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Theatre of the Anonymousfrom a social worker’s perspective Das Theater der Anonymen – aus sozialarbeiterischer Perspektive

Das Theater der Anonymen – aus sozialarbeiterischer ... · Sierra Leone, the Philippines or Bulgaria. It seems the women bring an inexhaustible repertoire of stories, songs or games

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Theatre of the Anonymous−from

a social worker’s perspective

Das Theater der Anonymen – aus sozialarbeiterischer Perspektive

Mit meiner Klientin Frau M. sitze ich in dem an ein Flughafengebäude erinnernden Wartesaal des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten in

der Berliner Bundesallee. Wir warten gemeinsam mit ih-rer Anwältin auf ihre heutige Anhörung im Asylverfahren. Später wird sich herausstellen, dass wir die Anhörung aufgrund von Verständigungsproblemen abbrechen und verschieben müssen. Zum jetzigen Zeitpunkt aber sitzen wir hier in dieser Halle, in der die Klientin schon die vier Tage dauernde Asylregistrierung begann. Wir unterhal-ten uns über Kassandra, die Seherin aus der griechi-schen Mythologie. Frau M. fragt sich, warum niemand Kassandra geglaubt hat, warum man nicht auf sie gehört hat. Wir überlegen, ob es damit zu tun haben könnte, dass sie eine Frau war. Dann berichtet Frau M. davon, wie sehr sie eine Übung beim Theaterprojekt mochte, bei der sich jede Frau irgendwelche zwei Punkte im Raum sucht. Sie wandert zwischen diesen beiden Punkten hin und her, zerrissen zwischen der Entscheidung für den einen oder gegen den anderen, nachspürend zu welchem Punkt es sie mehr zieht; erprobend auf welche Weise sie sich den Punkten nähert: Zögernd, sehnsüch-tig, ängstlich, erleichtert, flüchtend.

Vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte von Frau M. kann ich nur erahnen, wie sich in ihrem Inneren diese theaterpraktische Situation mit ihren eigenen Erfahrun-gen des Hin- und Hergerissenseins, des Versuchs einer Befreiung, der Suche nach der richtigen Entscheidung vermischt haben mag. Es ist eines der Beispiele dafür, das die Bedeutung des Projekts „Theater der Anonymen“ unterstreicht und gut zeigt, was in meinen Augen das Projekt für unsere Arbeit so wertvoll macht.

Bei den teilnehmenden Frauen handelt es sich mitnichten um eine homogene oder auch nur besonders konstante Gruppe. Es ist der Logik der Zielgruppe des Projekts geschuldet, dass Frauen kommen und gehen, so wie sie auch in den zwei Berliner Zufluchtswohnungen für Betroffene von Menschenhandel, aus denen der Großteil der Teilnehmerinnen kommt, nur vorübergehend bleiben und immer wieder wechseln. Die beteiligten Frauen kom-men aus Guinea, Nigeria, Thailand oder Ghana, aus Sier-ra Leone, den Philippinen oder Bulgarien. Es sind Frauen, die – wie es scheint – ein unerschöpfliches Repertoire an Geschichten, Liedern, Spielen einzubringen im Stande sind. Ein Repertoire, für das sich bisher in Deutschland aber niemand auch nur im Ansatz interessiert hätte. Es

I am sitting with my client Ms. M in the waiting area of the Office for Refugee Affairs in Berlin’s Bundesallee, reminiscent of an airport building. Together with her

lawyer, we are waiting for her hearing in the asylum procedure. Later it will turn out that we have to interrupt the hearing due to communication problems. We are going to have to postpone it. At the moment, however, we are sitting here in this hall where a while ago the client also begun her four-day registration as an asylum seeker in Germany. We talk about Cassandra, the seer from Greek mythology. Ms. M wonders why nobody believed Cassandra, why they did not listen to her. We wonder if it could have something to do with her being a woman. Then Ms. M talks about how much she liked an exercise in the theatre project, where every woman chooses any two points in the room. She wanders back and forth between these two points, torn between de-ciding for one or the other, listening to what point she might prefer; trying out different ways in which to ap-proach the two points: with longing or hesitant, anxious or relieved, maybe fleeing.

Against the backdrop of Ms. M’s life story I can barely begin to imagine how for her the theatre situation will have mixed with her own experiences of being torn between one thing and another, attempts of liberation and the search for the right decision. It is one of the examples that shows the importance of the project “Theatre of the Anonymous” and why it is so valuable to our work.

The participating women are by no means a homoge-neous or even particularly constant group. It is due to the basic characteristics of the participating group that women come and go. They stay only temporarily in the two shelters for women affected by human trafficking from which most of the participants arrive. And so, partic-ipants change again and again. The participating women come from Guinea, Nigeria, Thailand or Ghana, from Sierra Leone, the Philippines or Bulgaria. It seems the women bring an inexhaustible repertoire of stories, songs or games. And theirs is a repertoire that up until now nobody in Germany ever even had the slightest interest in. They are women who often have years of suffering behind them, with experiences of fleeing and migration, with experiences of serious exploitation, and often with experiences of repeated violence. These experiences have been deeply etched into their bodies and minds,

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sind Frauen mit oft jahrelanger Leidensgeschichte, mit Fluchterfahrung, mit Ausbeutungserfahrung, mit mannig-fach wiederholter Gewalterfahrung, die sich mal mehr, mal weniger, aber sicher bei jeder in ihren Körper und ihren Geist eingeschrieben hat. Die beteiligten Frauen of Colour wissen, was Scham ist. Sie kennen psychische und physische Unterdrückung und Zwangssituationen.

Im Theaterspielen werden Ressourcen nicht nur ange-sprochen, sondern geweckt, manchmal vielleicht wieder-entdeckt. Die Frauen werden hier in einer Form wahr- und ernstgenommen, wie sie es in ihrer Gegenwart in aller Regel nur sehr selten erleben. Nach eigenen Ideen

sometimes more, sometimes less – but for sure it con-cerns each one of them. They are women of Colour, and they know what shame is. They know mental and physical oppression, as well as situations of coercion and force.

Through the theatre work, the participants’ resources are not only addressed, but awakened or sometimes rediscovered. The women are recognized and taken se-riously in a way that elsewhere they rarely experience. To be asked for your own ideas and opinions is not an everyday experience for this group of participants. And it is a great gift for the women to be able to talk about their experiences in a form of expression that goes far

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und Meinungen gefragt zu werden, ist keine alltägliche Erfahrung für diese Zielgruppe. Über ihre Erfahrungen sprechen zu können, aber dafür eine Ausdrucksform zu finden, die weit über das Sprachliche hinaus geht, ist dabei ein großes Geschenk für die Frauen. Sichtbar zu werden heißt auch, sich ansehen zu lassen. Sichtbar zu werden heißt auch, sich in seiner Stärke UND in seiner Verletzlichkeit zu zeigen. „Wenn wir das hier schaffen, dann können wir uns vor jede Gruppe stellen“ hat eine Klientin es auf den Punkt gebracht.

Durch das Theater der Anonymen erhalten die teilneh-menden Frauen einen Raum, in dem sie gehört werden. Das kann auch als Kontrapunkt zu den vielen gegenwär-tigen Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie gelesen werden. Jede Frau hat durch vielstündige Wartezeiten, durch die ausschließliche Ansprache der Begleite-rin und durch die Schikanen und Rassismen auf dem Wohnungsmarkt oder von Security-Mitarbeiter_innen und Sachbearbeiter_innen erlebt, wie wenig hier ihre Persönlichkeit und ihr erfahrenes Unrecht eigentlich von Interesse ist.

Das Theater der Anonymen ist kein therapeutischer Ort. Es ist auch kein biografisches Theater. Es ist vielmehr ein Ermöglichungsraum, der genutzt werden kann für einen eigenen künstlerischen Ausdruck mit inhaltlichem Anspruch.

Ban Ying e.V. ist gemeinsam mit anderen Berliner Or-ganisationen, die mit von Menschenhandel betroffenen Frauen arbeiten wie Ona, IN VIA und Hydra Koopera-tionspartnerin des Instituts für Neue Soziale Plastik, unter deren Federführung das Theater der Anonymen seit 2016 arbeitet. Als Sozialarbeiterin habe ich seit Beginn das Projekt begleitet – mal intensiver, mal loser. Es ist vor allem dem Gespür, der Haltung und dem Engage-ment der beiden Verantwortlichen Stella Hindemith und Benno Plassmann zu verdanken, dass dieses Projekt eine Tiefe und Bedeutung erlangt hat, die sowohl für die Teilnehmerinnen Gültigkeit besitzt, als auch für die Professionellen selbst und letztlich das Publikum.

Mit einer vulnerablen Zielgruppe zu arbeiten, erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und Gelassenheit. Es braucht eine Offenheit und Bereitschaft mit ständig wechselnden Gruppenkonstellationen und termin-, krankheits- oder motivationsbedingten Ausfällen umzugehen. Die Pro-

beyond the linguistic level. Becoming visible means let-ting others look at you. To become visible also means to show yourself in your strength AND in your vulnerability. In a nutshell, one of the participants said “if we can do this, then we can stand in front of any group.”

In Theatre of the Anonymous the participating women have a space in which they are heard. One can sure-ly see this as a counterpoint to the many experiences with German bureaucracy. Each one of the women has experienced how little her personality and the injustic-es suffered are of real concern here: through hours of waiting, harassment and racism by security staff and clerks, or in the housing market, or even the lack of the most basic decency in communication when they are never addressed directly but only ever indirectly through a translator or the accompanying social worker.

Theatre of the Anonymous is neither a therapeutic space, nor is it a kind of biographical theatre. Rather, it is an enabling space that can be used for one’s own artistic ex-pression and for raising one’s own stories and concerns.

Theatre of the Anonymous was conceived by Institut für Neue Soziale Plastik (Institut for New Social Sculptures) in 2016, and the group continues to be led by them. Nu-merous Berlin-based organisations working with women affected by trafficking – Ban Ying, Ona, IN VIA, Hydra, and the federal co-ordination point KOK – co-operate with the Institute for New Social Sculptures in this venture. As a social worker, I have accompanied the project since the beginning – sometimes more intensively, sometimes less so. First and foremost it is thanks to the sensitivity, the attitude and the commitment of the two responsible persons Stella Hindemith and Benno Plassmann that this project has acquired such a depth and significance for the participants themselves as well as for the participating professionals and, ultimately, the audiences.

Working with a group of vulnerable participants requires a high degree of flexibility and serenity. A great open-ness is needed, and a willingness to deal with constant-ly changing group constellations be it due to sudden changes in the personal schedules, illnesses, or failure to participate due to a lack of motivation. The lead-persons of Theatre of the Anonymous are aware of the difficult life of the participants. They bring with them a real curiosity for other people and a fine sense of personal bounda-

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jektleiter_innen des Theaters der Anonymen sind sich der schweren Lebensgeschichte der Teilnehmerinnen bewusst. Sie bringen ein ernsthaftes Interesse an den Menschen mit und ein feines Gespür für persönliche Grenzen. So entsteht ein offener Raum über Erfahrungen und selbstgewählte Themen zu sprechen oder auch er-innerte Lieder oder Spiele aus dem Herkunftsland und der Kindheit einzubringen, die zu Basismaterial oder Aus-

gangspunkt für die Stückentwicklung werden können. Es entsteht aber auch ein Raum, in dem mit dem (verletzten) Körper gearbeitet wird, der nonverbal Geschichten zu erzählen in der Lage ist. Dies gelingt nur auf der Grund-lage einer vertrauensvollen Zusammenarbeit.

Und so entstehen dabei immer wieder „magische“, herrliche Momente, in denen so viel von den Persön-lichkeiten und den Fähigkeiten dieser Frauen sichtbar wird, dass man bereitwillig alle Unwägbarkeiten eines solchen Projekts der kulturellen Bildung und Aneignung aushalten mag.

Als Sozialarbeiterin geht es darum, die Teilnehmerin-nen zu stützen, die Teilnahme vielleicht grundsätzlich erst möglich zu machen. Viel Arbeit beginnt jenseits der Probe oder inhaltlichen Auseinandersetzung bereits im Vorfeld: Informieren, das eigene Vertrauen in das Projekt in die Waagschale der Entscheidungsfindung werfen,

ries. This creates an open space to talk about personal experiences and topics, or to share remembered songs or games from the country of origin and childhood. All of this can become the basis material and the starting point for the development of a piece. But it also creates a space in which to work with the (injured) body becoming able to narrate stories nonverbally. This is possible only on the basis of a trusting co-operation.

And so, again and again there are these “magical” and wonderful moments that show off so much of the personalities and abilities of these women. They strengthen everyone’s willingness to endure the im-ponderabilities of such a project of cultural education and appropriation.

As a social worker, it is about supporting the participants, maybe to make participation possible in the first place. Much of the work takes place outside the rehearsal room or content-related discussions. Before someone takes part there’s much information to be passed on, there’s finding out to be done if someone might have a general interest or curiosity, and one’s own confidence in the project may play a role in a potential participant’s deci-sion-making process.

The social worker’s art of accompaniment of such a pro-ject consists in withdrawing as much as possible so as

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dafür begeistern; herausfinden, ob ein generelles Inter-esse oder eine Neugier vorhanden sind.

Die Kunst der sozialarbeiterischen Begleitung eines solchen Projekts liegt vor allem darin, sich so weit wie möglich zurück zu nehmen und die Bühne und den Er-fahrungsraum den Klientinnen zu überlassen und gleich-zeitig sich so weit wie nötig zu beteiligen, um die Arbeit des künstlerischen Teams zu stützen und zu ermöglichen. Dazu gehört es, Termine wieder und wieder abzuspre-chen, Wegbeschreibungen durch die Stadt zum Proben-ort zu geben, Wege zu Proben zu begeiten, an Proben und auf der Bühne aktiv teilzunehmen, wenn es sich als sinnvoll erweist, sich in die Stückentwicklung einzubrin-gen, Absprachen mit den Projektleiter_innen zu treffen und sonstige organisatorische Fragen zu klären. So soll der Rücken der Projektleiter_innen etwas freier bleiben für die künstlerische und inhaltliche Arbeit.

Die Gratwanderung zwischen Aktivität und Passivität entsprechend des jeweiligen Bedarfs der Gruppe und ihres Prozesses ist dabei eine andauernde Herausforde-rung. In Gesprächen über das Material etwa, in denen die teilnehmenden Frauen nach ihren Gedanken, Mei-nungen und Assoziationen gefragt werden, heißt das oft, sich selbst bescheiden herauszuhalten oder eben mitzu-schneiden, wann ein guter Zeitpunkt ist, sich einzubrin-gen, um eine Auseinandersetzung anzuregen. Gerade

to leave the stage and the space of experience to the clients, while at the same time participating as much as necessary so as to support the work of the artistic team. This includes making appointments and reminding people (again and again), giving directions how to move across the city, actively participating in rehearsals and getting involved in the devising of the piece whenever this seems sensible, making arrangements with the pro-ject leaders, clarifying questions and helping with other organisational questions as and when they arise. When it works this helps to cover the backs of the project leaders, so that they can focus their attention more easily on the development of the piece’s themes and the artistic work.

Basically, for the social workers involved the project is an ongoing balancing act between activity and passivity according to the current needs of the group and the group’s working process. For example, in conversations

about the themes for the performance when partic-ipants are asked about their thoughts, opinions and associations, this often means keeping quiet. Yet at other times, it may mean searching for the right moment to get involved in first person and asking a question or stimulating a debate. Especially when actively par-ticipating in the working process on stage, as a social worker one should remain aware that participation is not an end in itself and for one’s own ego on the stage – for

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bei aktiver Teilnahme auch auf der Bühne, sollte einem bewusst bleiben, dass man als Sozialarbeiterin nicht zum Selbstzweck und für das eigene Ego auf der Bühne steht – dafür braucht es andere Orte –, sondern stets im Dienst der Gruppe. Als Sozialarbeiterin bin ich nicht die Zielgruppe. Um meine Ressourcen geht es hier nicht.

Vielmehr kommt Sozialarbeiterinnen hier die meist ver-traute Schnittstellenfunktion zu. Als Vermittlerin, Kommu-nikatorin und Motivatorin bleibt man dabei eher in der Sozialarbeiterin-Klientin-Konstellation. Als Teilnehmerin auf der Bühne und bei Proben geschieht allerdings eine interessante Rollenverschiebung, die einen wiederum selbst durchaus verletzlich macht. Auch hier kann das Projekt nur erfolgreich sein, wenn die Zusammenarbeit auf gegenseitigem Vertrauen basiert. Klientinnen dann in Situationen wahrnehmen zu dürfen, in denen sie wild angeregt über die Frage diskutieren, ob man – wie Kas-sandra – sprechen soll, auch wenn man weiß, dass einem nicht geglaubt wird, ist ein großes Privileg.

Sicher wirken solche Fragen und Auseinandersetzungen bei den verschiedenen Frauen auch sehr unterschiedlich nach. Dass aber Fragen von Scham, Glaubwürdigkeit und Mut vor dem Hintergrund der eigenen Lebensge-schichten in dieser Weise in den Fokus geraten, eröffnet für die Teilnehmerinnen des Theaters der Anonymen die Möglichkeit an sich selbst zu wachsen.

Das ist Empowerment im besten Sinne.

Santje Winkler für Ban Ying e.V.

that one must look elsewhere. Much rather, one has to always be in service of the group. The project does not aim to empower me; it’s primarily about other people’s resources, not mine.

Much rather, social workers have the familiar function of being an interface. Having the role of mediator, mo-tivator and communicator is well known and, basically, the social worker-client constellation remains, even in a participatory theatre project like Theatre of the Anon-ymous. However, there is an interesting shift in roles when becoming a participant during rehearsals and on stage – and this, in turn, can involve a certain level of vulnerability. Again, the project can only succeed if co-operation is based on mutual trust. It is a great privilege then to experience one’s clients in situations in which they wildly argue about the question of whether, like Cassandra, one should speak even if one knows that one is not believed.

Obviously, such questions and discussions echo very differently in different persons. But when questions of shame, credibility and courage come into focus against the backdrop of their own life stories, then this opens the possibility for members of Theatre of the Anonymous to grow at their very own stories.

And that is empowerment at its very best.

Santje Winkler for Ban Ying association

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