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JÜRGEN JACOBS Das Verstummen der Muse Zur Geschichte der epischen Dichtungsgattungen im XVIII. Jahrhundert Höchst verwirrend und komplex ist das Bild, das die Entwicklung der epischen Dichtungsformen im XVIII. Jahrhundert bietet: Da gibt es zahlreiche Versuche, das große heroische Epos zu erneuern, daneben höchst ambitionierte religiöse Epen, ferner eine in vielen Spielarten auftretende komische Epik und endlich den Roman, der sich als vollgültige, ja beherrschende Dichtungsgattung erst im Zeitalter der Aufklärung durchsetzt. Beim Versuch, diese sdion in sich jeweils sehr vielfältigen und kompli- zierten Phänomene zusammenzusehen, empfiehlt es sich, den Blick auf ein signifikantes Detail zu richten, von dem her sich die Dinge in Verbindung setzen und vergleichen lassen. Als solcher markanter Punkt bietet sich bei der Betrachtung epischer Dichtung die Eingangsformel an. Seit Homer nämlich steht in der europäischen Tradition der Musenanruf ebenso wie die erste summarische Nennung des Themas am Anfang der großen Epen: Nenne mir Muse den Mann, den vielgewanderten ... Die Invocatio ist offenbar aus dem kitharodischen Prooimion, das dem kul- tischen Chorlied vorausging, ins Epos gelangt. Der Mittelteil solcher Prooimien erzählt die Geschichte von Göttern und Heroen, woraus sich in einem „Bruch mit den überkommenen rituellen Formen" das Epos entwickelte 1 . Dem Epos blieben von dieser Herkunft sein hexametrisches Versmaß, eine Reihe sprach- licher Eigenheiten und auch der Musenanruf, der nun allerdings nicht mehr die göttlichen Nymphen zum kultischen Chor- und Tanzspiel herbeizitierte, son- dern sie nur noch als inspirierende und den Wahrheitsgehalt der Erzählung verbürgende Instanz ins Spiel brachte 2 . Die Anrufung von Schutzgottheiten und die Bitte um höheren Beistand finden sich auch in anderen Dichtungsgattungen 3 . Aber es hat sich doch nur im Epos der an die Musen gerichtete „heilige Imperativ" 4 , zu singen und zu sagen, als verbindliche, für die Gattung charakteristische Eingangsformel durchgesetzt. Mit ihr ist ein feierlicher, erhöhter Ton angeschlagen, der den repräsentativen 1 Vgl. H. Koller: Musik und Dichtung im alten Griechenland, Bern 1963, 69. 2 Ebd. 43. 3 Zur Vielfalt der Invokationen in der Antike vgl. O. Falter: Der Dickter und sein Gott bei den Griechen und Römern, Diss. Würzburg 1934, 34 ff. 4 Vgl. auch E. Barmeyer: Die Musen Ein Beitrag zur Inspirationslehre, München 1968, 99. Ferner allgemein W.F.Otto: Die Musen, Darmstadt 3 1971. 9 Arcodio 10 Brought to you by | University of Glasgow Library Authenticated | 130.209.6.50 Download Date | 9/22/13 3:25 AM

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JÜRGEN JACOBS

Das Verstummen der MuseZur Geschichte der epischen Dichtungsgattungen

im XVIII. Jahrhundert

Höchst verwirrend und komplex ist das Bild, das die Entwicklung derepischen Dichtungsformen im XVIII. Jahrhundert bietet: Da gibt es zahlreicheVersuche, das große heroische Epos zu erneuern, daneben höchst ambitioniertereligiöse Epen, ferner eine in vielen Spielarten auftretende komische Epik undendlich den Roman, der sich als vollgültige, ja beherrschende Dichtungsgattungerst im Zeitalter der Aufklärung durchsetzt.

Beim Versuch, diese sdion in sich jeweils sehr vielfältigen und kompli-zierten Phänomene zusammenzusehen, empfiehlt es sich, den Blick auf einsignifikantes Detail zu richten, von dem her sich die Dinge in Verbindungsetzen und vergleichen lassen. Als solcher markanter Punkt bietet sich bei derBetrachtung epischer Dichtung die Eingangsformel an. Seit Homer nämlichsteht in der europäischen Tradition der Musenanruf ebenso wie die erstesummarische Nennung des Themas am Anfang der großen Epen:

Nenne mir Muse den Mann, den vielgewanderten ...Die Invocatio ist offenbar aus dem kitharodischen Prooimion, das dem kul-tischen Chorlied vorausging, ins Epos gelangt. Der Mittelteil solcher Prooimienerzählt die Geschichte von Göttern und Heroen, woraus sich in einem „Bruchmit den überkommenen rituellen Formen" das Epos entwickelte1. Dem Eposblieben von dieser Herkunft sein hexametrisches Versmaß, eine Reihe sprach-licher Eigenheiten und auch der Musenanruf, der nun allerdings nicht mehr diegöttlichen Nymphen zum kultischen Chor- und Tanzspiel herbeizitierte, son-dern sie nur noch als inspirierende und den Wahrheitsgehalt der Erzählungverbürgende Instanz ins Spiel brachte2.

Die Anrufung von Schutzgottheiten und die Bitte um höheren Beistandfinden sich auch in anderen Dichtungsgattungen3. Aber es hat sich doch nur imEpos der an die Musen gerichtete „heilige Imperativ"4, zu singen und zu sagen,als verbindliche, für die Gattung charakteristische Eingangsformel durchgesetzt.Mit ihr ist ein feierlicher, erhöhter Ton angeschlagen, der den repräsentativen

1 Vgl. H. Koller: Musik und Dichtung im alten Griechenland, Bern 1963, 69.2 Ebd. 43.3 Zur Vielfalt der Invokationen in der Antike vgl. O. Falter: Der Dickter und sein

Gott bei den Griechen und Römern, Diss. Würzburg 1934, 34 ff.4 Vgl. auch E. Barmeyer: Die Musen — Ein Beitrag zur Inspirationslehre, München

1968, 99. Ferner allgemein W.F.Otto: Die Musen, Darmstadt 31971.

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Anspruch der Gattung erkennen läßt. Die Invocatio vermittelt der epischenErzählung außerdem inhaltliche Beglaubigung, weil nach antiker Vorstellungdie Musen als Töchter der Mnemosyne aliwissend sind. Bei Homer etwa heißtes von ihnen5:

$ Oeaf .

Schließlich macht die Invocatio deutlich, daß im Epos nicht der Dichter alsEinzelner auf eigene Verantwortung spricht, sondern daß durch ihn hindurcheine höhere Macht sich äußert. Diese Unpersönlichkeit des epischen Sängers istimmer wieder als wichtiges gattungskonstitutierendes Merkmal hervorgehobenworden. Der Rhapsode, so lautet die berühmte Forderung Goethes und Schil-lers0, sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedid)t nicht selbst erscheinen, erläse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeitabstrahierte und nur die Stimme der Musen im allgemeinen zu hören glaubte.Ganz ähnlich sagt Hegel vom epischen Sänger7, daß nicht sein eigenes Selbstgilt, sondern seine Muse, sein allgemeiner Gesang.

Die Literaturgeschichte und die Ästhetik neigen dazu, in den Epen Homersso sehr den Inbegriff der Gattung zu sehen, daß in späterer, nachhomerischerZeit echt epische Dichtung kaum noch legitim und möglich erscheint. Gleich-wohl bleibt das Faktum zu registrieren, daß die europäische Epik zweitausendJahre hindurch lebendig war und sich immer wieder unter Rückgriff auf dasbewunderte Muster der llias und der Odyssee zu erneuern versuchte.

In der christlichen Epoche mußte problematisch werden, daß der epischeEingangstopos sich an die heidnischen Musen wandte. Häufig, und zwar schonin dem Bibelepos des luvencus (um 330), übersetzte man die Invocatio einfachins Christliche und bat den heiligen Geist um Beistand8. Tasso in seiner Gerusa-lemme liberata löste das Problem, indem er nicht die Muse des Helikon, son-dern die des christlichen Himmels anrief, und ähnlich half sich auch Milton imParadise Lost mit der Zitierung einer Heavenly Muse9.

Auch dort, wo fromme Bedenken keine Rolle spielten, wie bei Shaftesbury,stellte sich die Frage, wie ein moderner Dichter noch glaubhaft Apollon unddie Musen anrufen könne10. Ähnliche Zweifel finden sich auch in dichtungs-theoretischen Schriften der deutschen Aufklärung. Allerdings hindert das nicht

5 llias II 485.6 Goethe/Sdiiller: Über epische und dramatische Dichtung, in: Goethe: Werke, HA, XII

251.7 Hegel: Pbänomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg Ö1952, 507.

Vgl. auch die Bemerkungen Hegels in der Ästhetik, hg. v. F. Bassenge, Frankfurt0. J., II 410 f.

8 Vgl. M.Wehrli: Sacra Poesis, in: FS F Maurer, Stuttgart 1963, 268; ferner E. R.Curtius: Europ. Lit. und latein. MÄ, München/Bern 31961, 242.

9 Tasso: La Gerusalemme liberata, I. Gesang, 2. Stanze; Milton: Paradise Lost,1. Gesang, v. 6.

10 Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus, Leipzig 1909, 2 (zuerst 1708).

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daran, die Invocatio zu Beginn des Epos für unumgänglich zu halten. Gott-sched etwa fordert sie, weil in einem solchen Gedichte Dinge vorkommen, dieder Dichter wahrscheinlidier Weise, ohne die Eingebung einer Gottheit, nichtwissen könnte11.

Weniger diese Überlegung als das Bestreben, den homerischen Ton nach-zuahmen, führt auch in den heroischen Epen des XVIII. Jahrhunderts zur Über-nahme des Musenanrufs. Voltaire zum Beispiel glaubt, in seiner Henriade nichtauf ihn verzichten zu können. Die Anfangsverse der ersten Fassung lauten:

Je diante les combats, et ce roi genereuxQui forga les Fran$ais a devenir heureux...Muse, raconte-moi quelle haine obstineeArma contre Henri la France mtitinee.

In späteren Ausgaben änderte Voltaire die Invocatio12:Descends du haut des cieux, auguste VeritelRepands sur mes ecrits t a force et t a clarte!

Daß in der späteren Fassung die Muse nicht mehr an der bedeutsamen Ein-gangsstelle genannt wird, hängt wohl mit Voltaires aufklärerischer Skepsisgegen die Verwendung der antiken Mythologie zusammen13. Allerdings beob-achtete er diese Zurückhaltung nicht dogmatisch. Er hielt es mit Recht fürpedantisch, die durch poetische Konvention legitimierten Namen und Figurenplötzlich radikal auszurotten, und behielt deshalb auch in den späteren Fassun-gen der Henriade gelegentliche Anrufungen der Muse bei14.

Voltaires Epos war von dem Ehrgeiz getragen, eine repräsentative Natio-naldiditung zu schaffen, die einen großen historischen Stoff (die EinigungFrankreichs durch Heinrich IV.) in der traditionsbeglänzten Form der hero-ischen Epik gestaltete. Die gleiche hochfliegende Ambition ließ in Deutschlandden Hermann des Freiherrn von Sdiönaich entstehen. Gottsched deklarierte dasWerk seines treuen Schülers zum klassischen deutschen Heldengedicht undstellte es kühn in eine Reihe mit Homer, Vergil, Voltaire, Tasso und Milton15.Selbstverständlich führte solcher Anspruch zur Anpassung an die überlieferteForm des Epen-Eingangs16:

Von den Helden will ich singen, dessen Arm sein Volk beschützt,Dessen Schwert aujDeutschlands Feinde für das Vaterland geblitzt...Göttinnl aber zeuch die Helden ans der undankbaren Nacht,Darinn sie der Grimm der Zeiten, trotz der Tapferkeit gebracht! ...Muse! laß ein solches Werk, ein so edles Werk gelingen,Und beglücke selbst den Flug meiner ungeübten Schwingen.

11 Gottsdied: Versuch einer Crit. DiAtkumt, Leipzig 41751, Ndr. Darmstadt 1962,496.12 Zit. nach: Les ceuvres comf1, de Voltaire, hg. v. O.R.Taylor, Gen£ve 21970, II

365 f.18 Vgl. Taylor im Vorwort ebd. 133 ff.; dort Nachweise.14 Vgl. ebd. 462 (Chant IV, v. 447).u Hrn. Christoph Ottens, Frhrn. von Sdiönaich (...) Hermann, oder das bsfreyte

Deutschland, Leipzig 1753, S. XII, XX." Ebd. 3.

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Schönaich erntete für seinen schwerfälligen und überanstrengten Versuchviel Spott und Kritik, auch von sehen des jungen Wieland, der aber seinerseitsvor dem ambitiösen Unternehmen eines heroischen Epos nicht zurückschreckte.Der zuerst 1759 erschienene Cyrus, der jedoch Fragment blieb, bedient sich desklassischen Eingangs17:

Singe mir, Muse, den Mann, der von den Bergen von PersisMuthig stieg, dem dräuenden Stolz der Tyrannen entgegen.

Schon mit dieser Eröffnung ist der hohe Anspruch des Werks verdeutlicht, denWieland auch in brieflichen Äußerungen bei aller Ironie doch redit selbst-bewußt vertritt18: Voila une bizarre fille de muse qui ne me laisse du reposni jour ni nuit, m'obligeant de songer continuellement a l'Execution d*unPoeme heroique de XVIII Chants, qu'elle pretend rendre par son Inspirationun des plus beaux qu'on eusse jamais vu, sans en excepter celui du bon vieuxPere Homere.

Bei Wieland wie bei Schönaich und Voltaire war in gleicher Weise dieAbsicht wirksam, die anspruchsvolle Form des heroischen Epos zu erfüllen undsich damit als Klassiker ihrer Nationalliteraturen zu qualifizieren. Anderswaren die Intentionen, die zu den frommen Epen im Stil von KlopstocksMessias führten. Hier erfolgte eine Ablösung von der homerischen Tradition,die aber keineswegs zum radikalen Bruch wurde. Die christliche Epik bis hinzu Milton hatte sich selbst durchaus vor dem Hintergrund der antiken Mustergesehen, weshalb auch ein Detail wie die einleitende Invocatio erhalten blieb.Audi Klopstock riditete an den Geist Schöpfer die Bitte, die Dichtkunst zuheiligen, damit sie zur Darstellung des höchsten denkbaren Gegenstandes, derErlösungstat Christi, fähig werde19. Man wird auch die Aufforderung derersten Zeile des Messias: Sing\ unsterbliche Seele, als Invocatio auffassen dür-fen20. Diese Anrede ans eigene Gemüt hat ebenfalls eine lange (allerdings meistaußerepische) Tradition21, und man wird sie nicht unbedingt als Anhaltspunktfür subjektivierende Tendenzen verstehen können22.

Lessing meinte in einer kritischen Besprechung23, daß es eine greuliche Tor-heit würde gewesen sein, wenn Klopstock eine heidnische Muse hätte anrufenwollen. Gleichwohl finden sich im Text des Messias gelegentliche Apostrophender unsterblichen Muse**. In der überarbeiteten Ausgabe von 1755 aber erkenntKlopstock Lessings Einwand an, indem er überall statt der Muse die Sängerin

17 Wieland: Werke, Hempelsdie Ausg., Berlin 1839—1853), XXXIX 637. Vgl. auchebd. 638 und 680.

18 Brief an Zimmermann vom 24. II. 1758, in: Briefe, hg. v. H. W. Seiffert, I 323.19 Klopstock: Werke, Göschen, 1856—57, I l (= 1. Gesang, v. 10).20 Anderer Auffassung war Lessing; vgl. dessen Krit. Briefe von 1753, in: Werke,

hg. v. Rilla, Berlin 1954—58, III 437.21 Vgl. E. R. Curtius, aaO. (Anm. 8) 240. Neben den dort angegebenen Stellen vgl.

auch noch Dante: Inferno II, v. 8.22 So aber P. Michelsen: L.Sterne und der dt. Roman des 18. Jh.s, Göttingen 1963,

193, N. 33.23 S. Lessing, aaO. (Anm. 20) 437.24 Vgl. etwa den 3. Gesang, v. 12.

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Sions einführt25. Diese Modifizierung des epischen Topos behebt die greulicheTorheit des Stilbrudis, wahrt aber doch die literarische Konvention, auch wenndie christliche Ersatzmuse theologisch wohl problematisch bleibt.

Die heavenly Muse Miltons wird in Bodmers Noah und in Wielandsseraphischem Epos Der geprüfte Abraham wieder beschworen26:

Himmlische Muse, Du Sängerin Gottes, Du Mutter der Tugend,Lehre mich Abraham's Prüfung, den Sieg des frommen Gehorsams,Lehre mich singen den Helden ...

Daß hier überhaupt die Muse zitiert wird, bezeugt deutlich, daß auch die from-men Bibel-Epen unter dem Eindruck der klassischen Tradition entstanden.Deren verpflichtende Kraft erwies sich als ungebrochen, selbst als man sichneuen Stoffen und einem neuen Ethos der Darstellung zuwandte.

II

Audi das komische Epos, das im XVIII. Jahrundert zu vorher ungekann-ter Bedeutung aufstieg, stellte sich zunädist bewußt in die Überlieferung derhomerisdien Dichtungsform. Wieder kann dafür der Musenanruf als Kriteriumdienen. Boileaus Lutrin von 1674, ein vielbewundertes Muster dieser Gattung,imitiert zu Beginn ganz offen Vergils Aeneis27:

Je chante les combats, et ce prelat terrible, qui...Nach der Stoff ansage folgt das klassisdie Musas mihi causas memora:

Muse, redis-moi donc quelle ardeur de vengeancede ces komme s sacres rompit Vintelligence.

Hier sind die gehobene Tonlage, der mythologische Apparat und die ausgrei-fenden Vergleidie des klassisdien Epos in komischen Kontrast gebradit zueinem nichtigen Inhalt. Das Resultat ist einmal ein literarischer Jux, wie ihndas antike Muster, die pseudo-homerisdie Batrachomyomachia, sdion gebotenhatte. Beabsiditigt ist aber auch eine satirische Wirkung: Das Treiben klein-mütiger Kleriker ist dem Spott ebenso preisgegeben wie ein Dichtungsstil, dersich des Pathos und der mythologisdien Anspielungen im Übermaß bedient.Die Form des großen Epos jedoch wird durdi solche Parodie grundsätzlich niditin Frage gestellt, wie sich in Boileaus Art poetique zeigt, wo Homer und Vergildie maßgebenden Exempel bleiben28.

Gleiches gilt für Alexander Popes Rape of the Lock (1712), der für dieKleinepik des Rokoko zum wichtigsten Vorbild wurde. Auch hier findet sichder vergilisdie Beginn*9:

25 Vgl. Lessings Kommentar zu den Änderungen im 19. Liter atnrbriej, in: Werke,hg. v. Rilla, IV 150 f.

26 Wieland: Werke, Hempel, XXXIX 387. Zur Funktion des christlich drapiertenMusenanrufs vgl. Wiefands Bemerkungen in der Abb. von den Schönheiten desepischen Gedichts „Der Noah", in: Werke XL 354.

27 Boileau: CEuvres, hg. v. G. Mongr£dien, Paris 1961, 193.28 Vgl. Chant III, ebd. 175 ff.20 Pope: Poetical Works, hg. v. H. Davis, London 1966, 88.

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What dire offence from am'rous causes sf rings,What mighty contests rise from trivial thingsI sing...

Es folgt der Imperativische Musenanruf:Say what stränge motive, Goddesst could compelA well-bred Lord fassaidt a gentle Belle?

Intention von Popes komischem Epos ist die Ironisierung eines preziösen gesell-schaftlichen Lebensstils. Das geschieht jedoch nicht mit polemischem Vernich-tungswillen, sondern durchaus spielerisch, mit einer fein abgetönten Komik,die aus der Diskrepanz zwischen dem aufwendigen heroischen Stil und derNichtigkeit des Gegenstandes lebt. Audi hier soll das hohe Epos nicht adabsurdum geführt werden, wie der Essay on Criticism beweist, für den Homersund Vergils Vorbildlichkeit unbezweifelt fortgilt30.

Eines der zahlreichen deutschen Gegenstücke zu Popes Lockenraub ist derSieg des Liebesgottes von Johann Peter Uz (zuerst 1753). Auch hier geht es umdie satirische Bloßstellung von Modetorheiten und menschlichen Schwächen.Aber die Kritik bleibt tolerant: Niemand wird bestraft oder bekehrt, vielmehrwird den Narren am Ende ironisch die Erfüllung ihrer Wünsche zugestanden.Uz bedient sich wichtiger epischer Stilmittel: Er gibt ein regelrechtes Proömiummit Stoff ansage und Anrufung der Venus31; und späterhin streut er mytholo-gische Anspielungen aus, er zitiert Figuren aus der Ilias, und natürlich dienenauch Musenanrufe zur parodistisdien Herstellung der epischen Tonlage.

In ähnlicher Weise, aber doch mit gröberer Parodie der epischen Gestal-tungskonvention, hatte Friedrich Wilhelm Zachariä seinen berühmten Renom-mist (zuerst 1744) beginnen lassen32:

Den Helden singt mein Lied, den Degen, Muth und SchlachtIn Jena färchterlich, in Leipzig jrech gemacht...Wirf einen Blick auf mich, o Göttin Schlägerey,Damit mein Heldenlied des Helden würdig sey!Laß in dein Heiligthum die schöne Muse sehen,Und laß sie den Gebrauch der Jenschen Welt verstehen.

In die Reihe der komischen Epen gehören auch eine Anzahl von Dich-tungen, die in Prosa statt in Versen abgefaßt wurden. Zum bekanntesten dieserprosaisch-comischen (Helden-)Gedichte ist Thümmels Wilhelmine geworden(zuerst 1764). Auch hier ist in der schon angedeuteten Weise die epische Ma-schinerie benutzt. In hohen Tönen, so heißt es gegen Ende des 5. Abschnitts83,besang der Dichter der Ilias die Geschichte, wie ich jetzt die Hochzeit einesMagisters besinge.

30 Vgl. v. 124 ff., ebd. 67 f.31 Vgl. J. P. Uz: Poetische Werke, hg. v. Sauer, Stuttgart 1890, 279 f.32 Fr. W. Zachariä: Poetische Sehr., 1. Theil, Carlsruhe 1777, 3 f.83 Vgl. A. M. v. Thümmel: SW, Leipzig 1854, VII 180.

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Gelegentlich wurden die satirischen Möglichkeiten des komischen Epos inden Dienst der literarischen Polemik gestellt34. Das brillanteste Muster dafürbietet wohl Pope mit seiner Dunciade (zuerst 1728); trockenere deutsche Paral-lelen entstanden während des literarischen Kleinkrieges zwischen Leipzig undZürich. Nennen läßt sich etwa Gottscheds Deutscher Dichterkrieg aus den Be-lustigungen des Verstandes und des Witzes von 174l85. Audi hier ist zu Beginnmit einer Wendung an die Musen Anschluß an die epische Tradition gesucht:Dia rufe ich (...) an, du wenig verehrte Göttinn! die du sonst einige deinerFreunde einen geraubten Wassereimer, einen Hudibras, ein Pult, und eine ge-raubte Locke besingen gelehret hast.

Die zitierten Beispiele können nur einen umrißhaften Eindruck von derverwirrenden Fülle komischer Epen vermitteln, die im XVIII. Jahrhundertentstanden36. Aber aus dem Gesagten läßt sich wohl ableiten — und zwargerade aus der Verwendung des Musenanrufs —, daß es sich beim komischenEpos um eine parodistisdie Umkehrung der heroischen Gattungstradition han-delt. Diese komische Variante des Epos dient einmal der gesellschaftlichen oderliterarischen Satire, dann aber auch dem poetischen Spiel, das den Ernst unddie Spannung der heroischen Gattung aufhebt und von ihrem streng-feierlichenAnspruch entlastet. Das mußte nicht unbedingt zu einem grundsätzlichen Zwei-fel an Recht und Würde des hohen Epos führen. Aber die Fülle der komischenEpen läßt mit ihrem Spaß an der Persiflage doch zunehmend eine antiheroischeTendenz spüren, die sich audi anderwärts in der Literatur des Rokoko durch-setzt37. Friedrich Wilhelm Zachariä, einer der produktivsten Autoren der komi-schen Epik, verspottet den Stil des hohen Epos in seinem scfyerzhaften Helden-gedicht Das Schnupftuch**:

Es ist im Heldenlied von Alters hergebracht,Daß man aus etwas nichts, und aus nichts etwas macht.Hier wird ein Hauch zum Sturm, ein Fluch zum Donnerwetter,Und unter unsrer Macht stehn Satane und Götter.

Solche respektlosen Wendungen, wie überhaupt das Vorwalten der Paro-die vor eigentlicher Nachfolge, mußten das Ethos der heroisch-epischen Dar-stellung untergraben. Es geht nicht mehr bloß um den gelegentlichen erheitern-den Mißbrauch oder um satirische Verwendung der überlieferten Form; viel-mehr setzt sich ein neues Darstellungsinteresse durch, das den Bezug zumheroischen Genre abschwächt und zur Idylle hinstrebt: Liebevoll malen diekomischen Epyllien des Rokoko eine verspielte Form der Geselligkeit aus undunterziehen deren Albernheiten einer milden Kritik39.34 VgL R. Göbel: Das dt. komisdhe Epos im 18. Jh., Diss. Wien 1932, 16 ff.; A. Anger:

Lit. Rokoko, Stuttgart 1962, 87.»5 Belustigungen, 1741, 21742, I 49 ff.36 VgL näher Göbel aaO.; ferner Anger, aaO. (Anm. 34) 84 f.97 VgL L. Beeken: Das Prinzip der Desillusionierung im komischen Epos des 18. Jh.

— Zur Wesensbestimmung des dt. Rokoko, Diss. Hamburg 1954, Masdi., 142 ff.;Anger, aaO. (Anm. 34) 83 ff.

»8 Zachariä: Poetische San., l.Theil, Carlsruhe 1777, 252.» VgL GöbeJ, aaCX 175 ff.; Anger, aaO. 88 (Anm. 34).

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Wie hier die von Boileau und Pope geprägte Form des komischen Eposzunehmend verlassen wird, so auch in den großen Versepen aus Wielands reiferZeit40. Eine Fülle von Anregungen ist hier produktiv aufgenommen worden,vor allem der Ton des phantastisch-romantischen Epos im Stil Boiardos undAriosts. Gleichzeitig aber — und das ist die Eigenheit Wielands — setzt sichein launig-beweglicher Erzählstil durch, der sich den Vers zum Medium kon-versationshafter Mitteilung zurechtbiegt. Allerdings verzichtet Wieland nichtdarauf, auch mit den Elementen der epischen Tradition, also auch mit der Invo-catio, zu spielen. Zu Beginn von Idris und Zenide (1767) heißt es, die Musesolle ihre Leier nicht mehr zum Heldenlied in kriegerischem Ton stimmen.Denn41:

Die Welt ist längst der Kurzweil satt,Den zornigen Achill, die zärtlichen AeneenMit ändern Namen auferstehenUnd lächerlich verkappt in neuer Tracht zu sehen.Was im Homer das Recht, uns zu gefallen, hat,Wird in der Neuern Mund oft schwülstig, öfter platt.

Nachdem auf diese Weise das Ende der heroischen Epopöe konstatiert ist, mußein neuer Stoff und ein neues Ethos der Darstellung gesucht werden. Idris undDer neue Amadis erzählen deshalb — wie es bei Wieland selbst heißt — vonWelten l Worin die Phantasie als Königin befiehlt, und unterstellen sich derHerrschaft des Geist Capriccio*2. Unter diesem Vorzeichen vollzieht sich dannein launiges Zerspielen der epischen Form.

Auch im Oberon ist das Erbe des Ariost wirksam geblieben. Aber hier ist— im Unterschied zu Wielands anderen Rokoko-Epen — dem Ganzen mit derTitelfigur ein sittliches Zentrum gegeben, das nicht in das Kraftfeld der relati-vierenden Ironie gerät. Wegen der besonderen Rolle des in Oberon inkarniertensittlichen Prinzips konnte man sagen, das Werk trage „unverkennbar dasSignum der Klassizität"43, welchen Eindruck auch Wieland selbst durch spätereÜberarbeitungen zu verstärken suchte: Die Ausgabe von 1785 reduzierte dieZahl der Gesänge nach dem Muster des Vergil auf zwölf, und noch bei derAusgabe letzter Hand wurden „die kleinen Spuren lächelnder Laune" getilgt,damit der Oberon zu einem „reinen Werk objektiver Darstellung" würde44.

Aber zu einer Dichtung von der Plastik und dem Anspruch des klassischenEpos konnte Oberon trotz aller Bemühung nicht werden45. Zu sehr war demAutor die historische Unangemessenheit der großen epischen Form bewußt.Erfüllen ließ sie sich daher nur noch parodistisch. Mit Recht hat Hans Mayer

40 Vgl. Anger, ebd. 48 f., 91.41 Wieland: Werke, Hempel, XVI 7.42 Ebd. sowie XVII 7 und 110.43 F. Sengle: Wieland, Stuttgart 1949, 367.44 Lit. Zustände und Zeitgenossen — In Schilderungen ans K. A. Böttiger's hand-

schriftlichem N aMasse, hg. v. K. W. Böttiger, Leipzig 1838, I 186.45 S. auch die Einschränkungen bei Sengle, aaO. (Anm. 43) 368 ff.

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auf die Bedeutung des einmal zu Beginn des Oberon hingewiesen46: Nocheinmalt so heißt es47,

... sattelt mir den Hippogryphen, Ihr Musen,Zum Ritt ins alte, romantische Land!

Daß der feierliche Ton der heroischen und frommen Epen nicht erneuert werdensollte, zeigt unmißverständlich der Musenanruf48:

Komm, laß dich nieder zu uns auf dieses CanapeeUnd — statt zu rufen: J<h seh', ich seh*">Was Niemand sieht als Du — erzähl uns fein gelassen,Wie alles sich begab.

Indem die Muse zur Konversation in den Salon gebeten wird, ist das Singenund Sagen alten epischen Stils unmöglich geworden. Offensichtlich sind dieElemente des hohen Epos nur noch unernst und uneigentlich aufgenommen, was— wie schon angedeutet — durchaus nicht heißen mußte, daß auch inhaltlichnichts Verbindliches mehr ausgesagt werden könnte. Vielmehr gelangt derOberon gerade durch die ethische Substanz seiner Fabel über die irisierendeVerspieltheit etwa des Neuen Amadis hinaus.

Von Wielands gebrochenem Verhältnis zur epischen Form her ist ein Wegzu deren Erneuerung nicht recht vorstellbar. Gleichwohl hat Goethe sich be-kanntlich wiederholt in epischen Dichtungen versucht. Das früheste Beispielsind die 1784/85 entstandenen Geheimnisse: das Fragment einer religiösenDichtung, die sich vom Pathos des Klopstockschen Messias fernhielt und wegenihres spirituellen Stoffs auch die Nähe zum antiken Epos nicht suchen konnte.Der von der Tradition geforderte Musenanruf fehlt deshalb hier ebenso wie imReineke luchsi In den Ton der behaglich nadierzählten Volksdichtung hättenantike Requisiten nicht gepaßt. Audi der Hexameter ist hier äußerst flüssigund undogmatisch und ohne jede Bemühung um antiken Faltenwurf verwendet.

Ganz anders steht es mit Hermann und Dorothea. Die neun Gesängedieses Epos sind in den Überschriften dem Patronat je einer Muse unterstellt,wobei deren verschiedene, durch die mythologische Tradition festgelegten Wir-kungsbereiche zum Inhalt der Gesänge in Bezug gesetzt sind. Dem ersten Teilist der Name der Kalliope, die den Dichter des Heldengedichts inspiriert, vor-angestellt. Eine ausdrückliche Anrufung findet sich jedoch zu Beginn vonGoethes Epos nicht. Sie wäre wohl kaum in Übereinstimmung mit demidyllisch-beschränkten Gegenstand und mit der Intimität der Darstellung zuhalten gewesen. Bezeichnenderweise fehlt die Zitierung der Muse auch in derLuise des Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voss. Gegenüber dieser beschau-lichen Pfarrhaus-Idylle hat Goethes Hermann und Dorothea mehr Plastik undmehr Weltgehalt — auch wenn der große historische Vorgang der Französischen

4 . Mayer: Wielands Oberon, in: Zur dt. Klassik und Romantik, Pfullingen 1963,40.

<7 Wieland: Werke, Hempel, V 5.48 Ebd. 6.

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Revolution nur am Rand der Erzählung sichtbar wird. Trotz solcher neuenAffinität zum Epos erlaubte der Ton des Ganzen nur eine versteckte Invocatio:Zu Beginn des letzten Gesanges wendet sich der sonst kaum vernehmbare Er-zähler an die Musen; er vermeidet es aber auch hier, den Erzählton zu hoch zuspannen40:

Musen, die ihr so gern die herzliche Liebe begünstigt...Helfet auch ferner den Bund des lieblichen Paares vollenden,Teilet die Wolken sogleich, die über ihr Glück sich heraufziehn!Aber saget vor allem, was jetzt im Hause geschiehetl

Die Invocatio ist hier leidht abgewandelt: Die Musen werden zunächst alsSchutzgottheiten der Liebe angerufen, bevor die Bitte um Vermittlung derGeschichte (das ist der Sinn des klassischen Anrufs) ausgesprochen ist. Wilhelmvon Humboldt hat in seiner minutiösen Untersuchung zu Hermann und Doro-thea die Funktion dieser Erzähleranrede an die Musen im Geist der Sdiiller-schen Ästhetik bestimmt50: Dass der Eindruck jener letzten Situation [der Ent-scheidung über Hermanns Liebe] nicht zu drückend werde, dass er nicht ausdem Gebiete der Kunst und der Einbildungskraft herausgehe, ruft er die Musen,diese Wesen der Phantasie, an; und der Stärke gewiss, mit der er sich des Zu-hörers bemächtigt hat, scheut er sich nicht, ihn seihst daran 2u erinnern, dass esnicht Wahrheit, sondern nur ein Spielwerk der Kunst ist, was er ihm zeigt.Neben solcher Minderung der Stoff liehen Wirkung und der Betonung des Kunst-charakters des Werks erkennt Humboldt jedoch in der Invocatio auch die Ab-sicht, den Ton der Erzählung höher zu stimmen, wie das in der epischen Tra-dition immer schon der Fall gewesen war51: Selbst die Vorstellung der Muse,wenn wir uns auch unter diesem Namen nicht mehr jene ehrwürdige Gottheitdes Alterthums denken, wenn wir es auch klar empfinden, dass sich der Dichterbloss an seine eigene Begeisterung wendet und dieser nur jene sinnliche Ein-kleidung leiht, trägt dennoch dazu bei, den dichterischen Schwung unsererStimmung zu erhöhen.

Warum die Achilleis, Goethes Fragment zu einem homerisierenden Groß-epos, keinen einleitenden Musenanruf hat, ist schwer auszumachen. Der Textspringt gleich medias in res und verzichtet auf ein Proömium. Vielleicht wäre esspäter ergänzt worden, wenn Aussicht auf Abschluß des Werks bestanden hätte.Immerhin scheint an einer Stelle der Dichtung die epische Konvention ausdrück-lich anerkannt zu sein. Athene nämlich sagt, als sie in Gestalt des Antilochosden Achilleus tröstet52:

Immer wird dein Name zuerst von den Lippen des SängersFließen, wenn er voran des Gottes preisend erwähnte.

49 Goethe: Werke, HA, II 502.50 W.v.Humboldt: Über Goethes Hermann und Dorothea, in: Werke, Ak.-Ausg. II

189.51 Ebd. 266.52 Goethe: Werke II 534 (v. 571 f.).

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Vielleicht aber beruht das Fehlen der epischen Einleitungsformel auch darauf,daß sich das Werk bei aller Orientierung an Homer doch wesentlich, und zwargerade in Hinblick auf den »heroischen* Gehalt, von seinen antiken Vorbildernunterschied. Goethe selbst hat das deutlich ausgesprochen, als er feststellte58, derGegenstand der Achilleis enthalte ein bloßes persönliches und Privat-Interesse,dahingegen die »Ilias* das Interesse der Völker, der Weltteile, der Erde unddes Himmels umschließt. Achill sollte nicht als der Kämpfer und Sieger dar-gestellt werden, sondern als der in die trojanische Königstocher Polyxena Ver-liebte. In dieser Wendung auf ein ,persönlichese Interesse lag die Tendenz zueiner Subjektivierung und Modernisierung des Epos, die wohl mit dazu führte,ein Ausreifen der Dichtung zu verhindern. Der spätere Goethe spielte mit demGedanken, den Stoff der Achilleis als Roman zu behandeln54. Auch wenn sichdieser Gedanke als undurchführbar erwies, so deutet er doch an, daß die Formdes heroischen Epos historisch überholt und durch den Roman als neue epischeGattung ersetzt war.

III

Diese Erkenntnis war bereits zu Goethes Zeiten alt. Schon im XVII. Jahr-hundert war es üblich geworden, die Gattung des Romans dadurch zu defi-nieren, daß man sie in Bezug zum Epos brachte. Huets Tratte de lyorigine desRomans von 1670 zum Beispiel bestimmte den Roman als eine Dichtungsform,die sich vom hohen Epos dadurch unterscheidet, daß sie statt eines kriegerischenoder politischen Gegenstandes eine Liebesgeschichte behandelt und daß sie inschlichterem Stil und ohne den ins Reich des Wunderbaren gehörigen Schmuckdes Epos vorgetragen wird55. Ganz offensichtlich läßt die niedrigere Stillage einfeierliches Proömium mit Musenanrufen nicht zu; und da die Wahrscheinlich-keit nachdrücklich als Erfordernis der Romanerzählung genannt ist, wird ihreLegitimation durch göttliche Begeisterung des Dichters auch überflüssig.

Huets Tratte war von bestimmendem Einfluß auf das Kapitel Von mile-sischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen in Gottscheds Critischer Dicht-kunst**. Wie bei dem französischen Theoretiker sind hier Epopöe und Romannach ihren Gegenständen unterschieden, und beiden wird — auch das nachHuets Vorbild57 — streng geordnete Einheit der Handlung vorgeschrieben. Ichweiß wohl, merkt Gottsched an58, daß viele sich wundern werden, daß ich denLiebesgeschichten eben das Joch auflegen wolle, welches die Heldendichter sodrücket. Allein ich kann nichts dafür, daß die besten unter den alten Roman-

53 Brief an Schiller vom 16. V. 1798.54 Vgl. den Beridit Riemers, zit. in: Goethe: Werke, HA, II 693 f.55 Huet: Traite de l'Qrigine des Romans, Ndr. Stuttgart 1966, mit Nachwort von

H. Hinterhäuser; vgl. 6 f.56 Das fragliche Kapitel findet sich erst in der 4. Auflage; vgl. den Ndr. Darmstadt

1962, 505 ff. Vgl. zu Gottscheds Romanpoetik W. Voßkamp: Romantheorie inDeutschland von Martin Opitz bis van Blanckenburg, Stuttgart 1973,148 ff.

57 Vgl. Huet, aaO. (Anm. 55) 44 f.58 Cm. Diatkumt aaO. (Anm. 11) 515.

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Schreibern hierinn den Homer nachgeahmet. Daher gilt die Regel: Eine einzigeHaupthandlung, die auf eine Liebe hinausläuft, ist derjenige Zweck, wohin allesabzielet. Im übrigen aber trennt Gottsched Epos und Roman sdiarP: Vorallem muß der Roman auf den wunderbaren Einfluß der Götter, der Geister,Hexen, u. d. m. verzichten. Damit in engem Zusammenhang steht die Forde-rung nach einer einfachen Sprache: Je näher also die Schreibart in Romanender historischen kömmt, desto schöner ist sie. Diese Regeln schließen im Romandie Verwendung epischer Stilmittel und Gestaltungskonventionen aus, beson-ders auch den Musenanruf. Diesen hatte Gottsched im Epos noch für nötiggehalten, weil dort wunderbare Dinge berichtet würden, deren Kenntnis nurdurch die Eingebung einer Gottheit plausibel gemacht werden könne60.

Daß man — offensichtlich unter dem Eindruck Huets — Epos und Romanwie die anspruchsvollere und die bescheidenere Ausprägung einer einzigenDichtungsart betrachtete, läßt sich mit Ewald von Kleists martialischem Kurz-epos Cissides und Faches belegen. Zwar hält sich der Text in der gehobenenTonlage der epischen Tradition und schmückt sich mit ausladenden homerisie-renden Vergleichen, aber der Autor gibt im Vorbericht zu verstehen, daß erkein Heldengedicht, sondern nur einen kleinen kriegerischen Roman habe schrei-ben wollen61. Zu dieser zurückhaltenden Rubrizierung des Werks ist es offenbarnur wegen seiner Kürze und wegen der Beschränkung auf einen einzigen, leichtüberschaubaren Vorgang gekommen. Jedenfalls hat sich Kleist hier wederdurch die Benutzung des Verses noch auch durch den einleitenden Musenanrufund den dadurch festgelegten hohen Ton von der Qualifizierung als Romanabhalten lassen.

Möglich war eine solche Verwendung der Gattungsbegriffe geworden, weilHuet und Gottsched den Roman als niedere Form neben das Epos stellten,ohne die beiden Gattungen historisch voneinander abzusetzen. Daß die Epopöeim Stil Homers einem früheren Weltzustand angehört und daß unter anderenkulturellen Bedingungen der Roman als neue epische Gattung an ihre Stelletritt, daß also — allgemeiner gesprochen — die Dichtungsformen historischbetrachtet werden müssen, ist ihnen ein noch unvollziehbarer Gedanke. Aller-dings gewinnt der Roman zunehmend an Prestige. Der Vergleich des Wieland-schen Agathon mit dem Messias konnte zu der Erkenntnis führen62, daß imReiche der poetischen Literatur der Romanen-Dichter und der epische Sängergleich ansehnliche Mitbürger sind. Einen Ansatz zur Anerkennung der histo-rischen Legitimität des Romans mag man bereits darin finden, daß ein GedichtGellerts Homer und Richardson vergleicht und zu dem Schluß kommt, beiChristen werde Ridhardson weit höher geschätzt63.

59 Ebd. 528.60 Ebd. 496.61 E. v. Kleist: SW, Carlsruhe 1776, II 34.62 CH. Sdimid: Portsetzung der krit. N achrichten vom tetttschen Parnaß, in: Teut-

scher Merkur 1773, IV 250. Zu Sdimids theoretlsdier Einschätzung des Romans vgl.Voßkamp, aaO. (Anm. 56) 166 f.

03 Geliert: Ueber Richardsons Bildnis, zit. nadi E, Sdimidt: Richardson, Rousseau undGoethe, Ndr. Jena 1924, 19.

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Einen entscheidenden Schritt zur historischen Unterscheidung der beidenDichtungsgattungen tut Christian Friedrich von Blandkenburgs Versuch überden Roman von 1774. Er betrachtet die Sitten der Zeit als entscheidend dafür,ob ein heroisches Epos oder ein Roman entsteht: Der erste Romandicbtery soBlanckenburg64, würde unter den Bedingungen des heroischen Altertums an statteinen Roman zu schreiben, gewiß eine Epopee geschrieben haben. Und umge-kehrt hat in der Moderne das Heldengedicht an Interesse verloren85. DieseUnterschiede betreffen nicht nur den Gegenstand der Erzählung, sondern auchden Darstellungsstil und die Tonlage: Es würde, meint Blanckenburg66, sehrpretiös und sehr unwahrscheinlich klingen, wenn ein Romanendichter den epi-schen Ton anstimmen wollte.

Ganz ähnlich äußert sich ein Romancier wie Johann Carl Wezel in derVorrede zu seinem Roman Hermann und Ulrike (1780)67: Das bisher so ge-nannte Heldengedicht und der Roman unterscheiden sich bloß durch den Tonder Sprache, der Charaktere und Situationen: alles ist in jenem poetisch, allesmuß in diesem menschlich, alles dort zum Ideale hinaufgeschraubt, alles hier inder Stimmung des wirklichen Lebens sein [...]· Die bürgerliche Epopöe [sonennt Wezel den Roman] nimmt durchaus in ihrem erzählenden Teile dieMiene der Geschichte an, beginnt in dem bescheidenen Tone des Geschichts-schreibers, ohne pomphafte Ankündigung, und erhebt und senkt sich mit ihrenGegenständen. Mit solcher Verpflichtung auf eine niedere Tonlage scheint imRoman der Musenanruf unmöglich geworden zu sein. Er wäre doch die pomp-hafte Ankündigung, die Wezel ausdrücklich verbietet. Und doch tritt die Musegelegentlich im Kontext des Romans auf, beispielsweise im Belphegor Wezelsselbst. Dort heißt es, allerdings nicht zu Beginn des Werks, sondern bei derSchilderung eines anmutigen Tals, das der Held der Erzählung nach großenAnstrengungen erreicht68: Wenn die Musen gegen einen Prosaisten nicht etwasspröde wären, so rief ich sie mit lautem Schreyen um ihren Beystand bey derSchilderung eines der schönsten Thäler an; aber so muß ein armer Verfasser inungebundener Rede die Sache allein bestreiten. Will indessen eine sich herab-lassen, meinen Pinsel zu führen, so greife sie zu! Im Tobias Knaut benutztWezel die Beteuerungsformel69: Ich schwöre es euch bey den Nachthemden allerMusen zu! Und Johann Gottlieb Schulz bedient sich in seinem Wendelin vonKarlsberg einer regelrechten Invocatio70: Stehe mir bey Apollo! und du Mel-pomene mit deinen acht Schwestern! daß sieb meine Feder dieses Gegenstandeswürdig betrage. Diese Reminiszenzen an den epischen Stil stehen nicht allein.In der Miß Fanny Wilkes von Johann Timotheus Hermes findet sich eine ent-64 C. F. v. Blanckenburg: Versuch über den Roman, Ndr. Stuttgart 1965, S. XIII.05 Ebd. 15, Anm. g.68 Ebd. 21.87 J. C. Wezel: Hermann und Ulrike, hg. v. C. G. v. Maassen, München 1919, I,

S.XLIVf.68 J. C. Wezel: Belphegor (zuerst 1776), hier zit. nach der Ausg. Frankfurt 1965,

hg. v. H.Gersch, 191.69 J.C. Wezel: Tobias Knaut (1775), Ndr. Stuttgart 1971, III 44.70 Q. G. Schulz): Wendelin von Karlsberg oder der Don Quixott des achtzehnten Jahr-

nunderts, Leipzig 1789, 49.

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sprediende Stelle71. Und im Teutschen Don Quichotte des Wilhelm EhrenfriedNeugebauer steht sogar zu Beginn des Romans eine Stoffansage und ein Musen-anruf ganz nach epischem Muster72: O Aufgeräumte und allzeit lächelnde Muse,die du den grossen Cervantes und scherzhaften Marivaux beseelest, welche DuMotdinet, Skarron und fielding verehrten, du zeige mir die grosse Thaten,wovon einst Teutschland der Ruhmvolle Schauplaz war ...

Welche Funktion können diese ironischen Anrufungen der Muse innerhalbdes Romans haben? Sie sind sicher bisweilen ganz einfach aus dem komischenEpos als humoristischer Erzählschnörkel entlehnt. Bei Neugebauer dient dieInvocatio der parodistischen Kritik am mythologisch aufgeschmiickten Stilder heroisch-galanten Romane. Aber es spielt sicher auch die Absicht mit, daßdie literarisch noch nicht voll anerkannte Gattung des Romans durch absichts-voll eingesetzte Reminiszenzen an das Epos ihren poetologisdien Ort deutlichzu machen versuchte. Es ist oben daran erinnert worden, daß die zeitgenössischeDichtungstheorie den Roman als einen Abkömmling der epischen Gattungdefinierte. Solche ehrenvolle Verwandtschaft suchten die Romanciers in denTexten ihrer Werke bewußt zu machen, wobei allerdings wegen des Abstandszum hohen heroischen Ton ein epischer Topos wie der Musenanruf nicht invollem Ernst, sondern nur parodistisch aufgenommen werden konnte. Daßdiese Absicht auf Legitimierung der Gattung in der Tat wichtig war, läßt sichbei einem der bedeutendsten Romanciers des XVIII. Jahrhunderts, bei HenryFielding, deutlich erkennen. Bekanntlich hatte er in der Vorrede des JosephAndrews den Roman als komisches Epos in Prosaform definiert. Im Tom Jonesdiskutieren dann die Einleitungskapitel der einzelnen Bücher Probleme desRomanerzählens und nehmen dabei gelegentlich auch den Musenanruf und dieFrage nach der Inspiration des Autors auf. Zu Beginn des 13. Buches wird unterdem Titel An Invocation ausdrücklich die epische Muse beschworen, die Homer,Vergil und Milton begeistert hat. In ein ironisches Licht gerät diese Anrufungdadurch, daß ihr sogleich eine weitere folgt, die sich an die üppige Schutz-göttin des modernen Buchhandels wendet: von ihr erhofft der Erzähler nichtInspiration sondern „lockende Belohnungen"73.

Anschließend jedoch werden jene Kräfte beschworen, die dem Autor deskomischen Romans unentbehrlich sind: Genius, Humanity, Learning,Experience™. Das geschieht zwar noch in einem durchaus feierlichen Ton, abermit Ausnahme des Genius (der als Giß of heaven bezeichnet wird) handelt essich um Eigenschaften und erworbene Talente des Autors selbst, nicht mehr umeine göttliche Instanz, die den epischen Vorgang stützen und inspirieren sollte.In solcher Abwandlung des Anrufungstopos bestätigt sich Goethes Diktum, derRoman sei eine subjektive Epopöe75. Trotz aller Subjektivierung aber finden71 J. T. Hermes: Gesa, der Miß Fanny Wilkes (zuerst 1769), hier zit. nadi21770,111.72 (W. E. Neugebauer): Der teutsche Don Quichotte, Oder die Begebenheiten des

Marggraf von Bellamonte (1753), Ndr. Stuttgart 1971, 1. Weitere Musen-An-rufungen 83, 189, 208, 231, 305.

73 H. Fielding: Tom Jones XIII/1, London/Glasgow 1964, 546 f.74 Ebd. 547 f.75 Goethe: Maximen und Reflexionen Nr. 133 (Hecker).

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sich noch gelegentlich Erinnerungen ans alte Epos und seine Musenbeschwörun-gen. Bei der Inszenierung seiner Geschichte etwa beruft sich der Erzähler aufgöttliche Anordnungen78: But if the historic muse hatb entrusted me with anysecrets, I will by no means be guilty of discovenng tbem till she shall give meleave. Eine Kapitelüberschrift lautet77: A Battle sung by the Muse in theHomerican Stile, and which none but the classical Reader can taste. Die Invo-catio bleibt hier jedoch ironisch-unbestimmt: Ye Muses then, wboever ye are ...Später wird unter Zitierung Shaftesburys ausgesprochen, daß die Anrufung derMuse bei einem modernen diristlidien Autor unmöglich und absurd sei. Manwende sich besser an einen Krug voll Bier, wie es Butler im Hudibras getanhabe, weil durch dieses Mittel doch wohl mehr Poesie und Prosa inspiriert wor-den sei als durch alle Wasser des Helikon und der Hippokrene.

Fielding ist nicht der einzige englische Romancier, der auf solche Weise mitdem alten epischen Topos spielt. Audi Laurence Sterne schiebt eine Anrufungin seinen Tristram Shandy ein78: Gentle Spirit of sweetest humour, who erstdid sit upon the easy pen of my beloved Cervantes [...]. — Turn in hither,I beseech theel Solche Reminiszenzen an den Stil des hohen Epos sind im humo-ristischen Roman nur als Anspielung oder als Episode möglich. In FieldingsJoseph Andrews wird deutlich, daß der Ton der Muse vom gewöhnlichen Stildes Romanschreibers gänzlich verschieden ist. Nachdem der Kampf des Titel-helden und des Parson Adams gegen eine Meute Jagdhunde im Stil der Iliasbeschrieben worden ist, schaltet der Erzähler folgende Bemerkung ein79: Tbusfar the muse hath with her usual dignity related this prodigious battle [...],and, having brought it to a conclusion, she ceased; we shall therefore proceedin our ordinary style with the continuation of this history. Das heißt: Im lockergefügten, mit vielen Abschweifungen durchsetzten humoristischen Roman sindsolche parodistisdien Exkurse oder auch anspielungsreiche Reflexionen über dieepische Vortragsweise möglich.

Ansonsten aber wird der Abstand zum Epos deutlich sichtbar bleiben müs-sen. Daß der Bezug zu epischen Stilelementen gesucht wird und daß Fieldingden Roman als comic epic poem in prose zu bestimmen versuchte, hängt mitder Bemühung zusammen, der Gattung bei den im klassizistischen Geschmackgebildeten Lesern und Kritikern Anklang zu verschaffen80. Daß aber der Romanin Prosa geschrieben ist und einen anderen, unheroischen Ton beobachtet, mar-kiert die Differenz zum Heldengedicht der homerischen Tradition und läßtderen Topoi und Haltungen im Roman kaum anders als parodistisch anwend-bar erscheinen. Selbst F&nelons Telemaque, der doch eine Geschichte aus derhomerischen Welt erzählt und im XVIII. Jahrhundert häufig als Beweis für die

™ Tom Jenes II/6, 87.77 Tom Jones IV/8, 147.78 L. Sterne: Tristram Sbandy IX/24, London/Glasgow 1955, 475 f.79 Fielding: Joseph Andrews HI/6, London/New York 1962, 187 f.80 L Watt: The Rise of the Novel, zit. nach der Ausg. der Pelican Books 1962, 282 f.,

294.

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Möglichkeit eines Prosa-Epos betrachtet wurde81, eröffnet keines seiner 18Bücher mit einem Musenanruf. Voltaire hatte zweifellos recht, als er in seinemEssai sur le poeme epique den Telimaque als Prosa-Roman entschieden vomklassischen Epos abhob. Die langen und detaillierten politisch-didaktischenExkurse hätten sich wohl kaum angemessen in den homerischen Ton übertragenlassen82. Ein Muscnanruf wäre deshalb aber an sich nicht unmöglich gewesen,weil in der antiken Literatur Invokationen auch bei durchaus unpoetischenUnternehmen benutzt wurden. Lukrez, der eine materialistisch-aufklärerischePhilosophie verbreiten will und ausdrücklich gegen die „Schreckbilder derDichter" zu Felde zieht83, bittet zu Beginn seines großen Lehrgedichts um denBeistand der Venus. Am Anfang des 4. Buches ruft er die Musen ausführlich an,damit sie seiner neuen Lehre beim Leser Eingang verschaffen. Quintilian wendetsich zu Beginn des 4. Buchs seiner Institutiones, dem Beispiel der Dichter fol-gend, an die Götter; und auch Livius würde eine Invocatio an den Anfangseines Gesdiichtswerks stellen, si, ut poetis, nobis quoque mos esset84. SolcheWendungen sind verständlich vor dem Hintergrund der antiken Oberzeugung,daß die Musen nicht nur Schutzgöttinnen der Poesie, sondern aller „höherenFormen des Geisteslebens" sind85. Bekanntlich wird die Philosophie bei Platonals , als die größte Musenkunst, bezeichnet86. Diese Überzeu-gung hinterläßt noch gelegentlich Spuren in der wissenschaftlichen Literatur desXVIII. Jahrhunderts. In Montesquieus Esprit des Lois (von 1748) findet sichgenau in der Mitte des Werks eine Invocation aux Muses87: Vierges du montPierie, entendez-vous le nom que je vous donne? [...] Mettez dans mon espritce aarme et cette douceur que je sentais autrefois et qui fuit loin de moi.

Das war jedoch ein seltener Einzelfall. Auch im Roman bleibt der Musen-anruf Beiwerk, das in dem Maß verschwindet, als die Gattung ihrer selbstsicher wird, eigene Stoffbereiche erschließt und eigene Ausdrucksformen ent-wickelt. Selbst die im XVIL und XVIII. Jahrhundert weithin übliche Roman-vorrede, die auf das rhetorische Proömium wie auf die epische Eingangswen-dung als Vorformen zurückweist88, enthält sich fast immer der klassischenInvocatio. Die seit Homer eingebürgerten epischen Stilmittel waren dem Er-zählton des Romans kaum zu assimilieren, insbesondere nicht dem empfind-samen Roman mit seinem moralisierenden Erzählinteresse und seiner gefühl-vollen Intimität im Erzähler-Leser-Verhältnis, Das heldisch-aristokratische81 Vgl. etwa Ramsays Discours de la poesie epique et de fexcellence du poeme de

Telemaque (1717) und Fieldings Vorrede zum Joseph Andrews, aaO. (Anm. 79)S. XVIL Ferner Klopstock: Werke, Göschen, Leipzig 1856/57, X 10, und GoethesBrief vom 27. IX. 1766. Vgl. audi A.Jäger: Empfindsamkeit und Roman, Stuttgart1969, 105.

82 Voltaire: CEuvres compl. (Moland), VIII 361.83 Lukrez: De rerum natura I 103.84 Quintilian IV, prooem. §§ 4 f. Livius I, Praefatio § 13.85 Vgl. E.R.Curtius, aaO. (Anm. 8) 235, mit Hinweis auf Cicero Tusc. V 23, 66:

cum Musis, id est, cum bumanitate et doctrina.86 Platon: Pbaidon 61 A.87 Montesquieu: De l'esprit des lois} hg. v. G. Truc, Paris o. J., II 7.88 H. Ehrenzeller: St. zur Romanvorrede von Grimmeishausen bis Jean Paul, Bern

1955, 19 ff., 29 ff.

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Ethos der großen Epik wurde von einem Autor wie Samuel Richardson alsfremd und geradezu verwerflich erlebt. Bei ihm fehlten daher alle Voraus-setzungen, die zu einer Betonung von Affinitäten zwischen Roman und Eposhätten führen können89. Auch für parodistische Anklänge ist hier kein Raum.Sie sind nur in den komischen Romanen möglich, die bisweilen die Geschichteder epischen Dichtungsformen, die Fiktionsproblematik und die Erzählsituationausdrücklich reflektieren. Dabei kann dann auch ironisch eine Inspiration durchdie Musen als Legitimation des Erzählers oder als Garantie für die Wahrheitdes Erzählten angeführt werden.

Beim bedeutendsten deutschen Romanautor des XVIII. Jahrhunderts, beiWieland, findet sich, soweit ersichtlich, keine Invocatio. Hier ist eine gesprächs-hafte Vermittlung der Erzählung angestrebt, die von der repräsentativen Dar-stellungsform der älteren Epen und auch von Wielands eigenem Cyras völligverschieden ist. Meist wird die erzählte Geschichte durch die Berufung auf einefrühere Darstellung (Agathon), auf Dokumente (Der Nachlaß des Diogenes)oder auf eine ganze .Kette von Vermittlungsinstanzen (Der goldene Spiegel)legitimiert. Wenn der Erzähler sein Wissen auf diese Weise rechtfertigt — mager das nun mit offener Ironie oder ernsthaft tun —, dann schließt das alle Ein-wirkung der Muse aus.

Das Verschwinden der klassischen Eingangstopoi zeigt als bezeichnendesund schon dem ersten Blick erkennbares Detail den Wandel der epischen Dich-tungsformen im XVIII. Jahrhundert. Nach den letzten Versuchen Goethes stehtdie Unwiederholbarkeit des heroischen Epos allen wichtigen Theoretikern fest.Schon Wilhelm von Humboldts große Untersuchung zu Hermann und Doro-thea, die Goethes Dichtung als bürgerliche Epopee auffaßte, gelangte zu derallgemeinen Feststellung90, daß der prächtige Glanz der [heroischen] Epopee[...] mit dem Sinken der griechischen Sonne erloschen sei. Bei Hegel, bei Wien-barg und Friedrich Theodor Vischer lassen sich ähnliche Bemerkungen nach-weisen91. Und auch Karl Marx fragte92: Ist Achilles möglich mit Pulver undBlei? Oder überhaupt die Iliade mit der Druckerpresse und der Druckmaschine?Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendigauf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie?

Gleichwohl bleiben Spuren des Epos im Roman erhalten: Bei ThomasMann finden sich gelegentlich Aufnahmen des Musenanrufs, etwa im DoktorFaustus oder im Joseph> wo der Erzähler auf Ereignisse vorausdeutet, zu derengenauer und würdiger Schilderung er um die Stärkung der Muse bittet*5.Gustav Frenssen sucht zu Beginn von Hilligenlei den Anklang an KlopstocksMessias94: Und nun, meine Seele, muhselige, mutige, erzähle von einem, der

89 VgL dazu I. Watt: The Rise of the Novel, 276, 280.90 W. v. Humboldt, aaO. (Anm. 50) II 307 f.fll Hegel: Ästhetik, aaO. (Anm. 7) II 468 f.; L. Wienbarg: Ästbetisae Feldzüge, 19. u.

20. Vorlesung; F. Th. Vischer: Aesthetik, § 879.n K. Marx: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW XIII 640 f.98 Th. Mann: Werke, Frankfurt 1960, V 1323; vgl. auch den Doktor Faustus, in:

Werke VI 204.94 G. Frenssen: Hilligenlei, Berlin 1905, 2.

10 Arcadia 10

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unruhevoll das Heilige suchte. Heimito von Dodcrer glaubte gar an ein ver-decktes, aber allgegenwärtiges Fortwirken des Epos95: Unter jeder erzählendenProsa rauscht heute noch kryptisch der epische Vers, der oft in ihre sdvlithtenund glatten Straßen die seltsamsten Bodenwellen bringt. Und Walter Benjaminmeinte in den „feierlichen Stellen" der homerischen Epen, „wie die Anrufungender Muse zu deren Beginn es sind", das „Musische des Romans" hören zu kön-nen00: „Was an diesen Stellen sich ankündigt, ist das verewigende Gedächtnisdes Romanciers im Gegensatz zu dem kurzweiligen des Erzählers. Das erste istdem e i n e n Helden geweiht, der e i n e n Irrfahrt oder dem e i n e n Kampf;das zweite den v i e l e n zerstreuten Begebenheiten. Es ist, mit anderen Wor-ten, das E i n g e d e n k e n , das als das Musische des Romans dem Ge-d ä c h t n i s , dem Musischen der Erzählung, zur Seite tritt, nachdem sich mitdem Zerfall des Epos die Einheit ihres Ursprungs in der Erinnerung geschiedenhatte.«

Dieser Überlegung Benjamins nachzugehen, hieße sich auf eine spekulativeRomantheorie einzulassen. Hier ist nur beabsichtigt, Zeugnisse dafür beizubrin-gen, daß auch im modernen Roman, der sich im XVIII. Jahrhundert ent-wickelte, gelegentlich noch ein Echo der epischen Diditungsform gehört wird.Im ganzen aber spiegelt das Verschwinden des Epos und der Siegeszug des bür-gerlichen Romans die tiefe Krise des XVIII. Jahrhunderts, die auch im Litera-rischen zu einer Revolution führte. Die antike Tradition, die bis dahin dieeuropäische Literatur wesentlich mitbestimmt hatte, erfuhr einen definitivenBruch97. Epigonale und restaurative Versuche der Erneuerung, wie sie das XIX.Jahrhundert hervorbrachte, können darüber nidit hinwegtäuschen.

Die hier gebotenen Textbelege und die auf ihnen fußenden Überlegungensollten am kleinen, aber signifikanten Detail der Musen-Invocatio die Kriseder epischen Diditungsformen im XVIII. Jahrhundert, das heißt ihr Ausein-anderfallen und ihren gleichwohl durch den historischen Rückbezug bestehendenZusammenhang anschaulich machen. Ans Licht kam dabei, daß es zunächst nochstarke Bemühungen gab, die Tradition der heroischen und religiösen Epopöefortzusetzen. Ferner zeigte sich eine verbreitete Freude an parodistischen Um-kehrungen der Form im komischen Epos, die fortschreitend zur Idylle oder zumironischen Zerspielen der epischen Substanz strebte. Die neue Form des bürger-lichen Romans zeigt in ihrer komischen Ausprägung bisweilen Reminiszenzenans alte Epos. Sie sind unmöglich geworden im empfindsamen und im reali-stischen Roman, die um Intimität und Authentizität des Erzähltons bemühtsind und daher dem Ethos und dem repräsentativen Anspruch der heroischenEpopöe absagen mußten. Damit aber verschwand das homerisierende Epos ausdem Kanon der lebendigen Dichtungsgattungen, und die Anrufung der epischenMuse verstummte.

95 . H. v. Doderer: Grundlagen und Funktion des Romans, Nürnberg o. J., 29.98 W.Benjamin: Der Erzähler, in: S dir., Frankfurt 1955, II 246.97 Vgl. E. R. Curtius, aaO. (Anm. 8) 248, für den hier verfolgten Zusammenhang.

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