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S298 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 gende Patienten gewesen. Es war ein Samstag – was sollte ich tun? Mein erster Gedanke war, das Krankenhaus zu kon- ditionieren, d. h. das Personal zurück- zuhalten. Es war mir klar, dass diese Maßnahme unzureichend bliebe, wenn es sich um zu viele Verletzte handelte. Also forderte ich die in Murnau garni- sonierte Sanitätskompanie an, die auch sofort – ohne eine Genehmigung aus Bonn abzuwarten – erschien. Es verhält sich also so, dass wir im- mer vor der Frage stehen,wie wir im Vor- feld derartiger Ereignisse planen kön- nen? Der Landkreis und das AK Celle waren ja bereits 20 Jahre zuvor bei einer Waldbrandkatastrophe schon einmal auf die Probe gestellt worden.Waren in Cel- le dieses Mal Mobilmachungspläne vor- handen und wurde nach diesen auch vor der Katastrophe von Eschede geübt? Prof. Dr. Oestern, Celle Zum einen gibt es tatsächlich Katastro- pheneinsatzpläne, sowohl seitens des Landkreises Celle als auch speziell für unser Krankenhaus, Letzterer war nach 2-jähriger Erarbeitungszeit gerade vor dem Ereignis in Eschede fertig gestellt worden, zum anderen wurden auch mehrfach Übungen durchgeführt. Sie haben die Waldbrandkatastro- phe von Eschede 1975 angesprochen. Da- mals hatte sich der Katastrophenstab des Landkreis Celle durch Inkompetenz, dilettantische Organisation und Füh- rung fürchterlich blamiert, die Presse seinerzeit war entsprechend. Dieser Ma- kel blieb im Bewusstsein der Beteiligten und auch der Verantwortlichen tief ver- wurzelt und führte letztlich zu der Ein- sicht, dass sich ein solches Desaster nicht wiederholen dürfe. Dementspre- chend wurden Katastropheneinsatzplä- ne überarbeitet, die Ausrüstung verbes- sert und Übungen mit allen Organisa- tionen durchgeführt. Insofern war man auf das Unglück in Eschede besser vor- bereitet. Prof. Dr. Probst, Murnau Herr Prof. Dr. Mischkowsky, was geschah in ihrem Umfeld, gibt es bei ihnen Katas- trophenpläne? Prof. Dr. Mischkowsky, Kempten Es wird ja immer gedacht, „Eschede ist weit weg“. Eschede ist von Kempten im Allgäu natürlich wirklich sehr weit ent- fernt. Ich habe mir aber gedacht, so et- was könnte uns nicht passieren. Aber dann wurde ich Mitte Februar dieses Jahrs um 11.00 Uhr angerufen: Es sei ein Massenunfall bei Immenstadt passiert. Diese Stadt liegt 20 km süd- lich von meiner Klinik. Die Alarmie- rungszeit betrug 5 min. Wir hatten un- sere Pläne und wir hatten unsere Pläne Trauma Berufskrankh 2000 · 2 [Suppl 2]: S298–S301 © Springer-Verlag 2000 Großkatastrophen Hans-Jörg Oestern 1 · Tilman Mischkowsky 2 1 Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Allgemeines Krankenhaus Celle 2 Abteilung für Unfallchirurgie,Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie, Klinikum Kempten Das unfallchirurgische und interdisziplinäre Management einer Großkatastrophe Diskussion mit dem Auditorium Prof. Dr. H.-J. Oestern Klinik für Unfall- und Wiederherstellungs- chirurgie, Allgemeines Krankenhaus Celle, Siemensplatz 4, 29223 Celle (e-mail: [email protected], Tel.: 05141-72 1100, Fax: 05141-721109) Prof. Dr. Mischkowsky, Kempten Vielen Dank Herr Prof. Dr. Oestern, nicht nur für Ihren brillanten Vortrag, sondern auch für die ganze Arbeit, die sie damals mit ihrem Team vollbracht haben. Ich weiß, ihnen ist schon oft ge- dankt worden, aber ich denke auch, dass dieser Kreis hier das ebenfalls artikulie- ren sollte. Es handelt sich dabei um eine großartige Leistung für die Verletzten, und sie haben ganz sicher der Deut- schen Medizin und auch der Deutschen Unfallchirurgie damit einen sehr großen Dienst erwiesen. Prof. Dr. Probst, Murnau Eigentlich hat jeder von uns schon auf irgendeine Art und Weise mit einer Ka- tastrophe zu tun gehabt. Es ist erstaun- lich, dass erst so ein Ereignis wie in Eschede ins Bewusstsein dringen muss, hier speziell die Katastrophenführung, die wir soeben noch einmal nacherlebt haben, um uns zu erinnern. Ich selbst denke dabei an die Flug- zeugkatastrophe von Riem 1958 in Mün- chen, bei der ich selbst nicht involviert war. Damals war nichts geregelt. Dann war ich bei dem Lawinenun- glück auf der Zugspitze beteiligt, wel- ches mit einer Telefonmeldung begann: Wie viel Betten könnten sie denn zur Verfügung stellen?Es gab damals noch gar keine leis- tungsfähigen Krankenhäuser in der Um- gebung – wir dürften ungefähr 100 Bet- ten frei gemacht haben. Gott sei Dank waren es dann viel weniger zu versor-

Das unfallchirurgische und interdisziplinäre Management einer Großkatastrophe

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S298 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

gende Patienten gewesen. Es war einSamstag – was sollte ich tun? Mein ersterGedanke war, das Krankenhaus zu kon-ditionieren, d. h. das Personal zurück-zuhalten. Es war mir klar, dass dieseMaßnahme unzureichend bliebe, wennes sich um zu viele Verletzte handelte.Also forderte ich die in Murnau garni-sonierte Sanitätskompanie an, die auchsofort – ohne eine Genehmigung ausBonn abzuwarten – erschien.

Es verhält sich also so, dass wir im-mer vor der Frage stehen, wie wir im Vor-feld derartiger Ereignisse planen kön-nen?

Der Landkreis und das AK Cellewaren ja bereits 20 Jahre zuvor bei einerWaldbrandkatastrophe schon einmal aufdie Probe gestellt worden.Waren in Cel-le dieses Mal Mobilmachungspläne vor-handen und wurde nach diesen auch vorder Katastrophe von Eschede geübt?

Prof. Dr. Oestern, Celle

Zum einen gibt es tatsächlich Katastro-pheneinsatzpläne, sowohl seitens desLandkreises Celle als auch speziell fürunser Krankenhaus, Letzterer war nach2-jähriger Erarbeitungszeit gerade vordem Ereignis in Eschede fertig gestelltworden, zum anderen wurden auchmehrfach Übungen durchgeführt.

Sie haben die Waldbrandkatastro-phe von Eschede 1975 angesprochen.Da-mals hatte sich der Katastrophenstabdes Landkreis Celle durch Inkompetenz,dilettantische Organisation und Füh-rung fürchterlich blamiert, die Presseseinerzeit war entsprechend. Dieser Ma-

kel blieb im Bewusstsein der Beteiligtenund auch der Verantwortlichen tief ver-wurzelt und führte letztlich zu der Ein-sicht, dass sich ein solches Desasternicht wiederholen dürfe. Dementspre-chend wurden Katastropheneinsatzplä-ne überarbeitet, die Ausrüstung verbes-sert und Übungen mit allen Organisa-tionen durchgeführt. Insofern war manauf das Unglück in Eschede besser vor-bereitet.

Prof. Dr. Probst, Murnau

Herr Prof.Dr.Mischkowsky,was geschahin ihrem Umfeld,gibt es bei ihnen Katas-trophenpläne?

Prof. Dr. Mischkowsky, Kempten

Es wird ja immer gedacht, „Eschede istweit weg“. Eschede ist von Kempten imAllgäu natürlich wirklich sehr weit ent-fernt. Ich habe mir aber gedacht, so et-was könnte uns nicht passieren.

Aber dann wurde ich Mitte Februardieses Jahrs um 11.00 Uhr angerufen: Essei ein Massenunfall bei Immenstadtpassiert. Diese Stadt liegt 20 km süd-lich von meiner Klinik. Die Alarmie-rungszeit betrug 5 min. Wir hatten un-sere Pläne und wir hatten unsere Pläne

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S298–S301 © Springer-Verlag 2000 Großkatastrophen

Hans-Jörg Oestern1 · Tilman Mischkowsky2

1Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Allgemeines Krankenhaus Celle2Abteilung für Unfallchirurgie, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie,Klinikum Kempten

Das unfallchirurgische und interdisziplinäre Managementeiner GroßkatastropheDiskussion mit dem Auditorium

Prof. Dr. H.-J. OesternKlinik für Unfall- und Wiederherstellungs-chirurgie, Allgemeines Krankenhaus Celle,Siemensplatz 4, 29223 Celle(e-mail: [email protected],Tel.: 05141-72 1100, Fax: 05141-721109)

Prof. Dr. Mischkowsky, Kempten

Vielen Dank Herr Prof. Dr. Oestern,nicht nur für Ihren brillanten Vortrag,sondern auch für die ganze Arbeit, diesie damals mit ihrem Team vollbrachthaben. Ich weiß, ihnen ist schon oft ge-dankt worden, aber ich denke auch, dassdieser Kreis hier das ebenfalls artikulie-ren sollte. Es handelt sich dabei um einegroßartige Leistung für die Verletzten,und sie haben ganz sicher der Deut-schen Medizin und auch der DeutschenUnfallchirurgie damit einen sehr großenDienst erwiesen.

Prof. Dr. Probst, Murnau

Eigentlich hat jeder von uns schon aufirgendeine Art und Weise mit einer Ka-tastrophe zu tun gehabt. Es ist erstaun-lich, dass erst so ein Ereignis wie in Eschede ins Bewusstsein dringen muss,hier speziell die Katastrophenführung,die wir soeben noch einmal nacherlebthaben, um uns zu erinnern.

Ich selbst denke dabei an die Flug-zeugkatastrophe von Riem 1958 in Mün-chen, bei der ich selbst nicht involviertwar. Damals war nichts geregelt.

Dann war ich bei dem Lawinenun-glück auf der Zugspitze beteiligt, wel-ches mit einer Telefonmeldung begann:„Wie viel Betten könnten sie denn zurVerfügung stellen?“

Es gab damals noch gar keine leis-tungsfähigen Krankenhäuser in der Um-gebung – wir dürften ungefähr 100 Bet-ten frei gemacht haben. Gott sei Dankwaren es dann viel weniger zu versor-

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 S299

nachbarten Krankenhäuser verteilt. Mei-ne Klinik hat insgesamt 14 Verletzte auf-nehmen können, was kein wirklichesProblem bereitete, wir waren gut vorbe-reitet.Die Verletzungen wurden dann imWesentlichen in den Folgetagen abgear-beitet. Unter anderem waren 2 Dens-frakturen dabei. Es waren nur wenigeNotfalleingriffe nötig.

Dieser Teil, der durch den Unfall-chirurgen Wolff, meinen Oberarzt undLeitenden Notarzt, organisiert war, hataus meiner Sicht gut oder sogar sehr gutgeklappt. Wir hatten aber Probleme andenselben Stellen, die Dr. Hüls schilder-te. Wir haben den Fehler gemacht, denLuftraum nicht rechtzeitig sperren zulassen. Das ist vielleicht auch nicht un-sere Aufgabe, aber wir hätten es kontrol-lieren sollen. Es waren in einer Phasemehr Pressehubschrauber in der Ge-gend als Rettungshubschrauber, die unsin unserer Arbeit erheblich behinderthaben. Zum Teil hatten wir Kommuni-kationsprobleme mit dem OrgL. Ich ha-be erst lernen müssen, was ein OrgL ist.Das ist der organisatorische Leiter desRettungsdiensts, der eindeutig unter-qualifiziert war und dann durch einenqualifizierteren ersetzt wurde, aber zudiesem Zeitpunkt war das Ganze schonabgearbeitet, da waren wir schon mitden Verletzten im Krankenhaus und ha-ben die Triage beendet.

Wir haben gemerkt, dass es fast un-möglich ist, durch die Fenster und dieTüren in einen Zug zu kommen, der um-gekippt ist. Die Schiebetüren verklem-men und die Fenster sind nahezu un-zerstörbar. Das Schlimme ist, dass einnormal großer Mensch von außen garnicht an diese Türen und Fenster herankommt . Es fehlen die dazu notwendigenLeitern. Sie können sich also vorstellen,wie schwierig es ist, auf einem Bodenmit ca. 40 cm Schnee in diese Waggonshinein zu kommen.

Wie dies verbessert werden könnte,ist offensichtlich auch in der Folge desEschede-Unfalls angesprochen worden.

Wir haben noch eines als störendbemerkt: Auch unter Rettern gibt esneugierige Leute.Wir haben immer wie-der erlebt, dass einzelne Retter nicht anden ihnen zugeteilten Stellen verbliebensind, sondern versucht haben, an ande-ren Stellen tätig zu werden. So weit alsomeine Ergänzung zu dem Vortrag vonHerrn Dr. Hüls, der Anregung für uns al-le sein sollte, uns doch wirklich gedank-

lich mit dem Massenunfall zu beschäfti-gen. Eschede ist überall.

Prof. Dr. Probst, Murnau

Vielen Dank, Herr Professor Mischkow-sky.

Herr Dr. Hüls, sie waren ja nun dertatsächliche Leitende Notarzt vor Ort.Wie schafft man es, ärztlich medizinischgefordert zu sein, aber zugleich auch diemedizinische Einsatztaktik im Griff zubehalten? Sie müssen ja weitere Alar-mierungen vornehmen, sie müssen Per-sonal nachführen, sie haben sich mit un-terschiedlichen Einsatzgruppen zu be-schäftigen, wobei im Vordergrund ne-ben dem Rettungsdienst in erster Liniedie Feuerwehr steht.Wie bringt man dasnun – als der eigentliche, persönlicheDrehpunkt – alles unter einen Hut, wiegeht man hier vor?

Sie alle (im Auditorium) sind mög-licherweise irgendwann auch einmaldieser Anforderung ausgesetzt.

Dr. Hüls, Celle

Grundsätzlich besteht ein wesentlicherUnterschied in der Funktion des Leiten-den Notarzts und der des Notarzts amEinsatzort. Während der LNA aus-schließlich die logistischen und einsatz-taktischen Aufgaben zu bewältigen hat,ist der Notarzt für die medizinische Ver-sorgung der Patienten zuständig. Diespezielle Ausbildung zum LNA, die dereine oder andere bereits absolviert hat,vermittelt zum einen diese notwendigenlogistischen und taktischen Grundlagenund zum anderen die wichtige Erkennt-nis,dass die Schwierigkeit für einen Arztin der Funktion eines LNA insbesonderedarin besteht, diese Aufgabentrennungunter Einsatzbedingungen psychischund faktisch durchzuhalten – also ab-weichend von der „normalen“ Einstel-lung: sich nicht der Versorgung der Pati-enten verpflichtet zu sehen. Das ist einwichtiger Punkt.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist diepersönliche Erfahrung im Einsatzge-schehen. Großschadenlagen sind selten,noch seltener sind LNA mit realen Ein-satzerfahrungen – im Gegensatz dazugibt es viele „sehr erfahrene“ Notärzte.

Für mich war der Einsatz in Esche-de der „Erste“ in dieser Größenordnung.Ich kam am Einsatzort an und war vondem Szenario zunächst überrascht und

auch geübt.Wir üben sie regelmäßig. Eswar Folgendes geschehen: 2 Züge wa-ren an der nördlichen Ausfahrt von Im-menstadt aufeinander geprallt. Die Ge-schwindigkeitsdifferenz dieser beidenZüge (1 Intercity und 1 Interregio) be-trug 100 km/h. Eine Weiche wurde um-gestellt, während die Züge diese passier-ten. Es befanden sich insgesamt 160Menschen in beiden Zügen. Das winter-liche Allgäu war stark verschneit. Es wargenau um die gleiche Tageszeit wie inEschede: morgens um 11.00 Uhr und vondaher sehr günstige Bedingungen. DieSicht war für Hubschrauberflüge ausrei-chend. Bis 10.00 Uhr war Schneetreibengewesen, aber dann trat eine Wetterbes-serung ein, sodass Hubschraubereinsät-ze möglich waren.

Ich gehen kurz auf die 2 Dinge ein,die dann parallel liefen. Mein ersterOberarzt,der gleichzeitig Leitender Not-arzt ist, aber auch Ärztlicher Leiter imRettungsdienst, ist mit einem Team zurUnglückstelle geflogen und hat diesezunächst überflogen. Sie erstreckte sichüber 400 m und war durch den Schneeaußerordentlich schlecht zugänglich.Glücklicherweise lag die Unglücksstellenur 200 m vom Kreiskrankenhaus Im-menstadt entfernt, zu dem enge chirur-gische Beziehungen bestehen. Der Chi-rurg dort ist einer meiner ehemaligenOberärzte. Die somit mögliche Kommu-nikation über persönliche Freundschafthat die gesamte Abwicklung sehr er-leichtert. Es sind dann noch 3 Hub-schrauber hinzugekommen.

Wir haben parallel zur Organisati-on vor Ort in unserer Klinik 2 OP-Säleund 2 OP-Teams freigestellt sowie 6 In-tensivplätze mit Beatmungsgeräten undunsere Tagesklinik ganz geräumt. Dortsind 12 Plätze mit Monitoringplätzenvorhanden.Wir haben also relativ rasch,– ich glaube durch die klaren Anlei-tungsstrukturen sehr rasch – eine or-dentliche Versorgung bieten können.DieTriage wurde dann im Kreiskranken-haus Immenstadt vorgenommen. Dortsind 2 Schwerstverletzte eingeliefert wor-den. Einer ist bereits tot eingetroffen, of-fensichtlich bestand ein schwerstes offe-nes Schädel-Hirn-Trauma, eine 2. Pati-entin ist in Tabula an einer massiven ab-dominalen Verletzung verstorben. Dieanderen Verletzten wurden triagiert. Eswaren 39 weitere Verletzte, von denenwir 6 als schwerstverletzt qualifiziert ha-ben. Diese Verletzten wurden auf die be-

gefangen genommen. Zum 1. Mal er-kannte ich für mich selbst, was es be-deuten kann, die Aufgabe eines LNAübernommen zu haben.

Es hilft dann, sich auf seine Funkti-on und Aufgaben zu besinnen und diesekonsequent abzuarbeiten.Was ist also zutun? Was sind nun die wichtigen Aufga-ben des LNA nach den persönlichen Er-fahrungen in einer Großschadenslage?

Es ist in jedem Fall ein Trugschluss,zu glauben, leiten heißt: „alles tanzt abjetzt nach meiner Pfeife“ – der LNAkann eben kein Netz über die Unfallstel-le ausbreiten und sofort alles kontrollie-ren. Viele Dinge sind bereits im Gang,wenn er die Unfallstelle erreicht. Es dau-ert erhebliche Zeit, einen aktuellen Ein-satzstatus zu erhalten, selbst bei dernoch relativ übersichtlichen Unfallstellein Eschede mit den Ausmaßen von 600m ¥ 40 m dauerte dies fast 1 h. Es gibtandere Szenarien,wie sie im Vortrag vonProf. Oestern angesprochen wurden,beispielsweise das Erdbeben in Kobe(Japan) mit einer Schadenslage von 27km Länge und 14 km Breite – eine Kata-strophe ganz anderer Größenordnung.Das bedeutet, die anstehenden Maßnah-men müssen sich an den vorgefundenenBedingungen orientieren.

Für den LNA bedeutet dies, dass erden Einsatzort strukturieren muss undanschließend die Einrichtung von Ver-bandsplätzen, Verletztensammelstellenund die nach Möglichkeit gezielte Her-anführung von Rettungskräften organi-siert.

In Eschede ergab sich dabei bereitszu Beginn das „alte“ Problem der nichtfunktionierenden Funkkommunikation,welches durch den Einsatz von Meldernüberbrückt werden konnte. Hier warvom LNA Improvisation gefragt,wie im-mer, wenn „Vorgesehenes“ nicht funk-tioniert.

Ein weiterer zu berücksichtigenderAspekt für den LNA ist die Entwicklungder Schadenlage: In Eschede war sieglücklicherweise statisch – es gibt ande-re Szenarien, bei denen, beispielsweisedurch Feuer-, Wind- und Wettereinflüs-se, sich die Lage permanent verändert.Dies zwingt dann auch den LNA, sichfortlaufend neu zu orientieren und zureagieren. Dazu benötigt er einen ver-lässlichen Mitarbeiterstab, an den er al-le anfallenden Aufgaben und Anweisun-gen delegiert. Er kann weder selbst dieTriage durchführen noch die einzelnen

Kliniken für die anstehenden Transpor-te selbst aussuchen und die Dokumen-tation überwachen.

Bei Übungen von Großschadensla-gen mit einem Massenanfall von Ver-letzten (Absturz am Flughafen) wurdebereits mehrfach gezeigt, dass der LNAimmer dann seiner Funktion nicht mehrgerecht wurde und damit das Übungs-ziel – den medizinischen Einsatz zu lei-ten – nicht erreichte, wenn er eben die-se Aufgaben zu seinen eigenen machteund sie nicht delegierte.

Das bedeutet, je größer die Scha-denlage, je höher der Massenanfall vonVerletzten, desto eher hat sich der LNAvon den Lerninhalten der zwischenzeit-lich 12 Jahre alten Curricula der LNA-Ausbildung zu trennen. Quintessenz istdemnach auch, dass diese Inhalte zuüberdenken und die Aufgaben des LNAggf. neu zu fassen sind.

Der nächste Unfall, wir haben es be-reits kurz nach Eschede erfahren,kommt bestimmt. Es wird mit allerWahrscheinlichkeit einen anderen LNAtreffen, einen, der noch nicht auf einepersönliche Einsatzerfahrung zurück-greifen kann.

Was bleibt diesen zur Vorbereitung?Neben Einsatzübungen in jedem Fallauch die Beschäftigung mit bereits statt-gehabten Großschadenlagen. Die ver-fügbare Literatur hierzu ist eher rar – dieGründe wurden bereits im Vortrag vonProf. Oestern angesprochen.

Wir haben es als unsere Pflicht an-gesehen, die Erfahrungen und Lehrenaus der speziellen ICE-Katastrophe wei-terzugeben und diese in einem Buchveröffentlicht. Der Inhalt versteht sichnicht als „Handlungsanweisung“ zur Be-wältigung von Großschadenlagen, son-dern dient als Anregung, über möglicheProbleme überhaupt nachzudenken.Unter der Annahme, dass sowohl die Be-dingungen der jeweiligen Rettungs-dienstbereiche (Stadt/Land) als auch dieäußeren Bedingungen einer jeden Scha-denslage unterschiedlich sind und Letz-tere auch nicht vorhersagbar sein wer-den, muss jeder in seiner Verantwortungpersönlich entscheiden, ob seine bishe-rigen Konzepte und Strategien auch vordem Hintergrund der ICE-Katastrophevon Eschede noch ihre Berechtigung ha-ben.

Prof. Dr. Probst, Murnau

Danke Herr Dr. Hüls. Ich möchte HerrnDr. Quirini noch eine Frage stellen. Gabes schon eine brauchbare Vernetzung:personell,materiell,klinikmäßig? Sie ha-ben die Verletzten ja sehr rasch verlegt.Oder existierte ein solches Netz primärnoch nicht und sie haben es von Handerarbeiten müssen? Welche Erfahrungenhaben Sie gemacht?

Dr. Quirini, Celle

Dieses Netz bestand und bestehthauptsächlich aus persönlichen Bezie-hungen, daraus, dass man die Leute ausdem näheren Umfeld wie z. B. aus Han-nover und Uelzen, die an die Unfallstel-le kamen, persönlich kannte, sie ein-schätzen konnte und wusste, wie manmit ihnen zusammenarbeiten kann. Einstrukturiertes Netz in Form eines Rah-menplans gab es natürlich nicht. Dieseshat sich im Lauf von Stunden vor Ortentwickelt. Wichtig ist, dass kooperativzusammengearbeitet wird – wie von Dr.Hüls bereits dargestellt wurde.

Die ganzen Aufgaben, die der Lei-tende Notarzt vor Ort erfüllen soll, kanner eigentlich so primär nicht erfüllen –er muss delegieren. Darüber hinaus isteine Zusammenarbeit nur möglich,wenn kooperativ miteinander umge-gangen wird. Das bezieht sich sowohlauf die Ärzte untereinander als auch aufdie verschiedenen Rettungsdienstorga-nisationen. Es macht keinen Sinn, sichim Einsatz um Kompetenzen zu streiten.Dass in Eschede sowohl in als auch zwi-schen den einzelnen Gruppen ein ko-operativer Führungsstil durchsetzbarwar, zählt m. E. zu den positiven Dingenund hat wesentlich zum Einsatzerfolgbeigetragen.

Prof. Dr. Probst, Murnau

Danke Herr Dr. Quirini. Hat noch je-mand eine Frage an dieses hochkarätigeTeam?

Schmitz, Gelsenkirchen

Wie war die Zusammenarbeit mit denGesundheitsämtern bei dieser Katastro-phe?

S300 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

Großkatastrophen

Dr. Hüls, Celle

Es war im Landkreis Celle ein rückwär-tiger Katastrophenstab gebildet worden,der sich dort etwa um 12:30 Uhr mit derBekanntgabe einer Katastrophensituati-on durch den Hauptverwaltungsbeam-ten (HVB) konstituiert und eingerichtethat. In diesem Stab war das Gesundheit-samt selbstverständlich vertreten.Durchden Umstand, dass der HVB – also derOberkreisdirektor – seine Führungspo-sition des Katastrophenstabs direkt vorOrt wahrgenommen hat, dies entsprichtnicht den üblichen Regularien,blieb die-se Gruppe zunächst im rückwärtigenRaum zumindest an der aktuellenFührung weitgehend unbeteiligt. MitEinrichtung der Technischen Einsatzlei-tung vor Ort gegen 15:00 Uhr waren dieKommunikationsprobleme behoben,dieFührung vor Ort war ohne Einschrän-kung auch in Verbindung mit dem rück-wärtigen Stab beim Landkreis möglich.Das Gesundheitsamt selbst wurde zurRegelung medizinischer Belange jedochnicht benötigt.

Müller, Altötting

Könnte noch auf die Dokumentationeingegangen werden? Welches Systemwurde verwendet und wann wurde mitder Dokumentation begonnen?

Dr. Quirini, Celle

Hierzu ist festzustellen, dass nichtdurchgehend dokumentiert wurde.Wenn dokumentiert wurde, dann mitden Verletztenkarten des Deutschen Ro-ten Kreuz. Es muss natürlich gefragtwerden, ob eine Dokumentation, wie sieauf diesen Verletztenkarten vorgesehenist, auch sinnvoll ist.Viele Patienten wa-ren nicht ansprechbar, man hätte allen-falls die jeweilige medizinische Behand-lung dokumentieren können. Dadurch,dass wir jeden Schwerverletzten einemRettungs(hubschrauber)team zugeord-net haben, das diesen bis in die Klinikbegleitet und dort übergeben hat, wur-den Informationsverluste vermieden. ImÜbrigen waren diese Karten nicht an al-len Stellen verfügbar und an manchenStellen, z. B. Leichtverletztensammel-stellen, wurde daran offensichtlich auchgar nicht gedacht.

Dr. Hüls, Celle

Ergänzend lässt sich dazu noch Folgen-des feststellen: Landauf, landab hat na-hezu jeder Rettungsdienst sein eigenesDokumentationssystem für Großscha-denslagen und favorisiert dessen Taug-lichkeit. Aber gerade die Vielzahl dieserEinzellösungen zeigt, dass bislang nochkein allgemein gültiges und anerkann-tes System entwickelt wurde. Insbeson-dere, wenn Großschadenslagen inner-halb kurzer Zeit abgearbeitet und dieUnfallopfer in 1–3 h bereits abtranspor-tiert sind, erfüllen die üblichen Kata-strophendokumentationskarten ihrenZweck nicht. Es ist zu überlegen, ob dieDokumentation und Identifikation nichtüberhaupt von der Unfallstelle weg aneinen anderen Ort verlegt werden sol-len, z. B. an die Klinik, wo sie sicherlichzentral und aufgrund der gegebenentechnischen Möglichkeiten effizienterdurchgeführt werden könnten.

Ein Problem war, dass ich als LNAimmer nach Zahlen gefragt wurde. Esgibt keine Einsatzzahlen, insbesonderekeine aktuellen und definitiven Über-sichten vor Ort, anhand derer stets kon-kret Auskunft gegeben werden könnte:X-Verletzte, X-Tote, X-Zuginsassen –auch nicht nach 3 oder 5 h. Selbstwährend der wochenlangen Nachberei-tung mit Hilfe der Mitglieder der Tech-nischen Einsatzleitung haben wir dieseZahlen permanent korrigieren müssen.Die Verletztenzahlen änderten sich bei-spielsweise dadurch, dass sich unver-letzte Zuginsassen erst Wochen spätergemeldet haben und ein psychischesTrauma angaben,womit diese in die Ver-letztenlisten aufzunehmen waren. Nochprekärer ist die Situation, wenn sich dieAnzahl der Todesopfer im Nachhineinverändert – aufgrund der z. T. extremenVerstümmelungen der Leichen und derVielzahl von Leichenteilen konnte erstdurch das gerichtspathologische Urteilgeklärt werden, wie viele Tote tatsäch-lich zu beklagen waren. Man bringt sichbei der Veröffentlichung von Zahlen nurselbst unter Druck.Als Fazit ist zu sagen:Dokumentation ja, aber sie muss der je-weiligen Lage gerecht werden.

Frohnheiser, Weilheim

Ich habe noch eine Frage zu dem Ein-treffzeitpunkt des Tunnelrettungszugsnach 3 h.Handelte es sich hier um ein lo-

gistisches Problem oder war der Alar-mierungszeitpunkt entscheidend?

Prof. Dr. Oestern, Celle

Erstens ist der Rettungszug sehr spätalarmiert worden, zweitens gab es auchein logistisches Problem. Der Tunnelret-tungszug ist für Einsätze in Richtung Sü-den – nur in diese Richtung befindensich ab Hildesheim die Tunnel der ICE-Strecke – konzipiert worden. RichtungNorden wurde der Zug zum 1. Mal ein-gesetzt – dies war offensichtlich für dieBundesbahn doch ein erst noch zu lö-sendes Problem. Allerdings wurde derRettungszug mit seinen technischenMöglichkeiten vor Ort nicht benötigt –zum Einsatz kamen nur das mitgeführ-te Sanitäts- und Feuerwehrpersonal.

Ich glaube,ein ganz wichtiger Punkt,der jetzt mehrfach angesprochen wurde,ist die Dokumentation. In dem Moment,in dem eine Individualversorgung ein-tritt, wird der Schwerstverletzte nichtnur vor Ort, sondern auch auf demTransport durch einen Arzt betreut. Al-le Informationen, die den Patienten be-treffen, werden vom begleitenden Arztkomprimiert im Krankenhaus an denweiterbehandelnden Kollegen überge-ben. Meines Erachtens ist es daherdurchaus vertretbar,dass im Rahmen ei-ner Katastrophensituation, in der aus-reichend Ärzte und Transportkapazitä-ten vorhanden sind, die Dokumentationletztlich als „gesprochenes Wort“ durch-geführt und weitergegeben werden kann.

Prof. Dr. Probst, Murnau

Meine sehr verehrten Damen und Her-ren, vor mir liegt ein Buch aus dem Jahr1879 mit dem Titel: „Über die Folgen derVerletzungen auf Eisenbahnen“. Darauswäre jetzt manches Interessante zu refe-rieren. Ich möchte dieses Buch als Dankan die Gruppe aus Celle weitergeben,weil sie etwas „Außerordenliches“ gelei-stet hat. Wir danken ihnen für alles, wassie dort getan haben.

Prof. Dr. Oestern, Celle

Ich darf mich ganz herzlich bei ihnenbedanken. Wie sie wissen, bin ich einFreund insbesondere auch alter Bücher.Wir freuen uns und werden mit Interes-se einmal nachlesen, wie es früher war.Vielen Dank.

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 S301