐nov‐Trilogie wird gebildet von den Dramen „Prazdničnyj son – do obeda (Bal‐saminov will heiraten/Feiertagstraum vor dem Essen)“, „Svoi sobyki gryzutsja – čužaja ne pristavaj! (Wo eigene Hunde raufen, bleibe ein fremder fern)“ und „Za čem pojdeš’, to i najdeš’ (Was einer sucht, das findet er)“.  

40  Auch Düwel/Graßhoff gehen  im Kapitel „Aleksandr Ostrowskij und das zeit‐genössische Theater“  auf diese beiden Dramatiker  ein und  stellen  sie  in den Kontext von Ostrovskijs Bühnenerfolgen  (Düwel 1986,  II, 96‐113; verfasst von Erhard Hexelschneider). 

41  „Smert’ Ivana Groznogo (Der Tod Ivans des Schrecklichen)“(1865), „Car’ Fedor Ioannovič  (Zar  Fedor  Ioannovič)“  (1868),  „Car’  Boris  (Zar  Boris)“  (1870);  sie werden  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Puškins  „Boris  Godunov“  beschrieben. Auch wird auf die Aufführungsgeschichte bzw. den Aufführungserfolg einge‐gangen, z.B. die berühmte Premiere des Stückes u n d  des Theaters  im  Jahre 

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Ulrich Steltner: Das russische Drama 

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bylin mit  seinem  einzigen Werk,  einer  sich grotesker Prinzipien be‐dienenden Trilogie, deren letzter Teil „das erst ein halbes Jahrhundert später  [...]  entstandene  ‚symbolistische‘ Theater  ahnen“  lässt  (Tschi‐žewskij 1967, 150).   Das symbolistische Theater  ist allerdings  in den Literaturgeschich‐ten nicht präsent, und auch die  symbolistischen Dramen  führen nur ein Schattendasein. Sie  teilen das Schicksal der zugehörigen 1. Phase der russischen Moderne. Wie bereits erwähnt, haben die Literaturge‐schichten mit ihr eigenartige Schwierigkeiten. Der zu den verschiede‐nen Zeiten am meisten akzeptierte der Symbolisten, der auch Dramen geschrieben hat, ist vermutlich Aleksandr Blok.42 Sein „lyrisches Dra‐ma“ „Balagančik (Die Schaubude)“ (1906) wurde in der Inszenierung von Vsevolod Meyerhold ein großer Erfolg, ein Meilenstein  in Mey‐erholds Aufstieg zu einem der bedeutendsten Regisseure des 20. Jahr‐hunderts.  So  sollen  denn  die  Literaturgeschichten  nach  Bloks „Balagančik“  befragt werden,  stellvertretend  für  die  experimentelle Dramatik der Zeit. Stender‐Petersen nennt das Drama nicht. Bei Wae‐gemans finden sich zwei Halbsätze, die über Bloks angeblichen Bruch mit dem  Symbolismus berichten und dabei  auch  „Balagančik“  (ver‐mutlich das Drama43) nennen, das von  „Pessimismus und Desillusi‐on“  zeuge  (Waegemans  1998,  227).  Lauer  schreibt  unter  dem  Stich‐wort „Phase der Desillusionierung“ (in Bloks Schaffen): 

Bloks eigene Stücke waren von symbolistischem Lyrismus getragen und stell‐ten für die russische Literatur einen neuen Dramentypus dar. Die realistische Mimesis war  in  ihnen  zurückgedrängt, mit der  aristotelischen Dramaturgie wurde rigoros gebrochen und statt dessen auf die lange verdrängten Formen 

1898:  „Erst  das  K ü n s t l e r t h e a t e r   konnte  das  Stück  [Zar  Fedor  Ioan‐novič], wenn auch mit Kürzungen, aufführen. [...] Die Rolle des Zaren Feodor wurde zur Lieblingsrolle begabter russischer Schauspieler.“ (Tschižewskij 1967, 153; Hervorhebung v. U.S.) 

42  Vgl. Setschkareff 1962, 162f.: „Blok, Aleksándr (1880‐1921). Vater Professor für öffentliches  Recht  an  der  Universität Warschau; wächst  bei  der Mutter  auf (Tochter des Universitätsprofessors Bekétov); studiert in Moskau Jura und Phi‐lologie; heiratet die Tochter des Chemikers Mendeléjev (1903); nimmt 1917 eine probolschewistische Haltung  ein;  erhält  bedeutende  öffentliche  Stellungen.  – Gedichtbände:  Verse  von  der  schönen  Dame  (1905),  Unerwartete  Freude (1907),  Schneemaske  (1907),  Erde  im  Schnee  (1907),  Gesammelte  Gedichte (1904‐08,  1908‐16);  Poeme: Die  Skythen, Die Zwölf  (1920);  Lyrische Dramen: Schaubudentheater, Die Unbekannte (1906), Rose und Kreuz (1912) u. a.; Kriti‐sche  Essays:  u.  a. Über  die  gegenwärtige  Lage  des  russischen  Symbolismus (1910).“ 

43  Das Drama hat nämlich in dem gleichnamigen Gedicht Bloks einen Prätext. 

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des  Volkstheaters  und  des  Schaubudenspiels  zurückgegriffen.  (Lauer  2000, 470) 

Vom ursächlichen Zusammenhang mit dem Theater44  erfährt man al‐lenfalls indirekt über die Erwähnung des romanischen (!) „Volksthea‐ters“ bzw. des  „russkij balagan“, hier  „Schaubudenspiel“,  eigentlich aber wohl russisches „Puppentheater“ oder „Kasperletheater“. Gleich‐wohl vermittelt Lauer als einziger etwas Wesentliches über das ‚neue‘ Drama.   Je weiter  die  Darstellung  ins  20. Jahrhundert  hineinreicht,  desto sporadischer werden die Dramen (geschweige denn das Theater) be‐rücksichtigt. Die Gründe  liegen  sowohl  im  Erkennen  „historischer“ Daten und Fakten der jüngsten Vergangenheit als auch in der zuneh‐menden  Eigendynamik  der  dramatischen  Gattung.  Diese  Dynamik und vor allem ihr Zusammenhang mit dem Theater werden vielleicht als  solche  auch  nur wegen  ihrer  Gegenwartsnähe  stärker  bewusst. Drama und Theater des 20. Jahrhunderts stehen noch  im unmittelbar lebensweltlichen Wahrnehmungshorizont der Verfasser. Für die ver‐gangenen  Jahrhunderte würde dann nur die  fehlende zugehörige Si‐tuation  erlaubt haben, bei der historischen Behandlung der Gattung Drama das Theater weitgehend  zu  ignorieren.  Jedenfalls  lassen  sich anhand  des  Namensregisters  Fehlbestand  oder  ‚Atomisierung‘  der Fakten  recht  schnell prüfen: Erdmann, Majakovskij, Charms, Bulga‐kov – um nur Namen aus den 20er Jahren zu nennen – erscheinen (e‐ventuell) mit  ihren Dramen  bei Waegemans  und  Lauer,  aber mehr auch nicht, ohne dass sie – wie von Holthusen 1978 – explizit und be‐gründet ausgeschlossen wären.  

Literaturverzeichnis 

1. Literaturgeschichten 

Beitz, W. (Hg.) 1994: Vom „Tauwetter“ zur Perestroika. Russische Litera‐tur zwischen den fünfziger und neunziger Jahren. Bern. Brodskij, N. L. u. L. I. Timofeev 1952‐54: Geschichte der russischen Lite‐ratur. 3 Bände. Berlin. Brückner, A. 21909: Geschichte der russischen Litteratur. Leipzig. 

44  Vgl. auch Stephan 1980; Ohme 2000. 

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Ulrich Steltner: Das russische Drama 

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Düwel, W.  (Hg.)  1965:  Geschichte  der  klassischen  russischen  Literatur. Berlin u. Weimar. Düwel, W. u. H. Graßhoff (Hgg.) 1986: Geschichte der russischen Litera‐tur von den Anfängen bis 1917. 2 Bände: Bd.1: Von den Anfängen bis zur Mitte  des  19. Jahrhunderts.  Bd.2:  Von  der Mitte  des  19. Jahrhunderts  bis 1917. Berlin u. Weimar. Guenther, J. v. 21968: Von Rußland will ich erzählen. Der dramatische Le‐benslauf der russischen Literatur. München. Holthusen, J. 1978: Russische Literatur im 20. Jahrhundert. München. Jünger, H. (Hg.) 1973: Geschichte der russischen Sowjetliteratur. 2 Bände: Bd.1: 1917‐1941. Bd.2: 1941‐1967. Berlin. Koenig, H. 1837: Literarische Bilder aus Rußland. Stuttgart. Lauer, R. 2000: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Ge‐genwart. München. Luther, A. 1924: Geschichte der russischen Literatur. Leipzig. Mirskij, D. S. 1964: Geschichte der russischen Literatur. München. Polonskij, G. 1902: Geschichte der russischen Literatur. Leipzig. Setschkareff, V. 21962: Geschichte der russischen Literatur. Stuttgart . Slonim, M. 1972: Die Sowjetliteratur. Eine Einführung. Stuttgart. Stender‐Petersen, A. 1957: Geschichte der  russischen Literatur. 2 Bände. München. Struve, G. 1957: Geschichte der Sowjetliteratur. München. Tschižewskij, D. 1964: Russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Bd.1: Romantik. München. Tschižewskij, D. 1967: Russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Bd.2: Realismus. München. Waegemans, E.  1998: Geschichte der  russischen Literatur  von Peter  dem Großen bis zur Gegenwart (1700‐1995). Konstanz. 

2. Weitere Literatur 

Blok, A. 1962: „O drame“. In: Sobranie sočinenij v 8‐i tt. Bd. 5 Moskva 1962, 164‐193. Dobroljubov, N. A. 1962: „Temnoe carstvo“. In: Sobranie sočinenij v 9‐i tt. Bd. 5. Moskva‐Leningrad, 7‐139.  

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Die Geschichte der russischen Literatur 

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