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D a liegt es. Ein halbes Schwein, Schlachtgewicht etwa 100 Kilo, seit drei Ta- gen tot. Sieben Monate war es alt, als es auf einem Hof in der Nähe von Viersen geschlachtet wurde. Einen Namen hatte es nicht, nur ei- ne Nummer, die als lilafarbener Stempel auf seinem Hinterteil prangt. DE ES312 EG. Nach sei- nem Tod wurde es der Länge nach geteilt. Sogar das Ringelschwänz- chen ist auf den Zentimeter genau halbiert worden. Jetzt liegt das halbe Schwein auf einem Metalltisch. Und während die Kreissäge an seinen Hals ange- legt wird, stehen 20 Männer dane- ben und schauen zu. Nur wenige Schweine in Deutschland bekom- men posthum wohl so viel Auf- merksamkeit wie DE ES312 EG. Zum zweiten Mal bietet das Un- ternehmen Gourmetfleisch.de an diesem Tag ein Zerlege-Seminar an. Für 160 Euro lernen Interes- sierte in der vierstündigen Fortbil- dung, wie man ein Tier in seine Einzelteile zerlegt, wie aus einem halben Schwein ein leckeres Kote- lett wird. Gourmetfleisch.de ist eine Tochtergesellschaft der Schulte und Sohn Fleischwaren GmbH aus Mönchengladbach, die von sich selbst lieber als „Steak-Manufak- tur“ denn als Industrie-Fleischerei spricht. Seit 2008 beliefert die Metzgerei nicht mehr nur Groß- kunden, sondern vertreibt Frisch- fleisch auch über ihren Online- Versandhandel. Seit kurzem las- sen sich dort nun nicht mehr nur Steaks, Würste und Spareribs be- stellen, sondern auch Seminare buchen. Warum interessieren sich Men- schen dafür? Während man nach einem Kochkurs die gewonnenen Erkenntnisse mit nach Hause neh- men und dort weiter vertiefen kann, ist dies nach einem Zerlege- Seminar schwierig. Wer wird schon beim Metzger künftig ein halbes Rind statt eines passend zu- geschnittenen Rumpsteaks bestel- len? „Viele Kunden interessieren sich inzwischen wieder mehr für die Waren, die sie im Supermarkt kaufen, und wollen die Produkti- onskette dahinter verstehen. Mit dem Kurs schließen wir eine Lü- cke zwischen Tier und Fleischthe- ke“, sagt René Ronz von Gourmet- fleisch.de. Das Seminar war binnen weni- ger Tage ausgebucht. Die 15 schnellsten Interessenten stehen nun im Empfangsraum des Flei- scherei-Betriebes im Güdderather Gewerbegebiet. Zu Beginn gibt es eine Hygiene-Belehrung, alle Gäs- te unterschreiben ein Gesundheits- formular, in dem sie versichern, in letzter Zeit weder an Darmerkran- kungen gelitten zu haben noch im außereuropäischen Ausland gewe- sen zu sein. Daraufhin schlüpfen alle in die bereitgestellten Gummi- stiefel, werfen sich die weißen Kit- tel über und verstecken ihr Haar unter Schutzhauben. Dann bewegen sich die Teilneh- mer in Richtung Betriebshalle, zu- vor muss jeder Einzelne die voll- automatische Desinfektions- schleuse passieren. Dort werden die Schuhsohlen gebürstet und die Hände sterilisiert. Voll desinfiziert in der Produktionshalle angekom- men, eröffnet Metzgermeister Martin Siemes (31) endlich das Seminar. Während er das halbe Schwein auf dem Tisch so routi- niert dreht und wendet wie ein Flughafenmitarbeiter die Koffer am Gepäckband, erklärt er den Un- terschied zwischen Grob- und Feinzerlegung. In der Grobzerle- gung wird ein ganzes Tier, dessen Gedärme und Organe entfernt wurden und das bereits ausgeblu- tet ist, in etwa 15 grobe Stücke ge- teilt. Die Feinzerlegung trennt dann das Fleisch vom Knochen, bringt es in verzehrfertige Portionen und veredelt es je nach Bedarf, bei- spielsweise durch das Einlegen in eine Marinade. „Hier im Hause wird normalerweise nur die Fein- zerlegung durchgeführt. Für das Seminar demonstrieren wir hier aber beide Arbeitsschritte, damit Sie verstehen, welches Stück Fleisch wo herkommt“, sagt Sie- mes und legt los. Mit einer Säge trennt er den Kopf vom Rumpf des Tieres, keine fünf Sekunden dauert das. Dann setzt er ein schmales Messer an und schneidet dem Schwein die Wange heraus. „Zack, hier haben wir die erste Delikatesse“, sagt der Metzger, legt die Schweinebacke an den Rand des Tisches und stellt ein kleines Schildchen davor, das den Sitz des Fleischstückes im Tier skizziert. Den restlichen Kopf lässt er un- ter den Tisch in eine Kiste fallen. Alles, was in dieser Kiste landet, kann später noch zu Wurst verar- beitet werden. Den Rest des Tieres zerlegt Siemes von Hand mit ei- nem Messer, teilweise nutzt er spe- ziellesWerkzeug. Der „Rippenzie- her“ beispielsweise klingt nach dem Titel eines Horrorfilms, ist aber ein solches Spezial-Werk- zeug für Fleischer. Im richtigen Winkel angesetzt, zieht er die Rip- penknochen aus dem Torso des Schweins. Eine Mischung von Schaudern und Schmunzeln geht durch die Reihen der Zuschauer. Und so arbeitet sich der Metz- germeister durch die einzelnen Be- standteile des Schweins und kann dabei zu jedem Körperteil etwas erzählen: „Schnauze und Pfoten gelten in Deutschland inzwischen als Abfallprodukte. Daher werden sie für etwa einen Euro pro Kilo nach China verkauft, dort sind sie eine Delikatesse.“ Einzig für Schweineohren würde man hierzu- lande noch Abnehmer finden: Hundebesitzer verfütterten sie ger- ne an ihre Vierbeiner. Je länger man Siemes bei seiner Arbeit zuschaut, desto mehr be- kannte Stücke aus der Fleischthe- ke erkennt man. Dicke Rippe, Ha- xe, Nackensteak – alles wird fein säuberlich auf den Tisch gelegt. In der Kiste unter dem Tisch landen vor allen Dingen Knochen, Seh- nen und Fett. Eine Folge der Low- Fat-Gesellschaft: „Die Kunden im Supermarkt wollen überwiegend nur noch mageres Filet kaufen. Das Fett und die Knochen will nie- mand mehr zahlen“, erklärt Sie- mes. Dann dürfen die Teilnehmer selbst zurTat schreiten, 20 Schwei- neschultern warten darauf, zerlegt zu werden. Die ersten Schnitte in das Fleisch sind noch zaghaft, doch schnell merken die Männer, dass es eine gewisse Kraft braucht, um Gebeine aus dem Gewebe zu lösen. Mit der einen Hand muss das wabbelnde Fleisch fixiert wer- den, mit der anderen wird am Kno- chen gezogen. Nach und nach ha- ben sie den Dreh raus, die Gentle- men kommen in Fahrt. Hier wer- den Urinstinkte geweckt, so der Eindruck. Als hätten sie gerade ein Mammut erlegt und würden die Beute gleich übers Feuer hängen. Der Metzgermeister lobt einen Wettbewerb aus: Wer kann ein 180 Gramm schweres Kotelett zurecht- schneiden? Die Waage zeigt 180,3. Marc Baumann (28) gewinnt ge- gen seinen Tischnachbarn. Er ist extra aus München nach Mön- chengladbach gekommen, den Kurs haben er, seinVater und sein Schwager von der Mutter zu Weih- nachten geschenkt bekommen. „Bei uns wird viel gegrillt, ich in- teressiere mich für gutes Fleisch“, sagt Baumann. Seine Erkenntnis nach der Schweineschulter: „Es war schwieriger als gedacht, das Tier zu zerlegen. Ich musste auf- passen, dass ich nicht zu tief schneide.“ Metzgerei ist eben ein Handwerk, das man beherrschen muss. Doch die Branche hat ein Image- Problem, Lebensmittelskandale stehen einer wachsenden Zahl von Vegetariern gegenüber. Schlachter ist kein Beruf, mit dem man hau- sieren geht. Umso mehr hat Metz- germeister Siemes sich über die Anfrage, ein Zerlege-Seminar zu leiten, gewundert: „Am Anfang habe ich bezweifelt, dass über- haupt Teilnehmer kommen.“ Normalerweise rede er bei sei- ner Arbeit nicht so viel, aber inzwi- schen bereite ihm das Erklären so- gar Freude, erzählt Siemes in der Mittagspause. Es gibt Kalbsge- schnetzeltes. Eine vegetarische Alternative ist überflüssig. Der Tag steht ganz im Zeichen des Fleisches, manche Teilnehmer las- sen sogar die Salatbeilage auf dem Teller liegen. Gestärkt starten die Männer in die zweite Hälfte. Das, was es ge- rade noch als zerkleinertes Jung- tier zum Mittag gab, liegt jetzt aus- gewachsen und roh vor ihnen. Knapp 90 Kilo Rind liegen am Stück in der Produktionshalle. „Schwein und Rind sind vom ana- tomischen Aufbau fast identisch. Das Rind ist nur schwerer und er- fordert daher mehr Kraft bei der Zerlegung“, sagt der Seminarleiter und liefert die Erklärung dafür, dass die Teilnehmer beim Rind nur zugucken und nicht selbst Hand anlegen dürfen. Wenn hier das Messer abrutscht, wird es nicht nur für das tote Rindvieh gefähr- lich. René Tillmanns (36) und Stefan van den Eertwegh (44) gucken auf- merksam zu. Sie sind professio- nelle Griller und haben mit ihrem Wild-West-BBQ-Team bereits mehrere Grill-Meisterschaften ge- wonnen. Von dem Kurs erhoffen sie sich bessere Ergebnisse am Rost: „Natürlich werden wir nicht plötzlich anfangen, selbst zu schlachten. Aber beim Metzger können wir jetzt genauere Anga- ben machen, welche Stücke wir wollen und wie sie geschnitten sein sollen.“ Auch Marc Baumann hat dazu- gelernt. Er wird demnächst mal ein Kachelstück vom Schwein auf sei- nen heimischen Grill legen. Ob es ihn Überwindung gekostet hat, ei- nen Teil der Kreatur zu zerlegen? „Am Anfang, als das Tier noch auf dem Tisch lag und als solches er- kennbar war, schon. Doch je wei- ter das Schwein zerteilt wurde, desto mehr wurde es für mich zu einer Sache.“ Am Ende bekommt jeder Teil- nehmer ein hauseigenes Zerlege- Diplom mit dem Hinweis über- reicht, dass sich das Seminar sogar als Fortbildungsmaßnahme von der Steuer absetzen ließe. Müde und beseelt vom Fleisch, machen die Männer sich auf den Weg nach Hause, in der Hand eine Kühlta- sche mit zwei Steaks. Dienstag, 24. März 2015 Kölner Stadt-Anzeiger REPORTAGE 07 Die Kunden im Supermarkt wollen überwiegend nur noch mageres Filet Metzger Martin Siemes Mit dem Kurs schließen wir eine Lücke zwischen Tier und Fleischtheke René Ronz „Enorm unterbezahlt“ Dumpinglöhne sind in der Bran- che weit verbreitet. „Schlachter und Zerleger sind enorm an- strengende und unterbezahlte Berufe“, sagt Matthias Kohlmül- ler von der Agrarmarkt Informa- tions-Gesellschaft. Die große Mehrheit der Beschäftigten kommt aus Osteuropa. Viele werden über Scheinfirmen und Subunternehmer im Ausland angeworben. Seit August 2014 gilt ein „branchenspezifischer Mindestlohn“. Für aktuell 8 Euro pro Stunde schlachten und zer- legen die Zeitarbeiter Rinder und Schweine im Akkord, ab Oktober 2015 verdienen sie 60 Cent mehr. Die deutsche Fleischwirt- schaft produziert laut Gewerk- schaft NGG mehr als acht Millio- nen Tonnen Fleisch pro Jahr. 2013 wurden in Deutschland 58,6 Millionen Schweine ge- schlachtet. 99 Prozent davon stammten aus sogenannter In- tensiv-Tierhaltung. (mer) Es war schwieriger als gedacht, das Tier zu zerlegen Marc Baumann Das Schwein auf meinem Tisch Eine Fleischerei aus Mönchengladbach veranstaltet Zerlege-Seminare. Die Kursteilnehmer – bislang ausschließlich Männer – lernen, Koteletts, Rippchen und mehr aus einem toten Tier zu schneiden und zu sägen VON MERLE SIEVERS Gleich beginnt das Zerlegeseminar, ein halbes Schwein – 100 Kilo schwer, Prüfnummer DE ES312 EG – liegt auf dem Metalltisch. Metzger Martin Siemes greift zum Messer. Fotos: Michael Bause Rollbraten und mehr: Die Seminarteilnehmer leisten ganze Arbeit.

Das Schwein auf meinem Tisch - gourmetfleisch.de · D a liegt es. Ein halbes Schwein, Schlachtgewicht etwa 100 Kilo, seit drei Ta-gen tot. Sieben Monate war es alt, als es auf einem

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Da liegt es. Ein halbesSchwein, Schlachtgewichtetwa 100 Kilo, seit drei Ta-

gen tot. Sieben Monate war es alt,als es auf einem Hof in der Nähevon Viersen geschlachtet wurde.Einen Namen hatte es nicht, nur ei-ne Nummer, die als lilafarbenerStempel auf seinem Hinterteilprangt. DE ES312 EG. Nach sei-nem Tod wurde es der Länge nachgeteilt. Sogar das Ringelschwänz-chen ist auf den Zentimeter genauhalbiert worden.

Jetzt liegt das halbe Schwein aufeinem Metalltisch. Und währenddie Kreissäge an seinen Hals ange-legt wird, stehen 20 Männer dane-ben und schauen zu. Nur wenigeSchweine in Deutschland bekom-men posthum wohl so viel Auf-merksamkeit wie DE ES312 EG.

Zum zweiten Mal bietet das Un-ternehmen Gourmetfleisch.de andiesem Tag ein Zerlege-Seminaran. Für 160 Euro lernen Interes-sierte in der vierstündigen Fortbil-dung, wie man ein Tier in seineEinzelteile zerlegt, wie aus einemhalben Schwein ein leckeres Kote-lett wird.

Gourmetfleisch.de ist eineTochtergesellschaft der Schulteund Sohn Fleischwaren GmbH ausMönchengladbach, die von sichselbst lieber als „Steak-Manufak-tur“ denn als Industrie-Fleischereispricht. Seit 2008 beliefert dieMetzgerei nicht mehr nur Groß-kunden, sondern vertreibt Frisch-fleisch auch über ihren Online-Versandhandel. Seit kurzem las-sen sich dort nun nicht mehr nurSteaks, Würste und Spareribs be-stellen, sondern auch Seminarebuchen.

Warum interessieren sich Men-schen dafür? Während man nacheinem Kochkurs die gewonnenenErkenntnisse mit nach Hause neh-men und dort weiter vertiefenkann, ist dies nach einem Zerlege-Seminar schwierig. Wer wirdschon beim Metzger künftig einhalbes Rind statt eines passend zu-

geschnittenen Rumpsteaks bestel-len? „Viele Kunden interessierensich inzwischen wieder mehr fürdie Waren, die sie im Supermarktkaufen, und wollen die Produkti-onskette dahinter verstehen. Mitdem Kurs schließen wir eine Lü-cke zwischen Tier und Fleischthe-ke“, sagt René Ronz von Gourmet-fleisch.de.

Das Seminar war binnen weni-ger Tage ausgebucht. Die 15schnellsten Interessenten stehennun im Empfangsraum des Flei-scherei-Betriebes im GüdderatherGewerbegebiet. Zu Beginn gibt eseine Hygiene-Belehrung, alle Gäs-te unterschreiben ein Gesundheits-formular, in dem sie versichern, inletzter Zeit weder an Darmerkran-kungen gelitten zu haben noch imaußereuropäischen Ausland gewe-sen zu sein. Daraufhin schlüpfenalle in die bereitgestellten Gummi-stiefel, werfen sich die weißen Kit-tel über und verstecken ihr Haarunter Schutzhauben.

Dann bewegen sich die Teilneh-mer in Richtung Betriebshalle, zu-vor muss jeder Einzelne die voll-automatische Desinfektions-schleuse passieren. Dort werdendie Schuhsohlen gebürstet und dieHände sterilisiert.Voll desinfiziertin der Produktionshalle angekom-men, eröffnet MetzgermeisterMartin Siemes (31) endlich dasSeminar. Während er das halbeSchwein auf dem Tisch so routi-niert dreht und wendet wie einFlughafenmitarbeiter die Kofferam Gepäckband, erklärt er den Un-terschied zwischen Grob- undFeinzerlegung. In der Grobzerle-gung wird ein ganzes Tier, dessen

Gedärme und Organe entferntwurden und das bereits ausgeblu-tet ist, in etwa 15 grobe Stücke ge-teilt.

Die Feinzerlegung trennt danndas Fleisch vom Knochen, bringtes in verzehrfertige Portionen undveredelt es je nach Bedarf, bei-spielsweise durch das Einlegen ineine Marinade. „Hier im Hausewird normalerweise nur die Fein-zerlegung durchgeführt. Für dasSeminar demonstrieren wir hieraber beide Arbeitsschritte, damitSie verstehen, welches StückFleisch wo herkommt“, sagt Sie-mes und legt los.

Mit einer Säge trennt er denKopf vom Rumpf des Tieres, keinefünf Sekunden dauert das. Dannsetzt er ein schmales Messer anund schneidet dem Schwein dieWange heraus. „Zack, hier habenwir die erste Delikatesse“, sagt derMetzger, legt die Schweinebackean den Rand des Tisches und stelltein kleines Schildchen davor, dasden Sitz des Fleischstückes imTierskizziert.

Den restlichen Kopf lässt er un-ter den Tisch in eine Kiste fallen.Alles, was in dieser Kiste landet,kann später noch zu Wurst verar-

beitet werden. Den Rest des Tiereszerlegt Siemes von Hand mit ei-nem Messer, teilweise nutzt er spe-zielles Werkzeug. Der „Rippenzie-her“ beispielsweise klingt nachdem Titel eines Horrorfilms, istaber ein solches Spezial-Werk-zeug für Fleischer. Im richtigenWinkel angesetzt, zieht er die Rip-penknochen aus dem Torso desSchweins. Eine Mischung vonSchaudern und Schmunzeln gehtdurch die Reihen der Zuschauer.

Und so arbeitet sich der Metz-germeister durch die einzelnen Be-standteile des Schweins und kanndabei zu jedem Körperteil etwaserzählen: „Schnauze und Pfotengelten in Deutschland inzwischenals Abfallprodukte. Daher werdensie für etwa einen Euro pro Kilonach China verkauft, dort sind sieeine Delikatesse.“ Einzig fürSchweineohren würde man hierzu-lande noch Abnehmer finden:Hundebesitzer verfütterten sie ger-ne an ihre Vierbeiner.

Je länger man Siemes bei seinerArbeit zuschaut, desto mehr be-kannte Stücke aus der Fleischthe-ke erkennt man. Dicke Rippe, Ha-xe, Nackensteak – alles wird feinsäuberlich auf den Tisch gelegt. In

der Kiste unter dem Tisch landenvor allen Dingen Knochen, Seh-nen und Fett. Eine Folge der Low-Fat-Gesellschaft: „Die Kunden imSupermarkt wollen überwiegendnur noch mageres Filet kaufen.Das Fett und die Knochen will nie-mand mehr zahlen“, erklärt Sie-mes.

Dann dürfen die Teilnehmerselbst zurTat schreiten, 20 Schwei-neschultern warten darauf, zerlegtzu werden. Die ersten Schnitte in

das Fleisch sind noch zaghaft,doch schnell merken die Männer,dass es eine gewisse Kraft braucht,um Gebeine aus dem Gewebe zulösen. Mit der einen Hand mussdas wabbelnde Fleisch fixiert wer-den, mit der anderen wird am Kno-chen gezogen. Nach und nach ha-ben sie den Dreh raus, die Gentle-men kommen in Fahrt. Hier wer-den Urinstinkte geweckt, so derEindruck.Als hätten sie gerade ein

Mammut erlegt und würden dieBeute gleich übers Feuer hängen.Der Metzgermeister lobt einenWettbewerb aus: Wer kann ein 180Gramm schweres Kotelett zurecht-schneiden? Die Waage zeigt 180,3.Marc Baumann (28) gewinnt ge-gen seinen Tischnachbarn. Er istextra aus München nach Mön-chengladbach gekommen, denKurs haben er, sein Vater und seinSchwager von der Mutter zu Weih-nachten geschenkt bekommen.„Bei uns wird viel gegrillt, ich in-teressiere mich für gutes Fleisch“,sagt Baumann. Seine Erkenntnisnach der Schweineschulter: „Es

war schwieriger als gedacht, dasTier zu zerlegen. Ich musste auf-passen, dass ich nicht zu tiefschneide.“ Metzgerei ist eben einHandwerk, das man beherrschenmuss.

Doch die Branche hat ein Image-Problem, Lebensmittelskandalestehen einer wachsenden Zahl vonVegetariern gegenüber. Schlachterist kein Beruf, mit dem man hau-sieren geht. Umso mehr hat Metz-germeister Siemes sich über dieAnfrage, ein Zerlege-Seminar zuleiten, gewundert: „Am Anfanghabe ich bezweifelt, dass über-haupt Teilnehmer kommen.“

Normalerweise rede er bei sei-nerArbeit nicht so viel, aber inzwi-schen bereite ihm das Erklären so-gar Freude, erzählt Siemes in derMittagspause. Es gibt Kalbsge-schnetzeltes. Eine vegetarischeAlternative ist überflüssig. DerTag steht ganz im Zeichen desFleisches, manche Teilnehmer las-sen sogar die Salatbeilage auf demTeller liegen.

Gestärkt starten die Männer indie zweite Hälfte. Das, was es ge-rade noch als zerkleinertes Jung-tier zum Mittag gab, liegt jetzt aus-gewachsen und roh vor ihnen.Knapp 90 Kilo Rind liegen amStück in der Produktionshalle.„Schwein und Rind sind vom ana-tomischen Aufbau fast identisch.Das Rind ist nur schwerer und er-fordert daher mehr Kraft bei derZerlegung“, sagt der Seminarleiterund liefert die Erklärung dafür,dass die Teilnehmer beim Rind nurzugucken und nicht selbst Handanlegen dürfen. Wenn hier dasMesser abrutscht, wird es nichtnur für das tote Rindvieh gefähr-lich.

René Tillmanns (36) und Stefanvan den Eertwegh (44) gucken auf-merksam zu. Sie sind professio-nelle Griller und haben mit ihremWild-West-BBQ-Team bereitsmehrere Grill-Meisterschaften ge-wonnen. Von dem Kurs erhoffensie sich bessere Ergebnisse amRost: „Natürlich werden wir nichtplötzlich anfangen, selbst zuschlachten. Aber beim Metzgerkönnen wir jetzt genauere Anga-ben machen, welche Stücke wirwollen und wie sie geschnittensein sollen.“

Auch Marc Baumann hat dazu-gelernt. Er wird demnächst mal einKachelstück vom Schwein auf sei-nen heimischen Grill legen. Ob esihn Überwindung gekostet hat, ei-nen Teil der Kreatur zu zerlegen?„Am Anfang, als das Tier noch aufdem Tisch lag und als solches er-kennbar war, schon. Doch je wei-ter das Schwein zerteilt wurde,desto mehr wurde es für mich zueiner Sache.“

Am Ende bekommt jeder Teil-nehmer ein hauseigenes Zerlege-Diplom mit dem Hinweis über-reicht, dass sich das Seminar sogarals Fortbildungsmaßnahme vonder Steuer absetzen ließe. Müdeund beseelt vom Fleisch, machendie Männer sich auf den Weg nachHause, in der Hand eine Kühlta-sche mit zwei Steaks.

Dienstag, 24. März 2015 Kölner Stadt-Anzeiger REPORTAGE 07

Die Kunden imSupermarkt wollenüberwiegend nur nochmageres Filet

Metzger Martin Siemes

Mit dem Kursschließen wir eine Lückezwischen Tier undFleischtheke

René Ronz

„Enorm unterbezahlt“Dumpinglöhne sind in der Bran-che weit verbreitet. „Schlachterund Zerleger sind enorm an-strengende und unterbezahlteBerufe“, sagt Matthias Kohlmül-ler von der Agrarmarkt Informa-tions-Gesellschaft. Die großeMehrheit der Beschäftigtenkommt aus Osteuropa. Vielewerden über Scheinfirmen undSubunternehmer im Auslandangeworben. Seit August 2014gilt ein „branchenspezifischerMindestlohn“. Für aktuell 8 Europro Stunde schlachten und zer-legen die Zeitarbeiter Rinderund Schweine im Akkord, abOktober 2015 verdienen sie 60Cent mehr.

Die deutsche Fleischwirt-schaft produziert laut Gewerk-schaft NGG mehr als acht Millio-nen Tonnen Fleisch pro Jahr.2013 wurden in Deutschland58,6 Millionen Schweine ge-schlachtet. 99 Prozent davonstammten aus sogenannter In-tensiv-Tierhaltung. (mer)

Es war schwierigerals gedacht, das Tierzu zerlegen

Marc Baumann

Das Schwein auf meinem TischEine Fleischerei aus Mönchengladbach veranstaltet Zerlege-Seminare.Die Kursteilnehmer – bislang ausschließlich Männer – lernen, Koteletts,Rippchen und mehr aus einem toten Tier zu schneiden und zu sägenVON MERLE SIEVERS

Gleich beginnt das Zerlegeseminar, ein halbes Schwein – 100 Kilo schwer, Prüfnummer DE ES312 EG – liegt auf dem Metalltisch.

Metzger Martin Siemes greift zum Messer. Fotos: Michael Bause Rollbraten und mehr: Die Seminarteilnehmer leisten ganzeArbeit.