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SPÄTE LEHREN AUS FRÜHEN WARNUNGEN: DAS VORSORGEPRINZIP 1896—2000

DAS VORSORGEPRINZIP 1896—2000 - Umweltbundesamt · 2001 die Monographie „Späte Lehren aus frühen Warnungen: Das Vorsorgeprinzip 1896–2000“ in englischer Sprache veröffentlicht

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SPÄTE LEHRENAUS FRÜHEN WARNUNGEN:

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Kontakt:UmweltbundesamtPostfach 33 00 2214191 BerlinTelefax: (030) 8903 2285Internet: www.umweltbundesamt.deE-mail: [email protected] auf Recyclingpapier aus 100 % Altpapier

2040-Titel-Variante1 20.04.2004 17:06 Uhr Seite 1

Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe:

Umweltbundesamt (UBA)Postfach 33 00 2214191 BerlinTelefon: (030) 8903-0Telefax: (030) 8903 2285Internet: http://www.umweltbundesamt.de

Herausgeber der englischsprachigen Originalausgabe:

Europäische UmweltagenturKongens Nytorv 6DK-1050 Kopenhagen KDänemarkTel: (45) 33 36 71 00Fax: (45) 33 36 71 99Internet: http://www.eea.eu.int

Englische Ausgabe: Late lessons from early warnings: Environmental issue report No 22 01/2002durch das Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften2 rue MercierL-2985 Luxemburgfür die Europäische UmweltagenturISBN 92-9167-232-4(c) Europäische Umweltagentur 2001

Redaktion: Poul HarremoësDavid GeeMalcolm MacGarvinAndy StirlingJane KeysBrian WynneSofia Guedes Vaz

Projektleitung: David Gee und Sofia Guedes VazEuropäische Umweltagentur

HinweisDie in dieser Veröffentlichung zum Ausdruck kommenden Meinungen entsprechen nicht unbedingt dem offiziellen Standpunkt derEuropäischen Kommission oder anderer Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft. Die Europäische Umweltagentur und die in derenAuftrag tätigen Personen übernehmen keine Haftung für die weitere Verwendung der in diesem Bericht enthaltenen Informationen.

Alle Rechte vorbehaltenKein Teil dieser Veröffentlichung darf ohne schriftliche Einwilligung des Urheberrechtsinhabers in irgendeiner Form oder durchirgendwelche Mittel, sei es elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopieren, Aufzeichnung oder jeglicher Systeme zurDatenspeicherung und -abfrage, vervielfältigt werden. Auskunft über Übersetzungs- oder Vervielfältigungsrechte erteilt der EUA-Projektleiter, Ove Caspersen (Anschrift siehe unten).

Zahlreiche weitere Informationen zur Europäischen Union sind über das Internet verfügbar. Auf sie kann über den Europa-Server unter(http://europa.eu.int) zugegriffen werden.

Bibliografische Daten befinden sich am Ende der Veröffentlichung.

Europäische UmweltagenturKongens Nytorv 6DK-1050 Kopenhagen KDänemarkTel: (45) 33 36 71 00Fax: (45) 33 36 71 99E-Mail: [email protected]: http://www.eea.eu.int

Druck: KOMAG mbH

Februar 2004

2040-Titel-Variante1 20.04.2004 17:06 Uhr Seite 2

SPÄTE LEHRENAUS FRÜHEN WARNUNGEN:

DAS VORSORGEPRINZIP 1896—2000

Die Europäische Umweltagentur (EEA) hat im Jahr2001 die Monographie „Späte Lehren aus frühenWarnungen: Das Vorsorgeprinzip 1896–2000“ inenglischer Sprache veröffentlicht. In dieser Studiewird untersucht, wie das Konzept der Vorsorge inden letzten hundert Jahren von politischen Ent-scheidungsträgern und -trägerinnen im Umgangmit einer Vielzahl von Risiken angewendet wur-de. Risiken, die Wirkungen auf die Gesundheitder Bevölkerung und die Umweltsituation inEuropa haben. Die Untersuchung befasst sich mitFällen, die von der Zerstörung der Ozonschichtdurch FCKW-Chemikalien bis zur „Rinderwahn-sinn“-Epidemie reichen. Fällen, in denen politi-sche Entscheidungen vor dem Hintergrund wis-senschaftlicher Unsicherheit oder überraschenderEntwicklungen getroffen oder in denen klare Be-weise für die Gefährdung der Bevölkerung undderen Umwelt zunächst ignoriert wurden.

Das Vorsorgeprinzip ist eine der Säulen des Um-weltschutzes in Deutschland. Umweltvorsorge tref-fen heißt, konkrete Umweltgefahren abzuwehren,Risiken für die Umwelt zu vermeiden oder wenigs-tens zu vermindern sowie vorausschauend auf dieGestaltung unserer Umwelt, die Entwicklung unse-rer natürlichen Lebensgrundlagen hinzuwirken.

Eine Umsetzung des Vorsorgeprinzips erfordert,dass die Umweltpolitik immer wieder neue Er-kenntnisse aufnimmt und auf diese reagiert.

Das Umweltbundesamt hat zusammen mit derEuropäischen Umweltagentur die Initiative ergrif-fen, eine deutsche Fassung der Studie „Späte Leh-ren aus frühen Warnungen: Das Vorsorgeprinzip1896–2000“ herauszugeben. Diese bedeutendeArbeit soll der Fachwelt und der interessiertenÖffentlichkeit auch in deutscher Sprache zugäng-lich gemacht werden. Der deutschen Ausgabe isteine Einleitung von Fachleuten des Umweltbun-desamtes und Bundesumweltministeriums voran-gestellt. Auch diese betont ausdrücklich den ho-hen Stellenwert der Vorsorgepolitik.

Ich danke der EEA für die Anfertigung der deut-schen Übersetzung dieser wertvollen Studie. DieHerausgabe der deutschen Version ist ein weite-rer Schritt der guten Zusammenarbeit zwischender Europäischen Umweltagentur und dem Um-weltbundesamt bei ihrem gemeinsamen Anlie-gen, dem Schutz der Umwelt, den gesundheit-lichen Belangen des Umweltschutzes und derVerwirklichung einer nachhaltigen Entwicklungzu dienen.

III

EIN VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Prof. Dr. Andreas TrogePräsident des Umweltbundesamtes

Mit dem Bericht „Späte Lehren aus frühen War-nungen: Das Vorsorgeprinzip 1896–2000“ liefertdie Europäische Umweltagentur einen wesentli-chen Beitrag zur Diskussion um das Vorsorge-prinzip. Nicht zufällig fällt die Veröffentlichungin eine Phase, in der sich Europa in der Chemi-kalienpolitik und beim Umgang mit gentech-nisch veränderten Organismen neu positioniert.In wirtschaftlich schwierigen Zeiten steigt dieAngst, ökonomische Chancen zu verpassen undKonkurrenten auf dem Weltmarkt Entwicklungs-felder überlassen zu müssen. Angst ist jedoch einschlechter politischer Berater. Detailliert undsachkundig setzt der vorliegende Bericht dieAnalyse von zwölf Fallbeispielen dagegen. Um-weltchemikalien, infektiöse Krankheiten, Aus-beutung natürlicher Ressourcen am BeispielFischfang – so sehr die Beispiele sich unterschei-den, so ähnlich ist doch das gesellschaftliche Re-aktionsmuster. Ersten Hinweisen auf Problemefolgt oft jahrzehntelange wissenschaftliche undgesellschaftliche Diskussion, oftmals begleitetvon politischer Untätigkeit. Zögerlichkeit, Unent-schlossenheit und bereitwillige Nachgiebigkeitgegenüber Lobbyinteressen haben in vielen Fäl-len zu hohen Kosten für die Volkswirtschaftengeführt. Asbest-Ruinen, die allenthalben unserestädtischen Landschaften zieren und von denender Berliner Palast der Republik die Prominen-

teste ist, sind sichtbare Denkmale für versäumteVorsorgepolitik.

Die daraus resultierenden volkswirtschaftlichenSchäden sind horrend. Sie übersteigen die Gewin-ne bei weitem, die sich Hersteller gefährlicher Gü-ter bis zum Zeitpunkt des Vermarktungsverbotsgutschreiben können. Im eigentlichen Sinn desWortes unermesslich sind jedoch die vermeidbarenSchäden am menschlichen Leben und seiner Ge-sundheit. Fallstudien zu Radioaktivität, Benzol undBSE zeigen dies mit bedrückender Deutlichkeit.

Nicht zuletzt die Diskussion über das Leitbild derNachhaltigen Entwicklung hat uns gelehrt, alledrei Säulen zu betrachten, auf denen zukunftsge-rechte Entwicklung beruht: Ökologische, ökono-mische und soziale Aspekte von Maßnahmen undEntwicklungen müssen in ihrer Vernetzung be-trachtet werden, wobei die Tragekapazität desNaturhaushaltes als letzte, unüberwindlicheSchranke für alle menschlichen Aktivitäten ak-zeptiert werden muss. Die wirtschaftliche und so-ziale Entwicklung in Politik- und Handlungskon-zepten mit den Erfordernissen des Umweltschut-zes in Übereinstimmung zu bringen, ist die der-zeit wohl größte Herausforderung für die Politik.Schlechte wirtschaftliche Randbedingungen er-schweren diese Aufgabe.

IV

EINE EINLEITUNG ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

In der Europäischen Union gehört es inzwischenzur allgemeinen Praxis, zu allen Maßnahmen desGesundheits- und Umweltschutzes Kosten-Nutzen-Analysen durchzuführen. Ziel ist es, die positivenwirtschaftlichen Wirkungen von Umweltschutz-maßnahmen zu fördern und negative gering zuhalten. Die Kosten unterlassener Maßnahmenbleiben jedoch in vielen Fällen ungeprüft.

Gerade in Deutschland scheinen wir uns mit ei-nem nüchternen Herangehen an chemiepolitischeReformen – vornehmlich auf dem Gebiet des Um-welt- und Gesundheitsschutzes – schwer zu tun.Hohe Produktsicherheit wird nicht als Chance ei-ner innovationsfähigen und hoch technisiertenWirtschaft gesehen, sondern oftmals als wirt-schaftliche Bedrohung empfunden. So passiert eszuweilen, dass Firmen versuchen, Verbote der vonihnen produzierten umweltgefährlichen Chemika-lien Jahre hinauszuzögern. Statt sich dafür einzu-setzen, Gefahren frühzeitig zu erkennen, lässt derBundesverband der Deutschen Industrie kürzlichhochrechnen, dass eine Risikoprüfung aller Mas-senchemikalien der deutschen Wirtschaft unver-träglich hohe Kosten aufbürden und hunderttau-sende von Menschen arbeitslos machen würde.Solche Studien, deren Methoden und Annahmeneiner kritischen Prüfung nicht standhalten, er-schweren es, dem Umwelt- und Gesundheitsschutz

ebenso gerecht zu werden, wie den wirtschaftli-chen Anforderungen einer Industrienation.

Seit die Bundesregierung 1986 die „LeitlinienUmweltvorsorge“ veröffentlicht hat, ist das Vor-sorgeprinzip ein zentraler Pfeiler der Umwelt-und Gesundheitspolitik deutscher Regierungen.In diesen Leitlinien wird die Notwendigkeit derRisiko- und Zukunftsvorsorge herausgestellt. Risi-kovorsorge bedeutet, auch solche Schadensmög-lichkeiten in Betracht zu ziehen, „die sich nurdeshalb nicht ausschließen lassen, weil nach demderzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzu-sammenhänge weder bejaht noch verneint wer-den können und daher insoweit noch keine Ge-fahr, sondern nur ein Gefahrenverdacht oder einBesorgnispotential besteht.“

Der Zukunftsvorsorge wird am besten dadurchentsprochen, dass „umweltschonende Produkti-onsprozesse und Produkte entwickelt werden, dieEmissionen von umweltbelastenden Stoffen erstgar nicht entstehen lassen oder zumindest soweit wie möglich vermeiden“.

„Späte Lehren aus frühen Warnungen: Das Vor-sorgeprinzip 1896–2000“ verdeutlicht den hohenStellenwert des Vorsorgegedankens. Reparaturund Nachsorge sind dazu keine Alternative.

V

Andreas Gies Armin BaslerUmweltbundesamt Bundesministerium für Umwelt,Abteilungsleiter (Stoffbewertung, Gentechnik) Naturschutz und Reaktorsicherheit

(Referatsleiter Chemikalien,Risikobewertung und Risikomanagement)

Wissen und nicht wissen.Handeln oder nicht handeln …?

Aufgabe der Europäischen Umweltagentur (EUA)ist es, Informationen mit unmittelbarem Nutzenfür eine bessere Entscheidungsfindung und fürdie Beteiligung der Allgemeinheit bereitzustellen.Häufig liefern wir Informationen zu Themen, beidenen die Wissenschaft sich unsicher ist, geradein solchen Situationen gewinnt das im Maas-trichter Vertrag über die Europäische Union ver-ankerte Vorsorgeprinzip zunehmend an Bedeu-tung. Mit der wachsenden Innovationskraft derWissenschaft kann offenkundig ihre Fähigkeit,die Folgen der Anwendung ihrer Erkenntnissevorherzusagen, nicht Schritt halten. Demgegen-über vergrößert sich allerdings mit dem Ausmaßmenschlicher Eingriffe in die Natur die Gefahr,dass sie schwerwiegende und weltweite Folgennach sich ziehen. Eine Bestandsaufnahme derbisher gemachten Erfahrungen ist daher wichtig,denn nur so können wir lernen, wie wir uns densich verändernden Gegebenheiten stellen undunsere Aktivitäten, insbesondere was die Bereit-stellung von Informationen und das Erkennenfrühzeitiger Warnungen anbelangt, besser gestal-ten können.

Im Mittelpunkt des Berichts „Späte Lehren ausfrühen Warnungen“ steht das Sammeln von In-formationen über die Risiken der wirtschaftli-chen Aktivitäten des Menschen und die Verwer-tung dieser Informationen in Form von Maßnah-men zum Schutz der Umwelt und zur Gesunder-haltung der Spezies und Ökosysteme, die auf die-se Umwelt angewiesen sind, damit wir mit denFolgen weiter leben können.

Dem Bericht liegen Fallstudien zugrunde. DieAufgabenstellung der Autoren der Fallstudien,allesamt Fachleute auf ihrem Spezialgebiet derUmweltrisiken, von Sicherheit und Gesundheits-schutz bei der Arbeit und Verbraucherschutz,lautete, festzustellen, wann erstmals Warn-zeichen auftraten, zu untersuchen, wie dieseInformationen genutzt oder auch nicht genutztwurden, um die Gefahren zu verringern, unddie aus dieser Handlungsweise entstandenenKosten, Nutzen und Lehren für die Zukunftdarzustellen.

Die Lehren, die sie aus ihren Fallgeschichten ab-leiteten, wurden von der Redaktion unter Feder-führung des wissenschaftlichen Beirats der EUAin zwölf „späten Lehren“ zusammengefasst. In ei-ner gesonderten Veröffentlichung werden einzel-ne Implikationen dieser „späten Lehren“ für denpolitischen Prozess und die damit verbundenenInformationsflüsse eingehender beleuchtet.

Das Vorsorgeprinzip ist nicht nur in der Europäi-schen Union (EU) ein Thema – seine potenziellenFolgen für den Handel bedeuten, dass die An-wendung des Vorsorgeprinzips von globaler Trag-weite sein kann. Der aktuelle Dialog zwischender Europäischen Union und den USA über dieNutzung und Anwendbarkeit des Vorsorgeprin-zips wird zum Teil durch Verwirrung über dieBedeutung der in der Diskussion verwendetenBegriffe beeinträchtigt. Der vorliegende Berichtsoll zu einem besseren und gemeinsamen Ver-ständnis von Entscheidungen der Vergangenheitüber riskante Technologien und damit, so hoffenwir, zu einem besseren transatlantischen Einver-nehmen über künftige Entscheidungen beitra-gen. Der Bericht kann außerdem den Dialog in-nerhalb der EU und der Vereinigten Staaten un-terstützen, wo es bereits nützliche Debatten überPro und Kontra der Anwendbarkeit des Vorsorge-prinzips gibt.

Dass wir alle auf zahlreichen Gebieten zu spätgehandelt haben, streitet heute niemand ab. Inden kommenden 50 Jahren wird es mit demHeranwachsen der Kinder von heute einigeTausend Hautkrebsfälle mehr als bisher geben,denn sie sind der stärkeren UV-Strahlung ausge-setzt, die durch das durch Fluorchlorkohlenwas-serstoffe (FCKW) und andere synthetische che-mische Stoffe entstandene Loch in der schützen-den Ozonschicht in die Erdatmosphäre ein-dringt. Im gleichen Zeitraum werden vieleTausend Europäer an Mesotheliomen sterben,die durch das Einatmen von Asbeststaub ausge-löst werden, und die eine der schmerzhaftestenund kaum heilbaren Krebsarten darstellen. Inbeiden Fällen wurden wir völlig überrascht: DieRisiken dieser nützlichen Technologien bliebenso lange „unbekannt“, bis es zu spät war, ihreunumkehrbaren Folgen zu stoppen. Bei beidenFällen war die Latenzzeit zwischen dem ersten

1

VORWORT

Auftreten der Belastung und den Spätfolgen solang, dass jahrzehntelang Kettenreaktionennicht mehr aufhaltbarer Folgen eintraten, bevorMaßnahmen ergriffen wurden, um eine weitereBelastung zu unterbinden.

Die ersten Meldungen über Strahlungsschädenreichen bis in das Jahr 1896 zurück (daher auchder Titel des vorliegenden Berichts). Die erste ein-deutige und glaubhafte Warnung vor Asbest folg-te zwei Jahre später, 1898. Ein ähnliches Signalzum Handeln in Bezug auf FCKW datiert ausdem Jahr 1974, wobei argumentiert werdenkann, dass es bereits früher unübersehbare Hin-weise gab, die jedoch nicht ernst genommenwurden. Der Bericht beschreibt elf weitere, all-seits bekannte Risiken. Der Leser ist aufgefordert,sich selbst ein Bild davon zu machen, ob – wie imFalle von Asbest und FCKW – die frühzeitigenWarnzeichen ein zeitigeres Handeln hätten aus-lösen können, mit dem die Risiken bei geringe-ren Gesamtkosten für die Gesellschaft hätten ver-mindert werden können.

Die Kosten von Präventionsmaßnahmen sind imRegelfall kalkulierbar, eindeutig zuzuweisen undfallen häufig nur über einen begrenzten Zeit-raum an, während die Kosten unterlassenen Han-delns weniger kalkulierbar, weniger eindeutigverteilt und im Allgemeinen längerfristig anfal-len und somit die Regierungen vor schwierigeProbleme stellen. Die Abwägung des Für und Wi-der von Handeln oder Untätigkeit stellt sich da-her, wie die Fallstudien veranschaulichen, als ei-ne äußerst schwierige Aufgabe dar, bei der so-wohl ethische als auch wirtschaftliche Überle-gungen einbezogen werden müssen.

Eine zentrale Frage, die sich aus den Fallstudienergibt, lautet: Wie erkennt man und wie reagiertman nicht nur auf wissenschaftliche Unsicher-heit, sondern auch auf Unkenntnis, also den Zu-stand des Nichtwissens, einer Quelle wissen-schaftlicher Entdeckungen, aber auch böser„Überraschungen“ wie Ozonlöcher und seltenerKrebsarten? Sokrates formulierte eine Antwortauf diese Frage, als er die Unkenntnis als Quelleder Weisheit erkannte. Der Bericht zeigt, dassdies eine Lehre aus der Geschichte ist, die vieleMenschen vergessen haben. Die unangebrachte„Gewissheit“ über das Nichtvorhandensein vonRisiken spielte bei der verspäteten Einleitung vonPräventionsmaßnahmen in den meisten Fallstudi-en eine entscheidende Rolle. Die Behauptungvon Wissen hat jedoch sicherlich nichts mit Wis-

senschaft zu tun. Eine solche „Gewissheit“ trägtwenig dazu bei, Unkenntnis zu verringern; not-wendig hierfür sind vielmehr wissenschaftlicheForschung und Langzeitbeobachtung, um denunbeabsichtigten Folgen menschlichen Handelnsauf die Spur zu kommen.

Hätten wir die Risiken überhaupt frühzeitiger er-kennen oder voraussehen können? Gibt es Mög-lichkeiten „es genauer oder besser zu wissen“, diezu einer Rechtfertigung der Bezeichnung Homosapiens – der wissende Mensch – beitragen, diewir uns selbst zuerkannt haben.

Wer die in dem Bericht beschriebenen Fallstudi-en liest, könnte zu dem Schluss gelangen, dassnoch ein weiter Weg vor uns liegt. Einige dermöglichen Richtungen, die wir dabei einschla-gen könnten, zeigt das Kapitel „Zwölf späte Leh-ren“ anhand der Erkenntnisse aus den Fallstudi-en auf.

Ein Phänomen, das Sokrates vermutlich nichtbekannt war, das er aber wahrscheinlich bereitserahnt hat, ist die Tatsache, dass „alles irgend-wie zusammenhängt“ – oder dass zumindest soviele Dinge aufeinander reagieren, dass die ein-fache Wissenschaft der linearen, mechanisti-schen Deutungsansätze dringend um die dyna-mischen und sich ständig weiter entwickelndenEigenschaften der Systemwissenschaft ergänztwerden sollte. Die potenziellen systemimmanen-ten Instabilitäten von so komplexen Phänome-nen wie der Klimaänderung oder des Verhaltensder Gehirnzellen könnten entscheidende unddoch nicht vorhersagbare Determinanten unse-res Schicksals sein, gleichgültig, ob es sich dabeinun um Systeme handelt, die die Stabilität desGolfstroms bestimmen, oder solche die die „ge-nomischen Instabilitäten“ von strahlenbelaste-ten Zellen auslösen.

Wissenschaftliches Schubladendenken, egal wiegelehrt es daherkommt, stellt eine unzureichen-de Grundlage für ein Wissen dar, das ausreichensoll, um die Auswirkungen solch komplexer Syste-me vorherzusehen oder abzumildern. Vielmehrist ein integriertes und ganzheitliches Wissen,das die Kenntnisse zahlreicher Natur- und Sozial-wissenschaften zusammenführt, Grundvorausset-zung dafür, dass wir uns zu Recht als Homo sa-piens bezeichnen dürfen. Doch genügend zu wis-sen reicht allein nicht aus, notwendig ist auchdurchdachtes und rechtzeitiges Handeln. Es ge-hört zu den Aufgaben der EUA, durch integrierte

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Beurteilungen zu einer Erweiterung der Wissens-basis beizutragen und damit die Entscheidungs-träger dabei zu unterstützen, die möglichen Fol-gen behördlichen und interessensbestimmtenHandelns und Nicht-Handelns vorherzusehen.

Genug zu wissen und überlegt genug zu han-deln, und dies über das gesamte Spektrum vonUmwelt- und damit zusammenhängenden Ge-sundheitsfragen hinweg, scheint eine schiernicht zu bewältigende Aufgabe. Die Zusammen-hänge zwischen verschiedenen Fragen, dieSchnelligkeit des technologischen Wandels, unsereingeschränkter Kenntnisstand und die Zeit, dievergeht, bis die durch unsere Technologien anden ökologischen und biologischen Systemen ver-ursachten Schäden sichtbar werden, dies alles zu-sammen genommen ergibt schonungslose Rah-menbedingungen. Manche Menschen befürchtenoder vermuten, dass ein stärker auf Vorsorge aus-gerichteter Ansatz, mit dem potenziell irreversi-blen Risiken vorgebeugt werden soll, werde Inno-vationen ersticken oder die Wissenschaft in Fra-ge stellen. Doch das Verstehen komplexer undsich ständig weiter entwickelnder Systeme beigleichzeitiger Wahrnehmung der menschlichenBedürfnisse zu geringeren gesundheitlichen undökologischen Kosten bietet unendliche Herausfor-derungen und auch Möglichkeiten. Viele der Fall-studien legen den Schluss nahe, dass eine ver-mehrte Anwendung des Vorsorgeprinzips auchAnreize für Innovation und Wissenschaft schaf-fen und damit dazu beitragen kann, die Techni-ken und die einfachen wissenschaftlichen Wahr-heiten der ersten industriellen Revolution des 19.Jahrhunderts durch die „ökologisch effizienten“Technologien und Systemwissenschaften der drit-ten industriellen Revolution abzulösen.

Nach der Lektüre der hier geschilderten Fallstudi-en drängt sich abschließend die Frage auf: Wes-halb wurden nicht nur die frühzeitigen Warnun-gen, sondern auch die „lauten und späten“ War-nungen vielfach so lange ignoriert? Die Beant-wortung dieser Frage überlassen wir weitgehenddem Leser, allerdings nicht ohne die Feststellung,dass das Nichtvorhandensein eines politischenHandlungswillens zur Verringerung der Gefah-ren angesichts einer widersprüchlichen Faktenla-ge zu Kosten und Nutzen bei diesen Beispielen ei-ne noch weitaus bedeutendere Rolle spielt als dieVerfügbarkeit verlässlicher Informationen. Doch,wie bereits Aristoteles feststellt, unser Handelnwird in weiten Teilen davon bestimmt, wie wirdie Welt sehen, und Information spielt für unsere

Weltsicht eine wichtige Rolle. Doch wessen Infor-mationen kommen an? Sind sie „wahrheitsge-mäß, objektiv und unabhängig“? Und sind sie fürdie Politiker und Wirtschaftsführer, die seltenFachleute sind, die aber dennoch schwierige Ent-scheidungen treffen müssen, auch verständlich?

Der Bericht stellt die Bedeutung verlässlicher undallen Beteiligten zugänglicher Informationen füreine effektive Gestaltung der Politik und für dieMitwirkung der Betroffenen am Entscheidungs-prozess heraus – vor allem auch in dem beste-henden Kontext von Komplexität, Unkenntnis,hohem Risiko und der Notwendigkeit von „kollek-tiven Lernprozessen“. Wir dürfen nicht vergessen,dass die EU-Rechtsvorschriften für die Produktsi-cherheit solche Produkte als sicher definiert, diebei normaler und vernünftigerweise vorherseh-barer Verwendung keine nichtvertretbaren Ge-fahren bergen. Damit Risiken von der Allgemein-heit akzeptiert werden, muss die Allgemeinheitan den Entscheidungen, mit denen diese Risikengeschaffen und gehandhabt werden, beteiligtwerden, wobei diese Beteiligung die Abwägungvon Werten, Einstellungen und Gesamtnutzenmit einschließt. Tragfähige politische Entschei-dungen zu Themen, die wissenschaftliche Fragenbetreffen, dürfen daher nicht allein auf nachweis-liche wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt wer-den, vielmehr müssen sie auch den ethischenund den wirtschaftlichen Interessenlagen, umdie es dabei geht, Rechnung tragen. DerartigeFragen betreffen nicht nur Fachleute und Politi-ker, sondern uns alle. Ich habe daher die Hoff-nung, dass dieser Bericht einen Beitrag dazu leis-tet, dass mit Blick auf die Minimierung von Um-welt- und Gesundheitskosten und das Erreicheneines Maximums an Innovation qualitativ bessereund leichter zugängliche Informationen mit wis-senschaftlicher Grundlage für die Lenkung wirt-schaftlicher Aktivitäten zur Verfügung stehen,und dass die Betroffenen wirksamer in den Len-kungsprozess einbezogen werden als bisher.

Entscheidungsträger sind nicht nur auf mehrund qualitativ bessere Informationen angewie-sen, sondern sie müssen auch häufiger als bisherdurchdachtes Handeln an den Tag legen, um ei-nen besseren Ausgleich zwischen dem Nutzenvon Innovationen und deren Risiken zu erzielen.Wenn wir die „späten Lehren“ aus den frühzeiti-gen Warnungen des vergangenen Jahrhundertsernst nehmen und auch umsetzen, dann könntedies uns allen dabei helfen, in diesem Jahrhun-dert zu diesem besseren Ausgleich zu gelangen.

3

Mein Dank gilt dem Redaktionsteam und den Au-toren, die sich der Aufgabe gestellt haben, diesenBericht zu verfassen, aber auch den Fachlektorenund dem wissenschaftlichen Beirat der EUA fürihren wichtigen Beitrag.

Abschließend möchte ich mich bei David Geebedanken, der die Anregung für diesen Berichtgab, und bei den zahlreichen EUA-Mitarbeitern,die durch ihre Arbeit den Bericht möglich ge-macht haben.

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Domingo Jiménez BeltránExekutivdirektor

Danksagungen gehen an das Redaktionsteamfür seine wertvolle Hilfe und Unterstützung beider Erstellung dieses Berichts: Poul Harremoës(Leitung), Malcolm MacGarvin (Chefredakteur),Andy Stirling (Redaktion), Brian Wynne (Redak-tion), Jane Keys (Redaktion), David Gee undSofia Guedes Vaz (Redaktion EUA).

Die Danksagungen gelten auch den Autoren undden Fachlektoren.

Autoren: Malcolm MacGarvin, Barrie Lambert,Peter Infante, Morris Greenberg, David Gee,Janna G. Koppe, Jane Keys, Joe Farman, DoloresIbarreta, Shanna H. Swan, Lars-Erik Edqvist,Knud Børge Pedersen, Arne Semb, MartinKrayer von Krauss, Poul Harremoës, MichaelGilbertson, David Santillo, Paul Johnston,William J. Langston, Jim W. Bridges, Olga

Bridges, Patrick van Zwanenberg und ErikMillstone.

Fachlektoren: Joel Tickner, Richard Young,Wolfgang Witte, Stuart Levy, Henk Aarts, JacquesNouws, Michael Skou Andersen, Anthony Seaton,Harry Aiking, Leonard Levy, Ron Hoogenboom,Glen Fox, Andrew Watterson, Arturo Keller, FinnBro Rasmussen, Sandrine Dixson-Decleve, HilkkaVahervuori, Grete Østergaard, Erik Arvin, Eber-hard Morgenroth, Guus Velders, Madhava Sarna,Tom Webster, Niklas Johansson, Ernst Boersma ,Nigel Bell, Beldrich Moldan, John Seager, Keesvan Leeuwen, Mark Montforts und Robert Luttik.

Nicht zuletzt gilt der Dank den Mitgliedern deswissenschaftlichen Beirats der EUA: PhilippeBourdeau, Eileen Buttle, Robert Kroes, Bo Janssonund Poul Harremoës, dem Redaktionsleiter.

5

DANKSAGUNGEN

VORWORT 1

DANKSAGUNGEN 5

1. EINLEITUNG 11

1.1. Späte Lehren aus frühen Warnungen: Wie können wir aus der Vergangenheit lernen? 11

1.2. Was bedeutet das Vorsorgeprinzip? 131.3. Ein frühes Beispiel für die Anwendung des Vorsorgeprinzips:

London, 1854 141.4. Katastrophen vorbeugen: Integration von Wissenschaft und Politik 171.5. Literaturverzeichnis 18

2. FISCHEREI: BESTANDSAUFNAHME 19

2.1. Frühe Warnungen 192.2. Die britische Fischerei im 19. Jahrhundert 192.3. Kalifornische Sardinenfischerei von 1920 bis 1942 222.4. Neufundlandkabeljau 232.5. Vorsorge wird explizit 262.6. Der Ökosystem-Ansatz 292.7. Späte Lehren 302.8. Literaturverzeichnis 32

3. STRAHLUNG: FRÜHE WARNUNGEN — SPÄTE FOLGEN 36

3.1. Röntgenstrahlen 363.2. Radioaktivität und radioaktive Materialien 373.3. Erste Schritte zur Kontrolle der Strahlungsbelastung 383.4. Die Wasserscheide der Nachkriegszeit: Rechtfertigung,

Optimierung, Begrenzung 393.5. Schlussfolgerungen 413.6. Literaturverzeichnis 43

4. BENZOL: DIE RISIKEN AM ARBEITSPLATZ — GESCHICHTLICHER ABRISS ZUR LAGE IN DEN USA UND IN EUROPA 44

4.1. Frühe Warnungen 444.2. Reaktionen 454.3. Diskussion 494.4. Schlussfolgerungen und Lehren für die Zukunft 534.5. Literaturverzeichnis 55

7

INHALT

5. ASBEST: VOM WUNDERMITTEL ZUM TEUFELSZEUG 59

5.1. Einführung 595.2. Die ersten „Frühwarnungen“ zu Asbestose und einige Reaktionen 595.3. Frühe Warnungen zur Karzinogenität von Asbest 615.4. Frühe erschütternde Warnungen zu Mesotheliomen 625.5. Reaktionen des Gesetzgebers und anderer Akteure 635.6. Kosten und Nutzen der Reaktionen 665.7. Lehren aus dem Fall Asbest 675.8. Literaturverzeichnis 71

6. PCB UND DAS VORSORGEPRINZIP 73

6.1. Einleitung 736.2. Zunehmende Beweise für Vorkommen, Persistenz und Toxizität 756.3. Reaktionen der Industrie und der Regierungen in den

siebziger Jahren 756.4. Das wissenschaftliche Verständnis wird fundierter 776.5. Reaktionen der Regierungen in den achtziger und neunziger Jahren 796.6. Schadstoffexpositionspfade 806.7. Der jüngste PCB-Unfall 816.8. Schlussbetrachtung 816.9. Literatur 84

7. HALOGENKOHLENWASSERSTOFFE, DIE OZONSCHICHT UND DAS VORSORGEPRINZIP 87

7.1. Überblick 877.2. Die Anfänge 887.3. Die dreißiger Jahre – Anfänge der FCKW-Industrie 897.4. Die siebziger Jahre – erste Zweifel 897.5. Das Montrealer Protokoll und das Ozonloch 917.6. Späte Lehren 927.7. Literatur 95

8. DES: LANGZEITFOLGEN PRÄNATALER EXPOSITION 96

8.1. Einleitung 968.2. Optimistische Anfänge 968.3. Tragische Folgen 978.4. Unwirksamkeit bei der Prävention von Fehlgeburten 988.5. Das Ausmaß des Schadens 988.6. Lehren aus dem Fall DES 1008.7. Literatur 103

8

9. ANTIBIOTIKA ALS WACHSTUMSFÖRDERER — RESISTENZ GEGEN DEN GESUNDEN MENSCHENVERSTAND 106

9.1. Einführung 1069.2. Die ersten Frühwarnungen 1079.3. Reaktionen 1079.4. Vor- und Nachteile des Einsatzes von Wachstumsförderern 1119.5. Schlussfolgerungen und Lehren für die Zukunft 1119.6. Literatur 114

10. SCHWEFELDIOXID: VOM SCHUTZ DER MENSCHLICHEN LUNGE BIS ZUR WIEDERHERSTELLUNG ENTLEGENER SEEN 116

10.1. Tote Fische, sterbende Wälder 11710.2. Das CLRTAP-Protokoll von 1985 und die Entwicklung danach 12010.3. Späte Lehren 12110.4. Literatur 122

11. MTBE ALS BLEIERSATZ IN OTTOKRAFTSTOFFEN 125

11.1. Einführung 12511.2. Blei in Ottokraftstoffen 12511.3. Der Problemfall MTBE 12511.4. Die Vorteile des MTBE 12611.5. Die Folgewirkungen von MTBE 12711.6. Reaktionen 13111.7. Die gegenwärtigen Trends 13111.8. Erörterungen im Zusammenhang mit dem Vorsorgeprinzip 13211.9. Schlussfolgerungen 13711.10. Literatur 139

12. DAS VORSORGEPRINZIP UND FRÜHE WARNUNGEN VOR DER KONTAMINIERUNG DER GROSSEN SEEN DURCH CHEMIKALIEN 144

12.1. Erste auffällige frühe Warnungen 14412.2. Zeitpunkt und Art der in der Folge eingeleiteten bzw.

unterbliebenen Maßnahmen 14512.3. Auswirkungen der Reaktionen der Behörden 14712.4. Kosten und Nutzen 14912.5. Schlussfolgerungen und die Lektionen für die Zukunft 15012.6. Literatur 152

13. TRIBUTYLZINN-(TBT)-HALTIGE ANTIFOULING-FARBEN: EINE GESCHICHTE UM SCHIFFE, SCHNECKEN UND IMPOSEX 155

13.1. Einführung 15513.2. Das Entstehen des TBT-Problems 15613.3. Die Bucht von Arcachon 15613.4. Die Häfen und Küstengewässer des Vereinigten Königreichs 15713.5. Ein global wirksamer Schadstoff 159

9

13.6. Wirksamkeit der Überwachungsmaßnahmen an Kleinschiffen 15913.7. Die Bedeutung der Hochseeschiffe 16013.8. Fortschritte auf dem Weg zur weltweiten Abschaffung 16213.9. Die Frage der Alternativen 16213.10. Späte Lehren aus dem Einsatz von TBT 16313.11. Schlussfolgerungen: Vorsorgemaßnahmen oder rückwirkende Maßnahmen? 16413.12. Literatur 166

14. HORMONE ALS WACHSTUMSFÖRDERER: VORSORGEPRINZIP ODER POLITISCHE RISIKOBEURTEILUNG? 172

14.1. Einführung 17214.2. Auswirkungen östrogener Präparate auf Wildtiere 17514.3. Welche Unsicherheiten in Bezug auf die menschliche Gesundheit bestanden

im Zusammenhang mit der Verwendung östrogener Wachstumsförderer? 17614.4. Hat sich der von der Europäischen Kommission

gewählte Ansatz als fundiert erwiesen? 17714.5. Schlussfolgerungen 17814.6. Literatur 178

15. „RINDERWAHNSINN“ — 80ER JAHRE BIS 2000: WIE DIE VORSORGE DURCH BESCHWICHTIGUNGEN UNTERGRABEN WURDE 181

15.1. Einführung 18115.2. Eine neue Rinderseuche 18115.3. Erste Entscheidungen 18215.4. Beratung durch Sachverständige und regulatorische Kontrollen 18515.5. Ein Kartenhaus 18615.6. Die Fehlschläge und der letztliche Zusammenbruch des politischen Gebäudes 19015.7. Schlussfolgerungen 19115.8. Literatur 194

16. ZWÖLF SPÄTE LEHREN 196

16.1. Einführung 19616.2. Zwölf „späte Lehren“ 19716.3. Die weiter reichenden Auswirkungen der Vorsorge 21416.4. Literaturverzeichnis 223

17. SCHLUSSFOLGERUNGEN 226

17.1. Späte Lehren aus frühen Warnungen 228

AUTORENBIOGRAFIEN 230

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1.1. Späte Lehren aus frühen Warnungen:Wie können wir aus derVergangenheit lernen?

Bereits 1898 bemerkte die britische Gewerbeauf-sichtsbeamtin (Inspector of Factory) Lucy Deane,dass „aufgrund der schlimmen Wirkung von Asbest-staub vom königlichen Leibarzt (Medical Inspector)eine mikroskopische Untersuchung des Mineral-staubs durchgeführt wurde. Klar erkennbar war diescharfe, glassplitterähnliche Form der Partikel, undwo immer sie aufsteigen und sich selbst in geringenMengen in der Raumluft verteilen konnten, tratendie erwarteten schädigenden Auswirkungen ein.“(Deane, 1898).

Einhundert Jahre später, 1998, entschloss sich diebritische Regierung zu einem Verbot von Asbest,und im darauffolgenden Jahr schloss sich die Eu-ropäische Union diesem Verbot an. Derzeit liegtdie auf Asbesterkrankungen zurückzuführendeSterblichkeitsziffer im Vereinigten Königreich beirund 3 000 Todesfällen pro Jahr, im Verlauf derkommenden 35 Jahre ist in Westeuropa mitKrebserkrankungen, die durch Kontakt mit As-best in der Vergangenheit ausgelösten wurden,in einer Größenordnung von 250 000–400 000Fällen zu rechnen (Peto, 1999).

Die hundert Jahre zwischen dem Ende des19. Jahrhunderts und dem Ende des 20. Jahrhun-derts bilden den Schwerpunkt dieses Berichtsüber die Anwendung, die Vernachlässigung undden möglichen Missbrauch des Begriffs der Vor-sorge im Umgang mit bestimmten berufsbezoge-nen, öffentlichen und die Umwelt betreffendenRisiken. Kosten und Nutzen des Handelns oderNichthandelns von Regierungen und anderenbei der Reaktion auf „frühzeitige Warnungen“vor Gefahren liefern die zugehörigen Inhalte.Zielsetzung des Berichts ist es, festzustellen, obwir aus diesen Erfahrungen der VergangenheitLehren ziehen können, die uns helfen, die zu-künftige Wirkung anderer Stoffe, die sich alsschädlich erweisen könnten, zu verhindern oderwenigstens auf ein Minimum zu begrenzen,ohne dass dadurch die Innovationskraft ersticktoder die Freiheit der Wissenschaft in Frage ge-stellt wird.

Der vorliegende Bericht liefert ein Beispiel dafür,welche Informationen benötigt werden, um dieEuropäische Union und die Mitgliedstaaten derEUA bei der Bestimmung und Ausarbeitungzweckmäßiger und wirksamer Maßnahmen zuunterstützen, die die Umwelt bewahren und zueiner nachhaltigen Entwicklung beitragen. DieseInformationen bereitzustellen, ist gemäß ihrerGründungsverordnung Aufgabe der Europäi-schen Umweltagentur (EUA), einer unabhängigenAgentur der Europäischen Gemeinschaft, die1993 mit dem Ziel errichtet wurde, den politi-schen Organen der Europäischen Union und ih-rer Mitgliedstaaten objektive Informationen zurVerfügung zu stellen (Ratsverordnungen Nr.1210/90 und 993/99).

Bislang wurden die Erfahrungen der Vergangen-heit kaum für die Verringerung gegenwärtigerund künftiger Risiken genutzt. In Späte Lehrenaus frühen Warnungen wurden aus einem brei-ten Spektrum von gut erforschten Risiken fürArbeitnehmer, die Allgemeinheit und die Um-welt 14 Fallstudien (in chronologischer Reihen-folge nach dem Zeitpunkt der ersten Warnzei-chen) ausgewählt, bei denen zwischenzeitlichgenügend Kenntnisse über ihre Folgewirkungenvorliegen, so dass Schlussfolgerungen darübermöglich sind, wie verantwortungsbewusst oderwenig verantwortungsbewusst Staatsführungenund Gesellschaft damit umgegangen sind. DieseSchlussfolgerungen erlauben sich nicht denLuxus einer rückblickenden Perspektive, son-dern berücksichtigen vielmehr den zur jeweili-gen Zeit herrschenden „Zeitgeist“. Mit weiterenBeeinträchtigungen der Gesundheit der Bevölke-rung und Umweltkatastrophen wie Contergan(James, 1965), Blei (Millstone, 1997) und der Ver-seuchung des Aralsees (Small, 2001) setzt sichder Bericht nicht auseinander. Aus ihnen lassensich zusätzliche Informationen über unbeabsich-tigte Konsequenzen und den Widerstreit zwi-schen ökonomischen und sozialen Interessenableiten, aus denen weitere Lehren aus derGeschichte gezogen werden können.

Den Autoren der Fallstudien wurde vorgegeben,sich bei der Gliederung ihrer jeweiligen Kapitelan den folgenden vier zentralen Fragen zuorientieren:

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1. EINLEITUNG

➔ Wann gab es die erste glaubhafte wissen-schaftliche „Frühwarnung“ vor potenziellenGefahren?

➔ Wann erfolgten und welches waren die wich-tigsten Maßnahmen oder unterlassenen Maß-nahmen der Aufsichtsbehörden und andererStellen?

➔ Welche Vor- und Nachteile entstanden durchdie Maßnahmen oder die Unterlassung vonMaßnahmen und wie verteilen sich diese zeit-lich und auf einzelne Gruppen?

➔ Welche Lehren lassen sich daraus für künftigeBeschlussfassungen ziehen?

Die Auswahl der Fallstudien und Autoren erfolg-te mit Blick auf ein transatlantisches Publikum.Drei Kapitel befassen sich entweder schwer-punktmäßig mit einem nordamerikanischenThema (Verschmutzung der Großen Seen) odervorrangig mit dem Umgang mit Problemen, dieauch für Europa von direkter Bedeutung sind, inden nordamerikanischen Staaten (Benzol unddie Verordnung des künstlichen Hormons DESwährend der Schwangerschaft), ihre Verfassersind nordamerikanische Wissenschaftler(Gilbertson, Infante bzw. Koautor Swann). DreiKapitel setzen sich mit Themen auseinander,über die in Nordamerika und Europa unter-schiedliche Auffassungen bestehen (Hormoneals Wachstumsförderer, Asbest sowie MTBE inKraftstoffen); alle übrigen Kapitel sind für dieBürger Nordamerikas, für ihre Gesundheit undihre Umwelt genauso von Bedeutung wie für dieBürger Europas.

Gelegentlich wird behauptet, dass die USA dasVorsorgeprinzip nicht anwendeten, doch sei indiesem Zusammenhang darauf hingewiesen(siehe Tabelle 1.1.), dass die Vereinigten Staatendurchaus zur Förderung einer als „precautiona-ry prevention“ zu bezeichnenden „vorsorgen-den Prävention“ beitragen, auch wenn diesenicht unbedingt als „Vorsorgeprinzip“ bezeich-net wird.

Das Vorsorgeprinzip ist mittlerweile nicht unum-stritten, nicht zuletzt wegen der Auseinanderset-zungen zwischen der EU und den USA über dieSicherheit von künstlichen Hormonen in der Rin-derzucht, genetisch veränderte Organismen(GVO), die globale Erwärmung und andere The-men, bei denen Vorsorgekonzepte zur Anwen-dung kommen. Zwischenzeitlich ist es zu deutli-chen Meinungsverschiedenheiten (um nicht zusagen begrifflicher Verwirrung, insbesonderezwischen Politikern auf beiden Seiten des Atlan-tiks) über den eigentlichen Bedeutungsinhalt desVorsorgeprinzips und dessen Anwendbarkeit ge-kommen. Ein Ziel dieses Berichts ist es, das ge-genseitige Verständnis zwischen den USA undEuropa bei der Anwendbarkeit des Vorsorgeprin-zips in der Politikgestaltung zu verbessern.

Die Autoren der Fallstudien, die im Übrigen un-entgeltlich tätig waren, wurden gebeten, ihreBeiträge kurz zu halten, was allerdings eine insDetail gehende Behandlung der Themen verhin-dert. Uns kam es jedoch darauf an, die wesentli-chen Schlussfolgerungen aus den Vorgeschich-

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 1.1. BEISPIELE FÜR „VORSORGENDE PRÄVENTION“ IN DEN VEREINIGTEN STAATEN

Thema „Vorsorgende Prävention“

Nahrungsmittelsicherheit (karzinogene Zusatzstoffe)

Die „Delaney-Klausel“ im Food, Drug and Cosmetics Act, 1957—96, mit der im Tierversuch karzinogene Zusatzstoffe für die menschliche Nahrungskette verboten werden

Nahrungsmittelsicherheit(BSE)

Das Verbot der Verwendung des Fleisches von mit Scrapie infizierten Schafen und Ziegen in der tierischen und der menschlichen Nahrungskette zu Beginn der 70er Jahre, das dazu beigetragen haben könnte, dass die Vereinigten Staaten von BSE verschont blieben

Umweltschutz(FCKW)

Bereits 1977 und damit mehrere Jahre vor ähnlichen Maßnahmen in den meisten europäischen Ländern dasVerbot der Verwendung von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) in Aerosolen

Öffentliche Gesundheit(DES)

Das Verbot des Einsatzes von DES als Wachstumsförderer in der Rinderaufzucht, 1972—79, fast zehn Jahre vor dem EU-weiten Verbot 1987

ten ans Licht zu bringen, und weniger auf detail-lierte Nachbetrachtungen, die andere bereitsverfasst haben und die anhand der Literatur-hinweise am Ende der einzelnen Kapitel nach-gelesen werden können.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass dieAutoren der Fallstudien durchaus dezidierteStandpunkte vertreten, sind sie doch zumeist ak-tiv am Verlauf der Fallgeschichten beteiligt, diein den einzelnen Kapiteln zusammengefasstwerden. Joe Farman, Verfasser des Kapitels überhalogenierte Kohlenwasserstoffe (Halone) z. B.ist der Entdecker des „Ozonlochs“ in der Strato-sphäre. Morris Greenberg war an der Aufstel-lung des ersten Asbest-Mesotheliom-Registers be-teiligt. Michael Gilbertson hat den größten Teilseines Berufslebens damit verbracht, die Ver-schmutzung der Großen Seen zu erforschen undsich für die Gewässersanierung dort einzuset-zen. Peter Infante schließlich führte die ersteepidemiologische Kohortenstudie über die Ben-zolbelastung von Arbeitnehmern durch und istseit vielen Jahren im US-Gesundheitsministeriumdamit befasst, die Belastung durch Benzol undandere Schadstoffe am Arbeitsplatz zu verrin-gern. Auch alle anderen Autoren engagierensich in unterschiedlichem Umfang für den Ge-genstand ihres jeweiligen Kapitels, und sie wä-ren auch gar nicht angesprochen worden, wennsie sich nicht bereits vorher intensiv mit demFall, über den sie schreiben sollten, auseinandergesetzt hätten. Von allen jedoch wurde als aner-kannte Wissenschaftler in ihrem jeweiligen Spe-zialgebiet erwartet, dass sie bei der Beantwor-tung der vier Fragen, die ihnen gestellt wurden,so objektiv wie möglich blieben. Die Leser wer-den daher hiermit ausdrücklich auf die „Beteili-gung“ der Autoren an der Geschichte ihrer Fall-studien hingewiesen.

Bei allen Fallstudien handelt es sich in dem Sinneum „falsch negative“ Beispiele, als sie Stoffe oderAktivitäten betreffen, die von Regierungen undanderen Stellen zu einem bestimmten Zeitpunkt,bei der damals vorherrschenden Belastung und„Kontrollierbarkeit“ als unschädlich eingestuftwurden, bis die Beweise für ihre schädlichen Aus-wirkungen zutage traten. Doch gibt es nichtauch „falsch positive“ Beispiele, bei denen auf-grund des Vorsorgeprinzips Maßnahmen ergrif-fen wurden, die sich später als unnötig erwiesen?Derartige Beispiele aufzunehmen, wurde durch-aus für erforderlich erachtet, doch trotz der Auf-forderung an Vertreter der Industrie, entspre-

chende Beispiele vorzulegen und diese ausführ-lich zu erläutern, gelang es nicht, geeignete Bei-spiele beizubringen. Es wurde auf eine US-Veröf-fentlichung mit dem Titel Facts versus fears(Lieberman und Kwon, 1998) verwiesen, in derversucht wurde, rund 25 „falsch positive“ Beispie-le darzustellen. Bei genauerer Untersuchung be-fanden sie jedoch diejenigen, die sie auf unsereAufforderung hin, die sechs aussagefähigstenBeispiele in den Bericht aufzunehmen, empfoh-len hatten, für nicht tragfähig genug. Damitbleibt die Herausforderung zum Nachweis von„falsch positiven“ Beispielen bestehen. Als mögli-che Kandidaten wurden genannt: das Verbot derVerklappung von Klärschlamm in der Nordseeund der „Y2K Millennium Bug“.

1.2. Was bedeutet das Vorsorgeprinzip?

Albert Schweitzer (1875–1965) war vielleicht all-zu pessimistisch, als er befand „Der Mensch hatdie Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen,verloren. Er wird am Ende die Erde zerstören.“Doch Einsicht zu zeigen, bevor es zu spät ist, istnicht leicht, insbesondere, wenn sich die Auswir-kungen auf Umwelt oder Gesundheit erst inferner Zukunft bemerkbar machen könnten undwenn die konkreten oder vermeintlichen Kostenfür deren Vermeidung hoch sind und sofortanfallen. Einer Katastrophe zuvorzukommenerfordert für gewöhnlich Handeln, noch bevorSchäden deutlich sichtbar werden, vor allemdann, wenn die Schäden erst sehr viel spätereintreten und unumkehrbar sind – ein Ansatzder wissenschaftlichen Beweisführung und derpolitischen Vorgehensweise, der heute der alsVorsorgeprinzip bezeichneten Vorgehensweisezuzurechnen ist.

Vorsorgende Prävention ist eine in der Medizinund in der Volksgesundheit häufig angewendeteVerfahrensweise, bei der bei Zweifeln über eineDiagnose im Allgemeinen zum Wohle des Patien-ten entschieden wird ( „Vorbeugen ist besser alsHeilen“). Das Vorsorgeprinzip und dessen Anwen-dung im Falle von Umweltrisiken und deren Unsi-cherheiten entstand allerdings als deutlich er-kennbares und begrifflich kohärentes Konzept inder Umweltwissenschaft erst in der 70er Jahren,als deutsche Wissenschaftler und Politiker ver-suchten, sich mit dem Waldsterben und dessenmöglichen Ursachen, darunter die Luftver-schmutzung, auseinander zu setzen.

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Wichtigstes Element des von ihnen entwickeltenVorsorgeprinzips war die allgemein gültige Regeldes öffentlichen politischen Handelns in Situatio-nen, die eine mögliche ernsthafte oder irreversi-ble Gefährdung der Gesundheit oder der Umweltdarstellen und in denen die Notwendigkeit zumHandeln besteht, um potenzielle Risiken zu ver-ringern, bevor Schädigungen eindeutig nach-weisbar sind, wobei eine Abwägung zwischenwahrscheinlichen Kosten und Nutzen von Han-deln und Untätigkeit stattfindet. Eine vorsorgli-che Vorgehensweise erfordert allerdings weitmehr als nur die Festlegung der gefordertenNachweisbarkeit als Begründung für ein Handelnzur Verringerung von Risiken (dem „Auslöser“des Handelns). Das Vorsorgeprinzip gemäß demdeutschen Luftreinhaltungsgesetz von 1974 inder Fassung des Berichts von 1985 über das Luft-reinhaltungsgesetz (Boehmer-Christiansen, 1994)enthält darüber hinaus u. a. die folgenden Ele-mente:

➔ Forschungs- und Überwachungsmaßnahmenzur Früherkennung von Gefahren

➔ eine allgemeine Verringerung der Umweltbe-lastung

➔ die Förderung „sauberer Produktionsverfah-ren“ und der Innovation

➔ den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem-zufolge die Kosten von Maßnahmen zur Ge-fahrenvorbeugung nicht in einem Missver-hältnis zum wahrscheinlichen Nutzen stehensollten

➔ eine kooperative Vorgehensweise der Beteilig-ten bei der Lösung gemeinsamer Probleme imWege integrierter politischer Maßnahmen mitdem Ziel der Verbesserung der Umweltsituati-on, der Wettbewerbsfähigkeit und der Be-schäftigungslage

➔ Maßnahmen zur Verringerung von Risikennoch vor dem eindeutigen „Nachweis“ vonGefahren, wenn schwerwiegende und irrever-sible Auswirkungen zu erwarten sind

Seit den 70er Jahren ist das Vorsorgeprinzip inder politischen Agenda rasch auf einen der vor-deren Plätze gerückt. Es wurde in zahlreiche in-ternationale Übereinkommen, insbesondere überdie Meeresumwelt, aufgenommen, nachdem eineüberwältigende Vielzahl ökologischer Daten überdie Verschmutzung wenig Verständnis, jedochgroße Besorgnis hervorriefen: „Zwar stehen unsenorme Datenmengen zur Verfügung, doch trotzdieser Daten ... sind wir zwischenzeitlich in unse-rem Verständnis dessen, wozu diese Informatio-

nen gut sind, auf einer Art Plateau angelangt...Daraus entstand das Vorsorgeprinzip“ (MarinePollution Bulletin, 1997). Auf allgemeinerer Ebenewurde mit dem Grundsatz Nr. 15 der UN-Erklä-rung von Rio über Umwelt und Entwicklung1992 (siehe Tabelle 1.2.) dieser Gedanke auf diegesamte Umwelt ausgeweitet.

Die Verwendung unterschiedlicher Bezeichnun-gen in diesen Verträgen und Übereinkommenwie z. B. „Vorsorgeprinzip“, „Vorsorgeansatz“ und„Vorsorgemaßnahmen“ kann zu Problemen beider Kommunikation und der Auseinandersetzungdarüber führen, wie mit wissenschaftlichen Un-sicherheiten und potenziellen Risiken am bestenumzugehen ist. In den Schlusskapiteln des Be-richts wird versucht, einige dieser Unstimmig-keiten zu klären.

In Europa fand das Vorsorgeprinzip seine größteUnterstützung durch die Mitteilung der Europäi-schen Kommission über die Anwendbarkeit desVorsorgeprinzips (Europäische Kommission,2000) und den Beschluss des Ministerrates vonNizza über das Vorsorgeprinzip (beide im Jahr2000 veröffentlicht). Beide Dokumente leisteteneinen wichtigen Beitrag zur praktischen Anwen-dung des Vorsorgeprinzips, insbesondere, was dieBeteiligung der Betroffenen und die Vermeidungvon Handelsauseinandersetzungen betrifft. DieSchlusskapitel des Berichts befassen sich mit eini-gen wichtigen Fragen, die in den Fallstudien unddurch die Mitteilung der Europäischen Kommissi-on aufgeworfen werden.

1.3. Ein frühes Beispiel für dieAnwendung des Vorsorgeprinzips:London, 1854

Die Anwendung von Vorsorgekonzepten reicht,insbesondere auf dem Gebiet der öffentlichen Ge-sundheit, zurück bis in die Zeit weit vor den 70erJahren des 20. Jahrhunderts. Eine frühes Beispielfür die Anwendung des Vorsorgeprinzips inEuropa ist die 1854 von Dr. John Snow ausgespro-chene Empfehlung, den Pumpenschwengel ander Wasserpumpe in der Broad Street abzumon-tieren, um ein Umsichgreifen der Cholera-Epide-mie, die damals London heimsuchte, zu verhin-dern. Beweise für einen Zusammenhang zwi-schen verunreinigtem Wasser und der Cholerawaren fünf Jahre zuvor von Snow selbst publiziertworden (Snow, 1849). Bei diesen Beweisen han-

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delte es sich zwar um keinen zweifelsfreien Nach-weis, doch waren sie Snow Anlass genug, die er-forderlichen Maßnahmen zum Schutz der Ge-sundheit der Bevölkerung zu empfehlen. Hierwären die zu erwartenden Kosten unterlassenenHandelns weitaus höher gewesen als die mögli-chen Kosten des Handelns (siehe Kasten 1.1.).

Wären Snows Annahmen, die zur Entfernung desPumpenschwengels führten, falsch gewesen,dann wäre dies vor allem für die Bürger ärgerlich

und unbequem gewesen, die aber unabhängigdavon eine Eindämmung der Cholera-Epidemiegefordert hatten. Diese „Kosten“ waren gering imVergleich zu den Kosten, die entstanden wären,wäre der Pumpenschwengel nicht entfernt wor-den, nachdem der Nachweis über den Zusam-menhang zwischen dem Wasser aus der Pumpean der Broad Street und der Ausbreitung derCholera geführt worden war. Die Beweise Snowsüber den vermuteten Zusammenhang erschienenzuverlässig genug, um die Behörden zu einer Ent-

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➔ TABELLE 1.2. DAS „VORSORGEPRINZIP“ IN INTERNATIONALEN VERTRÄGEN UND ÜBEREINKOMMEN

Montrealer Protokoll über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen, 1987„Die Vertragsparteien dieses Protokolls ... entschieden, die Ozonschicht durch Vorsorgemaßnahmen zur ausgewogenen Regelung dergesamten weltweiten Emissionen von Stoffen, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen, zu schützen ...“

Dritte Internationale Konferenz zum Schutz der Nordsee, 1990„Die Teilnehmer werden weiterhin das Vorsorgeprinzip anwenden, d. h. Maßnahmen zur Vermeidung des Eintrags potenziell schädlicherStoffe treffen, die langlebig und toxisch sind und zu Bioakkumulation neigen, auch wenn der Kausalzusammenhang zwischen Emissionenund Auswirkungen noch nicht wissenschaftlich erwiesen ist.“

Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung, 1992„Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten den Vorsorgeansatz entsprechend ihrer Möglichkeiten umfassend an. Angesichts derGefahr erheblicher oder irreversibler Schäden soll fehlende vollständige wissenschaftliche Gewissheit nicht als Grund dafür dienen, kos-tenwirksame Maßnahmen zur Verhinderung von Umweltschäden hinauszuzögern.“

Übereinkommen über Klimaänderungen, 1992„Die Vertragsparteien sollen Vorsorgemaßnahmen treffen, um den Ursachen der Klimaänderungen vorzubeugen, sie zu verhindern oderso gering wie möglich zu halten und die nachteiligen Auswirkungen der Klimaänderungen abzuschwächen. In Fällen, in denen ernsthafteoder nicht wiedergutzumachende Schäden drohen, soll das Fehlen einer völligen wissenschaftlichen Gewissheit nicht als Grund für dasAufschieben solcher Maßnahmen dienen, wobei zu berücksichtigen ist, dass Politiken und Maßnahmen zur Bewältigung derKlimaänderungen kostengünstig sein sollten, um weltweite Vorteile zu möglichst geringen Kosten zu gewährleisten.“

Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag), 1992„Die Umweltpolitik der Gemeinschaft ... beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung, auf dem Grundsatz,Umweltbeeinträchtigungen mit Vorrang an ihrem Ursprung zu bekämpfen, sowie auf dem Verursacherprinzip.“

Protokoll von Cartagena über die biologische Sicherheit, 2000„Gemäß dem Vorsorgeprinzip ist es das Ziel dieses Protokolls, die Gewährleistung eines angemessenen Schutzniveaus für die sichereWeitergabe, Handhabung und Verwendung der durch die moderne Biotechnologie hervorgebrachten lebenden veränderten Organismenabzusichern, die nachteiligen Auswirkungen auf die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt haben können, wobeiauch Gefahren für die menschliche Gesundheit berücksichtigt werden und ein Schwerpunkt auf der grenzüberschreitendenVerbringung liegt.“

Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe (POPs) 2001 Vorsorge, einschließlich Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit, wird im gesamten Übereinkommen geltend gemacht und findetin der Präambel, als Ziel, bei den Bestimmungen über die Aufnahme von Substanzen in die Liste der POPs sowie bei der Ermittlung derbesten verfügbaren Technologien ausdrückliche Erwähnung. Das Ziel ist wie folgt festgelegt: „Unter Berücksichtigung desVorsorgeprinzips nach Grundsatz 15 der Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung ist es Ziel dieses Übereinkommens, diemenschliche Gesundheit und die Umwelt vor persistenten organischen Schadstoffen zu schützen.“

Quelle: EUA

scheidung zu veranlassen, die sich im Nach-hinein als richtig erwies: Die Cholera wurdedurch das durch Abwässer verunreinigte Wasserausgelöst, und die Beseitigung der Belastungs-quelle trug dazu bei, das Risiko zu beseitigen.

Die Geschichte von John Snow und der Cholerawird gelegentlich fälschlich als ein Beispiel dafür

interpretiert, dass sehr eindeutige Beweise füreine Gefährdung und ihre Ursachen relativ un-kontrovers eingesetzt werden können. Allerdingshandelte es sich hierbei um einen klassischenFall der vorsorgenden Prävention, der gleichmehrere wichtige Elemente einer Vorgehenswei-se im Fall von wissenschaftlicher Unsicherheit,Unkenntnis und Politikgestaltung beinhaltet. Zu

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➔ KASTEN 1.1. „VORSORGENDE PRÄVENTION“ AM BEISPIEL VON JOHN SNOW

Innerhalb von nur 10 Tagen, vom 31. August bis zum 9. September 1854, kam es in der PfarreiSt. James, zu welcher das Gebiet des Golden Square von Central London gehörte, zu rund 500 Todes-fällen durch Cholera. Der Londoner Arzt John Snow, der zuvor 1849 auf eigene Kosten die 30seitigeAbhandlung The Mode of Communication of Cholera über die Art und Weise der Verbreitung vonCholera veröffentlicht hatte, untersuchte den Ausbruch der Krankheit. Bereits vor dem Cholera-Aus-bruch im Golden Square hatte sich Snow mit der Cholera und der Wasserversorgung zweier verschie-dener Versorgungsunternehmen in South London befasst – das eine lieferte „sauberes“ Wasser, wäh-rend das Wasser des anderen Unternehmens durch Abwasser „verunreinigt“ war. Diese noch nichtabgeschlossene Studie lieferte bereits Daten, die Snows Theorie stützten, dass die Cholera durch ver-schmutztes Wasser hervorgerufen wird, als er sich daran machte, den Cholera-Ausbruch von GoldenSquare zu untersuchen.

Eine kurze Untersuchung ergab, dass praktisch sämtliche 83 Bewohner des Golden Square-Gebiets,die zwischen dem 31. August und dem 5. September gestorben waren, ihr Wasser an der beliebtenöffentlichen Wasserpumpe an der Broad Street geholt hatten und nicht aus den ebenfalls bereitsverfügbaren, saubereren, jedoch noch nicht so weit verbreiteten Wasserleitungen bezogen. Am7. September empfahl Snow die Demontage der Wasserpumpe an der Broad Street mit der Begrün-dung, dass „Cholera nur bei Personen auftritt, die für gewöhnlich das Wasser aus der Wasserpumpe(an der Broad Street) trinken“. Die Behörden ließen am nächsten Tag den Pumpenschwengel abmon-tieren, wodurch die Cholera-Epidemie schneller wieder abklang und weitere Ansteckungen aus dieserQuelle verhindert wurden.

Später legte Snow anläßlich einer Präsentation vor der Londoner Epidemiologischen Gesellschaft am4. Dezember 1854 eine der ersten epidemiologischen Karten mit Eintragungen zu Krankheiten undderen möglichen Ursachen vor, darunter auch ein Karte mit Eintragungen der Cholera-Opfer und derBrunnen in der Nähe der Broad Street.

Snows Ansichten zur Ursache von Cholera wurden von der Mehrzahl der maßgeblichen Wissenschaft-ler nicht geteilt. Die Königliche Ärztekammer hatte bei ihrer Untersuchung des vorangegangenenCholera-Ausbruchs von 1853/54 Snows Theorie geprüft und als „nicht haltbar“ abgelehnt, ebenso derAllgemeine Gesundheitsrat im Jahre 1854: „Wie sehen keinen Grund, uns dieser Meinung anzu-schließen“. Beide Gremien waren der Überzeugung, dass die Cholera über die Luft übertragen werde.

Die biologischen Zusammenhänge zwischen verunreinigtem Wasser und Cholera waren zum Zeit-punkt dieser erfolgreichen „vorsorglichen Prävention“ anno 1854 noch unbekannt. Sie wurden erst30 Jahre später, 1884 entdeckt, als Robert Koch in Deutschland die Entdeckung des Choleraerregersvermelden konnte.

Quelle: EUA auf der Grundlage von Brody et al., 2000

diesen Elementen zählen der Unterschied zwi-schen dem „Wissen“ um eine Gefährdung undihre wahrscheinlichen Ursachen und der „Kennt-nis“ der chemischen und biologischen oder sons-tigen Prozesse, auf denen der Zusammenhangbasiert, der zentrale Aspekt der potenziellen Fol-gekosten eines Irrtums und die Anwendung wis-senschaftlicher Minderheitenmeinungen in deröffentlichen Politikgestaltung. In den Schlusskapi-teln des Berichts werden diese Themen nochmalsaufgegriffen.

Sicherlich gibt es eine Vielzahl von Unterschie-den zwischen Cholera, Asbest (der ungefähr zumZeitpunkt von Snows Maßnahme in Gebrauchkam) und den übrigen Schadstoffen aus den Fall-studien, nicht zuletzt die Zeitspanne zwischender Belastung durch den Schadstoff und dem Ein-treten der Gesundheitsschädigung, die im Fallder Cholera nur Stunden betrug, im Fall von As-best und den meisten anderen untersuchten Stof-fen hingegen Jahrzehnte. Hätten jedoch die staat-lichen Stellen eine ähnliche Vorgehensweise dervorsorgenden Prävention an den Tag gelegt wieDr. Snow, hätte nach Veröffentlichung der frühenWarnungen bezüglich Asbest ein Großteil derdurch die Asbestbelastung verursachten mensch-lichen Tragödien und enormen Kosten vermie-den werden können.

1.4. Katastrophen vorbeugen:Integration von Wissenschaft und Politik

Dr. Snow musste sowohl als Wissenschaftler alsauch als Politiker unter den Bedingungen wissen-schaftlicher Unsicherheit und politischer Belas-tung arbeiten, die allen gemeinsam sind, dieVerantwortung für den Schutz der Allgemeinheitund der Umwelt vor potenziell schädlichen wirt-schaftlichen Aktivitäten tragen. Noch heute ar-beiten die Politiker, was die wissenschaftlicheUnsicherheit und den Druck angeht, unter ähn-lichen Bedingungen wie Dr. Snow, doch kommenheute erschwerend die höheren Risiken undgrößeren Unsicherheiten (wirtschaftlicher, ge-sundheitlicher und ökologischer Art) von groß-industriellen Aktivitäten (Beck, 1992) und einesgrößeren Drucks von Seiten der Massenmedien(Smith, 2000) hinzu. Darüber hinaus haben diePolitiker heute mit demokratischeren Einrichtun-gen zu tun und müssen gegenüber einer besserinformierten und stärker engagierten Bürger-

schaft, die gute Informationsmöglichkeiten überdas Internet hat, Rechenschaft ablegen. Fragender Globalisierung und des freien Handels gestal-ten die Verhältnisse noch komplizierter, ebensodie neu entstehende Wissenschaft von Komplexi-tät und Chaos, die die Wissenschaft zu mehrDemut und weniger Überheblichkeit zwingenkann. Genau unter diesen Umständen, unterdenen versucht werden muss, potenziell schwer-wiegende und irreversible Auswirkungen zu ver-hindern, ohne dass dadurch unangemessen hoheKosten entstehen, kann sich das Vorsorgeprinzipals nützlich erweisen. Es hilft politischen Ent-scheidungsträgern und Politikern in Situationen,in denen das Abwarten, bis eindeutige Beweisefür eine Gefährdung vorliegen, bevor Vorsorge-maßnahmen ergriffen werden, die Gesundheitder Bevölkerung oder die Umwelt oder gar beideernstlich in Gefahr bringen könnte.

Konsens über die Geschichte der anerkannten Ge-fahren wie z. B. Asbest, Fluorchlorkohlenwasser-stoffe (FCKW) und der übrigen Fallstudien zu er-reichen, ist nicht einfach, doch ist es einfacher alseinen Konsens darüber herzustellen, wie mit denkontroversen Themen der Gegenwart wie Klima-änderung, Mobilfunk oder GVO umzugehen ist.Es gibt eine Reihe bewährter Kriterien, die Wis-senschaftlern dabei helfen, bei der Bestimmungvon Gesundheitsrisiken von der „gedanklichenVerbindung“ zum „ursächlichen Zusammenhang“zu gelangen (Hill, 1965), doch gibt es, trotz eini-ger guter Vorschläge (Raffensperger und Tickner,1999; Gee, 1997), keine allgemein anerkanntenKriterien, die Politikern dabei helfen könnten, an-gesichts wissenschaftlicher Unsicherheit tragfähi-ge politische Entscheidungen zu treffen.

Über Risikobewertung und Risikominderung liegtbereits umfangreiche Literatur vor, die Entschei-dungsträgern unter Umständen Hilfestellung bie-ten kann, es könnte sich jedoch auch eine histori-sche Perspektive als hilfreich erweisen. Dieser Be-richt beschreibt eine weit reichende Vorgeschich-te von Risiken und Gefahren, aus denen sichwertvolle Lehren ableiten lassen. In Kapitel 16sind Lehren zusammengestellt, die dazu beitra-gen können, den Rahmen für eine zweckmäßigeund effektive Politik zu schaffen. Sie könnten mit-helfen, zukünftig die Kosten, die durch Fehlein-schätzung von Umwelt- und Gesundheitsrisikenentstehen, zu minimieren. Das besondere Augen-merk gilt dabei der zukünftigen Verringerungder „falsch negativen“ Fälle, doch könnte durchdie „späten Lehren“ auch das zahlenmäßig gerin-

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gere, jedoch allgemein gefürchtete Risiko „falschpositiver“ Fälle verkleinert werden.

Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Politikerund Wissenschaftler, die sich bemühen, die Men-schen und die Erde vor Gefahren zu schützen, istsehr gering, vor allem in Europa, wo die BSE-Krise im Vereinigten Königreich und anderenLändern, der Dioxin-Skandal in Belgien und HIV-kontaminierte Bluttransfusionen in Frankreichein allgemeines Unbehagen hervorgerufenhaben. Die Regierungen sind sich dessen bewusstund arbeiten mit Nachdruck an der Entwicklungvon Antworten wie dem Weißbuch der EU überEuropäisches Regieren (Juli 2001). Das Weißbuchenthält Empfehlungen für eine verstärkte Beteili-gung der Allgemeinheit im Umgang mit denWechselbeziehungen zwischen Wissenschaft,Technologie und Gesellschaft. Dieser Bericht willeinen Beitrag zu der Diskussion über das neu auf-kommende Thema der Demokratisierung wissen-schaftlichen Fachwissens leisten.

1.5. Literaturverzeichnis

Beck, U., 1992. Risk Society, Sage, London.

Boehmer-Christiansen, S., 1994. „The precaution-ary principle in Germany: Enabling government“,in O’Riordan, T. und Cameron, J. (Hrsg.), „Inter-preting the precautionary principle“, S. 3, Cameronand May, London.

Brody, H. et al., 2000. „Map-making and myth-making in Broad Street: the London choleraepidemic, 1854“, Lancet Bd. 356, S. 64–68.

Deane, Lucy (1898). „Report on the health ofworkers in asbestos and other dusty trades“, inHM Chief Inspector of Factories and Workshops,1899, Annual Report for 1898, S. 171–172, HMSO,London (siehe auch die Jahresberichte 1899 und1900, S. 502).

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Malcolm MacGarvin

Die Fischerei hat seit Jahrhunderten mit Unwäg-barkeiten zu kämpfen, die man in den Griff zu be-kommen suchte. Dieses Thema stellt daher einedoppelte Herausforderung dar, da zwar das zu-grunde liegende Vorsorgeprinzip dasselbe ist wiebei den Umweltschadstoffen, der praktische An-satz zur Durchführung sich aber notwendigerwei-se deutlich von dem dort verfolgten unterscheidet.

„Späte Lehren“ ist sicherlich ein passendes Stich-wort für die Meeresfischerei. Die hier beschriebe-nen Ereignisse, vom Mittelalter über die schotti-sche Fischerei im 19. Jahrhundert und den Zusam-menbruch der kalifornischen SardinenfischereiMitte des 20. Jahrhunderts bis hin zum vollständi-gen Zusammenbruch der kanadischen Kabeljau-bestände in den neunziger Jahren des 20. Jahr-hunderts, machen auf manchmal bedrückendeWeise bewusst, wie sich Geschichte wiederholenkann. Doch man kann auch aus der Vergangen-heit lernen. So wurde in den letzten 10 Jahren dieNotwendigkeit eines vorsorglichen Ansatzes zu-nehmend anerkannt. In Gebieten wie dem Nord-atlantik besteht das Hauptproblem jetzt darin, ge-eignete Wege zu finden, auf denen die Fischer un-geachtet aller kurzfristigen ökonomischen Zwängedie Theorie in die Praxis umsetzen können.

2.1. Frühe Warnungen

Die Beziehungen zwischen vorsorglichem Ver-halten, kulturellen Perspektiven, technischerDurchführbarkeit sowie Risiken und Nutzen sindsehr komplex. In gewissem Sinne sind weder ei-ne auf Vorsorge ausgerichtete Bewirtschaftungin verschiedenen Abstufungen noch Warnungenvor den Risiken der Überfischung etwas Neues.Es gibt Hinweise darauf, dass bestimmte indige-ne Völker Nordamerikas als Folge ihrer exzessi-ven Nutzung der Meeresressourcen ausgestor-ben sind. Andere dagegen haben den Fischfangauf der Grundlage ihrer Kenntnisse über dieÖkologie der Fische per Gesetz und Tabu be-grenzt und konnten z.B. in der Lachsfischereijahrhundertelang beträchtliche Fangquoten er-zielen, anders als die kommerziellen Fischer, die

sie dann verdrängten und die Bestände vernich-teten (McEvoy, 1986).

Bereits im mittelalterlichen Europa kannten dieMenschen die Gefahr der Überfischung. Ein ganzfrüher Aufruf zu vorsorglichem Handeln stammtaus den Jahren 1376–1377 (March, 1953). Damalswurde dem englischen Parlament eine Petitionvorgelegt, die das Verbot von Fangnetzen forder-te, „deren Maschen so klein sind, dass selbst nochso kleine Fische sich nicht befreien können, imNetz verbleiben und mit eingeholt werden ... mitdiesem Netz fangen die oben genannten Fischerderart große Mengen an kleinen Fischen, dass sienicht wissen, was sie mit ihnen tun sollen, außerdamit ihre Schweine zu füttern und zu mästen,zum großen Schaden des gesamten gemein-schaftlichen Gebiets des Königreichs, denn diesführt zur Vernichtung der Fischerei in diesen Re-gionen, wofür Abhilfe zu schaffen ist.“ Die Reakti-on auf diesen Antrag war die Einrichtung einerKommission „aus qualifizierten Personen, die dieWahrheit dieser Behauptung untersuchen undbestätigen und daraufhin Recht walten lassensoll“. Von da an bis ins späte 19. Jahrhundert gabes in England (wie auch in anderen Ländern)zahlreiche Versuche, den Fischfang mit Mittelnzu regulieren, die noch heute verwendet werden(zum Beispiel 1716 mit einer Mindestmaschen-größe, dem Verbot, diese Vorschrift durch dieVerwendung mehrerer Netze übereinander zuumgehen, sowie der Festsetzung einer Mindest-größe für die angelandeten Fische).

2.2. Die britische Fischerei im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert verzeichnete die Fischereiwirt-schaft in Großbritannien, wie auch in anderenLändern, ein rasches Wachstum. Die Unsicherheitüber die Folgen für den wertvollen Heringsfangund die Ausweitung der Schleppnetzfischerei aufandere Arten (kürzlich zutage gefördert von ei-nem „Laien“, dem in der schottischen Stadt Wicklebenden Historiker Ian Sutherland (Sutherland,o. J.) ) hatten unter anderem zwischen 1866 und1893 eine ganze Reihe offizieller Untersuchungenzur Folge (Bericht, 1866; Bericht, 1885).

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2. FISCHEREI: BESTANDSAUFNAHME

2.2.1. Schottische Heringsfischerei

Bei vielen Arten von Meeresfischen schwanken diePopulationsdichten als Folge natürlicher Faktorenganz erheblich. So können auch die Bestände vonHeringen und verwandten Arten, zum BeispielSardinen, über Jahrzehnte hinweg extremen Ver-änderungen unterliegen. Vor diesem Hintergrunddauerte es sehr lange, bis man begriff, dass die Be-fischung diese natürlichen Zyklen noch verstärkenkann. 1865 dokumentierte der vorausschauenddenkende James Bertram (Bertram, 1865, S. 277–282) die Heringsfänge in schottischen Küstenge-wässern zwischen 1818 und 1863 – in einer Zeit,als sich die Treibnetzfläche pro Schiff beinahe ver-vierfachte, während die Fangquote um etwa einDrittel sank. Die Zahlen waren für ihn so eindeu-tig, dass er „keine weiteren Argumente benötigte“.Er schrieb: „Ich habe nie so recht an die Uner-schöpflichkeit der Fischschwärme geglaubt, undich kann mir sehr gut vorstellen, dass Überfi-schung, die manche Leute so leichtfertig verharm-losen, sehr wohl möglich ist ... Wie es aussieht,fürchte ich, dass die große Fischerei in Wick einesTages zu Ende gehen wird. Als sie einst begann,konnte ein Fischer seine Netze noch in einem Wei-denkorb auf dem Rücken tragen; heute braucht erdafür einen Karren und ein kräftiges Pferd.“

Reaktionen

Bertram sollte Recht behalten. Dennoch hielt derPräsident der Royal Society und Fischerei-Inspek-teur Thomas Huxley (kein Dummkopf, aber we-gen seiner Bemerkung, die marinen Fischgründeseien „unerschöpflich“, in Verruf geraten (Hux-ley, 1883)) hielt auch einige Jahrzehnte danachnoch an seiner Meinung über die britischenHeringsbestände fest: „Soweit ich erkennen kann,deutet nichts darauf hin, dass sie über die Jahrehinweg jemals wesentlich größer oder kleinergewesen wären als heute.“ (Huxley, 1881). Im Jahr1893 sah auch ein parlamentarischer Ausschuss„keine Anzeichen rückläufiger Heringsbeständevor unseren Küsten“. Vermutlich wurden dieFangmengen mit der Bestandsgröße gleichge-setzt, ohne die Steigerung des Aufwands, die Aus-weitung des Fanggebiets und die Länge derSaison zu berücksichtigen.

Entgegen der vorherrschenden Meinung bewiesder deutsche Fischereibiologe Heincke um 1890,dass Heringe mehrere voneinander isoliert leben-de Unterarten bilden, was eine entsprechende

Bewirtschaftung auf dieser Ebene erfordert. Dawaren aber die letzten Schwärme in den Küsten-gewässern vor Wick und im Moray Firth bereitsverschwunden. Die Fischerei verlagerte sich wei-ter hinaus aufs offene Meer, und die Fangmen-gen schwankten beim Nordseehering währendder ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ziemlichwillkürlich. Ursache dafür waren weniger die ausder Vergangenheit gezogenen Lehren oder dieergriffenen Maßnahmen, sondern vielmehr dieallgemeine Unruhe auf den europäischen Märk-ten, die der Nutzung des technischen Potenzialsder neuen motorisierten Treibnetzschiffe im We-ge stand. Bei der Entwicklung der „industriellen“Fischerei zur Produktion von Fischmehl und Öl inder zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließ-lich wurden sowohl die neue Technologie alsauch die erforderlichen Sicherheitsspannen un-terschätzt. Dies brachte dann in den siebzigerJahren den Nordseehering an den Rand des Aus-sterbens und erzwang ein Moratorium für denFischfang. Die Bestände erholten sich tatsächlich,und die industrielle Heringfischerei wurde nachBeendigung des Fangverbots nur in einge-schränktem Umfang wieder aufgenommen. Den-noch blieb der durch den Fang von Speisefischenausgeübte Druck auf die Fischpopulationen sostark, dass bis Mitte der neunziger Jahre weitereMaßnahmen ergriffen werden mussten, damitsich die Bestände noch einmal erholen konnten.Obgleich wir also bis zum Ende der neunzigerJahre anscheinend genug gelernt haben, um dentotalen Zusammenbruch der Fischbestände zuverhindern, taugt dies wohl kaum als Modell füreine effektive Bewirtschaftung.

2.2.2. Das Aufkommen von dampfbetriebenen Trawlern

Eine weitere große Erfindung des späten 19. Jahr-hunderts waren die dampfbetriebenen Trawlerzum Fang von Grundfischen wie Kabeljau, Schell-fisch, Wittling und Plattfischen. Sie ermöglichtenden Zugang zu den Arealen, die für Segel- und Ru-derschiffe zu gefährlich oder unerreichbar waren(ein natürliches Äquivalent der heutigen Fangver-botszonen) und erhöhten die Kraft, mit der dieNetze geschleppt und eingeholt werden konnten.Das Ergebnis waren deutlich größere Fangmen-gen. Die Schleppnetzfischerei spaltete die Wissen-schaftler wie auch die Fischer in zwei Lager. Diewichtigsten Einwände waren die Vernichtung derFischbrut am Meeresboden, der Fang von Jungfi-schen und die große Zahl verletzter Fische bei

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dieser Fangmethode. Zudem behinderten dieSchleppnetzfischer – mobile Außenseiter – die üb-rigen Fischer und beuteten deren traditionelleFischgründe aus. Interessanterweise verpflichtetensich im Jahr 1883 einige in Yarmouth lebendeSchleppnetzfischer freiwillig, manche Hochsee-fischgründe zu bestimmten Jahreszeiten zu mei-den, um die Jungfische zu schonen. Leider wurdediese Selbstverpflichtung von anderen Kollegenuntergraben und dann aufgegeben.

Reaktionen

Diese Anschuldigungen erhob Bertram 1865 ge-gen die Schleppnetzfischerei, obwohl auch er derMeinung war, dass sie – mit Bedacht eingesetzt –für bestimmte Fischereibereiche die beste Techniksei (Bertram, 1865, S. 308). Nach einer weiterenparlamentarischen Anfrage wurde um 1883 einewissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gege-ben. Diese kam zu dem Ergebnis, dass der Fangvon Jungfischen durch die Schleppnetze vernach-lässigbar sei (geringer als bei den traditionellen,mit mehreren Haken besetzten Fangleinen, der sogenannten „Langleinenfischerei“), dass die meis-ten Fische unbeschädigt in den Handel gelangenkönnten und dass unter den kommerziellen Fisch-arten nur der Hering auf dem Meeresboden laicht,und selbst hier sei fraglich, ob überhaupt Schadenentstehe. Doch McIntosh – der Autor der Studie –stellte hinsichtlich der Auswirkungen der Schlepp-netzfischerei innerhalb der gut zugänglichen Küs-tengewässer fest, dass diese „mit Schleppnetzensehr leicht leergefischt werden könnten“ und dassder Verzicht auf diese Fangtechnik „ein sehr nütz-licher Versuch „ wäre. Er „würde das Problem end-gültig aus der Welt schaffen und wäre der sichers-te Weg, bei dem niemandem Schaden entstünde“.Diese Meinung wurde durch schottische Fischerei-beamte, andere Wissenschaftler, einige Schlepp-netzfischer sowie durch Beweise aus Nachbarlän-dern und den Vereinigten Staaten unterstützt. Al-lerdings heißt es in der Schlussbetrachtung, natür-liche Bestandsschwankungen hätten „großen Ein-fluss auf die Fischerträge“, auch wenn die Fischerdazu neigten, sich gegenseitig die Schuld für je-den Rückgang zuzuschieben. So sei ein Verbot derSchleppnetzfischerei wegen der hohen wirtschaft-lichen Verluste nicht zu rechtfertigen, bevor dasProblem nicht durch experimentelle Beweise „ein-deutig geklärt“ sei.

Doch das war umstritten. Trotz dieser Untersu-chungsergebnisse wurde in Schottland (und nur

dort) die politische Entscheidung getroffen, dieSchleppnetzfischerei in Küstengewässern, ein-schließlich des Moray Firth und anderer Meeres-arme, zu verbieten. Dieses Verbot galt bis in diezwanziger Jahre, als die Fischer unter dem Druckeines rückläufigen Heringsmarktes nach Alterna-tiven suchten und anfingen, ihre „Zug“-Netzesehr effizient als Schleppnetze einzusetzen. Dieanfänglich hohen Erträge bei Kabeljau und Platt-fischen wiesen darauf hin, dass sich durch die vo-rangegangene Politik die Bestände erholt hatten.

2.2.3. Kosten und Nutzen

Zu den unmittelbaren Kosten und Nutzen der im19. Jahrhundert getroffenen Maßnahmen zur bri-tischen Herings- und Schleppnetzfischerei(MacGarvin und Jones, 2000) sind einige qualita-tive Aussagen möglich. Für schottische Städte wieWick, die stark von der lokalen Heringsfischereiabhängig waren, begann der wirtschaftliche Nie-dergang. Die mit der Schleppnetzfischerei ver-bundene Zentralisierung trug zum wachsendenWohlstand der größeren Zentren wie Fraser-burgh, Peterhead und Aberdeen bei, auf Kostenkleiner Gemeinden. Das Gleiche galt für die Hei-mathäfen der großen Hochseetrawlerflotten süd-lich der Grenze, wie Grimsby, Hull, Newlyn, Fleet-wood und Swansea.

Langfristig gesehen kamen im 19. Jahrhundert ei-nige Entwicklungen in Gang, die bis in die heuti-ge Zeit anhalten. In Schottland blieben die Erträgeund die Tonnage der Schiffe (einschließlich derFlotten für Herings- und Grundfischfang) zwischen1898 und 1998 mit ca. 333 000 Tonnen bzw.109 000 Tonnen erstaunlich konstant (ScottishOffice, 1898 bis heute). Die Zahl der Fangschiffeverringerte sich hingegen von 11 536 auf 2 661,und die der Fischer sank von 36 161 auf 7 771. DieSegel- und Ruderschiffe ging von 11 383 auf Nullzurück, der Verbrauch fossiler Brennstoffe stiegdagegen extrem stark an. Der wirtschaftlicheWohlstand unterlag erheblichen Schwankungen,war aber insgesamt rückläufig. Laut dem 2001 ver-öffentlichten Grünbuch der Europäischen Kommis-sion über die Zukunft der Gemeinsamen Fischerei-politik (Europäische Kommission, 2001b) lag ge-gen Ende der neunziger Jahre die durchschnitt-liche Nettorendite des in die schottische Grund-fangflotte investierten Kapitals bei nur 0,1 %.

Man kann sich natürlich fragen, was wir mit die-ser Investition in Technologie gewonnen haben.

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Eine Veränderung auf der Nutzen-Seite ist derdeutliche Rückgang von tödlichen Unfällen aufSee (auch wenn die Fischerei noch immer gefähr-lich ist). In den guten Jahren mag sie auch einigenMenschen in relativ abgelegenen Regionen mitwenig wirtschaftlichen Möglichkeiten dabei gehol-fen haben, beträchtliche Mengen Kapital zu akku-mulieren, das wiederum in andere Aktivitätenoder an anderer Stelle investiert werden konnteund so zu höheren Erträgen führte. Unter diesenUmständen herrscht kein besonderes Interesse aneiner nachhaltigen Befischung. Für andere jedoch(wahrscheinlich die Mehrheit) war und ist die Fi-scherei eine Lebensart und mit dem tief sitzendenWunsch verbunden, sie auch für künftige Genera-tionen zu erhalten. Diese Menschen haben das Ge-fühl, dass sie auf einen Weg gezwungen werden,dessen Richtung sie nicht bestimmen können.

Die in Schottland beobachtete Veränderung derZusammensetzung der Fischereierträge vollzogsich in diesem über ein Jahrhundert umfassen-den Zeitraum in ähnlicher Weise in der gesam-ten Nordseeregion. Zum einen ging die Bedeu-tung des Heringsfangs für den menschlichen Ver-brauch überall in der Nordsee zurück. Der Anteilan Grundfischen unterlag zyklischen Schwankun-gen und wurde durch den industriellen Fischfang(zunächst von Hering, Sprotten und Makrelen,später auch von anderen Arten wie Sandaalen),der seit Beginn der fünfziger Jahre einen explosi-onsartigen Anstieg verzeichnete, immer weiterzurückgedrängt. Dies gipfelte in den siebzigerJahren darin, dass 2,2 Millionen Tonnen des inder Nordsee erzielten Gesamtertrags von 3,5 Mio.Tonnen auf den industriellen Fischfang entfielen.Diese Zahlen spiegeln eine globale Tendenz wie-der: das „Abfischen des Nahrungsnetzes vonoben nach unten“ (Pauly et al., 1998), angefangenvon (potenziell) hochwertigen Arten bis hin zurindustriellen Ausbeutung von minderwertigen,im Nahrungsnetz niedriger stehenden Fischbe-ständen. Vermutlich hatte diese umfangreicheEntnahme von Biomasse durch die Befischungauch Auswirkungen auf andere Arten, doch fehlthier umfassendes Datenmaterial.

2.3. Kalifornische Sardinenfischerei von 1920 bis 1942

In den zwanziger Jahren nahmen sowohl dieNutzungsstrategien wie auch die Vorkehrungenzur wissenschaftlichen Erforschung und indust-

riellen Bewirtschaftung allmählich die heutigeForm an. Besonders rasant entwickelte sich dieSardinenfischerei in Kalifornien. Ursprünglichwurde der Fisch für den menschlichen Verzehrin Dosen konserviert, doch führten ähnlicheMarktbedingungen wie bei den britischen He-ringsfischern dazu, dass die Verarbeitung zuFischmehl und Öl viel größere Bedeutung für dieVolkswirtschaft erlangte.

Zu dieser Zeit gab es noch keine Fangbeschrän-kungen. Kalifornische Wissenschaftler, die imAuftrag des Staates die Fischerei überwachensollten, handelten eindeutig nach dem Vorsorge-prinzip, als sie Mitte der zwanziger Jahre nach-drücklich forderten: „Eine unnötige Belastungder Bestände sollte solange vermieden werden,bis die wissenschaftliche Forschung in der Lageist, Überfischung rechtzeitig anzuzeigen“(McEvoy, 1986, S. 160f). Die Aufgabe der Regie-rung sei es, „nicht nur die größtmögliche Nut-zung zu unterstützen, sondern auch deren Dau-erhaftigkeit sicherzustellen, da sie die einzige In-stitution ist, die die Interessen aller Parteien unddie der nachfolgenden Generationen vereint“(McEvoy, 1986, S. 159). Wie bereits Jahrzehnte zu-vor in Schottland stieg der Ertrag gemessen amzunehmenden Aufwand nicht mehr weiter an.Das Durchschnittsalter der Fische ging zurück,und die Schiffe mussten weiter und für längereZeit hinausfahren – klassische Anzeichen vonÜberfischung. Eine limitierende Fangquote wur-de empfohlen. Trotz einiger Unsicherheiten ge-langte das staatliche Fischereilabor zu demSchluss, die zunehmende Intensität des Fisch-fangs sei „Beweis genug, um uns davon zu über-zeugen, dass wir auf die Vernichtung der Bestän-de und auf große Verluste zusteuern.“

2.3.1. Reaktionen

Die US-Bundesfischereibehörde teilte diese An-sicht nicht. Zwar räumte auch sie ein, dass nach-drückliche Beweise für einen Bestandsrückgangvorlägen, erklärte aber gleichwohl, es gebe „kei-nen klaren bzw. überzeugenden, alle zufriedenstellenden Beweis“ für eine Überfischung der Sar-dinenbestände. Ihre Sichtweise war die folgende:„Für uns bedeutet Artenschutz umsichtige Nut-zung. Wir halten nichts davon, die Fischressour-cen zu horten“. Vielmehr „sind wir überzeugt,dass unnötige Restriktionen legitime wirtschaft-liche Aktivitäten hemmen bzw. einschränken“(McEvoy, 1986, S. 162–166).

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Die Fischer waren in zwei Lager gespalten. Werdurch die laufenden Entwicklungen benachteiligtwar, hielt den Bestandsrückgang unter den herr-schenden Bedingungen für unvermeidlich. Jenedagegen, die hinter der Expansion standen, wit-terten ein Komplott „zu Lasten einer der wenigenwirtschaftlichen Aktivitäten, die in der großenWirtschaftskrise noch Erfolge vorweisen kön-nen“. Sie argumentierten, alle Veränderungenseien allein Folge von Umweltveränderungenund Sardinen im Übrigen derart fruchtbar, dassdie Bestände rasch nachwachsen würden. IhreBeweise für das überreichliche Vorkommen derSardinen einfach vom Tisch zu wischen sei eineengstirnige mittelalterliche Sichtweise.

Der Streit zog sich ohne Ergebnis hin, bis 1939der neue kalifornische Gouverneur die staatlichenExperten durch „Not“-Beamte ersetzte. Damit än-derte sich der Ton der Berichte: statt von „unmiss-verständlichen“ Anzeichen für einen Bestands-rückgang und der „dringenden“ Notwendigkeit,die Fangmenge zu reduzieren (1938), war nun da-von die Rede, dass es „keinen Grund zur Besorg-nis“ gebe (1942). Bald darauf wurde „zur Unter-stützung der amerikanischen Kriegführung“ eineErhöhung der Fangmengen vereinbart. Noch imselben Jahr brach der Sardinenbestand vollkom-men zusammen. Erst Mitte der achtziger Jahrezeigten sich erste Anzeichen einer Erholung (SanDiego Natural History Museum, 2000).

2.3.2. Kosten und Nutzen

Die Folgen für andere Arten sind hier ähnlich un-wägbar wie bei der britischen Fischerei. Die mitder Produktion von Fischmehl und Öl erzieltenRenditen lagen vor dem Zusammenbruch sehrhoch. Viele Industrieanlagen amortisierten sichin den dreißiger Jahren in einer einzigen Saison.(McEvoy, 1986, S. 145).

Was die verarbeitenden Industriefirmen wieStarkist und Van Camp angeht, ließe sich sagen,dass sie eine optimale wirtschaftliche Strategieverfolgten: effizienter „Abbau“ der Fischbeständeund schnellstmöglicher Absatz am Markt, mit an-schließender Verlagerung von Ausrüstung undAktivitäten nach Südamerika. Dort waren siemaßgeblich an der Öffnung der peruanischenSardellenfischerei beteiligt, deren Ausbeutungdem kalifornischen Modell folgte – und die dannAnfang der siebziger Jahre zusammenbrach(McEvoy, 1986, S. 155).

2.4. Neufundlandkabeljau

Schon bald nach den Erfahrungen in Kalifornienversuchte man mit Hilfe immer komplizierterermathematischer Verfahren mehr aus den spärli-chen vorhandenen Daten über Bestandsgrößenund die Auswirkungen des intensiven Fischfangsherauszuholen. Unterstützt wurde dies durch dieimmer leistungsfähigere Computertechnologie.In den siebziger Jahren war man optimistisch,die Fehler der Vergangenheit in Zukunft vermei-den zu können.

Das vielleicht beste Beispiel hierfür sind die Be-stände des „nordatlantischen Kabeljau“ vor Neu-fundland. Diese größten Kabeljaugründe derWelt wurden bereits seit dem 16. Jahrhundertvon europäischen Fischern ausgebeutet (DFO,2000). In den sechziger Jahren stieg die Fang-intensität dann jedoch so drastisch an, dass 1968der Spitzenwert von 800 000 Tonnen erreichtwurde. Danach folgte ein Rückgang bis deutlichunter die von der internationalen Regulierungs-behörde ICNAF genehmigten Höchstmengen.Diese Internationale Kommission für die Fische-rei im Nordatlantik galt bei vielen Kanadiern alsineffektiv (O’Reilly Hinds, 1995). Gleiches dachteman von der Nachfolgeorganisation, der Nord-westatlantischen Fischereiorganisation NAFO(Day, 1995).

Gegen Ende der siebziger Jahre erweiterteKanada (unter Anwendung des damals neu ver-einbarten Seerechtsübereinkommens der Verein-ten Nationen) seine Hoheitszone von 12 auf 200Seemeilen – unter anderem mit der Absicht,einen Großteil dieser Fischgründe unter dieeigene Kontrolle zu bringen. Was die Kanadierdort durchsetzen wollten, würden viele selbstheute noch als Vorsorgemaßnahmen bezeichnen.Sie setzten „bewusst konservative“ Höchstquotenfür den Fischfang fest mit dem Ziel, diesen aufca. 20 % des Bestandes zu begrenzen und diePopulation auf diese Weise wieder aufzubauen.Die Berechnungen des Fischereiministeriums(Department of Fisheries and Oceans, DFO) deute-ten auf eine Erholung der Bestände hin, und dieHochsee-Erträge der kanadischen Trawler nah-men wieder zu. 1988 meldete das Ministeriumfür den nordatlantischen Kabeljau eine „Zunah-me der Bestände um das Fünffache seit 1976“.Dieser Fall wurde als Beispiel dafür herausge-stellt, wie umsichtige, wissenschaftlich fundierteBewirtschaftung eine scheinbar hoffnungsloseSituation umkehren kann.

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2.4.1. Reaktionen

Die einzige Gruppe, die hier nicht zustimmenwollte, waren die Küstenfischer, die (anders alsdie Hochseefischer) ihre Technologie nicht ver-bessert hatten. Der Rückgang ihrer Erträge pass-te ihrer Meinung nach nicht so recht zu diesemangeblichen Anwachsen der Bestände. Als ihreProteste kein Gehör fanden, gaben sie eine Stu-die in Auftrag, die 1986 veröffentlicht und unterdem Namen ihres Autors als Keats-Bericht be-kannt wurde. Keats hatte die retrospektiven Ana-lysen des DFO untersucht und festgestellt, dassseit der Einführung der kanadischen Kontroll-maßnahmen der Druck auf die Bestände kontinu-ierlich und drastisch unterschätzt worden war,mit dem „Ergebnis, dass wir seit 1977 ständig das1,5- bis 3fache der vorgesehenen Fangmenge(von 20 % des Bestands) entnommen haben“(Keats et al., 1986). Das DFO wies dies zurück „alsvoreingenommene pseudowissenschaftliche Aus-sage zur Unterstützung bestimmter politischerZiele“ (Finlayson, 1994). Keats zog jedoch das In-teresse der Medien auf sich und zwang denFischereiminister dazu, einen offiziellen Berichterstellen zu lassen.

Dieser 1988 fertig gestellte Alverson-Bericht hatteaus offizieller Sicht einiges Gewicht, da er vonFischereibiologen angefertigt wurde. Seine Kern-aussage lautete, dass der Bestand seit 1977 ange-stiegen sei, wenn auch nach 1982 „vermutlichnur noch sehr langsam“. Auch hier wird jedochbestätigt, dass die „durch die Fischerei tatsäch-lich verursachte Mortalität die Zielvorgabe deut-lich übersteigt“, da „die aktuelle Bestandsgrößepermanent überschätzt wird“. Das Problem beste-he darin, dass für jedes Jahr die Daten von etwafünf aufeinander folgenden Jahren erforderlichseien, damit sich die Schätzungen über die durchdie Befischung verursachte Mortalität und dieBiomasse für das Ausgangsjahr „tatsächlich demrichtigen Wert annähern“. Je kürzer die hier he-rangezogene Zeitspanne sei, desto eher gebe sielediglich die vermutete Höhe der durch die Be-fischung verursachten Mortalität wieder. Dies seidann ein schwerwiegender Fehler, wenn der Be-stand bereits derart zurückgegangen sei, dass ervon den Bruterfolgen mehrerer aufeinander fol-gender Jahre abhänge (was bei vielen Fischbe-ständen der Fall sei). Wenn darüber hinaus einBestand eine Periode mit starkem Rückgangdurchlaufe, so täusche diese Methode eine fal-sche Sicherheit vor. Alverson zeigte auf, wie starkdie Schlussfolgerungen über Bestandsgrößen von

der großen Streubreite der Schätzungen über dieMortalität durch den Fischfang beeinflusst wur-den, zu denen man anhand der Daten gelangenkonnte. In der anschließenden Zusammenfassungwurde diese Aussage jedoch wieder auf den Kopfgestellt: Dort hieß es, die Berechnungen des DFOüber die durch die Fischerei verursachte Mortali-tät lägen „innerhalb des Schätzungsbereiches,der von den Daten gestützt wird“, wenn auch anseinem unteren Rand.

Für die Freigabe des Alverson-Berichts war dasDFO zuständig. Öffentlich erklärte Alverson: „Esist ziemlich erstaunlich, dass wir so nahe bei-einander liegen“. Das Ministerium betonte inseiner Antwort, dass die Unterschiede bei denZahlen in der Größenordnung von 4–5 Prozentlägen, die Schlussfolgerungen (hinsichtlich derBestandsgröße und der Ursache für den Rück-gang der küstennahen Fischerei) ganz ähnlichseien und die Glaubwürdigkeit der DFO-For-schung nicht in Frage gestellt werde. In privatenÄußerungen war das Alverson-Team weniger op-timistisch, und es kam zu einer internen Neube-wertung der DFO-Methodik. Das 1989 erstellteGutachten schätzte die durch die Befischung ver-ursachte Mortalität höher ein und gelangte zudem Schluss, dass der Bestand nicht zunahm. Essprach die Empfehlung aus, die Hochseefang-quoten zu halbieren.

Diese Neubewertung wurde als Eingeständnis be-trachtet, dass das DFO alles falsch gemacht hatte.Dies führte für die Behörde zu schwerwiegendenProblemen, da sie als Schiedsstelle zwischen riva-lisierenden Ansprüchen auf die Ressourcen eine„wissenschaftliche“ Argumentationsbasis benötig-te. Wütend protestierten die Hochseefischer, esgebe keine Beweise für einen Rückgang der Be-stände. Der Fischereiminister ordnete eine erneu-te Untersuchung an, den Harris-Bericht von 1990,dessen Erstellung vollkommen unabhängig vomDFO erfolgte. Auch Harris gelangte zu demSchluss, dass vor 1989 die durch die Fischerei ver-ursachte Mortalität vermutlich mehr als doppeltso hoch gelegen hatte wie beabsichtigt, undschätzte den Bestand auf wenig mehr als dieHälfte der angenommenen Größe. Daraus folgte,dass der Bestand in einem Umfang ausgebeutetworden war, der ihn an den Rand der Ausrottunggebracht hatte – eine Schlussfolgerung, die inden Medien hohe Wellen schlug.

Der Harris-Bericht zog den vorsichtigen Schluss,dass das revidierte DFO-Gutachten von 1989 der

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Realität schon etwas näher komme, beleuchteteaber auch ausführlich einige wichtige, nicht ein-fach zu beantwortende Fragen. „Unser Vorgehenwar geprägt von gravierenden Wissenslückenüber die Tiere, an denen wir vornehmlich inte-ressiert waren, und von fast völliger Unkenntnisder Dynamik der Ökosysteme, in denen sie leben.Viel zu lange trugen wir die rosarote Brille undinterpretierten alle Daten mit der jeweils güns-tigsten Berechnungsmethode, um das Wachs-tumsmodell zu bestätigen, an dem wir mit demHerzen hingen. Mit den Managementtheorien,Daten und Bewertungsmethoden, die man früher(und oft bis heute) als gültig betrachtete, lassensich mit Fug und Recht die unterschiedlichstenBehauptungen über den Bestandszustand unter-stützen, von nachhaltigem Wachstum bis hin zugefährlichem Rückgang.“ (Harris, 1990)

2.4.2. Kosten und Nutzen

Harris ging davon aus, dass die zulässige Gesamt-fangmenge (total allowable catch, TAC) von235 000 Tonnen für 1989 auf ca. 125 000 für 1990reduziert werden müsse, um sie mit dem Ziel ei-ner Bestandsentnahme von maximal 20 % in Ein-klang zu bringen. Dies würde allerdings „drasti-sche soziale und wirtschaftliche Auswirkungenhaben“. Stattdessen schlug er eine TAC von190 000 Tonnen (ca. 30 % Entnahme) vor, fügteaber warnend an, dies könne „zu einem weiterenRückgang beitragen“. Trotzdem wurde sein Vor-schlag in die Praxis umgesetzt, mit Verlusten von26 Mio. Kanadischen Dollar (ca. 21 Mio. •) an an-gelandeter Fangmenge, von 66,6 Mio. Kanadi-schen Dollar (53 Mio. •) bei den verarbeitetenProdukten sowie von etwa 1 000 Arbeitsplätzen.Für 1991–1992 wurden ähnliche Fangquoten fest-gelegt. Doch 1992 zeigte sich allmählich, dass esnur noch wenig zu fangen gab. Die Lage war vielernster als selbst die pessimistischsten Vorhersa-gen erwarten ließen. Im Juli 1992 wurde ein Not-stands-Moratorium verhängt, zunächst für zweiJahre. Doch der Bestand erholte sich nicht. Erst1999 wurde wieder Küstenfischerei im Umfangvon gerade einmal 9 000 Tonnen erlaubt. Die inden neunziger Jahren durch entgangene Verkäu-fe, Arbeitslosenunterstützung und finanzielle Bei-hilfen entstandenen Kosten betrugen mehrereMilliarden Kanadische Dollar (MacGarvin, 2001a).

Deprimierend wirkt die Feststellung im DFO-Gut-achten 2000, dass auch die Fangmenge von 1999den Bezugswert von 20 % der Bestandsgröße

überstieg. Dies sei „im Rahmen eines Vorsorgean-satzes nicht akzeptabel“. Im Übrigen sei der Be-stand noch immer derart geschwächt, dass selbstIndex-Fischfang (zur Bestandsüberwachung) „dasRisiko erhöhen könnte, dass die küstennahen Be-stände noch weiter abnehmen und sich dieHochseebestände nicht erholen“.

Das DFO-Gutachten 2000 macht auch deutlich,wie wenig wir selbst über diesen am genauestenuntersuchten Fischbestand wissen – warum erzusammenbrach, warum er sich nicht erholenkonnte, wie stark er durch natürliche Feinde undandere Faktoren dezimiert wird. Ebenso wenigwissen wir über den erbärmlichen Zustand derLoddenbestände, einem der wichtigsten kleinenBeutefische des nordatlantischen Kabeljau. Selbstdie Frage nach der Beziehung zwischen küsten-nahen und Hochseebeständen – Ausgangspunktder ursprünglichen Kontroverse – ist nun wiedervollkommen offen. Inzwischen beginnen wir zuverstehen, dass der „Bestand“ sich aus mehr oderweniger diskreten lokalen Populationen zusam-mensetzt (vgl. Heinckes Schlussfolgerungen überden Hering im 19. Jahrhundert). Dies hat wichti-ge Folgen für die Programme zur Wiederherstel-lung der Fischbestände (Kent Smedbol undWroblewski, 2000). Positiv zu vermerken ist, dassdie Gutachten frei zugänglich sind, und dass dieUnsicherheiten ganz klar herausgestellt werden.Inzwischen versucht man auch von Fischern er-stellte „Laien“-Gutachten über Bestandsgrößeneinzubeziehen (DFO, 2000). Auch wurde einekonstruktive Debatte über die Zukunft derFischerei in Gang gesetzt (Atlantic FisheriesPolicy Review, 2000) Ferner arbeitet man aneiner Bewertung von Bewirtschaftungsmethoden(z. B. Einrichtung von Fangverbotszonen), die we-niger stark von der Genauigkeit bzw. der Theorieder Bestandsgutachten abhängig sind. (Guénetteet al., 2000).

2.4.3. Die menschliche Dimension

Der Niedergang des Kabeljau im Nordatlantik,wie er oben beschrieben wurde, ist ein bemer-kenswertes Ereignis, denn es stellt die Erfolgsaus-sichten noch heute befürworteter Vorsorgeansät-ze in Frage, die auf eine Beschränkung der durchdie Befischung verursachten Mortalität setzenund sich dabei blind auf Modelle und Vorhersa-gen über die Bestandsentwicklung verlassen (sie-he unten). Doch es steckt noch mehr dahinter.Fishing for truth (Finlayson, 1994), eine bemer-

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kenswerte soziologische Studie, die kurz vor demendgültigen Zusammenbruch der Bestände fertiggestellt wurde, enthält eine ganze Reihe auf-schlussreicher Interviews mit wichtigen Beteilig-ten, in denen die menschliche Dimension diesesThemas detailliert beschrieben wird.

Wie dort mit Zitaten belegt wird, haben DFO-Wissenschaftler schon in einem frühen Stadiumder kanadischen Fischereibewirtschaftung vorden Unwägbarkeiten gewarnt, leider aber nichtlaut genug (ibid., S. 136). Ihre Einwände, mankönne die geforderten Informationen (für lang-fristige Vorhersagen) unmöglich liefern, wurdenüberhört. Offenbar nahmen die Wissenschaftlerauch die Drohung ernst, sie würden durch Öko-nomen ersetzt, falls sie ihre Aufgabe nicht erfüll-ten (ibid., S. 135). So standen sie unter doppeltemDruck, die Unwägbarkeiten herunterzuspielen.Auf der einen Seite verlangten die Politiker Be-ständigkeit und Sicherheit, die sie zur Lösung derStreitigkeiten brauchten (ibid., S. 132–133, S. 142).Auf der anderen tendierten die Wissenschaftler –in der festen Überzeugung, dass bei der Vorgabeeines Schätzungsbereichs stets der höchste Wertgewählt wird – zu niedrigeren Schätzungen (die,wie sie fanden, auch eher dem Vorsorgeprinzipentsprachen), wobei sie eine größere Genauigkeitbehaupteten, als aus ihren internen Bewertungenhervorging (ibid., S. 141). Letztendlich taten siesich mit der öffentlichen Überbetonung der Zu-verlässigkeit ihrer Angaben selbst keinen Gefal-len, da sich schließlich herausstellte, dass sieselbst in ihrer pessimistischsten Version die bis-lang durch die Befischung verursachte Mortalitätvöllig unterschätzt hatten.

Darüber hinaus waren den Wissenschaftlern diegroßen Unzulänglichkeiten in Bezug auf die bio-logischen und physikalischen Parameter (ibid.)ebenso bewusst wie die grundsätzlichen Proble-me der Stichprobenziehung (ibid., S. 73f) und dieoftmals zweifelhafte Qualität der wissenschaftli-chen Empfehlungen, die alljährlich in intensivenArbeitssitzungen innerhalb weniger Wochen fürdie zahlreichen Fischbestände ausgearbeitet wur-den (ibid., S. 79). Harris verglich die Fischereifor-schung mit dem ptolemäischen Modell unseresSonnensystems (mit der Erde als Zentrum desUniversums). Dort wurde, wenn die Beobachtun-gen nicht zur Theorie passten, einfach eine wei-tere Komplexitätsebene hinzugefügt, anstatt diegrundlegende Theorie in Frage zu stellen (ibid.,S. 69). Dies stand im Einklang mit der heftigenKritik, die zur gleichen Zeit von verwandten,

aber eigenständigen Disziplinen kam, z. B. vonder theoretischen Ökologie (Peters, 1991).

Doch nichts von alledem geschah, weil die Betei-ligten dumm oder sorglos gewesen wären, oderweil es an Interesse gemangelt hätte, die Fisch-gründe zu erhalten. Vielmehr versagte das Sys-tem selbst, indem es Fischer, Wissenschaftler undPolitiker daran hinderte, auf die vorliegenden In-formationen angemessen zu reagieren oder ausder Situation ihre Lehren zu ziehen.

2.5. Vorsorge wird explizit

Seit Beginn der neunziger Jahre wird die Fische-rei explizit vom Prinzip der Vorsorge bestimmt.Dies liegt an den Erfahrungen mit Katastrophenwie der in der Kabeljaufischerei, aber auch ander zunehmenden Bedeutung des Vorsorgeprin-zips in anderen Bereichen. Die wichtigste globaleEntwicklung war die Aushandlung von zwei mit-einander zusammenhängenden UN-Dokumentenim Jahr 1995: dem FAO-Verhaltenskodex für ver-antwortungsvolle Fischerei (FAO, 1995) und demAbkommen der Vereinten Nationen über gebiets-übergreifende und weit wandernde Fischbestän-de (UN, 1995).

Der FAO-Kodex sieht für die Fischerei einen „Vor-sorgeansatz“ vor. Dieser Terminus entstand ur-sprünglich als Folge der Nervosität in der Fische-reibewirtschaftungsindustrie, die befürchtete, dieNROs im Umweltbereich hätten das Vorsorge-„Prinzip“ für sich gepachtet und könnten es unge-rechtfertigterweise als Waffe zur Durchsetzung ei-ner deutlichen Reduzierung der Fangquoten odersogar eines völligen Fangverbots benutzen. Dassman von „Ansatz“ spricht, ist also wohl in ersterLinie eine Art Anspruch auf die Urheberschaft fürdas Verfahren und bedeutet nicht, dass andereAnalysen durchgeführt oder andere Schlussfolge-rungen gezogen würden. Tatsächlich könnte es,wie schon in der Einführung beschrieben, vonVorteil sein, zwischen dem allgemein anwendba-ren Prinzip und dem konkreten Ansatz zur Durch-führung zu unterscheiden, denn letzterer dürfteje nach Bereich ganz unterschiedlich ausfallen.Bei den Verhandlungen über den Kodex spieltediese Unterscheidung allerdings keine Rolle. DasKonzept der Vorsorge umfasst hier Unwägbarkei-ten bezüglich der einzelnen Bestandsgrößen, deranderen betroffenen Arten sowie der Umweltbe-dingungen und der sozio-ökonomischen Verhält-

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nisse. Im Vordergrund steht jedoch der Mechanis-mus zur Berücksichtigung der bestehenden Unsi-cherheiten in den Bestandsbewertungsmodellen:Es werden bestandsspezifische Zielbezugswertefestgelegt (d.h. das „positive“ Ziel einer optimalenBestandsgröße) und zugleich die notwendigenMaßnahmen für den Fall ihrer Überschreitung so-wie „Grenzbezugswerte“ (das negative Ziel derniedrigsten akzeptablen Bestandsgröße) und wie-derum die notwendigen Maßnahmen für den Fallder Überschreitung. Bei Annäherung an einenGrenzbezugswert sind Maßnahmen zu ergreifen,die sicherstellen, dass er nicht überschritten wird.Dieser ausdrückliche Bezug auf Ziele, Grenzwerteund die Festlegung dieser Werte im Voraus ist einganz neuartiges Konzept.

Das UN-Abkommen enthält nähere Details, so vorallem die Aussage, dass „die durch die Befi-schung verursachte Mortalitätsrate, die den ma-ximalen Dauerertrag (maximum sustainable yieldMSY) liefert, als Mindeststandard für Grenzbe-zugswerte (d.h. das „negative“ Ziel)“ betrachtetwerden sollte. Sie ist das Minimum, da das alteKonzept des MSY (noch immer eine weit verbrei-tete Berechnungsmethode) bekanntermaßen dieDauererträge überschätzt. Dies hat weit reichen-de Folgen, denn viele Fischbestände werdendeutlich über den offiziellen MSY hinaus ausge-beutet. Weiter heißt es: „Für nicht überfischte Be-stände sollen die Bewirtschaftungsstrategien si-cherstellen, dass die durch die Befischung verur-sachte Mortalität nicht den Wert überschreitet,der dem maximalen Dauerertrag entspricht, unddass die Biomasse nicht unter einen vorher fest-gelegten Schwellenwert fällt.“ Für überfischte Be-stände kann „die Biomasse, die den maximalenDauerertrag einbringen würde, als Regenerie-rungsziel“ dienen. Der hier potenziell enthalteneWiderspruch ist möglicherweise das Ergebnis ei-nes Verhandlungskompromisses – solche Doku-mente sind nicht unbedingt als Produkt einereinzigen, konsistenten Haltung zu interpretieren.

Gleichwohl wird im UN-Abkommen, und indirektauch im FAO-Kodex, die Vorsorge zur Sicherungmaximaler langfristiger Erträge in den Vorder-grund gestellt.

2.5.1. Reaktionen

Auch in der entsprechenden US-Richtlinie(Restrepo et al., 1998) wird anerkannt, dass dieFischereibewirtschaftung im Einklang mit dem

UN-Abkommen und dem FAO-Kodex stehensollte1. Die Kanadier (Richards und Schnute, 2000)vertreten die Meinung, die Bestände sollten gleichgroß oder größer – und die durch die Befischungverursachte Mortalität kleiner – sein als der jewei-lige aus dem MSY resultierende Wert, bzw. beiNichtanwendbarkeit des MSY sollte ein entspre-chender Ersatzwert verwendet werden.

Anders als in den Vereinigten Staaten und Kana-da sind bei den Meeren, die durch die EU-Mit-gliedstaaten kontrolliert werden, die Zuständig-keiten auf verschiedene Ebenen verteilt. Der In-ternationale Rat für Meeresforschung ICES ist ver-antwortlich für die technische Beratung, dochdie Verantwortung für die Bewirtschaftung, ein-schließlich der Aufstellung von Zielvorgaben,liegt bei der Europäischen Kommission und deneinzelnen Mitgliedstaaten. Dies führt zu Kompli-kationen. Derzeit bewegt sich die ICES-Empfeh-lung um den Wert Blim (untere Biomassengrenze)sowie um eine höhere, auf dem „Vorsorgeansatz“basierende Zielbestandsgröße, Bpa, zumindest ge-mäß FAO-Interpretation (Garcia, 2000). Danebenwerden auch zwei entsprechende Werte für diedurch die Befischung verursachte Mortalität ver-wendet, mit denen diese Bezugswerte erreichtwerden sollen: Flim und Fpa. Blim bezieht sich nichtauf den MSY sondern auf einen Wert, unterhalbdessen ein Bestand „unmittelbar vom Zusammen-bruch bedroht“ ist (Garcia, 2000, S. 22). Bpa dage-gen wird je nach Zustand des Bestandes unter-schiedlich festgelegt. Bei schwachen Fischbestän-den, wie zum Beispiel bei Nordseekabeljau,Schellfisch und Scholle, wird er am bzw. nahe ambiologisch akzeptablen Mindestwert (minimumbiologically acceptable level MBAL) festgesetzt. Un-ter diesem Wert geht man von einem inakzepta-blen Risiko aus, dass der Bestand Blim erreichenkönnte. Leider liegen laut Schätzung des ICES vie-le Fischbestände unterhalb von Bpa bzw. sogar na-he an Blim (vgl. ICES-Empfehlungen zum Nordsee-kabeljau für 2000 (ACFM ICES, 2000a)). Diese Ge-

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1 Die Haltung der USA und die Richtlinie sind auch überdie Fischerei hinaus von Interesse. Dort wird die Durch-führung von Schutzmaßnahmen auch dann gefordert,„wenn keine gesicherten wissenschaftlichen Erkennt-nisse über die Ausbeutung der Bestände vorliegen“. Vorder Einführung dieses Ansatzes wurde es als unmöglichangesehen „ohne den wissenschaftlichen Beweis derÜberfischung rechtzeitig Schutzmaßahmen durchzufüh-ren. Der Vorsorgeansatz stellt also im wesentlichen eineUmkehr der Beweislast dar.“

wichtung und Interpretation der Bezugswertewurde bisweilen als nicht vereinbar mit demFAO/UN-Ansatz gesehen, was entsprechendeFachkritik aus den Reihen der FAO, (Garcia, 2000,S. 23), aus den Vereinigten Staaten (Restrepo etal., 1998, S. 24) und aus Kanada auslöste (Ri-chards und Schnute, 2000, S. 7). Letztendlich be-hielt man oft das frühere Bewirtschaftungssystem(mit dem Ziel, die Bestände oberhalb von MBALzu halten) unverändert bei, auch wenn es durcheinen „vorsorglichen“ Anstrich mit neuem Glanzversehen wurde.

Dem mag der ICES mit der Anmerkung zustim-men, dass diese Verwendung von Grenzbezugs-werten „eine unnötig eingeschränkte Interpreta-tion des Konzepts“ darstellt und dass „zur Festle-gung von Vorsorgebezugswerten Gespräche mitden Fischereibehörden“ erforderlich sind (ACFMICES, 2000b, S. 55). Dies verdeutlicht die Span-nungen, die aus der aufgeteilten Zuständigkeiterwachsen. Der ICES selbst bezeichnet Bpa nichtals „Zielbezugswert“, sondern als „Puffer-“ oder„Vorsorgebezugswert“ (ACFM ICES, 2000b, S. 2),vermutlich deshalb, weil das Festlegen eines „Zie-les“ als Eingriff in die Zuständigkeiten der Kom-mission und der Mitgliedstaaten gesehen wird.Die 1995 vonseiten des Wissenschaftlich-techni-schen und Wirtschaftlichen Fischereiausschussesder Europäischen Kommission (Europäische Kom-mission, 1995) geäußerte Kritik, dieses Bewirt-schaftungssystem begnüge sich mit Krisenma-nagement und sei nicht bereit bzw. nicht fähig,ein positiveres Ziel im Sinne einer Erhöhung derProduktivität der Fischerei im biologischen, wirt-schaftlichen oder sozialen Sinne zu setzen,scheint noch immer Gültigkeit zu haben. Bis heu-te können oder wollen die Mitgliedstaaten offen-bar nicht die kurzfristigen Investitionen aufbrin-gen, die für die Regenerierung der Bestände aufein optimales Niveau erforderlich wären. In derMitteilung der Europäischen Kommission ausdem Jahr 2000 zur Anwendbarkeit des Vorsorge-prinzips (Europäische Kommission, 2000) heißtes, dass sich der ICES aus zwei Gründen nicht aufden MSY beziehe. Zum einen sei es bei einer Rei-he von Beständen „schwierig oder sogar unmög-lich“, die Bedingungen für eine optimale Befi-schung im Sinne des höchstmöglichen Dauerer-trags festzulegen. Zum anderen gehe der durchdie Befischung auf viele EU-Bestände ausgeübteDruck „schon weit über das Maß hinaus, das ei-ner optimalen Befischung im Sinne des höchst-möglichen Dauerertrags entspräche“. Eine mögli-che Entgegnung darauf könnte lauten, dass die

Festsetzung maximaler Erträge nicht mehr undnicht weniger sicher ist als die Festsetzung desWertes, bei dem ein Bestand zusammenbrechenwird. Die hohe Belastung der Bestände durchden Fischfang ist ein Grund für die Notwendig-keit des Kodex, keineswegs aber dafür, ihn nichtanzuwenden.

Die Beziehung zwischen EU-Politik, FAO-Kodexund UN-Abkommen könnte durchaus noch zueinem höchst umstrittenen Thema werden. DasGrünbuch der Kommission über die Zukunft derGemeinsamen Fischereipolitik (EuropäischeKommission, 2001a) befasst sich zwar sehr all-gemein mit dem gesamten Problemkreis. Esbenennt aber offen die Probleme und ist einegeeignete Grundlage für die Diskussion überdas weitere Vorgehen. Der konstruktivste Wegnach vorn dürfte die Konzentration auf dieZukunft sein und nicht allzu langes Verweilenin der Vergangenheit.

Ein Aspekt des UN-Abkommens und des FAO-Kodex ist jedoch nach wie vor problematisch:die Qualität der Daten. Beim kanadischen Kabel-jau war die Unterschätzung eines statistischenSchlüsselwertes, nämlich der durch die Be-fischung verursachten Mortalität, von größterBedeutung. Eine 1999 durchgeführte retrospekti-ve Analyse der Mortalitätsraten bei denjenigenNordseefischen, für die die besten Daten verfüg-bar waren (Kabeljau, Schellfisch, Wittling, Schol-le und Seezunge) ließ dieselben grundlegendenProbleme deutlich werden (van Beek und Pas-toors, 1999; ACFM ICES, 1999, S. 12). Bei Kabel-jau, Schellfisch und Wittling lag die Mortalitätviel höher als ursprünglich behauptet, bei derScholle gab es überhaupt keine Korrelation, undbei der Seezunge möglicherweise eine negativeKorrelation. Auch wurde festgestellt, dass eineUnterschätzung der durch die Befischung verur-sachten Mortalität mit einer Überschätzung derBestandsgröße einhergeht. Tatsächlich ist diesesProblem bereits seit 1977 bekannt. Die Paral-lelen sind erschreckend. Eine Schlussfolgerungbesagt, die Kabeljaustämme des nordöstlichenAtlantik könnten höhere Mortalitätsraten über-stehen als die im Nordatlantik, doch dreht mansich mit dem zur Begründung angeführtenArgument, dass die betroffenen Bestände nochnicht zusammengebrochen seien, offensichtlichim Kreis. Auch der nördliche Kabeljau hat Zei-ten überlebt, in denen der durch die Befischungausgeübte Druck noch stärker war als kurz vordem Zusammenbruch.

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Letztendlich war das Ziel, das Kanada mit seinerBewirtschaftungspolitik für den Nordatlantikka-beljau verfolgte, identisch mit dem, was heuteunter dem Vorsorgeansatz angestrebt wird: diedrastische Einschränkung des Fischfangs und derAufbau einer Bestandsgröße oberhalb des für op-timale Wirtschaftserträge vorhergesagten Wer-tes. Und dennoch ist der Bestand zusammenge-brochen. Somit ist die Frage legitim, ob die bisheute erfolgten Veränderungen ausreichen.

2.6. Der Ökosystem-Ansatz

Ein weiterer Kritikpunkt am UN/FAO-Ansatz lau-tet, dass er zwar nominell Vorsorge auf der Ebe-ne des Ökosystems verlangt, den praktischenSchwerpunkt aber nach wie vor auf die Bewirt-schaftung der Einzelbestände legt. Darüber hi-naus sollte sich die Vorsorge ethisch gesehennicht ausschließlich darauf richten, den Zusam-menbruch der Bestände zu verhindern (vgl.ICES/EU) bzw. Bestandsgrößen oberhalb des MSYzu sichern (UN/FAO), sondern auch darauf, nega-tive Folgen für andere, von den betreffenden Fi-schen abhängige Arten zu vermeiden. Ein früherVerfechter dieser Forderung war Greenpeace miteinem 1994 formulierten Vorsorgeansatz (Earl,1994). Allerdings wurde in der Zwischenzeit vonanderer Seite auch das Argument angeführt,Fangquoten könnten nur dann nachhaltig sein,wenn sie auf dieselbe Größenordnung reduziertwürden wie die Auswirkungen durch andere Prä-datoren (Fowler, 1999). Somit gibt es nicht einen„richtigen“ Vorsorgeansatz, sondern dieser hängtganz von den gesetzten Zielen ab (MacGarvin,2001b). Unterschiedliche Fischereisysteme wer-den, selbst wenn sie im gleichen Gebiet agieren,Kosten und Nutzen sowie die akzeptablen Risikenverschiedener Elemente einer vorsorglichen Re-aktion unterschiedlich bewerten, je nachdem wiediese mit den jeweiligen Aktivitäten und Interes-sen kollidieren.

Die einzelnen Fischbestände lassen sich nichtisoliert voneinander behandeln, da viele kom-merzielle Fischarten wichtige Prädatoren fürandere Arten sind (Swain et al., 2000). Die Be-fischung eines Bestandes hat natürlich Auswir-kungen auf andere Bestände. Versuche, dieserTatsache Rechnung zu tragen, findet man bis-weilen auch in statistischen Modellen für einzel-ne Arten, aber diese werden der offensichtlichenKomplexität nicht gerecht. Die Kluft zwischen

den Disziplinen der Fischereiforschung und dertheoretischen Ökologie und der Ökologie derLebensgemeinschaften ist bemerkenswert. Inden frühen neunziger Jahren kritisierten nam-hafte Ökologen das Fischerei-Management etwamit dem Ausspruch, es sei „in seinen grundle-genden Modellen derartig an Ungenauigkeitengewöhnt, dass es die eklatanten Unterschiedezwischen Modell und Beobachtung kaum nochwahrnimmt... Dessen ungeachtet passen dieFischereibiologen die Daten einfach an eindeu-tig ungenaue Modelle an und fällen auf dieserGrundlage ihre Entscheidungen“.

Doch es gibt auch Anzeichen für Veränderungen.Die regulierenden Behörden betonen neuerdingsdie Notwendigkeit eines „Ökosystem-orientiertenAnsatzes“. Vor allem in den USA (EcosystemsPrinciples Advisory Panel, 1998), aber auch inner-halb des ICES-Beratungsausschusses für die Mee-resumwelt (ACME ICES, 2000) sowie in Kanada(Murphy und O’Boyle, 2000) werden zunehmendExperten und Konzepte aus der theoretischenÖkologie und der Ökologie der Lebensgemein-schaften zu Rate gezogen. Der oben genannteUS-Bericht weist auf die Rolle der chaotischenPopulationsdynamik hin, die Systeme völlig un-vorhersagbar machen kann. Tatsächlich heißt esin einer früheren Studie über die Interaktionenzwischen Fischarten in den kanadischen GrandBanks, dass die Auswirkungen einer Veränderungauf eine bestimmte Art immer weniger vorher-sagbar werden, je realistischer die Modelle sind –das System scheint wie ein gigantischer Zufallsge-nerator zu funktionieren (Gomes, 1993).

Allerdings wird in dem US-Bericht auch betont,dass Ökosysteme Grenzen haben, deren Über-schreitung irreversible Veränderungen hervorru-fen kann. Weiter wird unterstrichen, dass Diversi-tät von entscheidender Bedeutung ist, dass dieSysteme auf verschiedenen Ebenen operierenund dass die Grenzlinien – zum Leidwesen derFischereimanager – unklar verlaufen. „Es fehltganz einfach an Geld, Zeit oder auch an der Fä-higkeit, ein umfassendes sachkundiges Bild da-von zu erstellen, was die Fischerei im Kontext desÖkosystems bewirkt. Es wird immer nicht gemes-sene Faktoren, zufällige Auswirkungen undgrundlegende Unwägbarkeiten geben, doch sinddies keine akzeptablen Rechtfertigungen dafür,die Umsetzung einer auf dem gesamten Ökosys-tem basierenden Bewirtschaftungsstrategie wei-ter hinauszuzögern.“ Zu ähnlichen Schlussfolge-rungen gelangten auch europäische Experten

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(Daan, 1998). So ist es zum Beispiel immer nochnicht gelungen, eine seit 1914 als Problem er-kannte (Hjort, 1914) entscheidende Lücke zuschließen: aus der Zahl der abgelegten Eier dieZahl der Fische vorhersagen zu können, die dieJugendphase überstehen und zum künftigen Be-stand gehören werden. Doch immerhin wissenwir durch den US-amerikanischen Ansatz heuteso viel über das Funktionieren von Ökosystemen,dass wir eine bessere Bewirtschaftung als in derVergangenheit betreiben können. 1919 forderteein kalifornischer Fischereibeamter, dass „Bewei-se, die auf Veränderungen beim Handel oder inder Sportfischerei hinwirken, überwältigend seinmüssen“ (Thompson, 1919). Heute dagegen liegtdie Beweislast bei der Fischereiwirtschaft: siemuss der vorhandenen Unsicherheit über dieAuswirkungen auf das Ökosystem Rechnung tra-gen. Wichtig ist dabei die Einbeziehung der Be-troffenen auf der operativen Ebene. Eine Art Vor-sorgeansatz der „zweiten Generation“, der nichtso stark auf Bestandsbewertungsmodelle ausge-richtet ist (auch wenn diese sich um die vorsorg-liche Berücksichtigung von Fehlern bemühen),und der fehlerrobuste Konzepte wie etwa Fang-verbotszonen mit einbezieht, scheint derzeit inder amerikanischen Georges Bank zu positivenErgebnissen für Fische und Schalentiere zu füh-ren (Murawski et al., 2000).

Besonders beim kanadischen Ansatz wird die ak-tive Rolle der Fischer hervorgehoben. Inzwischenversucht man bei Bestandsgutachten ihr Wissenmit einzubeziehen (zum Beispiel DFO, 2000). Da-gegen wird in Nordeuropa großer Wert auf diepolitische Bedeutung des Ökosystem-Manage-ments gelegt (Norwegisches Ministerium für Um-welt, 1997; Nordischer Ministerrat, 1998). All die-se Ansätze befinden sich noch in einem frühenStadium, und es fehlt ein allgemeiner Konsens.Zusammengenommen jedoch liefern sie die Ele-mente für einen ganz neuen, auf Vorsorge basie-renden Ansatz, dessen Umsetzung ein vielver-sprechendes Potenzial birgt.

2.7. Späte Lehren

Die Fischerei erteilt uns zahlreiche Lehren zumVorsorgeansatz, die auch für andere Bereiche vonInteresse sind. Dazu gehören:

➔ Unterscheidung zwischen Vorsorgeprinzipund Vorsorgeansätzen (logische Unterschei-

dung zwischen einem einfachen „Prinzip“und unterschiedlichen praktischen Anwen-dungen in verschiedenen Bereichen; auch ei-ne „politische“ Unterscheidung, z. B. im FAO-Kodex);

➔ Notwendigkeit angemessener Beweisebenen(schottische Fischerei im 19. Jahrhundert,staatliche Wissenschaftler im Kalifornien derzwanziger Jahre, Ökosystem-Ansatz in denUSA der neunziger Jahre)

➔ Unterscheidung zwischen Unwägbarkeit undUnkenntnis (Harris-Bericht, Unsicherheiten be-züglich der Schätzungen, Wissenslücken inder Ökologie);

➔ unrealistische Erwartungen (oder unglaubhaf-te Ansprüche) in Bezug auf die „Fundiertheit“der wissenschaftlichen Schlussfolgerungen(besonders beim Nordatlantikkabeljau, aberauch allgemein);

➔ Einbeziehung von historischem Wissen (Hein-ckes Gewichtung der Unterbestände, natürli-che „Schongebiete“ in Schottland, Erfolge inGebieten, die vor Schleppnetzfischerei ge-schützt sind);

➔ Bemühen um die Beseitigung von „Schwach-stellen“ anstatt diese unter den Teppich zukehren (Harris-Bericht, rosarote Brille);

➔ Vermeidung der Vorherrschaft einer einzel-nen Disziplin oder Unterdisziplin (der generel-len Dominanz von Bestandsmodellen);

➔ Berücksichtigung der Bedingungen der „rea-len Welt“ (Unterschätzung des tatsächlichenUmfangs der durch die Befischung verursach-ten Mortalität und der Fangtechnologien);

➔ umfassende Berücksichtigung der Vor- undNachteile unterschiedlicher Ansätze (Be-standsgutachten versus breitere methodischeAnsätze);

➔ Einbeziehung von Laienwissen (amerikanischeUreinwohner, schottische Fischer im 19. Jahr-hundert, kanadische Küstenfischer);

➔ Berücksichtigung der breiteren gesellschaftli-chen Perspektive, Anerkennung der Bedeu-tung ethischer Urteile und Bewertung allerverfügbaren Optionen (unterschiedliche Inter-pretationen des Vorsorgeansatzes);

➔ Vermeidung des Rückgriffs auf immer kom-pliziertere Modelle, um vorhersehbare Fehler„wegzuerklären“ (Harris, ptolemäische Astro-nomen und analytische Fischereiwissen-schaft);

➔ Umgang mit institutionellen Hindernissenund mit der Unabhängigkeit der Regulie-rungsbehörden (fehlende Bereitschaft,grundlegende wirtschaftliche Themen anzu-

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sprechen, mangelnde Unabhängigkeit dertechnischen Berater und Politiker von denZeiten der kalifornischen Sardinenfischereibis heute);

➔ Wahrung der angemessenen Bescheidenheit(der 1986 vom DFO gegen seine Kritiker er-hobene Vorwurf der „Pseudowisssenschaft-lichkeit“).

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➔ TABELLE 2.1. FISCHEREI: FRÜHE WARNUNGEN UND ERFOLGTE REAKTIONEN

Frühe Fischereiwirtschaft auf den britischen Inseln

1376—1377Einrichtung eines Ausschusses durch das englische Parlament als Reaktion auf die Forderung nachVorsorgemaßnahmen in der Fischerei durch die Kontrolle der Maschengröße der Fangnetze

1866—1893Die Unsicherheit über die Folgen des raschen Wachstums der Fischereiwirtschaft hat offizielleUntersuchungen zur Folge, aber keine konkreten Maßnahmen

Sardinenfischerei in Kalifornien

Mitte der zwanziger Jahre Kalifornische Fischereibiologen fordern Vorsorge und wissenschaftliche Erforschung

1942Anhaltende Untätigkeit führt zum Zusammenbruch des Sardinenbestandes (Anzeichen für eine Erholungerst Mitte der achtziger Jahre)

Kabeljaufischerei in Kanada

Ende der siebziger JahreKanada dehnt mit dem Anspruch des vorsorglichen Handelns die Bewirtschaftung der Kabeljaubeständeauf die 200 Seemeilen-Zone aus

1986Der von Küstenfischern in Auftrag gegebene Keats-Bericht stellt eine drastische Unterschätzung desdurch die Befischung ausgeübten Drucks auf die Bestände fest

1988Dem von Fischereibiologen angefertigen Alverson-Bericht zufolge führt die ständige Überschätzung derBestandsgröße zu Überfischung

1989 Ein neues Regierungsgutachten empfiehlt die Halbierung der Fangquoten für die Hochseefischerei

1990 Bestätigung der Überfischung durch ein neues unabhängiges Gutachten (Harris-Bericht)

1992 Zusammenbruch des Bestandes und Verhängung eines Moratoriums

1999Neubeginn der Kabeljaufischerei mit niedrigen Fangquoten, die von Gegnern nach wie vor als zu hochbezeichnet werden

Fischerei allgemein

neunziger Jahre Der Ökosystem-Ansatz findet allmählich Eingang in die Bewirtschaftungsmethoden

1995Der FAO-Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Fischerei und das UN-Abkommen über gebietsüber-greifende und weit wandernde Fischbestände werden ausgehandelt und veröffentlicht

2001 Grünbuch der Europäischen Kommission über die Zukunft der gemeinsamen Fischereipolitik

2001Positive Veränderungen sind erkennbar, doch werden sie schnell genug erfolgen, um denZusammenbruch weiterer Fischbestände zu verhindern?

Quelle: EUA

Es sind durchaus positive Verhaltensänderungenerkennbar. Die Frage ist nur, ob sie auch schnellgenug erfolgen, um den Zusammenbruch weite-rer Fischbestände zu verhindern. Natürlichwünschen sich einige Interessengruppen einekurzfristige Strategie, aber eigentlich sollte dieNotwendigkeit der Vorsorge der Fischereiindust-rie keine allzu großen Kopfschmerzen bereiten.Wenn wir die Fischgründe nicht restlos leer-fischen, erreichen wir nicht nur mehr Sicherheitbezüglich der Erhaltung der Bestände, sondernauch einen deutlichen Anstieg der wirtschaft-lichen Erträge (Whitmarsh et al., 2000). Das Pro-blem besteht darin, dass das Kapital der Naturbereits so stark ausgebeutet wurde, dass dieIndustrie oftmals die kurzfristigen zusätzlichenEinschränkungen nicht mehr verkraften kann,die für die Regeneration der Bestände notwendigsind. Die verschiedenen Interessengruppen soll-ten ihre Streitigkeiten beilegen und stattdessendie Sprache der Wirtschaftsministerien erlernenund den Dialog mit ihnen aufnehmen. Diese sindin Bezug auf den Nutzen von Investitionen inBestandserholungsprogramme äußerst skeptisch– was angesichts der Erfahrungen mit unan-gebrachten Beihilfen nicht überraschen dürfte.

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Barrie Lambert

Seit der Entdeckung der ionisierenden Strahlungvor etwas mehr als 100 Jahren wissen wir, dassunbesonnene Strahlenexposition zu schweren Ge-sundheitsschäden und sogar zum Tod führenkann. Doch die allgemeine Aufregung über dieseEntdeckung in Wissenschaftskreisen und die vonihr hervorgerufene, oft unangemessene öffentli-che Aufmerksamkeit sorgte dafür, dass die ge-sundheitlichen Schäden, vor allem die Langzeit-folgen, in den Hintergrund gerieten. Der unbe-strittene diagnostische und therapeutische Wertvon Röntgenstrahlen und Radioisotopen führtein der Tendenz zu einer Vernachlässigung vonVorsichtsmaßnahmen, und erst Jahrzehnte späterbegann man mit der Kontrolle der Strahlenexpo-sition der Bevölkerung und bei der Arbeit. Mitzunehmendem Wissen über die Wechselwirkun-gen zwischen ionisierender Strahlung und biolo-gischen Geweben entwickelte sich der Strahlen-schutz allmählich weiter, wenn auch die entspre-chenden Richtlinien und Empfehlungen nur sel-ten auf dem neusten Stand der Forschung waren.Die in den letzten 70 Jahren vorgenommenenÄnderungen an den Empfehlungen zur Strahlen-exposition stellten in der Regel Verschärfungendar; vor ungefähr 20 Jahren wurde deutlich, dassdas Strahlenrisiko etwa 4–5 mal höher ist als bisdahin angenommen. Nicht immer ist es jedochgelungen, durch Kontrollen einen angemessenenAusgleich zwischen Risiken und Nutzen zu schaf-fen. Will man die Entwicklung des Strahlenschut-zes verstehen und analysieren, muss man mehrals 100 Jahre zurückblicken.

3.1. Röntgenstrahlen

Die Röntgenstrahlung wurde im Jahre 1895 vondem Physiker Wilhelm Conrad Röntgen an derUniversität Würzburg entdeckt. Glaubhaften Be-weisen zufolge hatten zwar noch eine Reihe an-derer zeitgenössischer Kollegen, vor allem derAmerikaner Arthur Willis Goodspeed im Jahr1890, ähnliche durchdringende Strahlen er-zeugt, ohne jedoch diesem Phänomen große Be-

achtung zu schenken. Röntgen war der Erste,der einen Bericht über die Erzeugung von Rönt-genstrahlen veröffentlichte (Röntgen, 1895) undihre immense Bedeutung für die medizinischeDiagnose erkannte – ja, er machte seine Arbeitbekannt, indem er eine Röntgenaufnahme derHand seiner Frau an namhafte Wissenschaftlerverschickte. Dieses Werkzeug der medizinischenDiagnostik weckte sofort weltweites Interesse,und wegen des meist eher unbekümmerten Vor-gehens der Mediziner ließen die ersten Strahlen-schäden nicht lange auf sich warten. Expertenund Laien waren gleichermaßen fasziniert vondem neuen Phänomen, das das menschliche Ge-webe durchdringen und Knochenstrukturen ent-hüllen konnte. Trotz gelegentlicher Unheil ver-kündender Warnungen (Thompson, 1898)herrschte allgemeines Einverständnis darüber,dass Röntgenstrahlen, mit Bedacht eingesetzt,keinerlei negative Folgen hätten. Man beharrteauf der naiven Vorstellung, dass von einem Mit-tel, welches den Sinnen verborgen ist, keine Ge-fahren ausgehen können – paradoxerweise istgenau dies heutzutage der Grund für die über-mäßige Angst vor Strahlung.

Die ersten Berichte über Strahlenschäden stam-men aus dem Jahr 1896 – so beschrieben Edison,Tesla und Grubbe Augen- und Hautschäden, undbesonders Edison warnte vor einer zu hohenStrahlenexposition (Edison, 1896). Für seinen As-sistenten Clarence Dally kam dies leider zu spät.Er litt an einer schweren Radiodermatitis, die ihnzunächst einen Arm und schließlich 1904 das Le-ben kostete. Kurz vor Beginn des 20. Jahrhun-derts gab es in der Fachliteratur zahlreiche Be-richte über strahlenbedingte Hautschäden undHaarausfall – Anzeichen für das offensichtlichunbekümmerte Vorgehen und die hohen Strah-lendosen, denen die Betroffenen ausgesetzt wur-den. Eine eher absurde Reaktion darauf war diedes bekannten amerikanischen Arztes ElihuThomson, der absichtlich den kleinen Finger sei-ner linken Hand mehrere Tage lang ununterbro-chen direkt in den Strahl einer Röntgenröhrehielt. Der unvermeidliche schwere Schaden anseinem Finger veranlasste ihn dann, vor über-mäßiger Strahlenexposition zu warnen: „...sonst

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3. STRAHLUNG: FRÜHE WARNUNGEN — SPÄTE FOLGEN

könnte es Grund zur Reue geben, wenn es zuspät ist“ (Thomson, 1896). Paradoxerweise er-kannten einige Mediziner gerade durch die zu-nehmenden Erkenntnisse über Strahlenschädenden möglichen therapeutischen Wert der Strah-len. Über die erste „Behandlung“ wird aus demJahr 1896 berichtet (Stone, 1946), als in Chicagoeine Frau mit fortgeschrittenem Karzinom in derlinken Brust bestrahlt wurde. Etwa zur selbenZeit kam aus den Medien verstärkt Kritik. Einerder Wortführer, der New Yorker Journalist JohnDennis, forderte die Kontrolle aller Radiologenund Röntgenassistenten durch staatliche Zulas-sungsbestimmungen und schlug vor, die Schädi-gung von Patienten durch Röntgenstrahlen alsStraftat einzustufen (Dennis, 1899). Bis zum In-krafttreten entsprechender Gesetze sollten vieleJahrzehnte vergehen.

Trotz der Berichte über unerwünschte Nebenwir-kungen und Warnungen sogar vor dem Einsatzfür therapeutische Zwecke herrschte unter denMedizinern übertriebene Zuversicht im Hinblickauf die Anwendungsmöglichkeiten von Röntgen-strahlen. Nach den damals anerkannten Theorienwurden die Nebenwirkungen nicht durch dieWechselwirkungen der Strahlen selbst, sonderndurch statische Elektrizität oder einfach durch in-dividuelle Überempfindlichkeit hervorgerufen –es gab sogar Ärzte, die jegliche Wirkung vonRöntgenstrahlen leugneten (Scott, 1897).

Der vielleicht erste und bedeutendste Pionier desStrahlenschutzes war der Bostoner ZahnarztWilliam Rollins. Der Harvard-Absolvent in Medi-zin und Zahnmedizin war der Erste, der eine To-leranzdosis bzw. -exposition für Röntgenstrahlenanregte, und auch der Erste, der verschiedeneMethoden zur Kollimation und Abschirmungvon Röntgenröhren empfahl. Seinen Standarddefinierte er, indem er eine fotografische Platteaußerhalb der Röhre der Strahlung aussetzte:Wenn die Platte nach 7 Minuten noch nichtdurch einen Schleier verdunkelt war, galt derSchutzschirm als ausreichend. Zwischen 1900und 1904 publizierte Rollins über 200 Studien, indenen er die Ärzte nachdrücklich mahnte, mitder geringstmöglichen Expositionszeit zu arbei-ten. Er machte zahlreiche Vorschläge zur Redu-zierung der Strahlenbelastung für Radiologenund Patienten (Rollins, 1904). Dies wurde erstkürzlich von der britischen Strahlenschutzkom-mission (United Kingdom’s National RadiologicalProtection Board NRPB, Beratungsgremium derRegierung) wieder aufgegriffen. Rollins erkannte

die Röntgenstrahlung auch als möglichen Auslö-ser für Grauen Star und stellte in Tierversuchenunter anderem die Gefahr einer akuten (teratolo-gischen) Schädigung des Fötus fest. Er war dererste Wissenschaftler, der auf die Risiken einerSchwangerschaftsdiagnose durch Röntgenstrah-lung (Pelvimetrie) hinwies. Leider blieben seineMahnungen zur Vorsicht meist ungehört – seineWarnungen vor der Pelvimetrie wurden erst et-wa 40 Jahre später von der britischen Epidemio-login Alice Stewart bestätigt, allerdings in Bezugauf die Spätfolgen (Stewart et al., 1958). Hier seiangemerkt, dass auch ihre Arbeit zunächst vonden Gesundheitsbehörden abgelehnt wurde (sie-he unten).

Nach der Erkenntnis, dass durch hohe Strahlenex-position Gewebeschäden ausgelöst werden, hätteman fortan größere Vorsicht seitens der Ärzte er-warten können. Doch dies war keineswegs derFall – noch im Jahr 1903 warnte Albers-Schon-berg (1903) in seinen Sicherheitsregeln für Radio-logen vor der Gefährlichkeit der damals üblichenTestmethode für die „Härte“ der Röntgenstrah-len: die Ärzte hielten einfach die Hand zwischenRöntgenröhre und Leuchtschirm. Das Fehlen ei-ner anerkannten Einheit für die Strahlenexpositi-on bzw. -dosis stellte damals noch ein echtes Pro-blem für die Durchsetzung effektiver Strahlen-schutzstandards dar. Dies änderte sich erst mitder Einführung des Röntgen als Dosiseinheit imJahr 1928. Trotz fehlender Einheiten veröffent-lichte die Deutsche Radiologische Gesellschaft1913 erstmals Regeln für den Strahlenschutz. Et-was später im selben Jahr entwickelte W.D. Coo-lidge eine neuartige, mit einer Wolframglühka-thode ausgestattete Röntgenröhre, mit der dieStrahlendosis für Patienten und Radiologen ent-scheidend vermindert wurde (bei den alten, mitniedriger Spannung arbeitenden Röhren warenExpositionszeiten von über einer Stunde durch-aus keine Seltenheit).

3.2. Radioaktivität und radioaktiveMaterialien

Nur wenige Wochen nach der Veröffentlichungvon Röntgens Arbeit tauchte eine weitere Gefahrauf: Henri Becquerel entdeckte die Radioaktivi-tät, und 1898 gaben Marie und Pierre Curie dieEntdeckung des Radiums bekannt. Das Ausmaßder von der Radioaktivität ausgehenden Gefah-ren wurde genauso wenig erkannt wie bei den

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Röntgenstrahlen, und sowohl Becquerel als auchPierre Curie litten unter Hauterythemen, weil sieradioaktive Materialproben einfach in der Jacken-tasche mit sich herumtrugen. Zwar erkannteman relativ schnell die therapeutischen Einsatz-möglichkeiten von Radium, etwa zum Abtötenmaligner Zellen, doch irgendwie war die Öffent-lichkeit berauscht von der Idee, dass Radium(und Radiumemanation, Radon) ein generellesAllheilmittel sein könnte.

In diesem Bereich schien sich das Vorsorgeprin-zip noch langsamer durchzusetzen als anderswo,denn erst 1920 erkannte man die Notwendigkeitvon Kontrollen. Den Anstoß dazu gab zumindestzum Teil die Verwendung von Radium in Leucht-farben besonders während des ersten Weltkrie-ges. Die mit Radium aktivierte Farbe wurde –z. B. auf die Zifferblätter von Armbanduhren –einfach mit dem Pinsel aufgetragen. Die meistjungen Frauen, die diese Arbeit ausführten, stell-ten fest, dass sie am schnellsten waren und ammeisten verdienen konnten, wenn sie den Pinselmit den Lippen anspitzten – dabei nahmen sieerhebliche Mengen an Radium in ihren Körperauf. Hygiene spielte in den damaligen Fabrikenkeine große Rolle, so dass die Arbeiterinnennicht nur von innen kontaminiert wurden, son-dern auch von außen durch die Anhäufung vonFarbe an ihren Arbeitsplätzen und durch dasEinatmen von Radon. Die Gefährlichkeit dieserArbeit wurde erst 1924 erkannt, als der New Yor-ker Zahnarzt Theodore Blum seine Arbeit übereine neue Krankheit – er nannte sie „Radiumkie-fer“ – veröffentlichte, die er bei ehemaligen Zif-ferblattmalerinnen beobachtet hatte. Er schriebdie Symptome der Toxizität des Phosphors zu.Doch Harrison Martland, ein Pathologe aus NewJersey erkannte, dass die Knochenschädigungdurch Radium verursacht wurde, und begann1925 mit einer Untersuchung, die die ganzetraurige Geschichte zu Tage förderte (Martlandund Humphries, 1929). 1923 wurde in dieserGruppe von Frauen das erste Knochensarkom re-gistriert, und in einer Population von fast 3 000Frauen wurden 55 weitere derartige Fälle unter-sucht (Rowland et al., 1983) – etwa ein Drittelder betroffenen Frauen starb an verschiedenenKrebserkrankungen (einschließlich Leukämieund Brustkrebs). Auf der Grundlage der aus die-sen Erfahrungen stammenden Daten wurdedann ein Standard für die Aufnahme radioakti-ver Materialien festgelegt, der viele Jahre Gültig-keit hatte. Dieser so genannte Radiumstandardwar definiert als diejenige Radiumkonzentration

im menschlichen Körper, die scheinbar keineAuswirkungen hatte. Man ging von der Existenzeines Schwellenwertes für Strahlenfolgen aus,was mit der bis 1930 üblichen Praxis der Festle-gung einer „Toleranzdosis“ in Einklang stand.Der Radiumstandard wurde bei einem Radioakti-vitätswert von 0,1 Mikrocurie (3,7 Kilobecquerel)festgesetzt, der den Knochen mit einer Strahlen-dosis von 150 Millisievert belastet.

Paradoxerweise wurde Radium in den zwanzigerJahren als Quelle für Gesundheit und Heilung be-trachtet. Dies gipfelte im Verkauf diverser radi-umhaltiger Arzneitränke, das bekannteste unterdem Namen „Radiothor“. Von 1925 bis 1930 wur-den vierhunderttausend Flaschen dieses „Wun-dermittels“ verkauft, von dem man sich die Hei-lung verschiedenster Gebrechen von Magenge-schwüren bis hin zu Impotenz versprach. Ihre Ge-fährlichkeit trat zutage, als der berühmte ameri-kanische Golfspieler, Industrielle und MillionärEben Byers an einer durch radioaktive Strahlungverursachten Krankheit starb, nachdem er übereinen längeren Zeitraum insgesamt etwa 1 000Flaschen davon getrunken hatte (Macklis, 1993).Dieser Fall trug viel zu größerer Vorsicht bei derNutzung von Radium bei, genau wie der Tod vonMarie Curie im Jahre 1934 (vermutlich) an aplas-tischer Anämie (die man zu der Zeit ebenfalls derRadiumbelastung zuschrieb). Gleichwohl geltenselbst heute Radium und Radon bisweilen nochals Heilmittel. So wird bei der so genannten Ra-dontherapie, die z. B. in Salzburg angewandtwird, Radon wegen seiner (vermeintlich) wohltuenden Wirkung bewusst eingeatmet.

3.3. Erste Schritte zur Kontrolle der Strahlungsbelastung

In den zwanziger Jahre war das Konzept derStrahlendosis noch nicht exakt definiert, doch ei-ne ganze Reihe wissenschaftlicher Veröffentli-chungen enthielten Forderungen nach einer Be-grenzung der Strahlenexposition. Dort war häu-fig von einer Strahlungsdosis die Rede, die „tole-riert“ werden könne. Dabei orientierte sich etwader amerikanische Mediziner Arthur Mutschelleran der Hauterythemdosis (skin erythema dose SED)(Mutscheller, 1925) und definierte die Toleranz-dosis als ein Hunderstel der SED pro Monat. Dieswürde einem jährlichen Dosisgrenzwert von etwa700 Millisievert entsprechen (der heutige Dosis-grenzwert für Arbeitnehmer beträgt 20 Millisie-

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vert pro Jahr). Generell stand in dieser Zeit dieForderung nach Grenzwerten zur Bekämpfungder unmittelbaren Folgen der Bestrahlung imVordergrund. Niemand schien damit zu rechnen,dass nach einer langen Latenzzeit noch Krebser-krankungen folgen würden.

Mittlerweile drängten Teile der Wissenschaftler-gemeinde zunehmend auf Kontrollen für denEinsatz ionisierender Strahlung, und mit der Ein-richtung des International X-ray and Radium Pro-tection Committee (IXRPC) auf dem zweiten Inter-nationalen Radiologiekongress im Jahr 1928 wur-de die Festlegung von Standards stärker verein-heitlicht. Leider blieb der Missbrauch von ionisie-render Strahlung dabei weitgehend unerwähnt.Aus irgendeinem Grund wurde in den Verlautba-rungen des IXRPC anfänglich die Betonung aufFreizeitaktivitäten für Radiologen gelegt (Desjar-dins, 1923). So hieß es: „Betätigung an der fri-schen Luft ist für alle strahlenexponierten Perso-nen besonders wichtig.“ Später wurde aus demIXRPC die Internationale Strahlenschutzkommis-sion (ICRP). Doch wieder verstrich einige Zeit,ehe diese mit der Empfehlung von Dosisgrenz-werten begann, ohne dabei jedoch an Schwellen-werte zu denken. All dies geschah vor dem Hin-tergrund von mehr als 200 bekannten Fällen, indenen Radiologen an vermutlich strahlenindu-zierten Krebserkrankungen gestorben waren(Colwell und Russ, 1934). Dazu gehörte auch derbritische Pionier der Radiologie Ironside-Bruce.Nach seinem Tod im März 1921 wurde in mehre-ren Zeitungsartikeln diskutiert, ob die Abschir-mung der Röntgenröhren einen ausreichendenSchutz bot. Dies veranlasste die Roentgen Society(„Editorial“, 1921) zu dem Kommentar, „die wis-senschaftliche Kompetenz der Presse“ sei „wohlweniger stark ausgeprägt als ihre Fähigkeit,reißerische Zeitungsartikel zu schreiben“.

3.4. Die Wasserscheide derNachkriegszeit: Rechtfertigung,Optimierung, Begrenzung

Zur entscheidenden Wende in der Philosophiedes Strahlenschutzes kam es 1949 auf einerTagung in Kanada (NBS, 1954). Dort zog manden Schluss, dass „Strahlenexposition auf jedemNiveau mit einem gewissen Risiko verbundensein kann“ und dass „das Risiko für den Einzel-nen nicht präzise festzustellen ist. Doch wieklein es auch immer sein mag, es ist vermutlich

nie gleich Null“ Als weiterer wichtiger Grund-satz des Strahlenschutzes kristallisierte sich aufdieser Tagung heraus, dass „jede Strahlenex-position, gleichgültig aus welcher Quelle, sogering wie möglich gehalten werden sollte“.Uns ist das heute als Optimierungsprinzipbekannt. Auch der Grundsatz der Risiko-Nutzen-Abwägung (Rechtfertigungsprinzip) wurdeeingeführt – wohl der einzige Fall im Bereichder Umweltschadstoffe.

Die Aufgabe der Internationalen Strahlenschutz-kommission bestand lediglich darin, „Empfehlun-gen“ auszusprechen, die von den nationalen Re-gierungen angenommen oder abgelehnt werdenkonnten. Seit ihrer Gründung wird die Rolle derICRP jedoch häufig kritisiert. So bezog sie zumBeispiel keine Stellung zu den Atomwaffentests inder Atmosphäre, die weltweit radioaktiven Fall-out produzierten. Zudem waren es in der Regeleher Einzelpersonen und nicht die ICRP, die denMissbrauch von ionisierender Strahlung verhin-derten. Es gibt zahlreiche Beispiele für vollkom-men unsinnige Strahlenanwendungen:

➔ In den vierziger und fünfziger Jahren standenin fast allen Schuhgeschäften Röntgenfluoro-skopiegeräte, mit denen man Kindern neueSchuhe anpasste. Sie konnten eine Dosisratevon 1 Röntgen pro Minute erzeugen. Letzt-endlich dienten sie nur der Beschäftigung derKinder, während ihre Eltern Schuhe aussuch-ten. Die Strahlenbelastung, der Kinder undVerkaufspersonal ausgesetzt waren, war alsovollkommen unnötig.

➔ Kinder mit Hautpilzinfektionen wurden zurHaarentfernung mit Röntgenstrahlen behan-delt. Viele von ihnen erkrankten später anKrebs (siehe zum Beispiel Ron et al., 1989).

➔ In den dreißiger Jahren wurden geistesgestör-te Patienten mit Radium „behandelt“.

➔ In den dreißiger und vierziger Jahren wurdenin vielen Kosmetiksalons Röntgenstrahlen zurEntfernung unerwünschter Haare eingesetzt.

Bei diesen missbräuchlichen Anwendungen vonRöntgenstrahlen fehlte so gut wie jede Kontrolle,da es damals lediglich Empfehlungen, aber keinegesetzlichen Vorschriften zur Strahlensicherheitgab. In Großbritannien wurden die ersten gesetz-lichen Bestimmungen in der Verordnung über io-nisierende Strahlung (Ionising Radiations Regulati-ons, 1961) verankert. Später folgten weitere spe-zielle Gesetze für die medizinische Strahlenan-wendung (POPUMET, 1988).

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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Entwick-lung der Kernenergie und der nuklearen Waffenrasch vorangetrieben. Die Strahlenschutzgremienstanden vor dem Problem, Dosisgrenzen festzule-gen, die nicht den Eindruck erweckten, sie wür-den die Expansion dieser Industriezweige behin-dern – die Politik kam ins Spiel. Zunächst war dieÖffentlichkeit betört von der Aussicht auf unbe-grenzt verfügbare, billige Kernenergie, doch diewiederholte Demonstration der Wirkung von Nu-klearwaffen löste ganz andere Reaktionen aus. DieMenschen verloren allmählich das Vertrauen indie Beweggründe der Regierungen und wurden,besonders angesichts der lakonischen Beschwichti-gungen im Hinblick auf die Auswirkungen einerradioaktiven Verseuchung der Umwelt, immermisstrauischer. Diese Befürchtungen, die durchden Aufstieg der Ökologiebewegung weiter ge-schürt wurden, waren durchaus in gewissem Ma-ße gerechtfertigt – erstaunlich ist nur, dass es solange dauerte, bis sie überhaupt aufkamen. EinGrund dafür könnte sein, dass ionisierende Strah-lung zunächst fast nur in der Medizin verwendetwurde – und Ärzte genießen in der Öffentlichkeitvon jeher großes Vertrauen. Weniger überzeugtwar man hingegen davon, dass die Kernindustriezum Wohle der Menschen handelt. Doch gegenEnde der fünfziger Jahre erlitt auch das Vertrauenin die medizinische Radiologie einen herbenRückschlag, als die namhafte britische Epidimiolo-gin Alice Stewart in mehreren Untersuchungen ei-nen ursächlichen Zusammenhang zwischen Rönt-genbestrahlung während der Schwangerschaft(Pelvimetrie) und Leukämie bei den betroffenenKindern nachweisen konnte. (Stewart et al., 1958).Dieses Ergebnis rief zunächst kontroverse Reaktio-nen und Ungläubigkeit hervor. Mittlerweile, nach-dem die Untersuchungen von anderen Wissen-schaftlern wiederholt wurden, gilt jedoch als si-cher, dass selbst nach geringen Strahlendosen dasRisiko für eine spätere Leukämieerkrankung beimEmbryo oder Fötus deutlich erhöht ist. Heute giltdie Empfehlung (RCR, 1993), Schwangere auf kei-nen Fall zu röntgen, wenn es noch andere diag-nostische Mittel gibt. Schätzungen zufolge wurdenetwa 5 % aller Fälle von Krebserkrankungen imKindesalter durch Pelvimetrie verursacht (Doll,1989). Dies waren im Vereinigten Königreich ca.75 Fälle pro Jahr, in den Vereinigten Staaten etwa300. Die betroffenen Kinder wären wohl gerettetworden, hätte man früher auf die Arbeit von Ste-wart et al. reagiert. Eine ähnlicher Skandal drohtgegenwärtig in den USA: ein möglicherweise er-höhtes Risiko von Leukämie bei Kindern, die inder Nähe oberirdischer Stromleitungen wohnen.

Die Schätzungen zum Strahlungsrisiko dürftenheute genauer und fundierter sein als die für an-dere Gefahrenstoffe. Doch auch sie sind nicht un-problematisch, da sie fast ausschließlich aus denKrankenberichten der Überlebenden der Atom-bombenabwürfe auf japanische Städte im Jahr1945 stammen, also von einem Beispiel mit ho-hen Strahlendosen und Dosisraten. Experten ver-muten eine konservative lineare Dosis-Wirkungs-beziehung, aus der sich für alle Strahlendosenein gewisses Risiko ergibt. Wer sich einer ionisie-renden Strahlung aussetzt, muss dieses Risiko ak-zeptieren. Die Philosophie der InternationalenStrahlenschutzkommission (ICRP, 1977) basiertdaher auf drei Grundsätzen:

➔ Rechtfertigung – jede Strahlennutzung mussgerechtfertigt sein, so dass der entstehendeSchaden durch einen Netto-Nutzen ausgegli-chen wird.

➔ Optimierung – jede Strahlenexposition mussso niedrig wie vernünftigerweise möglichsein, wobei auch soziale und wirtschaftlicheFaktoren zu berücksichtigen sind.

➔ Begrenzung – jede Strahlenexposition mussunterhalb der entsprechenden Dosisgrenzeliegen.

Interessant ist ein Blick auf die ersten beidenGrundsätze, mit denen sich anhand der medizini-schen Radiologie aufzeigen lässt, welche Fort-schritte in den 100 Jahren der Nutzung ionisie-render Strahlung gemacht wurden.

Eine medizinische Strahlenexposition sollte demPatienten nützen. Obwohl das in der Regel soist, häufen sich doch die Fälle, in denen Zweifeldaran aufkommen, etwa bei Röntgenuntersu-chungen im Rahmen der gesundheitlichenÜberprüfung von Bewerbern für eine Arbeits-stelle, oder bei manchen Reihenuntersuchun-gen. Einer Schätzung der britischen Strahlen-schutzkommission (NRPB, 1990) zufolge sind et-wa 20 % aller in Großbritannien durchgeführtenRöntgenuntersuchungen klinisch unsinnig. Soheißt es in den radiologischen Leitlinien, dass„für alle Untersuchungen an Patienten, bei de-nen ionisierende Strahlung eingesetzt wird, einebegründete klinische Indikation vorliegenmuss“. Dies ist die oben geforderte „Rechtferti-gung“ – ein großer Fortschritt gegenüber derRadiologie z. B. vor 40 Jahren, zumal sie sichauf den Patienten und nicht nur auf den Radio-logen bezieht. Beim nächsten Kriterium hinge-gen, der Optimierung der vom Patienten emp-

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fangenen Dosis, mangelt es an Fortschritten. Diebritische Strahlenschutzkommission schätzt diejährliche Kollektivdosis bei medizinischen Un-tersuchungen in Großbritannien auf etwa16 000 Mann-Sievert (NRPB, 1990). Sie schlägtverschiedene Methoden zur Reduzierung derPatientendosis vor, die eine Herabsetzung dieserKollektivdosis um etwa 7.500 Mann-Sievert, alsoum ca. 50 %, bewirken würden. Zudem hat eineneuere Studie ergeben, dass bei ein und dersel-ben Röntgenuntersuchung in verschiedenenKrankenhäusern die empfangene Strahlendosisum das Hundertfache differieren kann (Wallund Hart, 1997). Somit mag die individuelleStrahlendosis heute zwar erheblich niedriger lie-gen als vor 60 Jahren, doch das Problem der Op-timierung besteht nach wie vor.

3.5. Schlussfolgerungen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit zu-nehmender Sensibilisierung für die Strahlenfol-gen ganz allmählich Standards für den Strahlen-schutz entwickelt wurden. Es hat aber auch Men-schen gegeben, die ihrer Zeit voraus waren undvor drohendem Unheil warnten, und gleichzeitigauch immer wieder Phasen, in denen die Anpas-sung der Grenzwerte um Jahre hinter dem Kennt-nisstand über die Gesundheitsgefahren herhink-te. Derzeit werben mächtige Lobbys für bestimm-te Veränderungen wie die Wiedereinführung desKonzepts der Schwellendosis und die Berücksich-tigung der Hormesis-Hypothese (Annahme positi-ver Auswirkungen von geringen Strahlendosen) –beides wird von der Internationalen Strahlen-schutzkommission abgelehnt.

Strahlenschutz ist mittlerweile ein fester Bestand-teil sowohl der Gesetzgebung der EuropäischenUnion (in Form von Richtlinien) als auch, auf in-ternationaler Ebene, der grundlegenden Sicher-heitsstandards der Internationalen Atomenergie-behörde (IAEA). Sie alle folgen in ihren Grundsät-zen den Empfehlungen der InternationalenStrahlenschutzkommission ICRP. Die jüngstenStrahlenschutzgesetze im Vereinigten Königreichsind die zum Schutz von Arbeitskräften und Be-völkerung verabschiedeten Bestimmungen zu Io-nisierender Strahlung aus dem Jahr 1999. Sie die-nen der Umsetzung der EU-Richtlinie 96/29 (inder die grundlegenden Sicherheitsnormen fürden Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmerund der Bevölkerung gegen die Gefahren durch

ionisierende Strahlung festgelegt werden). DieseRichtlinie wird (letztendlich) in ganz Europa um-gesetzt werden, und in anderen Ländern dürftenähnliche Vorschriften der IAEA Anwendung fin-den. Mittlerweile gibt es auch gesetzliche Bestim-mungen zum Einsatz ionisierender Strahlung inder Medizin und zur Begrenzung der von den Pa-tienten empfangenen Strahlendosen. Leider er-weist sich jedoch die einheitliche Umsetzung derStrahlenschutzgesetze in der Praxis oft als schwie-rig. Noch immer gibt es Beispiele für sorglosenbzw. verantwortungslosen Umgang mit Strah-lungsquellen und radioaktiven Abfällen, der zuschrecklichen Verletzungen und Todesfällenführt, wie etwa bei der Caesiumkontaminierungin der brasilianischen Stadt Goiânia (Rosenthal etal., 1991).

In der Vergangenheit haben unzureichende Do-sisgrenzwerte schon verschiedene Male dazu ge-führt, dass Arbeitnehmer Entschädigungsansprü-che aufgrund von Krebserkrankungen geltendgemacht haben, die mit Strahlenexposition inVerbindung gebracht wurden. Die Frage der Haf-tung für Strahlenschäden erlaubt es, gewisse Leh-ren im Hinblick auf andere Gefahrenstoffe mitlangen Latenzzeiten für mögliche Folgeerkran-kungen zu ziehen. In Großbritannien wurden dieHaftungsverpflichtungen der Atomindustrie ur-sprünglich aus staatlichen Mitteln finanziert (Nu-clear Installations Act 1965), doch mittlerweile hatsich das von Gewerkschaften und Atomindustriegemeinsam durchgeführte Programm zur Ent-schädigung strahlenexponierter Arbeitskräfte alsäußerst erfolgreiche Alternative zu gerichtlichenAuseinandersetzungen erwiesen.

Die Analyse der Ereignisse zeigt, dass wir zwarin den vergangenen 100 Jahren sehr viel überdie Risiken der Strahlenbelastung gelernt haben(wahrscheinlich mehr als über jeden anderenUmweltschadstoff), dass wir aber noch immergezwungen sind, laufend auf neue Erkenntnissezu reagieren. So schätzte die ICRP 1990 die Risi-korate für strahleninduzierte Krebserkrankun-gen um das Vier- bis Fünffache höher ein als1977. Daraufhin wurden die Dosisgrenzen ange-passt – wieder eine verspätete Reaktion auf er-drückende Beweise. Dieses Vorgehen zieht sichwie ein roter Faden durch die Geschichte desStrahlenschutzes: Von der Entdeckung der ra-dioaktiven Strahlung bis zum heutigen Tag wur-de es trotz ausdrücklicher Warnungen immerversäumt, Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen.Abschließend lässt sich somit feststellen, dass

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das Vorsorgeprinzip die Bereitstellung von Mit-teln zur Finanzierung des Aufbaus und der Pfle-ge einer epidemiologischen Datenbasis über

Langzeitfolgen erforderlich macht – auch wennihre unmittelbare Notwendigkeit im Augenblicknicht erkennbar ist.

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 3.1. IONISIERENDE STRAHLUNG: FRÜHE WARNUNGEN UND ERFOLGTE REAKTIONEN

1896 Edison, Tesla und Grubbe berichten über Verletzungen durch Röntgenstrahlenexposition

1899Der New Yorker Journalist John Dennis fordert die staatliche Zulassung von Radiologen und warnt vor denGefahren von Röntgenstrahlen

1904 Edisons Assistent stirbt an den Folgen einer schweren Röntgen-Radiodermatitis

1904Der Mediziner und Zahnmediziner William Rollins publiziert zahlreiche Warnungen vor den Gefahren vonRöntgenstrahlen sowie Empfehlungen zum Schutz von Radiologen und Patienten, einschließlich Schwangerer

1913 Veröffentlichung der ersten Regeln für freiwilligen Strahlenschutz durch die Deutsche Radiologische Gesellschaft

1924Der New Yorker Zahnarzt Theodore Blum diagnostiziert bei Zifferblattmalerinnen „Radiumkiefer“, schreibt dieseErscheinung jedoch fälschlicherweise dem Phosphor zu

1925—1929Harrison Martland, ein Pathologe aus New Jersey, erkennt Radium als Ursache für die Kieferkarzinome der unter-suchten Zifferblattmalerinnen

1928Einrichtung der Internationalen Röntgen- und Radium-Schutzkommission (IXRPC), aus der später dieInternationale Strahlenschutzkommission (ICRP) wird

1934Berichte von Colwell und Russ über den Tod von mehr als 200 Radiologen durch strahleninduzierteKrebserkrankungen

1949Die ICRP stellt fest, dass es keinen Dosisschwellenwert für strahleninduzierte Krebserkrankungen gibt, und unter-streicht die Bedeutung der Optimierung jeglicher Strahlenexposition

1958Alice Stewart berichtet, dass die Röntgenbestrahlung Schwangerer mit niedriger Dosis bei den betroffenen KindernLeukämie auslösen kann. Dies wird erst in den siebziger Jahren allgemein anerkannt

1961 Im Vereinigten Königreich werden gesetzliche Bestimmungen zur Nutzung radioaktiver Substanzen verabschiedet

1977Die ICRP aktualisiert ihre Empfehlungen zum Strahlenschutz und verknüpft die Dosisgrenzwerte mit bestimmtenRisiken

1988 Im Vereinigten Königreich werden gesetzliche Bestimmungen zu den Strahlendosen an Patienten verabschiedet

1990—97Die britische Strahlenschutzkommission erklärt, dass 20 % aller medizinischen Röntgenanwendungen vermutlichklinisch unnötig sind, 50 % der Kollektivdosis bei den Patienten vermieden werden könnte und dass bei bestimm-ten Röntgenuntersuchungen die Einzeldosis je nach Krankenhaus um den Faktor 100 differieren kann

1990Die ICRP stellt in ihrer Veröffentlichung Nr. 60 fest, dass das Risiko von strahleninduzierten Krebserkrankungen 4—5 mal höher ist als 1977 geschätzt — sie reduziert den Dosisgrenzwert für die berufliche Strahlenexposition auf20 mSv pro Jahr

1996EU-Richtlinie über ionisierende Strahlung, auf der Grundlage von ICRP 60, die für alle Mitgliedstaaten verbindlich wird

3.6. Literaturverzeichnis

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Peter F. Infante

4.1. Frühe Warnungen

Seit dem 1897 veröffentlichten Bericht vonSantessen über aplastische Anämie bei jungenArbeiterinnen in einer schwedischen Fahrrad-reifenfabrik und dem im selben Jahr veröffentli-chen Bericht von LeNoir und Claude über Blu-tungen bei einem jungen Arbeiter in einerchemischen Reinigung in Frankreich ist bekannt,dass Benzol stark knochenmarkschädigend wirkt.

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun-derts war ein sprunghafter Anstieg der Berichteüber Arbeiter mit Knochenmarkserkrankungeninfolge von Benzolexposition zu verzeichnen.

Zwischen 1910 und 1914 wurde Benzol erstmalsin großem Stil als Lösungsmittel in der Gummi-industrie verwendet. Im Ersten Weltkrieg führteauch die Nachfrage nach Toluol für die Spreng-stoffherstellung zu einer erheblichen Steigerungder Benzolproduktion. Nach dem Krieg fand Ben-zol in den verschiedensten Industriezweigen alsLösungsmittel Verwendung: bei der Herstellungvon Kunstleder, Kautschukprodukten, Klebstoffenund Hüten, Farben und Beschichtungen, beimRotationstiefdruck und in der chemischen Reini-gung, bei der Automobil- und Blechdosenherstel-lung, als Ausgangssubstanz für organische Syn-theseverfahren, bei der Herstellung von Erdölpro-dukten und als Beimischung zu Motorkraftstoffen.

Mit dieser Ausdehnung der industriellen Verwen-dung von Benzol war ein erheblicher Anstieg derdokumentierten Fälle von aplastischer Anämieverbunden, die meist als „Benzolvergiftung“ be-zeichnet wurde. Bei einigen Betroffenen wurdesie bereits wenige Woche nach der Arbeitsauf-nahme diagnostiziert, manche starben innerhalbweniger Monate (Hogan und Schrader, 1923).Diese Vergiftungserscheinungen wurden mit Ben-zolkonzentrationen zwischen 200 ppm (parts permillion) und 1 000 ppm in Zusammenhang ge-bracht. Greenburg et al. (1926) stellten im Rah-men einer Untersuchung zu 12 Fabriken in denUSA, in denen Benzol eingesetzt wurde, bei 32 %der Arbeiter eine abnorm niedrige Leukozyten-zahl (unter 5 500 pro cm3) und bei 12 % sogareine Leukozytenzahl von weniger als 4 000pro cm3 fest. Die Benzolexposition, mit der dieseextrem hohe Prävalenz abnormer Leukozyten-zahlen in Verbindung gebracht wurde, lag bei90 ppm und höher. Für Personen, die klinischeVergiftungssymptome zeigten oder deren Blut-werte um mindestens 25 % abfielen, empfahlGreenburg (1926) aus medizinischen Gründendie Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz.

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4. BENZOL: DIE RISIKEN AM ARBEITSPLATZ — GESCHICHTLICHER ABRISS ZUR LAGE IN DEN USA UND IN EUROPA

GLOSSAR

➔ Leukämie: progressiver Blutkrebs. KlinischeUnterteilung nach Verlauf (akut oder chro-nisch) und Art der Erkrankung, z. B. myelo-ische L. (zu viele Myelozyten); lymphatische L.(zu viele Lymphozyten) und Monozyten-leukämie (zu viele Monozyten).

➔ Aplastische Anämie: Zustand, in dem dasKnochenmark nicht mehr genügend Leuko-zyten, Erythrozyten und Thrombozyten pro-duzieren kann. Mangel an roten Blutkörper-chen führt zu häufiger Müdigkeit, Mangel anweißen Blutkörperchen zu größerer Anfällig-keit für Infektionskrankheiten, Mangel anBlutplättchen zu verstärktem Bluten.

➔ Benzolvergiftung: bezieht sich in der Regelauf die aplastische Anämie.

➔ Hypersensibilität: im Vergleich zum Durch-schnitt der Bevölkerung gesteigerte Empfind-lichkeit gegenüber toxischen Substanzen.

➔ Hämopathie: Bluterkrankung.

➔ Multiples Myelom: Krebserkrankung desLymphsystems.

4.1.1. Erster Bericht über Leukämie infolge von Benzolexposition

Die erste Falldarstellung einer Leukämieerkran-kung infolge von Benzolexposition wurde 1928von Dolore und Borgomano veröffentlicht. EinArbeiter in einer Arnzeimittelfabrik, dessen Tätig-keit aufgrund der hohen Benzolexposition als ge-fährlich eingestuft wurde, war an akuter lympha-tischer Leukämie erkrankt. In derselben Fabrikwar ein anderer Arbeiter an aplastischer Anämiegestorben, und die Autoren vermuteten, dass essich bei einigen früheren Fällen von aplastischerAnämie, die im Zusammenhang mit Benzolexpo-sition dokumentiert waren, ebenfalls um Leukä-mie gehandelt haben könne. Das Unternehmen„löste“ das Problem der hohen, für die Auslösungdieser Bluterkrankungen verantwortlichen Expo-sitionskonzentrationen durch die monatliche Ver-setzung der mit entsprechenden Tätigkeiten be-fassten Arbeiter nach dem Rotationsprinzip an ei-nen anderen Arbeitsplatz.

4.2. Reaktionen

4.2.1. Expositionsempfehlungen

1939 führte die große Zahl von Benzolvergiftun-gen bei Arbeitern auf der ganzen Welt dazu, dasssich eine Reihe von mit entsprechenden Untersu-chungen befassten Fachleuten (Greenburg, 1926;Erf und Rhoads, 1939; Mallory et al., 1939) für dieSubstitution von Benzol durch andere Lösungs-mittel aussprachen. Im gleichen Jahr berichtetenHunter und Mallory et al. von 89 „Vergiftungsfäl-len“ und von drei Leukämiefällen bei Arbeitern,die an verschiedenen Arbeitsstätten mit Benzolhantierten. Bei zwei dieser „Vergiftungen“ wur-den Benzolkonzentrationen von weniger als 25ppm bzw. 10 ppm gemessen.

Ungeachtet dieser Vorkommnisse empfahl dieAmerican Conference of Governmental IndustrialHygienists (ACGIH) 1946 einen Grenzwert von 100ppm für die Benzolexposition am Arbeitsplatz(ACGIH, 1946). 1947 wurde dieser Wert dann auf50 ppm und 1948 auf 35 ppm gesenkt (ACGIH,1948). Aufgrund von Beweisen für eine Überemp-findlichkeit gegen die Knochenmark supprimie-renden Effekte von Benzol gelangte eine vomAmerican Petroleum Institute (API) im Jahr 1948veröffentlichte Studie zu dem Schluss, absoluteSicherheit biete bei der Benzolexposition nur der

Expositionswert null (API, 1948). Diese Ansichtgründete sich auf die Beobachtung einiger Arbei-ter mit verschiedenen Bluterkrankungen, die aufeine Knochenmarksdepression hindeuteten, wo-bei diese Personen allerdings am gleichen Ar-beitsplatz tätig gewesen waren wie andere mitnormalem Blutbild. Daraufhin sprach das API ei-ne Empfehlung für einen Wert von „maximal 50ppm“ aus. 1957 senkte die ACGIH ihre Empfeh-lung zur Benzolexposition auf einen 8-h-Mittel-wert von 25 ppm (ACGIH, 1957).

4.2.2. Nichtbeachtung der Empfehlungen

Ungeachtet der oben angeführten Empfehlungenwurden in den vierziger und fünfziger Jahrenauch weiterhin Fälle von aplastischer Anämieund toxisch bedingten Störungen des zentralenNervensystems dokumentiert wie Kopfschmer-zen, Übelkeit, Schwindelgefühl, schwankenderGang, Lähmungserscheinungen und Bewusstlo-sigkeit, die im Vereinigten Königreich zu 13 To-desfällen führten (Browning, 1965). Diese Sympto-me für ZNS-Störungen wurden mit Expositions-konzentrationen in Höhe von 3 000 ppm bis20 000 ppm in Verbindung gebracht (Flury, 1928)– mit Konzentrationen also, die die damals emp-fohlenen Grenzwerte um das 200- bis 800facheund den schon 1939 von Hunter und Mallory etal. mit aplastischer Anämie in Verbindung ge-brachten Wert von 10 ppm um das 2 000facheüberstiegen.

In den fünfziger und sechziger Jahren war nahe-zu weltweit (u.a. in Frankreich, Italien, Russland,der Türkei und dem Vereinigten Königreich) einoffensichtlicher Mangel an Vorsichtsmaßnahmenim Hinblick auf die Benzolexposition am Arbeits-platz zu beobachten, und zwar bei Konzentratio-nen deutlich jenseits der Werte, die als schädlichfür das Knochenmark und das zentrale Nerven-system bekannt waren. Dies ist durch Fallstudienzu Bluterkrankungen infolge von Benzolexpositi-on ausführlich dokumentiert. So stellten Viglianiund Saita 1964 fest, dass bei Arbeitern, die in denitalienischen Provinzen Mailand und Pavia in derTiefdruck- und Schuhindustrie tätig waren, dasRisiko einer akuten Leukämie mindestens um das20fache höher lag als bei der Normalbevölke-rung. Vigliani (1976) zufolge wurden im Zeit-raum 1942–1965 in den Krankenhäusern vonMailand und Pavia mehr als 200 Fälle von Bluter-krankungen behandelt, die auf Benzolexpositionzurückzuführen waren, darunter 34 Fälle von

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akuter Leukämie. Bei diesen Arbeitern war eineExposition gegenüber Benzolkonzentrationenvon 200 bis 500 ppm und gelegentlich sogarnoch darüber festgestellt worden. 1967 dokumen-tierten Goguel et al. für den Zeitraum 1950–1965im Großraum Paris 44 Fälle von benzolinduzier-ter (zumeist chronischer) Leukämie.

Auch in anderen Teilen Europas sind Fälle vonBlutvergiftung infolge von Benzolexposition be-schrieben. Aksoy (1977) zufolge wurden 1961 inder türkischen Schuhindustrie „die bis dahin gän-gigen petroleumhaltigen Kleber durch benzolhal-tige Mittel ersetzt, da diese sehr viel praktischerund auch preisgünstiger waren.“ Die Expositionder betroffenen Arbeiter lag zwischen 150 ppmund 650 ppm (Aksoy, 1978). Mitte der siebzigerJahre war bei den Arbeitern in der türkischenSchuhindustrie eine epidemische Ausbreitungvon aplastischer Anämie und Leukämie zu beob-achten (Aksoy et. al., 1971; Aksoy 1977 und 1978).Bei den meisten der in diesen europäischen Län-dern dokumentierten Todesfälle infolge von Leu-kämie und anderen Bluterkrankungen im Zusam-menhang mit Benzol waren Konzentrationswer-te im Spiel, deren Schädlichkeit bereits Jahrzehn-te zuvor nachgewiesen worden war. (Für einenÜberblick über die Fallstudien zu benzolinduzier-ten Bluterkrankungen in den o.g. Ländern sieheIARC, 1974.)

4.2.3. Epidemiologischer Nachweis des Auftretens von Leukämie

Seit Beginn der siebziger Jahre hat die Universityof North Carolina eine Reihe epidemiologischerStudien veröffentlicht, die eine signifikante Leu-kämiehäufung (zumeist in chronischer Form) beiArbeitern nachwiesen, bei denen die Benzolexpo-sition als relativ niedrig galt (McMichael et al.,1975). Sie war hauptsächlich auf die Verwendungvon Gummilösern wie Petrolether, Toluol, Leicht-benzin usw. zurückzuführen, deren Volumenan-teil an Benzol zwischen 1–5 % (in den vierzigerJahren) und ca. 0,5 % (bei Leichtbenzin in densiebziger Jahren) lag.

1977 veröffentlichten Infante et al. die Ergebnisseder ersten Kohortenstudie über die spezifischeBenzolexposition von Arbeitern, die mit der Her-stellung einer gummierten Lebensmittelverpa-ckung namens Pliofilm befasst waren. Bei Arbei-tern, die technisch reinem Benzol in Konzentra-tionen ausgesetzt waren, die durchaus im Rah-

men der damaligen Empfehlungen (Zeitraum1949–1971) lagen – d.h. von 10 ppm (zeitgewich-teter Durchschnitt) bis zu einem Höchstwert vonmaximal 100 ppm – war das Risiko einer Leukä-mieerkrankung um das Fünf- bis Zehnfache hö-her als beim Durchschnitt der Bevölkerung (In-fante et al., 1977a). Bis dahin wurde Benzol nichtaufgrund der Ergebnisse epidemiologischer Stu-dien als Ursache von Leukämieerkrankungen an-gesehen, sondern aufgrund von Fallbeschreibun-gen und der klinischen Beobachtung, dass Perso-nen mit benzolinduzierter aplastischer Anämieund anderen Bluterkrankungen eine akute Leu-kämie entwickelten.

4.2.4. Versuche der Begrenzung der Exposition am Arbeitsplatz in den USA

Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnissevon Infante et al. (1977a) und der einschlägigbekannten Literatur über Benzol und Leukämieveröffentlichte die Arbeitsschutzbehörde (Occu-pational Safety and Health Administration – OSHA)des US-Arbeitsministeriums einen EmergencyTemporary Standard (ETS), mit dem der Grenzwertfür die Benzolkonzentration in der Luft am Ar-beitsplatz auf einen 8-h-Mittelwert von 1 ppmherabgesetzt wurde (OSHA, 1977a). Grundlagedieses Grenzwertes war die damals verfolgtePolitik, die Exposition gegenüber karzinogenenSubstanzen am Arbeitsplatz auf den niedrigst-möglichen Wert zu senken. Bei den entspre-chenden Durchführbarkeitsstudien findensowohl technische als auch wirtschaftlicheAspekte Berücksichtigung.

Diese neue Norm wurde allerdings 1977 ausge-setzt , nachdem das American Petroleum Institutevor dem Berufungsgericht Beschwerde eingelegthatte mit der Begründung, unterhalb des altenGrenzwertes von 10 ppm entstehe durch Benzol-exposition kein erhöhtes Risiko einer Leukämie-erkrankung. Daraufhin schlug die Arbeitsschutz-behörde OSHA die Festlegung eines endgültigenGrenzwertes vor, ersuchte um Meinungsäußerun-gen und führte eine öffentliche Anhörung durch(OSHA, 1977b). 1978 erfolgte die Veröffentli-chung eines endgültigen Standards (OSHA, 1978)mit einem Grenzwert in der Luft von 1 ppm. Die-ser Standard wurde erneut vom API angefochtenund vom Berufungsgericht wieder aufgehoben.Dessen Entscheidung wiederum wurde vor demObersten Bundesgericht angefochten. Unabhän-gig davon erfolgte in dieser Zeit in den USA ein

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freiwilliger Verzicht auf die Verwendung vonBenzol in Konsumgütern, nachdem sich heraus-gestellt hatte, dass ein Abbeizmittel bei der Be-nutzung in geschlossenen Räumen in kürzesterZeit zu Konzentrationen von bis zu 200 ppm füh-ren konnte (Young et al., 1978).

4.2.5. Die „Benzolentscheidung“ des Obersten Bundesgerichts der USA und Dosis-Wirkungsanalysen

Im Juli 1980 fällte das Oberste Bundesgericht(IUD, 1980) die so genannte „Benzolentschei-dung“, die weit reichende Auswirkungen auf dieMöglichkeiten der Arbeitsschutzbehörde OSHAzur Begrenzung der Exposition gegenüber Benzolund anderen toxischen Substanzen am Arbeits-platz hatte. Das Gericht befand, bevor die OSHAeinen endgültigen Standard festsetze, müsse dasArbeitsministerium eine Schwellenwertanalysedurchführen, um festzustellen, ob ein Arbeits-platz als „unsicher“ in dem Sinne zu gelten habe,dass signifikante Risiken bestehen und durch Ver-änderung der Verfahrensweisen eliminiert oderreduziert werden können. Zwar wurden die miteiner solchen Analyse verbundenen Unsicherhei-ten in der „Benzolentscheidung“ durchaus aner-kannt, doch hieß es dort weiter, die Entscheidungüber das Vorliegen eines „signifikanten Risikos“solle nach Möglichkeit auf der Grundlage einerAnalyse der besten verfügbaren Erkenntnissedurch Instrumente wie quantitative Risikoab-schätzungen getroffen werden. In seinen allge-meinen Empfehlungen für die künftige Festle-gung von Bestimmungen durch die OSHA führtedas Oberste Bundesgericht aus, die Anforderung,das Vorliegen eines „signifikanten Risikos“ festzu-stellen, sei nicht als mathematische Zwangsjackezu verstehen, und es liege im Verantwortungsbe-reich der OSHA, vorwiegend aufgrund politischerErwägungen im Einzelnen zu bestimmen, was als„signifikantes Risiko“ zu gelten habe. In seinemeinzigen konkreten Beispiel führte das Gerichtaus, bei einer Chance von eins zu einer Million,dass eine Person nach der Aufnahme von ge-chlortem Wasser an Krebs stirbt, sei das Risikowohl kaum als „signifikant“ zu bewerten. Wennandererseits die Chancen eins zu tausend stün-den, dass das regelmäßige Einatmen von Gas-dämpfen mit einem Benzolgehalt von 2 % tödli-che Folge hat, könne man dies Risiko vernünfti-gerweise durchaus als „signifikant“ ansehen undMaßnahmen zu seiner Verringerung bzw. Beseiti-gung einleiten.

Seit dieser Entscheidung stuft die OSHA das Risi-ko, dass über die Dauer eines durchschnittlichenBerufslebens (von 45 Jahren) hinweg pro 1 000Arbeiter ein zusätzlicher Fall von Krebs oder ei-ner anderen schwerwiegenden gesundheitlichenBeeinträchtigung auftritt, als „signifikant“ ein.Das andere Ende der Skala – die Definition eines„nicht-signifikanten“ Risikos – wurde noch nichtin Angriff genommen, denn bei allen von derOSHA seit der Benzolentscheidung verabschiede-ten Gesundheitsnormen (mit Ausnahme derjeni-gen zu Formaldehyd) ging es um erhöhte Risikenvon über 1:1 000 im Verlauf eines Berufslebens (zuquantitativen Risikoberechnungen auf der Grund-lage der seit der „Benzolentscheidung“ erlassenenGesundheitsnormen siehe Infante, 1995b.)

Doch der Begriff „Zwangsjacke“ ist eine durch-aus angemessene Beschreibung für die Risiko-analysen, die die OSHA zurzeit vor der Empfeh-lung regulierender Maßnahmen durchführt. Diebereits vor 1980 zu verzeichnende erheblicheZeitdauer bis zur Verkündung von Gesundheits-normen durch die OSHA wird jetzt durch zusätz-liche detaillierte Studien zum Expositionsrisikonoch weiter verlängert. Auf den ersten Blick er-scheinen solche Analysen durchaus sinnvoll, al-lerdings wird das Verfahren durch weitere Studi-en zu den möglichen karzinogenen Mechanis-men der zu regulierenden Substanzen in dieLänge gezogen. Da bislang bei keiner Substanz(einschließlich Benzol, das nun bereits seit Jahr-zehnten Gegenstand von Untersuchungen ist)der Mechanismus der Karzinogenese exakt er-mittelt werden konnte, finden zeitraubende Spe-kulationen und Debatten über verschiedene un-bestätigte Hypothesen zur Entstehung von Krebsstatt. Darüber hinaus sind in die Diskussion überVerfahren zur Risikobewertung zahlreiche ande-re Aspekte eingeflossen, so zum Beispiel die Fra-ge, ob Mäuse, Hamster oder eher Ratten die ge-eignetsten Versuchsobjekte sind, wenn keine Da-ten zum Menschen vorliegen. Da die OSHA ver-pflichtet ist, alle denkbaren Mechanismen derKarzinogenese zu prüfen und einer Begutach-tung zu unterziehen, hat das gesamte Verfahrender „Risikobewertung“ bei der Festlegung vonGesundheitsstandards zu jahrelangen Verzöge-rungen geführt. Anstatt sinnvolle Vorsichtsmaß-nahmen zu beschließen, befasst man sich jahre-lang mit der Ermittlung des Dosis-Wirkungsver-hältnisses zwischen Exposition und Erkrankungs-risiko. Diese Analysen können auch spekulativeund ungeprüfte Angaben zu den Wirkungsme-chanismen beinhalten.

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4.2.6. Todesopfer infolge des langwierigen Regulierungsverfahrens

Elf Jahre nachdem die OSHA den EmergencyTemporary Standard für Benzol festgesetzt hatte,wurde schließlich ein neuer Grenzwert von1 ppm (8-h-Mittelwert) erlassen (OSHA, 1987). Derzugrunde liegende Gedanke war dabei nicht dieEliminierung „signifikanter Risiken“, sondern die„wirtschaftliche Durchführbarkeit“, denn bei derFestlegung des Grenzwerts wurde von einem Risi-ko einer berufsbedingten Erkrankung an Leukä-mie während des Arbeitslebens von 10:1 000 aus-gegangen. Andere Berechnungen des Risikoseiner Leukämieerkrankung, die sich ausschließ-lich auf die Kohortendaten des National Institutefor Occupational Safety and Health NIOSH (aktuali-siert von Paxton et al., 1994) und auf Todesfälleinfolge akuter myelotischer Leukämie und Mono-zytenleukämie bezogen, gelangten – je nach Artund Weise der Berechnung der Benzolexpositionund gewähltem Modell – zu 0,02 bis 5,1 zusätz-lichen Todesfällen pro 1 000 Arbeiter (Crump,1994). Grundlage dieser späteren Untersuchun-gen war jedoch ein Folgezeitraum der NIOSH-Kohorte, was aus den weiter unten angegebenenGründen zu einer Auswahlverzerrung (selectionbias) führte. Ausgehend von der endgültigenquantitativen Risikoabschätzung für Benzoldurch die OSHA und von Schätzungen der zusätz-lichen Benzolexposition US-amerikanischer Arbei-ter während der 10 Jahre, die für die endgültigeErstellung der Gesundheitsnorm für Benzol insLand zogen, kam man zu dem Schluss, dass dieseVerzögerung unter den US-amerikanischen Arbei-tern letztlich zu 198 zusätzlichen Todesfällen in-folge von Leukämie und 77 zusätzlichen Todesfäl-le infolge eines multiplen Myeloms führen wird –Opfer, die hätten vermieden werden können(Infante und DiStasio, 1988). Bei dieser Schätzungder vermeidbaren Todesfälle infolge von Benzol-exposition wurden außer Leukämie keine ande-ren Bluterkrankungen berücksichtigt, die nachdamaligem Kenntnisstand ebenfalls auf Benzol-exposition zurück zuführen waren, da für dieseErkrankungen keine Angaben zum Dosis-Wir-kungsverhältnis vorlagen.

4.2.7. Einbeziehung lympho-hämatopoetischer Erkrankungen

Nicht eingeschlossen in die oben erwähnte quan-titative Schätzung der zusätzlichen Todesfälle in-folge Benzolexposition war das – erst neuerlich

mit der berufsbedingten Exposition gegenübersehr geringen Benzolkonzentrationen in Verbin-dung gebrachte – Non-Hodgkin-Lymphom (Hayeset al., 1997). Eine auf den 1996 von Hayes et al.veröffentlichten Untersuchungsergebnissen basie-rende quantitative Risikoabschätzung (Infante,1997) lässt den Schluss zu, dass bei einer Benzol-exposition über das gesamte Arbeitsleben (45Jahre) hinweg ein Risiko von 54 Todesfällendurch Leukämie/Lymphome pro 1 000 Arbeiternbesteht. Dieses Risiko überschreitet das von derOSHA als „signifikant“ definierte Niveau um das54fache. Die Ergebnisse einer 1997 von Hayes etal. vorgelegten Studie und die auf diesen Datenbasierenden Dosis-Wirkungsanalysen zeigen ein-deutig, dass der ausschließlich auf das Krebsrisi-ko abstellende Grenzwert für Benzol in Höhe von1 ppm völlig unzureichend ist. Glücklicherweiseist es an den meisten Arbeitsplätzen in den USAmöglich, ein Expositionsniveau von maximal 0,2–0,3 ppm gegenüber Benzol sicherzustellen. Auchenthalten die US-amerikanischen Gesundheits-normen außer dem Expositionsgrenzwert zusätz-liche Vorschriften z. B. zur Überwachung der Ex-position, zur medizinischen Kontrolle und zuSchulungen für Gefahrensituationen – was zu ei-ner weiteren Verringerung der Benzolexpositionund damit zusammenhängender Erkrankungenführen dürfte. Neben einer quantitativen Risiko-abschätzung geht aus der 1997 von Hayes et al.vorgelegten Studie hervor, dass für alle lympho-hämatopoetischen Krebserkrankungen zusam-men sowie für die akute nicht-lymphatische Leu-kämie und das myelodysplastische Syndrom einsignifikant erhöhtes relatives Risiko in der Grup-pe von Arbeitern besteht, die über einen Zeit-raum von 5,5 Jahren einer konstanten durch-schnittlichen Benzolexposition von nur 1,2 ppmausgesetzt waren, was einer kumulativen Gesamt-dosis von 6,7 ppm-Jahren entspricht – eine erheb-lich niedrigere Gesamtdosis als die bei einemGrenzwert von 1 ppm im Laufe eines 45-jährigenArbeitslebens zulässige kumulative Dosis von 45ppm-Jahren. (Hayes, pers. Mitt., 1999). Einige Per-sonen aus dieser „Benzolkohorte“, deren Leukä-mie- bzw. Lymphomerkrankung zum Tod geführthat, waren höchstens 1–2 Jahre lang einer ge-schätzten Benzolkonzentration von 0,5–2 ppmausgesetzt (Infante, 1992).

In den neunziger Jahren erfolgte der toxikologi-sche Nachweis der multiplen Karzinogenität vonBenzol in Experimenten am Tier, und aus weite-ren epidemiologischen Studien und Falldarstel-lungen zur Exposition von Arbeitern wurde deut-

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lich, dass sich die Karzinogenität von Benzolgenerell auf alle wichtigen Formen der Leukämieerstreckt (Savitz und Andrews, 1997; Infante,1995a; Wong, 1987b), insbesondere auf die akutemyeloische Leukämie und ihre Varianten (Hayeset al., 1997; Browning, 1965; Rinsky et al., 1987;Bond et al., 1986; DeCoufle et al., 1983), die akutelymphatische Leukämie (Hernberg et al., 1966;Shu et al., 1988), die chronische lymphatischeLeukämie (McMichael et al., 1975;), die chroni-sche myeloische Leukämie (Browning, 1965;Goguel et al., 1967; Tareeff et al., 1963; Infante,1995a; Wong, 1987b;) und einige andere Formenwie die Haarzellenleukämie (Aksoy, 1987; Flan-drin und Collado, 1987), das myelodysplastischeSyndrom (Hayes et al., 1997), myeloproliferativeStörungen (Rawson et al., 1941; Tondel et al.,1995) sowie das Non-Hodgkin-Lymphom (Hayes etal., 1997) einschließlich des multiplen Myeloms(DeCoufle et al., 1983; Rinsky et al., 1987; Irelandet al., 1997; Goldstein, 1990). In einer „aktuali-sierten“ Analyse der NIOSH-Benzolkohorte (In-fante et al., 1977a; Rinsky et al., 1987) kam Wong(1995) zu dem Ergebnis, die erhöhte Zahl dermultiplen Myelome in der NIOSH-Kohorte seinicht mehr als statistisch relevant zu bezeichnen.Anzumerken ist jedoch, dass Wong das Anfangs-datum der Follow-up-Studie von 1950 auf 1940vorverlegt hat, was zu einer Auswahlverzerrungbei seiner Analyse führt, da das betroffene Unter-nehmen für einige der Jahre vor 1950 die Unter-lagen zu Mitarbeitern, die an einem der Erhe-bungsorte verstorben waren, beseitigt hatte.Somit können die von Wong durchgeführtenAnalysen der NIOSH-Kohorte, deren Follow-upvor 1950 beginnt, nicht als zuverlässige Grund-lage für die Ermittlung des Sterberisikos infolgeeines multiplen Myeloms oder anderer Ursachenherangezogen werden.

4.3. Diskussion

Die Reaktion auf Informationen zur Toxizität vonBenzol ließ deutlich werden, dass manche Ar-beitsmediziner durchaus besorgt waren, insbe-sondere in den ersten Jahren, als sehr viele Arbei-ter in den verschiedensten Sektoren und Berufenauf Bluterkrankungen hin untersucht wurden.Doch selbst in dieser Zeit wurden die Expositions-konzentrationen nicht auf Werte reduziert, diemit den damals zur Verfügung stehenden Datenzur Toxizität in Einklang gestanden hätten, undso waren über die ersten sechzig Jahre des zwan-

zigsten Jahrhunderts hinweg epidemische Vergif-tungs- und Leukämieerkrankungen aufgrund vonBenzolexposition zu beobachten. Für die zögerli-che Reaktion des öffentlichen Gesundheitssektorsund die – gemessen am Wissen um die Toxizitätvon Benzol – viel zu hohe Exposition gibt es ver-schiedene offensichtliche Gründe.

4.3.1. Einige Gründe für mangelnde Vorsorge

Fehlendes Wissen

Während der ersten vierzig Jahre des zwanzigs-ten Jahrhunderts wurden die mangelhaften Vor-sorgemaßnahmen im Zusammenhang mit Ben-zolexposition zum Teil mit fehlendem Wissen umdie Toxizität von Benzol erklärt. Obwohl Santes-sen schon 1897 von vier Fällen aplastischer Anä-mie bei Arbeiterinnen in der Regenmantelher-stellung berichtet hatte, wurden die Expositions-werte nicht ausreichend gesenkt, und Helmer(1944) berichtete für den Zeitraum 1940–1941 imgleichen Land von 60 Fällen von Benzolvergif-tung (58 davon bei Frauen) in einer einzigen Re-genmantelfabrik. Die epidemische Ausbreitungder Benzolvergiftungen in Schweden wurde zumTeil auf fehlendes Wissen um die Toxizität vonBenzol seitens der Firmeninhaber und der Arbei-ter zurückgeführt (Helmer, 1944).

Kosten von Lösungsmitteln

Schon früh hatten Wissenschaftler, die bei Rei-henuntersuchungen von Arbeitern benzolindu-zierte Bluterkrankungen feststellten (insbesonde-re Greenburg und Kollegen 1926, Erf und Rhoads1939 sowie Mallory et al. 1939) empfohlen, Ben-zol durch andere Lösungsmittel zu ersetzen.Doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg setztesich der Anstieg des Benzolverbrauchs weltweitfort. Ein Grund für die verstärkte Verwendungvon Benzol in der Synthesekautschuk-Industriewar seine gute Eignung als Lösungsmittel fürKautschuk. Ein weiterer Grund, den Aksoy (1977)für den Einsatz von Benzol in der türkischenSchuhindustrie anführte, lag darin, dass es billi-ger war als andere Lösungsmittel. Aus diesenwirtschaftlichen Erwägungen heraus wurden inder Türkei noch 1961 andere Lösungsmitteldurch Benzol ersetzt. Dies führte zu hohen Ben-zolkonzentrationen in der Luft am Arbeitsplatzund zur epidemischen Ausbreitung von Leukä-

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mie, Präleukämie, Panzytopenie und anderenBluterkrankungen (vgl. Aksoy et al., 1971; Aksoy,1977 und 1978). Somit waren auch noch in densechziger Jahren wirtschaftliche Erwägungen fürdie zu hohen Expositionswerte und in der Folgefür benzolinduzierte Erkrankungen verantwort-lich (Aksoy, 1977).

Freiwillige Vereinbarungen und Empfehlungen und der Einfluss der Industrie

Den 1939 von Hunter und Mallory et al. veröf-fentlichten Berichten zufolge waren einige Fällevon Benzolvergiftung auf Konzentrationswertevon 25 ppm bzw. 10 ppm zurückzuführen.Gleichwohl sprach sich 1946 die American Con-ference of Governmental Industrial HygienistsACGIH für einen Grenzwert von 100 ppm aus.Auch als dieser Wert zwei Jahre später auf35 ppm gesenkt wurde, lag er noch immer überden Konzentrationen, die Studien zufolge bereitszu Benzolvergiftungen geführt hatten. Aufgrundmeiner persönlichen langjährigen Erfahrungenscheint mir ein Problem beim Gesundheits-schutz am Arbeitsplatz im Zusammenhang mitBenzol (und anderen toxischen Substanzen)darin zu bestehen, dass sich freiwillige Verein-barungen und Empfehlungen meist daran orien-tieren, was am Arbeitsplatz problemlos erreichtwerden kann. Die vorhandenen Daten zu Exposi-tionskonzentrationen und Toxizität werden zwargeprüft, aber die Ergebnisse dieser Prüfungnicht in Grenzwertempfehlungen umgesetzt, diesich vorrangig am Gesundheitsschutz orientie-ren. Castleman und Ziem (1988) haben das Ver-halten der American Conference of GovernmentalIndustrial Hygienists untersucht und gelangtenzu dem Schluss, dass die von der ACGIH vertrete-nen Schwellengrenzwerte sehr stark von der In-dustrie beeinflusst waren. Diese Empfehlungenwaren daher unzulänglich, und es erscheintmöglich, dass bei ihrer Erarbeitung und bei deraus ihnen folgenden weiteren Verbreitung ben-zolinduzierter Erkrankungen am Arbeitsplatzdie Einflussnahme der Unternehmen eine Rollegespielt hat. Castleman und Ziem (1988) gelang-ten zu dem Schluss, es bedürfe internationalerBemühungen, damit „die Erarbeitung wissen-schaftlich fundierter Leitlinien als Ersatz für sol-che Empfehlungen in einem Klima der Offenheitund ohne Manipulation aus Eigeninteresse“vorangetrieben werden kann. Dieses Ziel wurdebislang noch nicht erreicht (Castleman undZiem, 1994).

Ignoranz gegenüber der öffentlichen Gesundheit(Forderung nach wissenschaftlicher Sicherheit)

In den siebziger Jahren beschritten Benzolherstel-ler und -verarbeiter neue Wege zur Informationder breiten Öffentlichkeit und insbesondere derArbeiter und Fabrikmanager über die Toxizitätvon Benzol informieren, die allerdings nicht zueiner Senkung der Benzolexposition führten. Daswar die Zeit, in der die Hersteller Berater hinzu-zogen, die die Bedeutung der wissenschaftlichenBeobachtungen zur Toxizität von Benzol herun-terspielten und die Dosis-Wirkungsanalysen inFrage stellten und damit die dringend benötigtenstaatlichen Regelungen zur Verringerung derBenzolexposition am Arbeitsplatz weiter hinaus-zögerten. Wieder einmal wurden wirtschaftlicheBelange über den öffentlichen Gesundheitsschutzgestellt; diesmal ging es den Unternehmen an-scheinend um die mit der Verringerung der Ex-position verbundenen Kosten (OSHA, 1987) undmöglicherweise auch um die steigenden Kostenfür gerichtliche Auseinandersetzungen und Haf-tungsfragen bei benzolinduzierten Erkrankungenvon Arbeitern. In diesem Zeitraum wurden Argu-mentationsstrategien entwickelt, um Untersu-chungsergebnisse kleinzureden oder anders aus-zulegen. Meiner Ansicht nach ist dies Teil einerneuen, gegen die öffentliche Gesundheit gerich-teten Einstellung, die für jede einzelne lympho-hämatopoetische Erkrankung wissenschaftlichgesicherte Aussagen zum Erkrankungsrisiko jenach Ausmaß der Benzolexposition fordert. Infol-ge dessen erhalten heute wohl Arbeiter auf derganzen Welt, die mit Benzol in Berührung kom-men, nicht den erforderlichen Schutz, um das Ri-siko einer lympho-hämatopoetischen Erkrankungzu senken, und vielen Arbeitern, die an benzolin-duzierten Erkrankungen leiden, dürfte nur einegeringe oder gar keine Entschädigung zugespro-chen werden.

So hieß es während der Anhörungen, die dieOSHA 1977 im Rahmen des Verfahrens zum Er-lass der Gesundheitsnorm durchführte, die vomNIOSH durchgeführte Kohortenstudie zu Benzol,bei der ein um das Fünf- bis Zehnfache erhöhtesLeukämierisiko nachgewiesen wurde (Infante etal., 1977a), sei im Hinblick auf staatliche Maßnah-men zur Reduzierung der Exposition am Arbeits-platz bedeutungslos. Eines der von den Industrie-beratern angeführten (und nicht sonderlich über-zeugenden) Argumente lautete, die Studie habelediglich ein zufälliges Leukämiecluster nachge-wiesen, und da solche Häufungen von Leukämie

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bekanntlich immer wieder an allen möglichenOrten aufträten, sei nun eben zufällig ein solchesCluster in einer Kohorte von Arbeitern entdecktworden, die mit Benzol in Berührung kamen(Tabershaw und Lamm, 1977 – zu einem Aus-tausch von Argumenten über die Studienergeb-nisse siehe Tabershaw und Lamm, 1977, sowie In-fante et al., 1977b). Weiter wurde angeführt, Ben-zol könne bei den Arbeitern gar keine Leukämieverursachen, da auch in Tierversuchen keinNachweis für die Karzinogenität von Benzol er-bracht worden sei (Olson, 1977). Angesichts derdurch Untersuchungen am Menschen geliefertenüberwältigenden Beweise für die Karzinogenitätvon Benzol war dieses Argument schlicht absurd.Und kurz danach erfolgte auch der Nachweis derKarzinogenität von Benzol an Versuchstieren(Maltoni und Scarnato, 1979; NTP, 1986).

In den achtziger Jahren veröffentlichte die OSHAeinen neuen Vorschlag zu Benzol, der den Leitli-nien der „Benzolentscheidung“ des OberstenBundesgerichts zur Ermittlung signifikanter Ge-sundheitsrisiken Rechnung trug. Während derErarbeitung des Vorschlags konzentrierte sich dieAufmerksamkeit auf die von der OSHA und ihrenBeratern zur Untermauerung der vorgeschlage-nen neuen Gesundheitsnorm vorgelegten Dosis-Wirkungsanalysen (OSHA, 1987). Gegenstand derDiskussion war vor allem die Ermittlung der Ben-zolexposition im Rahmen der Risikoanalyse, undes wurden neue Schätzungen zur Benzolexpositi-on der Kohortenmitglieder für Zeiträume vorge-legt, für die keine Expositionsdaten zur Verfü-gung standen. Diese von den verschiedenen amGesetzgebungsprozess beteiligten Parteien vorge-legten so genannten „intelligenten Schätzungen“konnten allerdings nicht bestätigt werden. DieVorschläge zur gesetzlichen Regulierung der Ben-zolexposition führten dann zur Erstellung weite-rer Dosis-Wirkungsanalysen und einer langwieri-gen Diskussion darüber, welches Berechnungs-modell für die quantitative Risikoabschätzungdas geeignetste sei – eine Frage, die sich niemalsmit letzter wissenschaftlicher Gewissheit klärenlassen wird. Auch die Frage nach dem geeignets-ten Dosis-Wirkungsmodell für die Benzolexpositi-on und das Leukämierisiko wurde diskutiert. Nie-mand wird den Sinn einer Diskussion zu solchenThemen bestreiten, aber der endlose Austauschvon Argumenten hat dazu geführt, dass viele Ar-beiter und die gesamte Öffentlichkeit unnötiglange Benzolkonzentrationen ausgesetzt waren,die in einem gestraffteren Regulierungsprozesswesentlich schneller hätten gesenkt werden kön-

nen. Die Suche nach absoluter wissenschaftlicherSicherheit darf nicht dazu führen, dass die zuschützenden Menschen auf der Strecke bleiben(Infante, 1987).

In den neunziger Jahren veröffentlichte das US-amerikanische National Cancer Institute (NCI) inZusammenarbeit mit der Chinese Academy of Pre-ventive Medicine (CAPM) eine Reihe von Studienzur laufenden Untersuchung der Benzolexpositi-on chinesischer Arbeiter. Diese Studien (Hayes etal., 1997 und 1996; Dosemeci et al., 1996) weiseneine Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen Benzol-exposition und Leukämie, Lymphom, myelodys-plastischem Syndrom und aplastischer Anämienach. Ferner wird (durch direkte Beobachtung)aufgezeigt, dass bei einer sehr niedrigen durch-schnittlichen Benzolexposition von etwa 1 ppmein hohes relatives Risiko für Leukämie, myelo-dysplastisches Syndrom und Non-Hodgkin-Lym-phom besteht. Die Ergebnisse dieser (äußerstsorgfältig durchgeführten) Studien haben weitreichende Auswirkungen auf Maßnahmen zumöffentlichen Gesundheitsschutz, da sie auch inEuropa, den Vereinigten Staaten und anderenLändern zur Berechnung des Risikos von benzo-linduzierten Erkrankungen bei geringen Expositi-onswerten herangezogen werden können. Als Re-aktion auf diese Studien haben Berater der che-mischen Industrie wiederum ihre Kritik an denUntersuchungsergebnissen und an der Berech-nung der entsprechenden Expositionswerte veröf-fentlicht (Wong, 1998 und 1999; Budinsky et al.,1999), wobei sie nach Meinung einiger Wissen-schaftler die Daten zu den gesundheitlichen Aus-wirkungen und auch die in den NCI/CAPM-Studi-en vorgenommenen Berechnungen zur Benzolex-position falsch auslegten (Hayes et al., 1998; Hay-es, pers. Mitt.). Darüber hinaus äußerten einigedieser Berater erstaunliche Ansichten über die Er-gebnisse zum allgemeineren Thema Benzolexpo-sition und Erkrankungen (Wong, 1995 und 1996;Bergsagel et al., 1999). So kam Wong nach Unter-suchung der Daten der NIOSH-Benzolkohorten-studie zu dem Schluss, dass Benzol ausschließlichakute myeloische Leukämie verursache und derSchwellenwert bei einer kumulierten Expositions-dosis von 370 bis 530 ppm liege (Wong, 1995).Dabei hat er die Daten seiner eigenen Benzolstu-die nicht einbezogen, in der er von einer statis-tisch signifikanten Dosis-Wirkungsbeziehung zwi-schen Benzolexposition und Leukämie bei Arbei-tern berichtet, bei denen die kumulierte Expositi-onsdosis von weniger als 15 ppm bis über 60ppm reichte (Wong, 1987a und b). Außerdem ist

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anzumerken, dass in der letztgenannten Studiekeiner der Todesfälle auf akute myeloische Leukä-mie zurückzuführen war. Das heißt, die aus dereigenen Studie gewonnenen Ergebnisse undSchlussfolgerungen widersprechen seiner An-sicht, dass Benzol ausschließlich akute mye-loische Leukämie verursache und der Schwellen-wert für die kumulierte Expositionsdosis zwi-schen 370 und 530 ppm-Jahren liege.

Darüber hinaus zog Wong (1995) den Schluss, dieNIOSH-Studie liefere keinen Nachweis für einenZusammenhang zwischen Benzolexposition undmultiplem Myelom, da er auf der Grundlage vonvier Todesfällen durch multiples Myelom in derErhebungspopulation kein Dosis-Wirkungsverhält-nis erkennen könne. Diese Anmerkung ist gegen-standslos, da vier Fälle schlicht nicht ausreichen,um ein Dosis-Wirkungsverhältnis statistisch nach-zuweisen, selbst wenn es vorhanden wäre. Rinksyet al. (1987) vom NIOSH hatten bereits zuvor in derBenzolkohorte eine signifikant erhöhte Todesfall-rate infolge eines multiplen Myeloms nachgewie-sen und daraus auf einen Zusammenhang zwi-schen geringfügiger Benzolexposition und einerErkrankung an multiplem Myelom geschlossen.Wong (1995) behauptet zudem, diese Erkrankungstehe in keinerlei Zusammenhang mit einer Ben-zolexposition und, anders als in der NCI/CAPM-Studie festgestellt, gebe es auch keinen Nachweisfür einen Zusammenhang zwischen Non-Hodgkin-Lymphom und Benzolexposition (Wong, 1998).Diese Schlussfolgerungen sind mit denen andererWissenschaftlicher zur Toxizität von Benzol nichtvereinbar (Goldstein und Shalat, 2000; Goldstein,1990; Rinsky et al., 1987; DeCoufle et al., 1983; In-fante, 1995a; Savitz und Andrews, 1996 und 1997;Hayes et al., 1998 und 2001).

Die Auseinandersetzungen um die NCI/CAPM-Stu-die erinnern an die langwierigen Debatten unddie Verzögerung der notwendigen Regulierungs-maßnahmen nach der Veröffentlichung derNIOSH-Benzolstudie im Jahr 1977 (Infante et al.,1977a). Es wäre sehr zu bedauern, wenn man beider Verwendung der Daten aus der NCI/CAPM-Studie größere Vorsicht an den Tag legte alsbeim Schutz der Menschen, die einer Benzolex-position ausgesetzt sind, deren Höhe sich mitden vorhandenen technischen Mitteln durchausreduzieren ließe. Wissenschaftliche Gewissheit istschwer zu erreichen, aber durch die Betonungder Unsicherheiten wird man den Daten zur Ben-zolexposition und den damit zusammenhängen-den Erkrankungen gewiss nicht gerecht. Im Falle

von Benzol wären viele nutzlose Leiden und Op-fer zu vermeiden gewesen, wenn man die Exposi-tion am Arbeitsplatz unter dem durch die jeweilsverfügbaren wissenschaftlichen Daten gestütztenGrenzwert gehalten hätte. Meiner Auffassungnach konterkarieren die langwierigen Auseinan-dersetzungen um die Dosis-Wirkungsbeziehungbei benzolinduzierten Erkrankungen von Arbei-tern und das Leugnen des äußerst wahrscheinli-chen Zusammenhangs zwischen Benzolexpositi-on und lympho-hämatopoetischen Krankheitendie Bemühungen um eine möglichst sichere Ge-staltung der Arbeitsplätze. Die Fortführung die-ser Debatte mag zwar aus akademischer Sichtdurchaus interessant sein, doch stellt sich die Fra-ge, ob dabei nicht die wirtschaftlichen Interessenund die potenzielle Haftung der Unternehmermehr im Vordergrund stehen als das Interessedaran, auf der Grundlage einer sinnvollen Inter-pretation der vorhandenen wissenschaftlichenDaten einen möglichst wirkungsvollen Gesund-heitsschutz zu erzielen.

4.3.2. Benzol im Benzin — eine ständige Gefahr

Den meisten Verbrauchern und auch vielen Be-schäftigten im Gesundheitswesen ist nicht klar,dass Benzin Benzol enthält. In den USA liegt derBenzolgehalt des Benzins seit zwanzig Jahren imDurchschnitt bei 1,5 % , allerdings kann der Volu-menanteil auch bis auf 5 % ansteigen (Infante etal., 1990). In den meisten europäischen Ländernlag der Benzolgehalt des Kraftstoffs immer schonhöher als in den Vereinigten Staaten. Dies schienbis 1994 zu gelten (Deschamps, 1995), in jüngsterZeit soll der Benzolanteil jedoch gesenkt wordensein. Es dürfte also kaum überraschen, dass inepidemiologischen Studien, Analysen und Fall-darstellungen ein Zusammenhang zwischenKraftstoffexposition und Leukämie (Schwartz,1987; Jakobsson et al., 1993; Infante et al., 1990),anderen Bluterkrankungen (Infante et al., 1990;Lumley et al., 1990; Naizi und Fleming, 1989),Chromosomendefekten (Lumley et al., 1990;Hogstedt et al., 1991) und anderen Erscheinungs-formen genetischer Schäden (Nilsson et al., 1996)festgestellt wurde. Dennoch halten die Tankstel-len keine angemessenen Informationen darüberbereit, welche Krebsarten bekanntermaßen mitBenzolexposition im Zusammenhang stehen. Undauch auf den (in den USA obligatorischen) Daten-blättern zur Materialsicherheit finden sich beimKraftstoff keine Angaben zu Chromosomendefek-ten oder genetischen Schäden.

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Aufgrund dieses Mangels an Informationen neh-men Kfz-Mechaniker und Straßenarbeiter unnöti-ge Risiken auf sich, wenn sie Benzin als Lösungs-mittel zur Reinigung von Autoteilen verwenden(Infante, 1993). Aber auch im Haushalt ist dieVerwendung von Benzin als Lösungsmittel oderals Treibstoff für Rasenmäher, Motorsägen usw.ohne geeignete Schutzmaßnahmen mit Risikenverbunden. Bei einer Untersuchung zu nigeriani-schen Straßenhändlern, die umgefülltes Benzinverkauften, wurde festgestellt, dass 26 % von ih-nen an Neutropenie erkrankt waren, gegenüber2–10 % in den Kontrollgruppen – ein signifikan-ter Unterschied (Naizi und Fleming, 1989). DieGefahren von Benzol im Kraftstoff sind seit spä-testens 1928 bekannt, als Askey von einem Fallaplastischer Anämie bei einem US-amerikani-schen Arbeiter mit Benzinexposition berichtete.Neueren Datums sind die Berichte über einenFall von Myelofibrose bei einem Mitarbeiter einerTankstelle in Schweden (Tondel et al., 1995) undüber einen Fall von aplastischer Anämie bei ei-nem US-amerikanischen Dachdecker, der vordem Anbringen von gummiertem Bedachungs-material die Fugen immer mit Benzin reinigte(Infante et al., 1990). Trotz der höchst umfangrei-chen Literatur über die Gefahren von Benzol imKraftstoff sind die Mitarbeiter der Gesundheits-schutzbehörden und die Gesundheitsschutz- undSicherheitsbeauftragten der Unternehmen ihrerPflicht, die Arbeitnehmer und die Verbraucherangemessen über diese Risiken zu informieren,bislang noch nicht ausreichend nachgekommen.

4.4. Schlussfolgerungen und Lehren für die Zukunft

Im Lichte der verfügbaren Kenntnisse über dieToxizität von Benzol bietet der während des letz-ten Jahrhunderts zu beobachtende Mangel anVorsorgemaßnahmen zum Schutz der Arbeiter(und der gesamten Öffentlichkeit) Anlass zur Sor-ge. Mit ihrer Untätigkeit bzw. den unzureichen-den Maßnahmen stellen Verbände und Regierun-gen gleichermaßen ihre Fähigkeit in Frage, füreinen angemessenen öffentlichen Gesundheits-schutz zu sorgen. Bei der Benzolexposition amArbeitsplatz hat das Vorsorgeprinzip nie eine Rol-le gespielt. Die bereits in den zwanziger Jahren inden USA und im Vereinigten Königreich ausge-sprochenen Empfehlungen zur Substitution vonBenzol durch andere Substanzen mit nachweis-lich geringeren toxischen Auswirkungen auf das

Knochenmark wurden jahrzehntelang ignoriert,obwohl bei einem hohen Prozentsatz der unter-suchten Arbeiter Bluterkrankungen festgestelltwurden. Im Übrigen wurde in den USA erst 1978auf den Einsatz von Benzol in Konsumgütern ver-zichtet, und zwar auf freiwilliger Basis von Seitender Hersteller. Eine angemessene Überprüfungdieser Maßnahme fand bisher nicht statt.

Auch fällt es schwer, die behauptete Unkenntnisder Toxizität von Benzol in der schwedischenRegenmantelproduktion in den vierziger Jahrennachzuvollziehen, als dort in einer einzigenFabrik 60 Fälle von Blutvergiftung gemeldetwurden. Bereits vierzig Jahre zuvor (1897) warenin Schweden Falldarstellungen von aplastischerAnämie bei Frauen in derselben Branche ver-öffentlicht worden. In einem so kleinen Indust-riezweig eines für seine humanitäre Haltung be-kannten Landes ist die Behauptung, die Betriebs-leitung habe keine Kenntnis von den Gefahrender Benzolexposition gehabt, schlicht unglaub-würdig. Im Vereinigten Königreich gab es Berich-ten zufolge in den vierziger und fünfziger Jahren13 Todesfälle aufgrund neurotoxischer Auswir-kungen von Benzol. Die mit diesen akuten Todes-fällen in Verbindung gebrachten Benzolkonzen-trationen lagen mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit um das 200- bis 800facheüber den damals empfohlenen Expositions-werten. Wenn der Gesundheitsschutz der Ar-beiter tatsächlich ein ernsthaftes Anliegen ge-wesen wäre, hätte diese Situation vermiedenwerden können und müssen.

Ausgehend vom damaligen Kenntnisstand ist wei-terhin schwer nachzuvollziehen, dass in der türki-schen Schuhindustrie 1961 andere Lösungsmittelauf Erdölbasis durch Benzol ersetzt wurden.Aksoy führt dies auf den günstigeren Preis vonBenzol zurück. Zu den Kosten von Benzol undvon anderen in den sechziger Jahren in der Tür-kei gebräuchlichen Lösungsmitteln sind keineDaten vorhanden, es erscheint aber unwahr-scheinlich, dass die Preisdifferenz mehr als einpaar Cent pro Gallone ausmachte. Die Kosten,die die (auf diese Substitution folgende) epidemi-sche Ausbreitung von Leukämie und anderentödlichen Bluterkrankungen verursachte, dürftensehr hoch gewesen sein, wenn man die Erkran-kungen der Arbeiter mit den Behandlungskosten,dem Verdienstausfall usw. einberechnet. Genauwie in anderen Fällen zeigt sich auch hier, dassfür die Unternehmer die Produktionskosten wich-tiger sind als die Kosten an Menschenleben.

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Trotz Tausender von Fallberichten zu benzol-induzierten Erkrankungen einschließlich Leu-kämie wurden keine Vorsichtsmaßnahmen zurReduzierung der Benzolkonzentrationen auf

Werte unterhalb der bekannten bzw. vernünfti-gerweise anzunehmenden Risikoschwelle für Blu-terkrankungen ergriffen. Die von Verbänden wieder American Conference of Governmental

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 4.1. BENZOL: FRÜHE WARNUNGEN UND REAKTIONEN

1897Bericht von Santessen über aplastische Anämie in Schweden; weitere Berichte über die knochenmarkschädigendeWirkung von Benzol

1926Greenburg und seine Kollegen beobachten abnorm niedrige Leukozytenzahl bei Arbeitern, die mit Benzol inBerührung kommen

1928Dolore und Borgomano veröffentlichen erste Falldokumentation über eine Leukämieerkrankung infolge vonBenzolexposition

1939Zahlreiche Experten empfehlen die Substitution von Benzol durch andere Lösungsmittel, es folgen jedoch keinekonkreten Maßnahmen

1946Trotz einiger Fälle von Benzolvergiftung bereits bei Konzentrationen in Höhe von 25 ppm bzw. 10 ppm empfiehltdie American Conference of Governmental Industrial Hygienists (ACGIH) für die Benzolexposition einen Grenzwertvon 100 ppm

1947 Senkung des empfohlenen Grenzwertes auf 50 ppm

1948 Erneute Senkung auf 35 ppm

1948Das American Petroleum Institute (API) gelangt zu dem Schluss, dass der absolute Sicherheit bietende Grenzwertbei null liegt, empfiehlt jedoch maximal 50 ppm

1957 Die ACGIH senkt den empfohlenen Expositionswert auf 25 ppm

1950—1970In vielen Teilen der Welt offensichtlicher Mangel an Vorsichtsmaßnahmen im Hinblick auf die Benzolexposition amArbeitsplatz mit tödlichen Folgen

1977Veröffentlichung der ersten Kohortenstudie, die einen direkten Zusammenhang zwischen Benzolexposition undLeukämie aufzeigt, durch Infante et al.

1977Aufgrund dieser Ergebnisse plant das US-amerikanische Arbeitsministerium die Senkung der Exposition auf 1 ppm,was aber vom API gerichtlich angefochten wird

1978 Freiwilliger Verzicht auf Benzol in Konsumgütern in den USA

1980Das Oberste Bundesgericht der USA verkündet die „Benzolentscheidung“, die zu einer starken Einschränkung derregulatorischen Handlungsmöglichkeiten führt

1987Neue Benzolkonzentrationsnorm von 1 ppm — diese 10-jährige Verzögerung hat in den USA zu mehr als 200 zusätz-lichen Todesfällen geführt

1996 Benzolinduzierte Erkrankungen ab einer Expositionskonzentration von 1 ppm in Studien nachgewiesen

2001 Expositionsrisiko für die Bevölkerung durch den Benzolgehalt von Benzin

Industrial Hygienists (ACGIH) ausgesprochenenEmpfehlungen orientierten sich an den Werten,die am Arbeitsplatz problemlos zu erreichen wa-ren. Wie Castleman und Ziem belegen, kamensolche Empfehlungen dadurch zustande, dass indem US-amerikanischen Ausschuss zur Fest-legung von Grenzwerten (Threshold Limit ValueCommittee), der die Expositionsempfehlungenausspricht, Wissenschaftler aus der Industrie mit-arbeiteten. Eine – auf der Hand liegende – Lehre,die daraus zu ziehen wäre, ist also, dass die ander Festlegung von Expositionsgrenzwerten Betei-ligten Distanz zu den Herstellern der chemischenSubstanzen und ihren „Beratern“ wahren müs-sen, wenn sie die Hinweise auf einen Zusammen-hang mit Erkrankungen bewerten.

Schließlich sei noch angemerkt, dass Warnhin-weise an den Zapfsäulen zu Formen von Krebsund zu anderen Erkrankungen, die mit Sicher-heit oder hoher Wahrscheinlichkeit mit der Ben-zolexposition in Zusammenhang stehen, dazubeitragen könnten, unnötige Gefahren zu vermei-den. Besonders betroffen sind hier Kfz-Mechani-ker, Tankstellenbedienstete, Straßenarbeiter undPrivatpersonen, die selbst tanken oder zuhauseeher unwissentlich Benzin in Verbraucherproduk-ten verwenden, häufig auch als Lösungsmittel,ohne genau über das Krebsrisiko und die Gefahreiner anderen Erkrankung informiert zu sein. DieÖffentlichkeit nicht über die Gefahren von Ben-zol im Kraftstoff (Krebserkrankung, Knochen-markserkrankungen und genetische Schäden) zuinformieren, hieße die im zwanzigsten Jahrhun-dert begangenen Fehler im nächsten Jahrhun-dert zu wiederholen und die öffentlichen Aufklä-rungsmaßnahmen zum Gesundheitsschutz zurFarce zu machen.

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David Gee und Dr. Morris Greenberg

„Rückblickend muss man im Lichte der heutigenKenntnisse feststellen: Die Möglichkeiten zur Ent-deckung und Verhinderung von asbestinduziertenKrankheiten wurden sträflich vernachlässigt.“Thomas Legge, ehemaliger leitender staatlicherGewerbearzt (Chief Medical Inspector of Factories),in Industrial maladies, 1934.

5.1. Einführung

Am 20. Mai 2000 wurde der Familie eines briti-schen Chirurgen, der im Alter von 47 Jahren aneinem Mesotheliom, einer asbestinduziertenKrebserkrankung gestorben war, eine Entschädi-gung in Höhe von 1,15 Mio. GBP zugesprochen.Ursache der Erkrankung war so genannter „Blau-asbeststaub“ aus einer defekten Rohrisolierung inden Verbindungstunneln unter dem LondonerMiddlesex Hospital, wo der Chirurg im Zeitraum1966–1973 während seiner Ausbildung vier Jahrelang gearbeitet hatte (British Medical Journal,2000). Asbest ist die Hauptursache für die Entste-hung von Mesotheliomen. Aktuellen Schätzun-gen zufolge wird in der Europäischen Union imLaufe der nächsten 35 Jahre mit ca. 250 000 Fäl-len von Mesotheliomen zu rechnen sein, einer Er-krankung, die normalerweise innerhalb einesJahres zum Tode führt (Peto, 1999). Da Asbestauch Lungenkrebs verursacht, wird die Gesamt-zahl der zu erwartenden Opfer auf 250 000–400 000 geschätzt, einschließlich derjenigen derAsbestose, einer Lungenerkrankung, die als ersteKrankheit mit Asbestexposition in Verbindunggebracht wurde.

Neunzig Jahre vor dem Fall von Umweltexpositi-on in dem Londoner Krankenhaus war eineneue, globale Gefahr für die öffentliche Gesund-heit entstanden: 1879 wurde in den Minen im ka-nadischen Thetford zum ersten Mal Chrysotil(„Weißasbest“) abgebaut. Einige Jahre später be-gann man in Australien, Russland, Südafrika undweiteren Ländern mit dem Abbau von zwei wei-teren Asbestfasern, dem „Blauasbest“ (Krokydo-

lith) und dem „Braunasbest“ (Amosit). 1998 be-trug die Jahresproduktion für alle Asbestfasernzusammen weltweit 2 Mio. Tonnen. Die Importein die EU, die Mitte der siebziger Jahren ihrenSpitzenwert erreichten, hielten sich bis 1980 aufeinem Niveau von mehr als 800 000 Tonnen proJahr, sanken dann aber bis 1993 auf 100 000 Ton-nen ab.

Die Länder, in denen Asbest abgebaut und in de-nen er verwendet wurde, stehen heute vor einerbeträchtlichen „Hinterlassenschaft“ an Gesund-heits- und Sanierungskosten. Und immer nochwird Asbest verwendet, nun vorwiegend in denEntwicklungsländern.

Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf demVereinigten Königreich, doch ist die Entwicklungder Asbestnutzung in Deutschland, Frankreich,Italien, Skandinavien und den Vereinigten Staa-ten nicht viel anders verlaufen (Castleman, 1996);Ähnliches gilt für die Entwicklung in den Län-dern mit Asbestvorkommen (Australien, Kanada,Russland und Südafrika). Das alles wiederholtsich nun, wenn auch mit einigen Unterschieden,in Asien, Afrika und Südamerika.

5.2. Die ersten „Frühwarnungen“ zuAsbestose und einige Reaktionen

Innerhalb von 20 Jahren nach dem Beginn derAusbeutung von Asbestminen gab es bereits über100 Produkte aus diesem „magischen Mineral-stoff“, zugleich tauchten aber auch schon die ers-ten Berichte über schwere Erkrankungen auf.

Die früheste Darstellung der ernsten Gefahrenbeim Umgang mit Asbest stammt von LucyDeane, die zu den ersten weiblichen Gewerbeauf-sichtsbeamten (Inspectors of Factory) im Vereinig-ten Königreich gehört. In ihrem Bericht aus demJahr 1898 rechnete sie die Arbeit mit Asbest zuden vier Beschäftigungen mit hoher Staubbelas-tung, die in diesem Jahr „aufgrund ihrer nach-weislichen Gefahr für die Gesundheit der Arbei-ter und aufgrund der dokumentierten Fälle von

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5. ASBEST: VOM WUNDERMITTEL ZUM TEUFELSZEUG

Verletzungen der Bronchien und der Lunge, dievon ärztlicher Seite dem Arbeitsumfeld des Er-krankten zugeschrieben werden“, besonders auf-merksam beobachtet wurden.

Deane führte weiter aus, dass „aufgrund derschlimmen Wirkung von Asbeststaub vom könig-lichen Leibarzt (Medical Inspector) eine mikrosko-pische Untersuchung des Mineralstaubs durchge-führt wurde. Klar erkennbar war die scharfe,glassplitterähnliche Form der Partikel, und woimmer sie aufsteigen und sich selbst in geringenMengen in der Raumluft verteilen konnten, tra-ten die erwarteten schädigenden Auswirkungenein.“ (Deane, 1898)

Ähnliche Beobachtungen machten zwei weitereGewerbeaufsichtsbeamtinnen in den Jahren1909 und 1910. Sie wurden im Jahresbericht desköniglichen leitenden Gewerbeaufsichtsbeamten(Chief Inspector of Factories) veröffentlicht undfanden bei Politikern und Entscheidungsträgernweite Verbreitung.

Die Beobachtungen der beiden Gewerbeaufsichts-beamtinnen wurden zwar nicht als Expertenmei-nungen eingestuft , doch die beiden Damen wa-ren durchaus fachkundig, und ihre Ausführungenzu Berufskrankheiten hätten einem Mediziner zurEhre gereicht. Was sie berichteten, wurde nichtin Abrede gestellt, sondern schlicht ignoriert.

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von DeanesBericht diagnostizierte Dr. Montague Murrayvom Charing Cross Hospital in London die erstedokumentierte Lungenerkrankung im Zusam-menhang mit der Inhalation von Asbeststaub beieinem 33-jährigen Patienten. Murray berichtete:„Er arbeitete seit etwa vierzehn Jahren, die erstenzehn davon im so genannten „Kardierraum“, wo– wie er ausführte – die Arbeit am gefährlichstensei. Er erklärte, von den zehn Personen, die an-fangs zusammen mit ihm in diesem Raum arbei-teten, habe er als Einziger überlebt. Ich habe kei-ne Beweise außer seinem Wort. Er sagte, sie seienalle im Alter von etwa dreißig Jahren gestorben.“(Murray, 1906)

Diese Beobachtung wurde 1906 dem Untersu-chungsausschuss der Regierung zu Entschädigun-gen bei Berufskrankheiten vorgelegt. Im gleichenJahr berichtete ein französischer Gewerbeauf-sichtsbeamter von ca. 50 Todesfällen unter Textil-arbeiterinnen mit Asbestexposition (Auribault,1906). In seinem Bericht befasste er sich mit

grundsätzlichen Fragen zu Asbest, seiner Verar-beitung und Verwendung, mit den Sicherheits-und Gesundheitsrisiken in Spinnereien und We-bereien und mit Vorrichtungen zur Staubabschei-dung direkt an der Quelle. Auch dieser Berichtwurde weitgehend ignoriert, und es sollte nochüber neunzig Jahre dauern, bis sich das Schlich-tungspanel der WTO 1999 mit dem von Frank-reich ausgesprochenen Verbot von Asbest befass-te (s.u.).

Der französische Bericht aus dem Jahr 1906 be-stätigte die früheren Beobachtungen derbritischen Gewerbeaufsichtsbeamtinnen. Aller-dings gelangte die britische Regierung bei ihrerUntersuchung im Jahr 1906 nicht zu demSchluss, dass Asbest als Ursache für Berufskrank-heiten anzuerkennen sei. Dr. Murray hatte aus-gesagt: „Wie man hört, werden jetzt erheblicheAnstrengungen unternehmen, um die Inhalationdes Staubs zu vermeiden, so dass diese Krankheitin Zukunft nicht mehr so häufig auftreten dürf-te.“ (Murray, 1906)

Dies mag den Regierungsausschuss beeinflussthaben. Es wurden allerdings weder die Aussagenvon Dr. Murrays Patienten über den Tod seinerneun Arbeitskollegen überprüft noch die überle-benden Arbeiter in dieser Fabrik untersucht, ob-wohl Lucy Deane die Erstellung von Mortalitäts-statistiken angeregt hatte.

Dr. Murrays Ansicht, „kein Nachweis für eineSchädigung“ bedeute dasselbe wie „nachweislichkeine Schädigung“, ist ein frühes Beispiel füreinen häufigen Trugschluss, der die Identifizie-rung gefährlicher Substanzen behindert, die an-fänglich als unschädlich galten („falsch negati-ves“ Ergebnis).

Weitere Hinweise auf die Gefährlichkeit von As-best wurden 1910 bei Arbeitern (Collis, 1911) und1911 bei ersten Asbeststaubversuchen mit Ratten(Merewether und Price, 1930) ermittelt. Von die-sen Versuchen hieß es später, sie hätten „hinrei-chende Gründe für den Verdacht geliefert, dassdie Inhalation großer Mengen Asbeststaub einegewisse schädigende Wirkung hat“, so dass diefür die Überwachung von Fabriken zuständigeBehörde bei Arbeitsprozessen mit Staubentwick-lung auf die Installation von Abluftrohren dräng-te (Merewether, 1933). Weitere Untersuchungender Behörde in den Jahren 1912 und 1917 erga-ben allerdings keine ausreichende Hinweise, dieGrund zu weiteren Maßnahmen gegeben hätten.

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In den USA und in Kanada hingegen lagen eini-gen Versicherungsgesellschaften 1918 offensicht-lich so viele Beweise für Asbesterkrankungen beiArbeitern vor, dass sie den Versicherungsschutzfür diese Personengruppe „wegen der vermute-ten schädlichen Umgebungsbedingungen in die-sem Industriezweig“ ablehnten (Hoffman, 1918).Leider geriet dieser frühe Vorsorgeansatz dannwieder in Vergessenheit, weshalb die US-amerika-nischen Versicherer in den neunziger Jahren fürGesundheitsschäden durch Asbest enorme Sum-men zahlen mussten.

1924 wurde in der seit 1880 bestehenden Asbe-stfabrik Turner Brothers in Rochdale die erste pa-thologische Untersuchung einer Asbestarbeiterinvorgenommen. Der Hausarzt der Arbeiterin Nel-lie Kershaw diagnostizierte bei seiner Patientineine Asbestvergiftung als Todesursache undmerkte an, er habe 10–12 solcher Fälle pro Jahr.Dies wurde von dem Pathologen W. Cooke bestä-tigt, der den Fall in der Fachliteratur dokumen-tierte (Cooke, 1924 und 1927). In Leeds, einemweiteren Standort von Turner Brothers, lagen ei-nem örtlichen Arzt so viele Asbestfälle vor, dasser daraus eine Doktorarbeit machte (Grieve,1927). Bis 1930 hatte es unter den Arbeitern al-lein dieser beiden Fabriken mindestens 12 Todes-fälle gegeben, die zumindest teilweise auf Asbe-stose zurückzuführen waren (Tweedale, 2000). Inmanchen Fällen kamen noch Tuberkulose, Herz-versagen und Lungenentzündung hinzu, was dieDiagnose erschwerte. Dieses Problem sollte auchin den nächsten Jahrzehnten weiter bestehen.

Doch die Kombination zumindest einiger dieserHinweise mit zwei weiteren 1928 veröffentlichtenwissenschaftlichen Berichten, die vier Falldarstel-lungen aus Südafrika (Simpson, 1928; Seiler,1928) enthielten, waren für die britische Regie-rung Anlass genug, eine umfassende Untersu-chung der Auswirkungen von Asbeststaub durchden staatlichen Gewerbearzt (Medical Inspector ofFactories) Dr. Merewether, und den Gewerbeauf-sichtsbeamten und Pionier auf dem Gebiet derStaubüberwachung und -begrenzung, C. W.Price, anzuordnen. Im Rahmen dieser ersten Ge-sundheitsstudie wurden 363 Asbestarbeiter unter-sucht: 66 % der seit mehr als zwanzig Jahren täti-gen Arbeiter hatten Asbestose, bei denen, die seitweniger als vier Jahren mit Asbest arbeiteten,wurde kein einziger Fall diagnostiziert; im Ge-samtdurchschnitt waren 25 % der Arbeiter an As-bestose erkrankt (Merewether und Price, 1930).Die tatsächlichen Erkrankungsraten dürften noch

höher gewesen sein, da nur die im Untersu-chungszeitraum angestellten Arbeiter in die Un-tersuchung einbezogen wurden, nicht aber dieje-nigen, die ihre Arbeitsstelle aus gesundheitlichenGründen aufgegeben hatten. Gleichwohl führtendiese Ergebnisse dazu, dass die weltweit erstengesetzlichen Bestimmungen zur Begrenzung derExposition gegenüber Asbeststaub, zur medizini-schen Überwachung und zu Entschädigungszah-lungen erlassen wurden. Bis 1969, dem Jahr derEinführung neuer Asbestbestimmungen im Verei-nigten Königreich, wurden diese so gut wie nieverändert (allerdings auch nicht durchgesetzt).

5.3. Frühe Warnungen zur Karzinogenität von Asbest

1932 lenkte ein Bericht des unabhängigen Wis-senschaftlers Ronald Tage an den Dachverbandder britischen Gewerkschaften die Aufmerksam-keit auf drei Asbestosefälle mit zusätzlicherKrebserkrankung in der Cape Asbestos Company inBarking, London (Greenberg, 1993). In den drei-ßiger und vierziger Jahren erschienen in denUSA, Deutschland und dem Vereinigten König-reich in der Fachliteratur Berichte, in denen As-best mit Lungenkrebs in Zusammenhang ge-bracht wurde (Lynch und Smith, 1935; Gloyne,1935; Wedler, 1943; Heuper, 1942), darunterauch der 1938 veröffentlichte Bericht des briti-schen leitenden Gewerbeaufsichtsbeamten (ChiefInspector of Factories). Obwohl Lungenkrebs 1938generell noch nicht so verbreitet war, ließen sichdie deutschen Behörden davon überzeugen, dassein kausaler Zusammenhang vorlag, und 1943wurde asbestinduzierter Lungenkrebs als Berufs-krankheit anerkannt (Jahrzehnte später wurde eswegen der steigenden Zahl von Lungenkrebser-krankungen als Folge des Tabakkonsums erheb-lich schwieriger, einen Zusammenhang mit derAsbestexposition nachzuweisen).

Im Jahresbericht des leitenden Gewerbeaufsichts-beamten für 1949 wird in den Autopsieberichtenzu Asbestosefällen ein hoher Prozentsatz an Lun-genkrebs festgestellt; ferner lagen der Branchezwei unveröffentlichte US-Studien über eine starkerhöhte Inzidenz von Krebs der Atemwege beiMäusen vor (Scheper, 1995). Bei drei fabrikinter-nen Untersuchungen zur Krebsmortalität im Be-zirk Rochdale wurde kein Hinweis auf Lungen-krebs bei Asbestarbeitern gefunden (Knox, 1952und 1964), doch der Betriebsarzt räumte ein, sei-

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ne statistischen Kenntnisse seien „gleich null“(Tweedale, 2000, S. 148). 1953 beauftragte dasUnternehmen Turner Brothers den unabhängigenEpidemiologen Richard Doll mit einer Studie zurMortalität der Asbestarbeiter in Rochdale. Der ge-langte zu dem Ergebnis, das bei Arbeitern mitmindestens zwanzigjähriger Asbestexposition dasLungenkrebsrisiko um das Zehnfache höher istals im Bevölkerungsdurchschnitt. Trotz aller Be-mühungen des Unternehmens, das Bekanntwer-den dieser Befunde zu verhindern, fanden die Er-gebnisse Eingang in die Fachliteratur (Doll, 1955).Allerdings sollte es noch weitere 30 Jahre dauern,bis Lungenkrebs im Zusammenhang mit Asbe-stexposition offiziell als Berufskrankheit aner-kannt wurde, und dann auch nur bei gleichzeiti-ger Erkrankung an Asbestose. Dies lag zum Teildaran, dass in späteren Studien der steigendenZahl von Lungenkrebserkrankungen durch Rau-chen (die Doll ebenfalls 1955 in einer mit briti-schen Ärzten durchgeführten Studie festgestellthatte) Rechnung zu tragen war.

In späteren Studien zu Asbestarbeitern wurdenachgewiesen, dass die Kombination der beidenKarzinogene (Zigarettenrauch und Asbest) dasLungenkrebsrisiko vervielfacht. Die Asbestexposi-tion allein erhöhte das Lungenkrebsrisiko um dasFünffache, Rauchen allein um das Zehnfache;beide Faktoren zusammengenommen ergaben al-lerdings nicht ein 15faches Risiko (additiver Ef-fekt), sondern ein 50faches (multiplikativer oder„synergistischer“ Effekt) (Hammond, 1979). Einvergleichbarer synergistischer Effekt von Rau-chen und radioaktiver Strahlung ist bei den Ar-beitern zu beobachten, die beim Abbau von Uranund anderen Mineralien solcher Strahlung ausge-setzt sind (Archer, 1973).

Wie bei allen anderen Studien zur Asbestexpositi-on am Menschen waren nur wenige Arbeiter indem Zeitraum von 20–25 Jahren, der bis zum Aus-bruch von Lungenkrebs infolge von Asbestexpositi-on vergeht, unter den „neuen Bedingunge“ der re-duzierten Exposition gegenüber Asbeststaub tätiggewesen, so dass erst viele Jahre später im Nachhi-nein eine Aussage zum Risiko im Jahr 1955 getrof-fen werden konnte. Und dann war es wiederumnicht möglich, die künftigen Risiken unter denweiter verbesserten Arbeitsbedingungen abzu-schätzen. Dieses Problem der „Latenzlücke“, dassich angesichts ständiger technischer Veränderun-gen bei allen Gesundheitsgefahren mit Latenzzeitstellt, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Prä-ventivmaßnahmen so oft zu spät ergriffen werden.

5.4. Frühe erschütternde Warnungen zu Mesotheliomen

Das Mesotheliom, eine normalerweise sehr seltenauftretende Krebserkrankung des Brustfells, wurdein den vierziger und fünfziger Jahren im Zusam-menhang mit Asbestexposition beobachtet. Docherst 1955 fiel dem südafrikanischen Arzt E.A.Sleggs im Zentrum des Asbestabbaugebiets eineganze Reihe dieser unüblichen Krebserkrankun-gen auf, und er schickte einige Proben an den Pa-thologen J.C. Wagner. Nachdem die beiden Ärzteeinen Zusammenhang zu Asbest festgestellt hat-ten, reisten sie durch das betroffene Gebiet undversuchten in Gesprächen mit Kollegen und Ange-hörigen der Verstorbenen den Verlauf der Asbe-stexposition zu rekonstruieren. Dabei fanden sieheraus, dass von den 47 Mesotheliomfällen nurzwei Personen keinerlei Kontakt mit Asbest gehabthatten, dass aber eine ganze Reihe nicht unmittel-bar mit den Asbestminen in Verbindung standen,darunter die von Kindern, die beim Spielen aufMüllhalden mit Asbest in Kontakt gekommen wa-ren. 1960 wurden diese Untersuchungsergebnisseveröffentlicht (Wagner et al., 1960).

Die in ihnen enthaltene neue Erkenntnis war nie-derschmetternd, denn schon eine Expositions-dauer von nur wenigen Monaten schien Mesothe-liome zu verursachen. Bei Lungenkrebs und As-bestose hingegen scheint die vorhergehende Ex-positionsdauer gegenüber Asbeststaub mindes-tens 10 Jahre zu betragen. Die durchschnittlicheLatenzzeit von der ersten Exposition bis zum Auf-treten des Mesothelioms liegt bei 40 Jahren, beiLungenkrebs sind es 20–25 Jahre.

Wagners Dokumentation deutete auf einen sehrengen Zusammenhang zwischen Asbest undMesotheliomen hin, und 1964 gingen die meis-ten Experten von einem kausalen Zusammen-hang aus. Grundlage dafür waren die von IrvingSelikoff in den Vereinigten Staaten und die vonM. Newhouse im Vereinigten Königreich durch-geführten Studien. Beide Mediziner waren unab-hängig von der Industrie und stützten sich aufDaten von Gewerkschaften bzw. auf Kranken-hausunterlagen.

Selikoff war aufgefallen, dass 15 von 17 Patientenmit Asbestkrankheiten in derselben Asbestfabrikgearbeitet hatten, doch da ihm der Zugang zu denFirmenunterlagen verwehrt wurde, zog er Infor-mationen der Gewerkschaften heran, um nachzu-weisen, dass bei Arbeitern, die Asbest verwenden,

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also z. B. mit Isoliermaterial umgehen, ein nochgrößeres Risiko besteht als bei Arbeitern in derAsbestherstellung: Von den 392 untersuchtenArbeitern mit einer mindestens 20-jährigen As-bestexposition waren 339 an Asbestose erkrankt.Die Lungenkrebsrate überstieg den Durchschnitts-wert um das Siebenfache, und viele Arbeiter hat-ten Mesotheliome (Selikoff et al., 1964). Statistischevident wurde die erhöhte Lungenkrebsrate erstnach einem 25-jährigen Follow-up der Arbeiter,was den Schwachpunkt der so genannten „negati-ven“ Krebsstudien aufzeigt: Die Möglichkeit, mit-tels solcher Studien Krebserkrankungen mit langerLatenzzeit zu entdecken, ist sehr gering, außer eswerden Nachfolgestudien über einen Zeitraumvon 20–30 Jahren durchgeführt.

Ein Vertreter des Asbestherstellerverbands As-bestos Textile Institute bezeichnete Selikoff als„Störenfried“ (Tweedale, 2000, S. 183, Fußnote17). Ähnliche Gefühle äußerte auch der ehemali-ge leitende staatliche Gewerbearzt (Chief MedicalInspector of Factories), Dr. Legge, als er 1932 inseiner damaligen Funktion als medizinischer Be-rater des Dachverbands der britischen Gewerk-schaften über den Wissenschaftler Ronald Tagesagte, den könne die Gewerkschaft doch für einekleine Summe „loswerden“ (Greenberg, 1993).

Die Praxis, den Überbringer schlechter Nachrich-ten über neue Gefahren anzugreifen, hat Ibsen inseinem Drama Ein Volksfeind (1882) dargestellt, indem der Arzt eines Badeortes eine Gesundheits-gefahr entdeckt, deren Beseitigung die Gemein-de allerdings Unsummen kosten würde. Als derBürgermeister, die Medien und die Mehrheit derEinwohner die wirtschaftlichen Auswirkungenseiner Beobachtungen erkennen, wird der Arztvom Volkshelden zum Volksfeind degradiert.

Anhand der Krankenunterlagen des London Hos-pital aus der Zeit von 1917–1964 stellte M.Newhouse fest, dass bei mehr als der Hälfte von76 Mesotheliomfällen ein Zusammenhang mitberuflicher oder häuslicher (Angehörige von As-bestarbeiterhaushalten) Exposition vorlag, unddass ein Drittel der übrigen Betroffenen im Um-kreis von einer halben Meile um die AsbestfabrikCape gelebt hatte (Newhouse und Thompson,1965). Erst dreißig Jahre später hatten im Verei-nigten Königreich die ersten Klagen von Betroffe-nen, die als Kinder in der Nähe von Asbestfabri-ken gelebt hatten und später an Mesotheliomenerkrankt waren, gegen das Unternehmen TurnerBrothers Erfolg (Tweedale, 2000, S. 272).

Im Oktober 1964 stellten Newhouse und Selikoffihre Ergebnisse auf einer Konferenz der New YorkAcademy of Sciences vor. Als Beweis für die „mögli-cherweise vollständige Beseitigung der spezifi-schen Berufsrisiken“ wurde eine Studie zu den Ar-beitern aus der (von Doll beobachteten) Rochda-le-Kohorte präsentiert, deren Arbeitsplätze nachden gesetzlichen Bestimmungen ausgestattet wa-ren – vielleicht ein weiteres Beispiel für eine „La-tenzlücke“ (Knox et al., 1965). Aber weder Selikoffnoch die für die Überwachung von Fabriken zu-ständige Behörde konnten Hinweise auf eine Ab-nahme der Erkrankungsraten erkennen. Dies lagvor allem daran, dass sie auch schwere Fälle vonStaubexposition unter den Verwendern von As-best einbezogen und sich nicht allein auf die Her-stellung von Asbest beschränkten, wo die Bedin-gungen hinsichtlich Asbeststaub etwas besser wa-ren – zumindest in den Produktionsstätten, fürdie die gesetzlichen Asbestbestimmungen galten.

Dieses Versäumnis, sich die schlimmstmöglichenFolgen der Asbestexposition bewusst zu machen,ist sicher auch ein Grund für die späten und un-zureichenden Reaktionen auf die Gefahren vonAsbest. Dass sich die Studien zu Krebserkrankun-gen infolge von Asbestexposition auf die Arbeiterin den Produktionsstätten und weniger auf dieVerwender von asbesthaltigen Materialien kon-zentrierten, nannte der Krebsforscher Julian Petoeinen „dummen Fehler“ (Peto, 1998).

Dieser Ansicht schloss sich auch ein ehemaligerleitender Mitarbeiter der weltgrößten Asbestfa-brik Johns-Manville in seiner Antwort auf die Fra-ge an, warum das Unternehmen trotz nach wievor guter Ertragslage 1982 nach einer Reihe vonKlagen wegen Asbestverseuchung Konkurs an-meldete. Er erklärte, durch medizinische For-schung, intensive Kommunikation, eindringlicheWarnungen und rigorose Maßnahmen zur Stau-breduzierung hätten hier „viele Leben, die An-teilseigner und im Übrigen auch das Produkt“ ge-rettet werden können (Sells, 1994).

5.5. Reaktionen des Gesetzgebers und anderer Akteure

Die 1931 eingeführten Bestimmungen zu Asbestwurden nur teilweise umgesetzt: im Zeitraum1931–1968 kam es lediglich zu zwei entsprechen-den Verfahren (Dalton, 1979). Der Schwerpunktdieser Bestimmungen lag auf bestimmten Phasen

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des Produktionsprozesses, und die noch risikorei-cheren Arbeiten im Zusammenhang mit der Ver-wendung von Asbest wurden deshalb nicht aus-reichend berücksichtigt. Aber die Frage der Ge-fährlichkeit von Asbest wurde keineswegs unterden Tisch gekehrt.

Zwischen 1964 und 1975 sorgte das Thema inden amerikanischen und britischen Medien kon-tinuierlich für Schlagzeilen (Sunday Times, 1965).Die 1971 vom britischen Fernsehsender ITV aus-gestrahlte Sendung The World in Action und der1975 von der BBC gesendete Beitrag Horizon überdie Arbeitsbedingungen in der AsbestfabrikCape’s Acre Mill in Yorkshire trugen erheblich da-zu bei, behördliche Maßnahmen auf den Weg zubringen, so z. B. einen Bericht des Ombudsmannsan das Parlament zur Durchführung der gesetzli-chen Bestimmungen in der Fabrik. Den Anstoßdazu hatte der örtliche UnterhausabgeordneteMax Madden mit seiner offiziellen Beschwerdegegen die Nichtumsetzung der Asbestbestim-mungen von 1931 gegeben. Auf die im Berichtgeäußerte Kritik an den Gewerbeaufsichtsbeam-ten (Factory Inspectors) hin setzte die Regierung1976 einen Untersuchungsausschuss (das SimpsonCommittee) ein. In der Zwischenzeit waren 1969die Asbestbestimmungen aktualisiert und dieschrittweise Einführung eines Grenzwertes für As-beststaub in der Luft von 2 Mio. Fasern pro m3

festgelegt worden.

Leider hatte man bei dieser „Hygienenorm“ dieGefahr von Lungenkrebs und Mesotheliomennicht berücksichtigt. In seinem Bericht an denSimpson-Untersuchungsausschuss übte Peto hefti-ge Kritik an diesem Versäumnis, das er mit ho-hen Asbestoseraten unter Arbeitern (er ging von10 % aus) in Verbindung brachte (Peto, 1978).

Der 1979 veröffentlichte Simpson-Bericht ent-hielt die folgenden Empfehlungen: Verbot von„Blauasbest“, auf dessen Verwendung die Indus-trie bereits verzichtet hatte; Verbot von Isolier-spray, das damals ebenfalls kaum mehr verwen-det wurde; Einführung einer Zulassungspflichtfür Unternehmen, die Asbestsanierungen durch-führen sowie bis 1980 Reduzierung des Grenz-wertes auf 1 Mio. Fasern/m3 für Weißasbest undZielvorgabe von 0,5 Mio. Fasern/m3 für Braunas-best, den man für gefährlicher hielt als Weißas-best. Eine mit bloßem Auge sichtbare Asbestfaserhat etwa den Durchmesser eines menschlichenHaares (40 _m), sie besteht aber aus einem Bün-del von ca. 2 Millionen Fibrillen, die durch Ab-

rieb oder physiologische Prozesse im Körper frei-gesetzt werden können (Selikoff und Lee, 1978).Die genaue Überwachung solcher Fibrillen inder Luft oder in Gewebe ist nur mit dem Elektro-nenmikroskop möglich.

Nach wie vor herrscht in der Wissenschaft Streitum das Gefahrenpotenzial, das von den drei As-besttypen ausgeht, wobei Weißasbest oft als we-niger gefährlich angesehen wird als Blau- oderBraunasbest. 1986 stufte das InternationaleKrebsforschungszentrum (IARC) der Weltgesund-heitsorganisation (WHO) alle drei Asbesttypen alskrebserzeugend ein und folgerte, wie bei allenKarzinogenen könne auch bei diesen drei Asbe-sttypen keine Konzentration als sicher betrachtetwerden.

Ein vergleichbarer Schutz der Öffentlichkeit vorAsbeststaub in der Luft wurde im Vereinigten Kö-nigreich erst Ende der achtziger Jahre einge-führt, als die für Gesundheit und Sicherheit zu-ständige Behörde (Health and Safety Executive)den damals niedrigsten Konzentrationswert emp-fahl, der mit der vorherrschenden Methode zurStaubüberwachung (Lichtmikroskopie) messbarwar (100 000 Fasern/m3).

1982 zeigte Yorkshire TV zur Hauptsendezeit ei-nen zweistündigen Dokumentarbericht über die47-jährige Alice Jefferson, bei der sich nach we-nigen Monaten Tätigkeit in der AsbestfabrikCape’s Acre Mill ein Mesotheliom gebildet hatte.Dieser Film (Alice, a Fight for Life) rief heftige Re-aktionen hervor, obwohl einige Experten (darun-ter Sir Richard Doll) den Beitrag als unwissen-schaftlich und emotional kritisierten. Die Regie-rung veranlasste daraufhin die Umsetzung derim Simpson-Bericht aufgelisteten Empfehlungen,führte 1984 die Genehmigungspflicht für dieEntfernung asbesthaltiger Stoffe ein und senkteden Expositionsgrenzwert weiter auf 0,5 Mio.Fasern/m3 für Weißasbest und auf 0,2 Mio. Fa-sern/m3 für Braunasbest. Für bestimmte Verwen-dungen wurde ein freiwilliges Etikettierungssys-tem eingeführt.

Auch danach ließ der Druck in Richtung aufweitere Verbesserungen nicht nach. Er kam voneinzelnen Abgeordneten und Gewerkschaftensowie von Vertretern Geschädigter wie NancyTait, der Witwe eines an Asbestvergiftung ver-storbenen Arbeiters. Nancy Tait sorgte für dieBekanntmachung der Tatsache, dass sich die Ent-schädigungszahlungen des Unternehmens Turner

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Brothers (für die Witwen von an Asbestose ver-storbenen Arbeitern) seit den dreißiger Jahrenkaum verändert hatten und sich im Bereich von1 GBP pro Woche bewegten. Das trug maßgeb-lich dazu bei, dass Turner Brothers seine Entschä-digungszahlungen erhöhte.

1987 wurden neue Bestimmungen erlassen, und1989 erfolgte eine weitere Verschärfung. 1998erließ die Regierung ein Verbot sämtlicher For-men von Asbest, dessen Umsetzung ein Jahr spä-

ter erfolgte, zeitgleich mit einem EU-weitenVerbot, das die Mitgliedstaaten bis 2005 umzu-setzen haben. Gegen das von Frankreich und derEU verhängte Verbot erhob Kanada Klage vordem WTO-Streitschlichtungsausschuss wegeneines unerlaubten Handelshemmnisses, wurdejedoch abschlägig beschieden. Dagegen legteKanada vor der Berufungsinstanz der WTOWiderspruch ein. Das Berufungsgremium ent-schied jedoch zugunsten von Frankreich und derEU (siehe Kasten 5.1.).

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➔ KASTEN 5.1. WTO BILLIGT ASBESTVERBOT IN FRANKREICH UND DER EU

In Frankreich wurde 1997 ein Gesetz zum Schutz der Arbeitnehmer und Verbraucher verabschiedet,das den Einsatz aller Formen von Asbestfasern und -produkten sowie den Umgang mit ihnen verbot.Ausnahmen für Produkte aus Weißasbest waren nur vorübergehend und vorbehaltlich einer jährli-chen Überprüfung möglich und auch nur dann, wenn es kein geeignetes Ersatzmaterial gab, dessenVerwendung mit geringeren gesundheitlichen Risiken für die Arbeitnehmer verbunden war. Kanadarief deswegen das Streitbeilegungsgremium der WTO an, doch dieses entschied im September 2000zugunsten von Frankreich (WTO, 2000). Daraufhin rief Kanada die Berufungsinstanz der WTO an,und die EU legte Anschlussberufung ein, um die wesentlichen Folgerungen des Gremiums aufrecht-zuerhalten und einige „Irrtümer“ in den Interpretationen und Schlussfolgerungen des Panels zu kor-rigieren. Anfang 2001 veröffentlichte die Berufungsinstanz einen Bericht (WTO, 2001), aus dem sicheine Reihe wichtiger Punkte ergeben, die auch für andere gefährliche Substanzen von Relevanz sind:

➔ alle Formen von Asbest (Weiß-, Braun-, und Blauasbest) sind karzinogen;➔ es gibt keine bekannte „sichere“ Konzentration für diese karzinogene Substanz;➔ die Einschätzung von Produkten aus Weißasbest als risikobehaftet basiert auf Hinweisen, die „tenden-

ziell“ eher darauf hindeuten, dass ein Risiko vorliegt;➔ für Arbeitnehmer, die mit Asbestprodukten zu tun haben (wie Bauarbeiter und Bremsbelagmonteure)

entstehen gesundheitliche Risiken durch Asbestexposition;➔ die WTO verlangt nicht, dass die Länder quantitative Daten zur Risikoabschätzung vorlegen: qualitati-

ve Nachweise reichen aus;➔ die einzelnen Länder können sich bei Maßnahmen zum Gesundheits-, Umwelt- und Tierschutz auch

auf qualifizierte und anerkannte wissenschaftliche Meinungen stützen, denen nicht die Mehrheit derWissenschaftler zustimmt: „Ein Mitglied ist nicht verpflichtet, bei der Festlegung seiner Gesundheits-politik automatisch dem zu folgen, was zum jeweiligen Zeitpunkt der mehrheitlichen Meinung derWissenschaftler entspricht“ (S. 64). Das bedeutet, dass sich ein WTO-Panel bei seiner Entscheidungnicht notwendigerweise auf „eindeutige Beweise“ stützen muss;

➔ die Wirksamkeit einer „kontrollierten Verwendung“ von Asbestprodukten ist nicht nachgewiesen,und das Restrisiko für die Arbeitnehmer nach wie vor erheblich; die Option des Risikomanagementskann den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer nicht garantieren und ist somit keine sinnvolle „Alter-native“ zum Verbot von Asbest;

➔ für die Entscheidung, ob Ersatzstoffe für Asbest wie z. B. Glasfasern als „gleichartige“ Produkte anzu-sehen sind, hat die WTO vier Kriterien entwickelt, darunter die Eigenschaften und die Einsatzzweckeeiner Substanz sowie der Geschmack und die Gewohnheiten der Verbraucher. Aufgrund dieser Krite-rien kam die Berufungsinstanz zu dem Schluss, dass das Streitschlichtungsgremium in seiner Schluss-folgerung geirrt hatte, Glasfaserprodukte seien „gleichartig“: sie sind es vor allem wegen ihrer gerin-geren Karzinogenität nicht.

Einer der am Asbestverfahren beteiligtenwissenschaftlichen Gutachter kritisierte denUmgang der WTO mit den komplexen wissen-schaftlichen und technischen Fragestellungenim Zusammenhang mit Asbest und anderenGefahren für die Gesundheit und Umwelt(Castleman, 2001).

Für das Vereinigte Königreich wird die jährlicheMortalitätsrate im Zusammenhang mit Mesothe-liomen und Lungenkrebs durch Asbestexpositionvon der Health and Safety Commission (Health andSafety Commission, 1994–95) inzwischen auf ca.3 000 Todesfälle pro Jahr beziffert, mit steigenderTendenz. Trotz umfangreicher Forschungsbemü-hungen sind nach wie vor viele Fragen zu denbiologischen Mechanismen und zur Dosis-Wir-kungsbeziehung offen. Das macht deutlich, dassder Nutzen weiterer Forschungsaktivitäten be-grenzt ist.

5.6. Kosten und Nutzen der Reaktionen

Eine ausführliche Darstellung sämtlicher Kostenund Nutzen im Zusammenhang mit Asbestwürde den Rahmen dieser Studie sprengen (s.Castleman, 1996, S. 8f). Einige Zahlen gebenjedoch Aufschluss über Größenordnung, um diees dabei geht. Auf Unternehmensebene bei-spielsweise hat Turner Brothers 1994 Vorkehrun-gen zur Zahlung von bis zu 1 000 Mio. GBP alsSchadenersatz im Zusammenhang mit Asbestgetroffen. Das VersicherungsunternehmenLloyd’s of London stand zu Beginn der neunzigerJahre wegen Umweltklagen aus den USA kurzvor dem Bankrott; bei einer ganzen Reihe dieserKlagen ging es um Schadenersatzforderungenwegen Gesundheitsschädigungen durch Asbestund um Sanierungskosten.

Wenn man, wie bei Verkehrsstudien üblich, einMenschenleben mit 1 Mio. EUR veranschlagt,werden sich die Kosten für die in den nächstenJahrzehnten in Europa erwarteten 400 000 To-desfälle durch Krebs auf 400 Mrd. EUR belau-fen. Unberücksichtigt bleibt dabei das mensch-liche Leid, das überhaupt nicht in Geld ausge-drückt werden kann. Die fachgerechte Sanie-rung asbesthaltiger Altbauten wird weitere Mil-liarden verschlingen. Durch frühzeitigere Maß-nahmen zur Reduzierung der Asbestexpositionwäre ein großer Teil dieser Kosten zu vermei-den gewesen.

Eine Studie aus den Niederlanden zu den poten-ziellen Einsparungen durch frühzeitigere Maß-nahmen zur Reduzierung des Asbestrisikos kamzu folgendem Ergebnis: wäre das Asbestverbotnicht 1993, sondern bereits 1965 verhängtworden, als der Zusammenhang zwischen As-bestexposition und Mesotheliomen allgemeinanerkannt war, wären den Niederlanden etwa34 000 Todesopfer und 41 000 Mio. NLG anEntschädigungs- und Sanierungskosten erspartgeblieben. Dies wird den Berechnungen desniederländischen Ministeriums für Gesundheitund soziale Sicherheit für den Zeitraum 1969–2030 gegenübergestellt, für den von insgesamt52 600 Todesopfern und 67 000 Mio. NLG fürEntschädigungs- und Sanierungsleistungen aus-gegangen wird (Heerings, 1999). In den Verei-nigten Staaten belaufen sich die Kosten fürEntschädigungszahlungen in Asbestfällen auf2 Mrd. USD, von denen Lloyds etwa die Hälfte zutragen hat.

Auf der anderen Seite hat Asbest auch gewisseNutzen gebracht, und das nicht nur in Form vonArbeitsplätzen. 1919 wurde berechnet, dasszwischen 1870 und 1890 weltweit 2 216 Men-schen bei Bränden in Theatern starben; 95 %dieser Todesopfer hätten durch asbesthaltigeFeuerisolierungen vermieden werden können(Summers, 1919). Durch die Isolierung von Heiz-kesseln mit asbesthaltigen Materialien wurdeEnergie gespart, und asbesthaltige Bremsbelägehaben viele Leben gerettet (aufgrund der höhe-ren Fahrgeschwindigkeiten wird das Bild aller-dings wieder komplizierter). Die britische medi-zinische Fachzeitschrift Lancet schrieb 1967, essei „grotesk, dieses wertvolle und häufig uner-setzliche Material unter allen Umständen zuverbieten, da Asbest mehr Leben retten kann alses gefährdet“ (Lancet, 1967). Einmal abgesehenvon der dramatischen Fehleinschätzung dergesundheitlichen Auswirkungen von Asbest, fürdie Lancet immerhin fachlich zuständig ist,muss man sagen, dass die Substituierbarkeitdieses Materials eine komplexe technische undwirtschaftliche Frage ist, für deren Beantwor-tung Mediziner nicht ausreichend qualifiziertsind. Im Übrigen wurden kaum stichhaltigeArgumente für die „Unersetzbarkeit“ von Asbestangeführt.

In den siebziger Jahren gab es für die meistenAsbestverwendungen Ersatzmaterialien, in eini-gen Bereichen allerdings auch schon sehr vielfrüher. So wurden in den USA bereits in den

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vierziger und fünfziger Jahren viele Ölraffinie-rien mit Steinwolle isoliert (Castleman, 1996,S. 456f). Die zögerliche Verbreitung von Ersatz-stoffen ist zum einen auf den Widerstand derAsbestkartelle zurückzuführen (Castleman,1996, S. 34–38), und zum anderen auf denMarktpreis von Asbest, der gemessen an denHerstellungs-, Gesundheits- und Umweltkostensehr niedrig war. Dass die Markpreise nicht dievollen Umwelt- und Gesundheitskosten wider-spiegeln, ist der Hauptgrund dafür, dass gefähr-liche Materialien im Allgemeinen so spät er-setzt werden.

Asbest stand für viele Arbeitsplätze, gute Profiteund hohe Dividenden. Der von Turner Brothers er-zielte Gewinn stieg nach 1947 stark an, bis auffast 9 Mio. GBP im Jahr 1965 (Tweedale, 2000,S. 9). Die Kosten der durch Asbest verursachtenGesundheits- und Umweltschäden fielen kaumins Gewicht, denn sie wurden größtenteils auf dieerkrankten Arbeiter, ihre Familien, das staatlicheGesundheitssystem, Versicherungen und Gebäu-debesitzer „externalisiert“.

Schließlich sei noch ein häufig ignorierter, abergleichwohl erheblicher immaterieller Nutzen derSchadenersatzprozesse erwähnt: sie lassen oft dieWidersprüche zwischen den Absichtserklärungender Unternehmen zu Asbest und ihren konkretenMaßnahmen zur Reduzierung der Gefahren deut-lich werden (Castleman, 1996).

5.7. Lehren aus dem Fall Asbest

Aus dem Fall Asbest lässt sich eine ganze Reihevon Lehren ziehen, die auch für andere Substan-zen und Aktivitäten mit langfristigen gefährli-chen Auswirkungen gelten.

1. Praktische Ärzte, Behörden und andere Insti-tutionen sollten die Erfahrungen von Betroffe-nen, von Laien und „kompetenten Beobach-tern“ wie Gewerbeaufsichtsbeamten ernstnehmen und sorgfältig prüfen. Deren Erfah-rungen datieren manchmal um viele Jahrevor den entsprechenden wissenschaftlichenErkenntnissen.

2. Die ersten, 1898–1906 im Vereinigten König-reich und in Frankreich geäußerten Frühwar-nungen hatten keine langfristige medizini-sche Überwachung der Arbeiter und der As-

beststaubexposition zur Folge, obwohl diesedamals bereits möglich gewesen wäre und ei-ne rigidere Kontrolle der Staubexposition be-fördert hätte. Noch heute gelangen führendeAsbestepidemiologen zu dem Schluss, es seibedauerlich, dass „bei den epidemisch auftre-tenden asbestinduzierten Mesotheliomen, de-ren Auswirkungen weit über die aller anderenbekannten beruflich bedingten Karzinogenehinausgehen, keine angemessene Überwa-chung möglich ist“ (Peto, 1999)

Auf längere Zeit angelegte Maßnahmen zurUmwelt- und Gesundheitsüberwachung die-nen meist nicht den unmittelbaren Bedürfnis-sen der Menschen. Zur Berücksichtigung derlangfristigen gesellschaftlichen Erfordernissemüssen besondere institutionelle Vorkehrun-gen getroffen werden.

3. Die 1931–1932 im Vereinigten Königreich ein-geführten Bestimmungen zu Prävention undEntschädigung wurden unzureichend umge-setzt, und die vorgesehenen Sanktionen reich-ten nicht aus. Dieses Reaktionsmuster war inder langen Geschichte des Materials Asbestimmer wieder zu beobachten.

4. Ein Großteil der tragischen Verluste hättedurch angemessene Beachtung der Frühwar-nungen und strengere Kontrollmaßnahmenverhindert werden können – und zwar be-reits vor 1930, wie nicht nur der damaligeleitende staatliche Gewerbearzt, Dr. Leggefeststellte (Greenberg, 1994; Bartrip, 1931),oder auch in den fünfziger und sechzigerJahren, als neue Krebsgefahren bekannt wur-den und die wirtschaftliche Lage relativ gutwar. Mit Maßnahmen zur Eindämmung vonAsbestose bereits vor der Entdeckung dieserKrebsarten hätten sich zumindest die Auswir-kungen dieser späteren „Überraschungen“reduzieren lassen.

Strategisch gesehen hätten strengere Gesetzedafür sorgen können, dass der Marktpreis vonAsbest angestiegen wäre und so einen größe-ren Teil der Produktions- und Verwendungs-kosten widergespiegelt hätte. Das wiederumhätte den Innovationsprozess beschleunigt,der erst sehr spät zur Entwicklung bessererund oft auch billigerer Ersatzstoffe und zumaschinellen und baulichen Verbesserungen(mit einer geringeren Erzeugung von Abwär-me an der Quelle) führte.

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5. Genau wie in anderen Fällen der Gefähr-dung von Arbeitnehmern, Öffentlichkeit undUmwelt spielten auch beim Asbest die wirt-schaftlichen Faktoren eine entscheidendeRolle: dass die Arbeitgeber Gewinne erwirt-schaften müssen und die Arbeitnehmer Jobsbrauchen, führt oft zu einer Allianz, dienicht unbedingt den langfristigen Interessender Arbeitnehmer und der Gesellschaft ent-spricht. Je umfangreicher die (nicht von denUnternehmen zu tragenden) „externen“Kosten sind, desto größer ist die Gefahr, dassdas Auseinanderklaffen von privaten undgesellschaftlichen Kosten vorbeugende Maß-nahmen verhindert. Nur wenn das „Verursa-cherprinzip“ greift, d.h. wenn die Verursa-cher durch Haftungsregelungen, gesetzlicheBestimmungen und Steuern zur Übernahmeder vollen Kosten (einschließlich Gesund-heits-, Gebäudewartungs- und Sanierungs-kosten) gezwungen werden, lassen sich dieprivaten und die gesellschaftlichen Kostenwirtschaftlicher Tätigkeiten näher zusam-menbringen und ein effizienteres Funktio-nieren des Marktes erreichen. Dazu müsstenbei den Sanktionen für Versäumnisse desArbeitgebers auch die Kosten berücksichtigtwerden, die auf andere abgewälzt werden.Doch das ist leichter gesagt als getan. Vorallem wenn es um kurzfristige Kosten fürmächtige Interessengruppen geht, haben dieRegierungen größte Schwierigkeiten, sichden Wirtschaftsinteressen (die zumeist indenselben kurzen Zeitkategorien operierenwie die meisten Politiker) entgegenzustellenund Entscheidungen durchzusetzen, dielangfristig im Interesse der Gesellschaft sind.Auch hier bedarf es entsprechender institu-tioneller Strukturen und Regelungen, damitdie langfristigen Bedürfnisse der GesellschaftBerücksichtigung finden: das Thema „Struk-turen“ wird in den letzten Kapiteln diesesBerichts nochmals aufgegriffen.

6. Das Ausbleiben von Kontrollmaßnahmen wur-de vor allem damit gerechtfertigt, dass die„Asbestexposition gegenwärtig erheblichniedriger als in der Vergangenheit und des-halb sicher ist“, so beispielsweise die Stellung-nahme von Dr. Murray (1906 gegenüber dembritischen Untersuchungsausschuss zu Ent-schädigungen bei Berufskrankheiten) undvieler anderer nach ihm. Wegen der Latenz-zeit von 10–40 Jahren zwischen Asbestexposi-tion und Krankheitsausbruch ist zu dem Zeit-

punkt, zu dem sichere Erkenntnisse über die„gegenwärtigen“ Expositionsrisiken vorliegen,immer schon eine Reihe von Jahren verstri-chen, in denen die Staubexposition weiter ver-ringert wurde, so dass immer wieder behaup-tet werden kann, die (neuen) „gegenwärtigen“Risiken seien sehr viel niedriger als in der Ver-gangenheit bzw. bestünden überhaupt nichtmehr. Endgültige Erkenntnisse lassen sichaber erst 20–40 Jahre später gewinnen. Diese„Latenzlücke“, die bei allen Gefahren mit lan-ger Latenzzeit besteht, illustriert den häufigenTrugschluss, die „Nichtnachweisbarkeit einerGefährdung“ sei identisch mit dem „Nach-weis, dass keine Gefährdung vorliegt“. Dem istnicht so.

Angesichts des fehlenden Nachweises, dassdie heutigen Expositionskonzentrationen ge-genüber Krebserregern „sicher“ sind, sollte inAnwendung des Vorsorgeprinzips davon aus-gegangen werden, dass dem nicht so ist, vorallem dann, wenn bei den gesundheitlichenbzw. Umweltauswirkungen kein Schwellen-wert bekannt ist, unterhalb dessen solche Aus-wirkungen nicht eintreten.

Dies ist eine wichtige Lehre, die für alle Ge-fahren mit langer Latenzzeit gilt. Die hier zuergreifenden Präventivmaßnahmen wärennach dem Grundsatz der Verhältnismäßig-keit zu ermitteln, d.h. der zu erwartendeNutzen (einschließlich sämtlicher „sekundä-rer“ Nutzen) gegenüber den Kosten für ent-sprechende Präventionsmaßnahmen muss er-heblich sein.

Eine derartige, am Vorsorgeansatz orientier-ten Politik gegenüber dem Unwägbaren undUnbekannten würde auch die Abkehr vonden üblichen wissenschaftlichen Methodender Vermeidung „falsch positiver“ Befunde(mit den damit verbundenen störendenRückschlüssen auf „falsch negative“„ Befun-de wie bei Asbest) hin zu größerer Ausgewo-genheit zwischen falsch positiven und falschnegativen Befunden bedeuten. Dies würdezwar die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dasszusätzliche Kosten durch die Beschränkungeiner Substanz oder Aktivität entstehen, diesich später als ungefährlich herausstellt.Doch der Fall Asbest legt eindringlich nahe,dass die Gesellschaft von einer ethisch ver-tretbaren und wirtschaftlich effizienten Aus-gewogenheit zwischen falsch positiven und

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falsch negativen Befunden unter dem Strichprofitieren würde.

7. Die Umsetzung von Präventivmaßnahmenwurde nicht zuletzt auch durch den „Trug-schluss der gesunden Überlebenden“ verhin-dert. Dieser zu vermeidende Trugschluss führtzu einem falschen Sicherheitsgefühl wie es et-wa Raucher häufig an den Tag legen. Im Zu-sammenhang mit Asbest wurde er erstmals1898 von Lucy Deane beschrieben: „Selbstwenn das Übel so große Ausmaße annimmt,dass der tragische Beweis leicht zu erbringenist ... so gibt es doch in allen krank machen-den Berufen immer einen bestimmten Anteil„alter Arbeiter“, die ihre Kollegen überlebt ha-ben und denen es trotz ihrer ungesunden Tä-tigkeit gut zu gehen scheint. Unter Arbeitsbe-dingungen, deren schädigendes Ausmaß we-niger augenfällig ist, gibt es nur einen über-zeugenden Beweis für tatsächliche Schädigun-gen, nämlich verlässliche und vergleichbareStatistiken zur Sterblichkeit oder zu den Ge-sundheitsstandards. In der Praxis ist dieser Be-weis in keiner Fabrik zu bekommen, jedenfallsnicht in der Zeit und mit den Möglichkeiten,die uns gegenwärtig zur Verfügung stehen.“(Deane, 1898).

Dieses Argument wurde im Zusammenhangmit Asbest immer wieder vorgebracht. So er-klärte Dr. Knox, der Betriebsarzt des briti-schen Asbestunternehmens Turner Brothers1952 bei einem Besuch in den kanadischenAsbestminen: „Ich konnte mich davon über-zeugen, dass viele Arbeiter mit einem Altervon über siebzig Jahren noch immer in Lohnund Brot stehen und gesund und muntersind“ (Greenberg, 2000). Auch einer der Au-toren dieser Studie (DG) bekam dieses Argu-ment zu hören, als er in den achtziger Jah-ren in seiner Eigenschaft als Gesundheits-und Sicherheitsberater der Gewerkschaft diebritischen Asbestfabriken aufsuchte. Die Ar-beitnehmer verwiesen auf die in Rente ste-henden Kollegen, die 20–30 Jahre und mehrin der Fabrik gearbeitet hätten, ohne vielSchaden zu nehmen, und in der Lage waren,zur alljährlichen Feier für die Rentner zukommen. Sie seien der Beweis dafür, dassnur geringfügige bzw. überhaupt keine Asbe-strisiken existierten. Man könnte dies den„Trugschluss der Rentnerfeier“ nennen, dennden Beweis dafür, dass sehr wohl Schädigun-gen auftraten, lieferten diejenigen, die nicht

zu diesen Feiern kamen und wegen ihresNichterscheinens aufgrund von Krankheitoder Tod ihren Kollegen natürlich kaum auf-fielen. Erforderlich wäre, wie bereits Deanefestgestellt hatte, eine Gegenüberstellung dergesunden Überlebenden und der nicht Über-lebenden anhand entsprechend ausgewerte-ter Mortalitätsstatistiken.

8. Sobald schädliche Wirkungen bekannt wer-den, sollten auf der Grundlage von Haftungs-vereinbarungen zeitnahe, finanzierbare undtransparente Entschädigungsregelungen aus-gehandelt werden, um zum einen den An-reiz zur Verhinderung weiterer Schäden zuerhöhen und zum anderen die Möglichkei-ten zur genaueren Erfassung der Expositions-konzentrationen im zeitlichen Verlauf zu ver-bessern. Auf Elemente solcher antizipatori-scher Entschädigungsvereinbarungen trifftman in den Anfängen der Nuklearindustrie,als in vielen Ländern der Staat – zumindestin gewissem Umfang – die Zuständigkeit fürKernunfälle übernahm (im Vereinigten Kö-nigreich z.B. durch das Gesetz zu Nuklearan-lagen von 1965). Ein herausragendes Beispielsind die Entschädigungsregelungen des Un-ternehmens British Nuclear Fuels bei strah-lungsinduzierten Krebserkrankungen der ei-genen Arbeitnehmer (siehe das Kapitel überStrahlung).

9. Es sollte ein breites Meinungsspektrum aus al-len relevanten Disziplinen einbezogen wer-den, wobei allerdings den fachfremden „Ex-perten“ Zügel anzulegen sind. Immer wiederhaben Spezialisten für ein bestimmtes Fachge-biet, zum Beispiel Mediziner, „Expertenmei-nungen“ zu anderen Bereichen wie Staubex-positionsüberwachung und -kontrolle (Arbeits-hygiene und Ventilatortechnik) oder zur Ver-fügbarkeit von Ersatzmaterialien für Asbestgeäußert. Diese Äußerungen enthielten häu-fig Irrtümer, wurden aber weithin akzeptiert,was zum Entstehen einer völlig unangebrach-ten Selbstgefälligkeit beigetragen hat (Green-berg, 2000).

10. Um unangenehme Überraschungen zu ver-meiden, ist bei der Einführung und Verwen-dung von Ersatzsubstanzen Vorsicht ange-zeigt. Asbestersatzmaterialien mit den glei-chen physikalischen Eigenschaften wie As-best, also lange, elastische, lungengängige Fa-sern (Durchmesser < 3 • m), sind – wie bereits

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1979 vom britischen Health and Safety Executi-ve vorhergesagt und später vom Internationa-len Krebsforschungszentrum IARC für einigeArten von synthetischen Mineralfasern bestä-tigt – mit einiger Wahrscheinlichkeit eben-falls Krebs erregend (Roller und Pott, 1998).Allerdings scheinen Steinwolle und Glasfa-sern bei weitem nicht so gefährlich zu seinwie Asbest. Sie können in so guter Qualitäthergestellt werden, dass sie als Isoliermaterialeinsetzbar, aber nicht so dünn und haltbarim menschlichen Gewebe sind, dass sie karzi-

nogen wirken. „Saubere“ Herstellungs- undVerwendungstechniken, die die Emission indie Umgebungsluft (Arbeitsumfeld bzw. Um-welt) mit Hilfe „geschlossener Kreisläufe“ undöko-effizienter Systeme minimieren, sind da-her bei allen verwendeten Materialien vongrundlegender Bedeutung. So lässt sich dasAusmaß künftiger „unangenehmer Überra-schungen“ durch Ersatzmaterialien auf einMinimum reduzieren, was als wichtiger Nut-zen der Anwendung des Vorsorgeprinzips zuwerten ist.

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 5.1. ASBEST: FRÜHE WARNUNGEN UND REAKTIONEN

1898Die britische Gewerbeaufsichtsbeamtin Lucy Deane warnt vor schädlichen und „schlimmen“ Auswirkungen vonAsbeststaub

1906Bericht der französischen Gewerbeaufsicht über 50 Todesfälle bei Fabrikarbeiterinnen mit Empfehlungen zuKontrollmaßnahmen

1911 „Hinreichende Verdachtsmomente“ für die Gefährlichkeit von Asbest durch Versuche mit Ratten

1911 und 1917 Das Factory Department des Vereinigten Königreichs sieht keine ausreichenden Gründe für weitere Maßnahmen

1918US-amerikanische Versicherer schließen Asbestarbeiter aufgrund von Hinweisen auf schädlicheArbeitsbedingungen vom Versicherungsschutz aus

1930Der britische Wissenschaftler Merewether stellt in einer Asbestfabrik in Rochdale bei 66 % der langjährigenArbeiter Asbestose fest

1931Asbestbestimmungen im VK mit spezifischen Staubkontrollen nur im Produktionsbereich undEntschädigungsregelungen für Asbestose, allerdings unzureichend umgesetzt

1935—1949 Berichte über Lungenkrebs bei Arbeitern in der Asbestproduktion

1955 Doll stellt bei Arbeitern der Asbestfabrik in Rochdale hohes Lungenkrebsrisiko fest

1959—1960 Südafrika: Mesotheliome bei Arbeitern und in der Wohnbevölkerung festgestellt

1962/64u.a. im Vereinigten Königreich und in den USA Mesotheliome bei Asbestarbeitern, ihren Angehörigen und Personenaus dem engeren Umfeld festgestellt

1969Asbestbestimmungen im VK mit Verbesserung der Kontrollen, Asbestverwender und Krebserkrankungen werdenaußer Acht gelassen

1982—1989Medien, Gewerkschaften und andere Organisationen erzwingen im VK eine Verschärfung der Asbestkontrollen beiVerwendern und Herstellern und den verstärkten Einsatz von Ersatzsstoffen

1998—1999 EU und Frankreich verbieten alle Arten von Asbest

2000—2001 WTO bestätigt Asbestverbot der EU/Frankreichs im (von Kanada angestrengten) Berufungsverfahren

5.8. Literaturverzeichnis

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Janna G. Koppe und Jane Keys

6.1. Einleitung

Polychlorierte Biphenyle (PCB), chlorierte organi-sche Verbindungen, wurden 1881 erstmals im La-bor synthetisiert. 1899 wurde bei Beschäftigtenin der Chlorindustrie eine schmerzhafte, entstel-lende Hautkrankheit mit Namen Chlorakne be-schrieben. 1929 begann die PCB-Produktion ingroßtechnischem Maßstab zur kommerziellenVerwendung. Erst 37 Jahre später rückte das The-ma PCB ins öffentliche Rampenlicht, als die enor-men Gefahren dieser Substanzen für Umwelt,Mensch und Tier erkannt wurden. Die weltweiteGroßproduktion dauerte, vor allem in einigenosteuropäischen Ländern, noch bis Mitte derachtziger Jahre an. PCB sind das erste eindeutigeBeispiel für chemische Substanzen, die sich auchohne absichtliche Einbringung in die Umweltüberall ausbreiten und in hohen Konzentratio-nen bioakkumulieren können.

PCB sind Gemische aus synthetisch hergestelltenorganischen Substanzen mit der gleichen chemi-schen Grundstruktur und ähnlichen physikali-schen Eigenschaften, deren Konsistenz von öligenFlüssigkeiten bis hin zu wachsartigen Feststoffenreicht. Die PCB-Erzeugnisse eroberten rasch dieMärkte und ersetzten viele leichter brennbareund weniger stabile Produkte mit größeremRaumbedarf. Die neue chemische Stoffgruppe er-leichterte die Produktion von kleineren, leichte-ren und als sicherer geltenden elektrischen Gerä-ten. In den USA waren PCB-Erzeugnisse währenddes Zweiten Weltkriegs von großer Bedeutung.Wegen ihrer Isoliereigenschaften und hohenTemperaturresistenz fanden sie vornehmlich inelektrischen Bauteilen wie Kondensatoren undTransformatoren Verwendung. Mit der Zeit wur-de das Anwendungsspektrum erheblich erwei-tert. PCB dienten als Wärmetransportflüssigkei-ten in Wärmeaustauschern, als Hydrauliköle undals Immersionsöl für die Mikroskopie. Ferner wa-ren sie Bestandteil von PVC-Kunststoffen, Farben,Klebstoffen, Schmier- und Gleitmitteln und kohle-freiem Kopierpapier. Beim Neubau und bei derRenovierung von Gebäuden fanden PCB-haltigeDichtungsmittel breite Anwendung. Von 1929 bis

1988 betrug die Gesamtproduktion von PCB welt-weit (ohne UdSSR und China) 1,5 Mio. Tonnen.

Dem US-amerikanischen PCB-Hersteller Monsantowar die gesundheitsschädigende Wirkung derPCB auf die betroffenen Arbeitskräfte mit Sicher-heit bereits in den späten dreißiger Jahren be-kannt. So litten zum Beispiel 1936 mehrere Ar-beiter der New Yorker Halowax Corporation, diemit PCB sowie den eng verwandten chloriertenNaphtalinen in Berührung gekommen waren, anChlorakne. Drei dieser Arbeiter starben, und dieAutopsie ergab in zwei Fällen schwere Leberschä-den. Der Konzern beauftragte den Umweltmedi-ziner Cecil K. Drinker von der Harvard Universi-tät mit der Erforschung dieses Phänomens. Drin-ker präsentierte seine Ergebnisse 1937 auf einerKonferenz, an der Vertreter von Monsanto, Gene-ral Electric und Halowax sowie Beamte der US-Gesundheitsbehörde und der entsprechenden Be-hörden der Staaten Massachusetts und Connecti-cut teilnahmen. Genau wie die betroffenen Ar-beiter von Halowax waren auch Drinkers Testrat-ten an schweren Leberschäden erkrankt. Der Ge-neraldirektor von Halowax, Sanford Brown, be-tonte zum Abschluss der Sitzung die „Notwendig-keit, eine Massenhysterie unter den Fabrikarbei-tern zu vermeiden“ (Francis, 1998). Die Ergebnis-se wurden zwar veröffentlicht, fanden aber beiden politischen Entscheidungsträgern keine brei-te Beachtung (Drinker et al., 1937). Immerhinweckte Drinkers Veröffentlichung die Aufmerk-samkeit von Arbeitsmedizinern, Aufsichtsbehör-den und Herstellern für die potenziellen Gefah-ren der PCB.

Der schwedische Chemiker Søren Jensen warnteals Erster vor der zunehmenden Verbreitung derPCB in der Umwelt. Er entdeckte 1966 durch Zu-fall im Rahmen seiner Untersuchungen zum Vor-kommen von DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan)im Muskelgewebe schwedischer Seeadler unbe-kannte Moleküle. Die ermittelten Konzentratio-nen waren bei diesen fischfressenden Vögelndeutlich höher als bei den im selben Gebiet ge-fangenen Fischen. Daraus schloss Jensen, dass dieMoleküle in lebenden Geweben persistent undnur schwer abbaubar sind. Tatsächlich widersetz-ten sich die unbekannten Substanzen dem che-mischen Abbau äußerst hartnäckig und blieben

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6. PCB UND DAS VORSORGEPRINZIP

selbst nach dem Kochen in konzentrierter Schwe-felsäure unversehrt. Jensen brauchte noch weite-re zwei Jahre um nachzuweisen, dass es sich umPCB handelte. 1969 veröffentlichte er seine Er-gebnisse (Jensen et al., 1969), die bei vielen Tier-arten der Ostseeregion auffallend hohe PCB-Kon-zentrationen aufzeigten. Mehr als 37 Jahre langwaren PCB in großen Mengen in die Umwelt ge-langt und hatten sich innerhalb der Nahrungs-kette immer weiter angereichert.

In den sechziger Jahren wurde bei allen drei inder Ostsee vorkommenden Robbenarten eine

rückläufige Vermehrungsrate verzeichnet. Nach1970 waren fast 80 % der Weibchen unfruchtbar.In einigen Studien wurde ein Zusammenhangmit persistenten Schadstoffen festgestellt – beiallen drei Arten waren hohe Konzentrationenvon DDT und PCB gemessen worden. Die Ergeb-nisse zeigten eine eindeutige Korrelation zwi-schen den krankhaften Veränderungen der Ge-bärmutter und den erhöhten Schadstoffkonzen-trationen vor allem von PCB. Weitere Untersu-chungen an den Robben belegten zusätzlich zusolchen Fortpflanzungsstörungen auch noch Zu-sammenhänge zwischen hohen PCB-Konzentra-tionen und anderen Symptomen wie Schäden anHaut und Krallen, Darm, Nieren, Nebennieren-drüsen und Skelett (Swedish Environmental Pro-tection Agency, 1998).

Als 1968 in Japan bei einem Unfall 1 800 Men-schen durch PCB-kontaminiertes Reisöl vergiftetwurden, schlugen die Medien erstmals umfas-send Alarm und warnten vor den potenziellenGefahren der PCB für den Menschen. Das Reisölenthielt große Mengen des PCB-Gemisches Kane-chlor 400, das vermutlich aus einem Heizungs-rohr in der Fabrik gesickert war (Kimburgh et al.,1987). Der Verzehr des kontaminierten Öls riefbei den Betroffenen ernste gesundheitliche Pro-bleme hervor (siehe Kasten 6.1). Die dramati-schen Folgen dieses Vorfalls bescherten der japa-nischen Sprache ein neues Wort – Yusho –, diejapanische Reisölkrankheit. Es wurde heftig da-rüber debattiert, ob die PCB selbst oder ihreAbbauprodukte die Schäden verursacht hatten.Man war sich jedoch einig, dass PCB, die erhitztwurden, für den Menschen gefährlich sind unddass bei Präsenz von PCB an Orten, an denenNahrungsmittel verarbeitet werden, mit solchenUnfällen gerechnet werden muss.

Gegen Ende der sechziger Jahre tauchten erstePresseberichte über die PCB-Kontamination derUmwelt auf. Der amerikanische Konzern Monsan-to reagierte mit einer öffentlichen Abwehrkam-pagne und leugnete rundweg, dass es sich beiden betroffenen Chemikalien um PCB handelte.„Die schwedischen und amerikanischen Wissen-schaftler ... unterstellen, dass polychlorierte Bi-phenyle ‘hochgiftige’ Stoffe seien“, erklärte dieKonzernleitung in einer weit verbreiteten Stel-lungnahme. Und weiter: „Dies ist schlichtwegfalsch. Die Herkunft der als PCB identifiziertenRückstände in Meerestieren ist bislang nicht be-kannt. Es sind noch umfangreiche, global ange-legte Forschungsarbeiten notwendig, um die an-

74

➔ KASTEN 6.1. DER YUSHO-VORFALL

Das erste klinische Anzeichen war eine bisdahin unbekannte Hautkrankheit mit denSymptomen Bindehautentzündung, Schwel-lung der Augenlider und Chlorakne. Der ge-samte Körper der Betroffenen, einschließlichder Extremitäten, war mit Akne-ähnlichenPusteln überzogen. Zu den häufigsten Symp-tomen gehörten die starke Pigmentierung vonNägeln, Haut und Schleimhäuten, verstärkteSchweißbildung in den Handflächen, heftigeKopfschmerzen, geschwollene Gelenke undSchwächegefühl. Etwa die Hälfte der Opfer littunter ständigem Husten mit Auswurf, was zuchronischer Bronchitis führte. Diese Sympto-me der Atemwege korrelierten mit dem PCB-Gehalt im Blut. Es dauerte über zehn Jahre, bissie wieder abklangen.

Einige der betroffenen Frauen waren schwan-ger, als sie durch das Öl kontaminiert wurden.Von elf Babys, die sie zur Welt brachten, wur-den zwei tot geboren. Alle wiesen eine dunklePigmentierung („Coca-Cola-Farbe“) und verzö-gertesWachstum, vermehrte Absonderung vonFlüssigkeit aus dem Tränenkanal und eine Pig-mentierung der Nägel auf. Die Langzeitbeob-achtung der betroffenen Kinder ergabWachs-tumsstörungen, einen niedrigen IQ und gene-rell antriebsloses, apathisches Verhalten. DieSterberate bei den untersuchten Yusho-Patien-ten war als Folge von Leber- und Atemwegser-krankungen erhöht. Ihre Dioxin-Körperbelas-tung betrug etwa 450 Mikrogramm Toxizitäts-äquivalente pro Kilogramm. Darin ist die Men-ge an Phenobarbital-ähnlichen PCB noch nichtenthalten (Masuda, 1994).

fangs gezogenen wissenschaftlichen Schlussfolge-rungen zu bestätigen oder zu widerlegen.“(Francis, 1998)

Intern hingegen nahm der Konzern 1969 in sei-nem „Plan zur Beseitigung der Verschmutzung“eine ganz andere Haltung ein. Dort räumte manein, dass „das Problem die gesamten USA, Kana-da und Teile Europas, besonders Großbritannienund Schweden betrifft... und andere RegionenEuropas, Asiens und Lateinamerikas werden si-cher bald folgen. Die Kontamination ist bereits inden entlegensten Regionen der Erde nachgewie-sen.“ Ein Produktionsstopp für PCB wurde in demPlan allerdings strikt abgelehnt, da „ein solchesSchuldeingeständnis zur Schmälerung der Gewin-ne und zu Haftungsansprüchen führen würde“(Francis, 1998).

6.2. Zunehmende Beweise für Vorkommen, Persistenz und Toxizität

Im Verlauf der siebziger Jahre mehrten sich dieBeweise dafür, dass die Verbreitung der PCB inder Umwelt keine Grenzen kannte. Selbst in denabgelegensten Regionen der Erde, etwa in derArktis, wurde man fündig. In den Niederlandengelangten große Mengen PCB über den Rhein indie Umwelt. Bei Lobith, nahe der deutschenGrenze, lagen die PCB-Einträge von 1976 bis 1981zwischen 14 300 und 24 000 kg. Der Großteil desPCB haftete an den feinen, im Wasser gelöstenSchlammpartikeln, so dass die Schadstoffkonzen-tration dort am höchsten lag, wo die Fließge-schwindigkeit am niedrigsten war. Die höchsteKonzentration wiesen mit 12–24 mg/kg die Sedi-mente im Hafen von Rotterdam auf. Die Nutzungdieser Sedimente für die Landgewinnung führtein den Niederlanden zu einer PCB-Kontaminie-rung im Umfang von 5 000 kg pro Jahr. Fettrei-che Fische, die vor der niederländischen Küstegefangen wurden, waren hoch belastet. 1977 und1988 getestete Aale aus den Flüssen und Seenenthielten 3,0–131 mg/kg PCB (CBS, 1980; Greveund Wegman, 1983). Auch in Fischen, Nerzen,Seevögeln und im Menschen wurden PCB gefun-den. All diese Studien lieferten weitere Beweisefür die Fähigkeit der PCB, sich in lebenden Gewe-ben anzureichern. Auch die tatsächlichen odervermuteten Schäden infolge der Bioakkumulati-on wurden dokumentiert (siehe Fallstudie überdie nordamerikanischen Großen Seen).

In den siebziger Jahren wurde auch klarer, wasder Hauptgrund war für den ständigen Disputum die Frage, ob PCB bereits in geringen Kon-zentrationen gefährlich sind oder nicht. Manfand heraus, dass bei den verschiedenen PCB-Ty-pen – den so genannten Kongeneren – die Chlo-ratome in unterschiedlicher Anzahl an verschie-denen Positionen sitzen, und dass dies die physi-kalischen und chemischen Eigenschaften der Mo-leküle bestimmt. Einige in den späten siebzigerJahren durchgeführte Untersuchungen belegtendie Bedeutung der verschiedenen Kongenere,auch wenn man die Unterschiede zunächst aus-schließlich dem jeweiligen Chlorierungsgrad zu-schrieb. Dies erwies sich jedoch als zu verein-facht, und nach einer Phase verwirrender Debat-ten wurde deutlich, dass sowohl die Position alsauch die Anzahl der Chloratome die Toxizität be-einflussen – und dass die verschiedenen Konge-nere ganz unterschiedliche Auswirkungen haben(siehe Kasten 6.2.).

6.3. Reaktionen der Industrie und derRegierungen in den siebziger Jahren

1971 erkannte der Monsanto-Konzern, dass seineöffentlich vertretene Position nicht haltbar war,und beschränkte sich bei seinen unter dem Han-delsnamen Aroclor vertriebenen PCB-Gemischenfreiwillig auf solche mit weniger als 60 % Chlor-substitution (nach Gewicht). Ein Aroclor-Typ wur-de zudem neu formuliert, so dass der Anteil hö-her chlorierter PCB niedriger lag. All dies folgteder damals herrschenden wissenschaftlichen Mei-nung, dass Moleküle mit weniger Chloratomenweniger giftig seien. Leider stellte sich dies, wiebereits beschrieben, schon bald als grobe Verein-fachung des Problems heraus.

Aufgrund der Berichte über Vorkommen undAuswirkungen von PCB in der Umwelt verbotdie schwedische Regierung 1972 die „offene“Verwendung dieser Substanzen, etwa in Dich-tungsmitteln, Farben und Kunststoffen, da diesezu einem vollkommen unkontrollierten Schad-stoffeintrag in die Umwelt führte. Die erste offi-zielle Reaktion auf internationaler Ebene erfolg-te 1973 mit dem Beschluss des OECD-Rates C(73)1 (Final) zur Beschränkung der Herstellung undVerwendung polychlorierter Biphenyle. Die Be-schlussfassung erfolgte aus „Besorgnis über dieUmweltkontamination durch PCB sowie über de-ren Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt“

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(OECD, 1973). Es wurde ein Verbot der Verwen-dung in neuen offenen Produkten für alleOECD-Mitgliedstaaten gefordert. Allerdings ka-men weiter große Mengen PCB in angeblich

„geschlossenen Systemen“ wie Transformatorenzum Einsatz, wohl weil die technischen Proble-me unüberwindbar und die Kosten ihrer Erset-zung zu hoch schienen.

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➔ KASTEN 6.2. ERKLÄRUNG DER TOXIZITÄT VON PCB DURCH SØREN JENSEN

Theoretisch sind 209 verschiedene chlorierte Bi-phenyle möglich, doch je größer die Anzahl derbereits im Atom vorhandenen Chloratome ist, des-to schwieriger wird die weitere Substitution vonWasserstoff durch Chlor. Bislang wurden in tech-nischen Produkten oder lebenden Organismennur 135 unterschiedliche Kongenere gefunden.

In den meisten PCB-Kongeneren sind die Chlora-tome relativ gleichmäßig auf die beiden Phenyl-ringe verteilt. Aus toxikologischer Sicht sind diePositionen 2 und 6 – die so genannten Orthoposi-tionen – am wichtigsten. Das Chloratom ist ziem-lich sperrig, so dass mehrere Chlorsubstitutionenin Position 2 und 6 das Biphenylmolekül zur Dre-hung um die eigene Achse zwingen. Die meistenMoleküle besitzen zwei oder mehr Chloratome inder Orthoposition. Weniger häufig sind Molekülemit nur einem Chloratom in dieser Position. Sol-che Moleküle sind eher planar (flacher) geformt.Die Non-ortho-Kongenere schließlich, die so ge-nannten koplanaren PCB, sind in technischenProdukten nur in Spuren enthalten.

Polychlorierte Dibenzofurane sind unbeabsichtig-te Nebenprodukte bei der durch Eisen katalysier-ten PCB-Synthese. Außerdem entstehen sie beider Verbrennung in sauerstoffarmer Umgebung,zum Beispiel in PCB-haltigen Transformatoren, inals Wärmeübertragungsmittel genutzten Produk-ten und in anderen PCB-Abfällen, die Hitze oderoffenem Feuer ausgesetzt werden.

Die polychlorierten Dibenzo-p-Dioxine sind mitden Dibenzofuranen nah verwandt. Das 2,3,7,8-Tetrachlor-Kongener wurde erstmals als Neben-produkt in 2,4,5-Trichlor-Phenoxysäure-Herbizi-den entdeckt. Bei der Verbrennung von PCB inGegenwart von Chlor entsteht auch TCDD (Tetra-chlordibenzoparadioxin). TCDD ist die giftigstederzeit bekannte Chemikalie. Dies hängt mit ih-rer Interaktion mit einem für die Zellen lebens-wichtigen Zytoplasmaprotein, dem so genanntenAh-Rezeptor zusammen der wiederum die En-

zymproduktion beeinflusst. Dieser Effekt via Ah-Rezeptor wird häufig nur als „Dioxin-ähnlicherEffekt“ bezeichnet. TCDD ist giftig für Leber, Ner-ven und Knochenmark und wirkt zudem beimMenschen karzinogen.

Den verschiedenen chlorierten Dioxinen wurdeein TEF-Wert (Toxizitätsäquivalenzfaktor) zuge-schrieben. Dabei erhielt die Fähigkeit von TCDDzur Induzierung der Aryl-Hydrocarbon-Hydroxyla-se-Aktivität via Ah-Rezeptor den Wert 1. Auch dieverschiedenen chlorierten Dibenzofurane besitzenwegen ihres Dioxin-ähnlichen Effekts einen TEF-Wert. Generell ist der Effekt etwas geringer als beidem Dioxin mit demselben Substitutionsmuster.

Das Vorliegen eines Dioxin-ähnlichen Effekteshängt sowohl mit der flachen Molekülstruktur alsauch mit dem spezifischen Chlor-Substitutionsmus-ter zusammen. Einige PCB-Kongenere sind planargenug für einen schwachen Dioxin-ähnlichen Ef-fekt – besonders die Non-ortho-Kongenere. Dassel-be gilt, mit noch niedrigerem TEF-Wert, für PCB-Moleküle mit nur einem Ortho-Chloratom. Der Di-oxin-ähnliche Gesamteffekt jedoch errechnet sichdurch Multiplikation des TEF-Werts mit der vor-handenen Substanzmenge. So kann letztendlichder Dioxin-ähnliche Nettoeffekt von Mono-ortho-Kongeneren beträchtlich sein, da sie oft in relativgroßen Mengen in Organismen vorkommen.

Die Mehrzahl der PCB-Kongenere in biologi-schen Gewebeproben wie auch in technischenProdukten besitzt zwei oder mehr Ortho-Substi-tuenten. Sie sind zu stark gedreht, um eine Bin-dung mit dem Ah-Rezeptor eingehen zu können,und ihr TEF-Wert ist Null. Dafür haben sie Phe-nobarbital-ähnliche Wirkung und beeinflussensomit verschiedene Enzyme in einer anderenWeise als die Dioxine.

Die Positionen 2 und 6 im Biphenyl-Molekülnennt man Orthopositionen, 3 und 5 Metaposi-tionen und 4 eine Paraposition.

Auch der Kongress der Vereinigten Staaten rea-gierte auf die mit der Nutzung von PCB und an-deren giftigen Chemikalien verbundenen Gefah-ren. 1976 wurde das Gesetz zur Kontrolle toxi-scher Substanzen (Toxic Substance Control Act)verabschiedet. Dieses Gesetz galt zwar grundsätz-lich für alle chemischen Substanzen, enthielt aberwegen der besonders großen Gefahren einen spe-ziellen Abschnitt 6 (e) zu PCB. Keinem anderenSchadstoff wurde so viel Beachtung geschenkt. Inder Debatte über die dem Senat vorgelegte Versi-on der Gesetzesvorlage verwies Senator Nelson,der Autor von Abschnitt 6(e), auf die weite Ver-breitung von PCB in der Umwelt und die großenpotenziellen Gefahren für Mensch und Natur(United States Court of Appeal, 1980). Abschnitt6(e) schrieb vor, dass ein Jahr nach Inkrafttretendes Gesetzes die Herstellung, Verarbeitung, Ver-breitung und Verwendung von PCB nur noch in„vollkommen geschlossenen Systemen“ erfolgendurften. 18 Monate später wurden Herstellung,Verarbeitung und Vertrieb von PCB dann gänz-lich verboten. Im Vereinigten Königreich endetedie Produktion 1978, in den Vereinigten Staaten1979. In anderen Ländern, insbesondere in eini-gen osteuropäischen Staaten, dauerte die Groß-produktion hingegen noch bis Mitte der achtzigerJahre an. (Boersma et al., 1994).

6.4. Das wissenschaftliche Verständniswird fundierter

1979 erinnerte ein weiteres dramatisches Ereig-nis an die Gefährlichkeit von PCB für die mensch-liche Gesundheit. In Taiwan wurden 2 000 Men-schen mit verunreinigtem Reisöl vergiftet. Der„Yucheng“ genannte Skandal rief mehr öffentli-ches Aufsehen und nachhaltigere Reaktionenhervor als der Yusho-Vorfall in den sechziger Jah-ren, was den Bewusstseinswandel in Bezug aufPCB als Umweltschadstoff verdeutlicht. In Berich-ten wurden die typischen, schon von der Yusho-Krankheit bekannten klinischen Symptome be-schrieben. Die nach dem Unfall geborenen Kin-der vergifteter Mütter wurden in einer Langzeit-studie untersucht. Rund ein Viertel von ihnenstarben vor dem 4. Lebensjahr an Infektionen derAtemwege. Noch mit 8 Jahren hatten die Kindermissgebildete Nägel und litten unter chronischerMittelohrentzündung in Kombination mit Bron-chitis. Die Langzeitbeobachtung der Yucheng-Op-fer bis ins Erwachsenenalter ergab eine Zunahmevon Hautallergien, Chlorakne, Kopfschmerzen,

Wirbelsäulen und Gelenkerkrankungen sowieKropfbildung (Guo, 1999).

Ein wichtiger Fortschritt auf dem Weg zum bes-seren Verständnis des Phänomens war die in denachtziger Jahren gemachte Entdeckung, dass sichPCB während der Bioakkumulation und Biode-gradation in der Umwelt verändern. Dies ermög-lichte eine Neuinterpretation vieler früherer Stu-dien, die nicht zu klaren Ergebnissen geführt hat-ten, und die Klärung scheinbar widersprüchli-cher Ergebnisse. Durch die Bioakkumulationsteigt im Verlauf der Nahrungskette tendenzielldie Konzentration von Kongeneren mit höheremChlorgehalt. Dadurch entstehen Rückstände, diesich von den ursprünglichen Aroclor-Gemischendeutlich unterscheiden (Schwartz et al., 1987;Oliver und Niimi, 1988). Bioakkumulierte PCBscheinen toxischer zu sein als kommerzielle PCB,da einige toxische Kongenere bevorzugt in denGeweben zurückgehalten werden (Aulerich et al.,1986; Hornshaw et al., 1983). Nerze, die mit PCB-kontaminierten Fischen aus den amerikanischenGroßen Seen gefüttert wurden, zeigten an Leberund Fortpflanzungsorganen vergleichbare Vergif-tungsmerkmale wie solche, die die dreifacheMenge an Aroclor 1254 gefressen hatten (Horns-haw et al., 1983).

Auch die ersten Beweise für die PCB-Kontaminati-on der menschlichen Muttermilch stammen ausden achtziger Jahren. Bei der niederländischenBevölkerung sind infolge der hohen PCB-Belas-tung der Umwelt sehr hohe Konzentrationen die-ses Schadstoffs zu beobachten: Mit einem durch-schnittlichen PCB-Gehalt im Fettgewebe von 1,6–2,5 mg pro kg Körperfett rangieren die Nieder-länder weltweit nach wie vor auf einem der vor-dersten Plätze (Greve und Wegman, 1983).

Ebenfalls in den achtziger Jahren wurden die ers-ten Untersuchungen über mögliche Entwick-lungsschäden bei Kindern veröffentlicht. Beson-ders deutlich waren die Beispiele für endokrineStörungen. Bei den durch den Yucheng-Vorfallbetroffenen Jungen wurde eine gestörte Entwick-lung des Penis beobachtet – ein weiteres Anzei-chen für endokrine Störungen während der prä-natalen Entwicklung. Zudem war ihr räumlichesVerständnis nur schwach ausgebildet, eine Ab-normität, die auch bei Jungen auftrat, derenMütter während der Schwangerschaft Phenobar-bital genommen hatten (Dessens et al., 1998). Kin-der haben bestimmte Entwicklungsphasen, so ge-nannte „Zeitfenster“, in denen sich die Stoffwech-

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selsysteme ausbilden und in denen sie gegenüberder toxischen Wirkung von PCB empfindlichersind als Erwachsene (siehe auch die Fallstudie zuDES). Während der intrauterinen und der postna-talen Entwicklungsphase des Kindes werdendurch zahlreiche Prozesse die homöostatischenSysteme in einem Zustand festgelegt, der danndas ganze Leben hindurch unverändert bleibt.Dies gilt z. B. für die konstante Körpertemperaturvon 37 Grad Celsius, die Sollwerte der zeitlichschwankenden Hormonspiegel und die Funktiondes Immunsystems. Diese „Fetotoxizität“ war einganz neues Paradigma der Toxizität, bei der so-wohl die Dosis als auch der Zeitpunkt entschei-dend sind. Ein natürliches Beispiel hierfür ist dieExposition gegenüber Rötelviren während derersten drei Monate nach der Empfängnis, wenndie verschiedenen Organe des Kindes gebildetwerden. Abhängig vom genauen Tag der Organ-entwicklung führt eine solche Infektion zu Miss-bildungen an den Beinen, den Augen, am Her-zen oder am Gehirn.

Die pränatale Exposition gegenüber PCB und Fu-ranen (polychlorierte Dibenzofurane oder PCDF,

siehe Kasten 6.2) führte bei den Nachkommender Yusho-Opfer zu deutlichen Verhaltensstörun-gen. Die betroffenen Kinder waren apathischund desinteressiert an ihrer Umgebung (Harada,1976). Pränatal PCB-exponierte Affen zeigten imSäuglingsalter hyperaktives Verhalten, gefolgtvon auffälliger Trägheit im Alter von 4 Jahren(Bowman und Heironimus, 1981). Auch vierjähri-ge Kinder von Müttern, die häufig Fisch aus demLake Michigan gegessen hatten, zeigten eine inKorrelation zur PCB-Körperbelastung verminder-te Aktivität (Jacobson et al., 1990). Zudem hattenKinder, die während der Schwangerschaft hohenPCB-Konzentrationen ausgesetzt waren, im Altervon 11 Jahren schlechtere IQ-Testergebnisse, zeig-ten Schwierigkeiten im verbalen Verständnis undeine verminderte Konzentrationsfähigkeit. Mehrals doppelt so häufig wie bei anderen Kindernwar bei ihnen auch ein zweijähriger Rückstandim Hinblick auf Lesefähigkeit und Wortverständ-nis zu beobachten. (Jacobson und Jacobson,1996). In weiteren Forschungsarbeiten wurden inden USA, Kanada und Westeuropa negative Fol-gen einer pränatalen PCB-Hintergrundbelastungnachgewiesen (siehe Kasten 6.3).

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➔ KASTEN 6.3. WEITERE UNTERSUCHUNGEN ZUR FETOTOXIZITÄT

In den niederländischen Städten Rotterdam undGroningen begann man 1990 bzw. 1991 miteiner Studie zur Erforschung der Auswirkungender pränatalen Hintergrundbelastung durchPCB und Dioxine auf das Wachstum und dieEntwicklung der betroffenen Kinder. (Huisman,1996; Koopman-Esseboom, 1995; Patandin,1999; Lanting, 1999). An der Gesamtstudienahmen 400 gesunde Mütter mit ihren Kindernteil, von denen die Hälfte mit Muttermilch unddie andere Hälfte mit der Flasche gefüttertwurden. Die pränatale Schadstoffexpositionwurde anhand der PCB-Gesamtmenge (PCB-Kongenere 118, 138, 153 und 180) im Blut derMutter und im Nabelschnurserum sowie an-hand des Gesamtdioxin-TEQ (Toxizitätsäquiva-lent) in der Muttermilch (17 Dioxine und insge-samt 8 Dioxin-ähnliche PCB-Kongenere – 3 pla-nare, 3 Mono-ortho- und 2 Di-ortho-PCB) ge-schätzt. Die postnatale Dioxin-Exposition wurdeals Produkt aus dem Gesamtdioxin-TEQ in derMuttermilch und der Dauer der Stillzeit (inWochen) berechnet.

Von den gemessenen PCB-Kongeneren 118, 138,153 und 180 ist das erste Dioxin-ähnlich, die übri-gen drei hingegen Phenobarbital-ähnlich. Gene-rell sind 63 % der Gesamtmenge an PCB in dermenschlichen Muttermilch ortho-substituiert undnon-planar (PCB-22, -52, -138, -153 und -180) – al-so Phenobarbital-ähnliche PCB. Die aktuelle Ex-position des Körpers gegen die PCB-Kongenere118, 138, 153 und 180 wurde im Alter von 42 Mo-naten im Blutplasma gemessen (Patandin, 1999).

Die Studie ergab, dass bei den 42 Monate altenKindern Hyperaktivität und verlangsamte Reakti-on mit dem aktuellen PCB-Level korrelierte. Reiz-barkeit und Hyperaktivität sind bekannte Neben-wirkungen der Einnahme von Phenobarbitalenim Kindesalter. Im Alter von 42 Monaten zeigtesich eine verminderte Ausdauer beim freien Spiel-verhalten, die mit den PCB-Konzentrationen inder Nabelschnur und der PCB-Exposition der Mut-ter korrelierte. Diese langfristige Auswirkung aufdas Verhalten infolge einer pränatalen Schädi-gung ähnelt den Befunden von Jacobson (Jacob-

6.5. Reaktionen der Regierungen in denachtziger und neunziger Jahren

Die Nordsee-Ministerkonferenzen sind wichtigeinternationale Foren, die zusammen mit denKonventionen von Oslo und Paris zum Schutzder Meeresumwelt des Nordost-Atlantik denAnstoß zu Maßnahmen für den Umgang mitGefahrenstoffen gaben. Die erste Nordseekon-ferenz 1984 endete mit dem Beschluss, dieVerwendung von PCB sowie ihren Eintrag in dieUmwelt rascher als bis dahin vorgesehen zubeenden. Auf der zweiten Nordseekonferenz1987 einigte man sich auf verschiedene Ziel-vorgaben, um den Eintrag von „toxischen, per-sistenten und nachweislich bioakkumulierendenSubstanzen“ bis 1995 um 50 % zu reduzieren(DoE, 1987).

1987 fasste die OECD einen weiteren Beschlusszum Thema PCB, weil „die derzeitigen Kontrol-len zu polychlorierten Biphenylen bei der PCB-Belastung der Umwelt nicht zu einem deut-lichen und beständigen Abwärtstrend geführthaben. Die Gründe zur Besorgnis über die Kon-tamination der Umwelt durch PCB und überdie Auswirkungen dieser Substanzen auf Ge-sundheit und Natur bestehen nach wie vor.Zusätzliche Besorgnis haben darüber hinaus dieRisiken bestimmter Verwendungen von PCBausgelöst, vor allem die mögliche Freisetzunghochgiftiger Abbauprodukte wie chlorierter Di-oxine oder chlorierter Dibenzofurane bei derVerbrennung von PCB“ (OECD, 1987). Der Be-schluss enthielt die Empfehlung an die Mit-gliedstaaten, bis zum 1. Januar 1989 sowohl dieHerstellung als auch den Im- und Export undden Verkauf von PCB einzustellen. Zudem wur-

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son et al., 1990; Patandin, 1999). Außerdem kor-relierten die Auswirkungen der pränatalen PCB-Exposition auch mit neurologischen Auffällig-keiten im Alter von 18 Monaten , was aber imAlter von 42 Monaten nicht mehr erkennbarwar (Lanting, 1998b). Im Gegensatz dazu ergabsich kein Hinweis, dass die Exposition gegen Di-oxin-ähnliche PCB im Mutterleib und währendder Stillphase Auswirkungen auf die Ausdauerund Aktivität im Alter von 42 Monaten hat(Patandin, 1999).

Somit deuten sowohl die Untersuchungen von Ja-cobson als auch die niederländischen Studien aufeinen direkten Zusammenhang hin zwischen ei-ner gestörten kognitiven Entwicklung und be-stimmten Verhaltensauffälligkeiten einerseitsund der pränatalen bzw. aktuellen Gesamtexposi-tion gegen Phenobarbital-ähnliche PCB anderer-seits hin, nicht aber auf einen Zusammenhangmit der Belastung durch Dioxin-ähnliche PCB.

Auch eine von Seegal und Schantz (Seegal undSchantz, 1994) durchgeführte Studie ließ die un-terschiedlichen Auswirkungen von Phenobarbi-tal-ähnlichen und Dioxin-ähnlichen PCB-Konge-neren deutlich werden. Affen zeigten nach Ex-position gegen Di-ortho-PCB Beeinträchtigun-gen bei einfachen räumlichen Unterscheidun-gen sowie Umkehrprobleme. Andere Tiereschnitten nach Exposition gegen TCDD-(Tetra-

chlordibenzoparadioxin) jedoch besser ab alsdie Kontrollgruppe. Bei den an ausgewachsenenAffen getesteten di-ortho-substituierten PCB-Kongeneren handelt es sich um Dopamin-Neu-rotoxine. Sie reduzieren den Dopamingehaltdurch Hemmung der Tyrosin-Hydroxylase – die-ses Enzym steuert die Synthese von Dopamin.Wahrscheinlich handelt es sich hier um einenLangzeit- oder sogar permanenten Effekt (Seegalund Schantz, 1994). Besondere Besorgnis ruftdie Befürchtung hervor, dass ein Zusammen-hang zur erhöhten Inzidenz der Parkinson-Krankheit vorliegen könnte.

Dessens beobachtete bei erwachsenen Men-schen, die pränatal krampflösenden Mitteln (vor-wiegend Phenobarbitale) ausgesetzt waren, eineBeeinträchtigung der räumlichen Fähigkeiten(Dessens et al., 1998). Das neue Krankheitsbild„späte Blutungsneigung des Säuglings“, das erst-mals Ende der siebziger Jahre in Japan undWesteuropa erkannt und ursprünglich einem Vi-tamin K-Mangel zugeschrieben wurde, könnteebenfalls zu den Auswirkungen Phenobarbital-ähnlicher PCB gehören (Koppe et al., 1989;Bouwman, 1994). Auch eine Beeinträchtigungdes Hormonstoffwechsels der Schilddrüse infolgeder pränatalen Hintergrundbelastung durch Di-oxin-ähnliche PCB-Kongenere wurde bereitsnachgewiesen (Pluim et al., 1992; Koopman-Esse-boom et al., 1994).

de gefordert , PCB beschleunigt aus dem Ver-kehr zu ziehen.

In den achtziger Jahren gaben einige nationaleRegierungen Gesundheitsempfehlungen heraus, indenen zum reduzierten Verzehr von PCB-haltigemFisch sowie zur zeitlichen Begrenzung des Stillensvon Säuglingen geraten wurde. Wegen der ansons-ten positiven Wirkung der Ernährung mit Mutter-milch wie auch fischreicher Kost waren diese Rat-schläge heftig umstritten (Fürst et al., 1992).

Die dritte Nordseekonferenz einigte sich 1990 aufeinen Plan für das schrittweise Verbot und die si-chere Entsorgung von PCB bis 1999 (DoE, 1990).1995 wurde im Rahmen des Übereinkommensvon Barcelona zum Schutz des Mittelmeers gegenVerschmutzung vereinbart, „die Einträge undEmissionen toxischer, persistenter und zur Bioak-kumulation neigender Substanzen, die auch dieMeeresumwelt erreichen könnten, insbesonderevon Halogenkohlenwasserstoffen, auf ein fürMensch und Natur ungefährliches Niveau zu re-duzieren, mit dem Ziel ihrer schrittweisen voll-ständigen Beseitigung“. Noch im selben Jahr ver-bot Schweden die Nutzung älterer, PCB-haltigerGeräte und Anlagen.

In seiner Konferenz im Mai 1995 fasste der Ver-waltungsrat des UNO-Umweltprogramms (UNEP)den Beschluss 18/32 über persistente organischeUmweltschadstoffe (POP). Dieser Beschluss zog ei-ne Reihe von Studien und Tagungen nach sichund gipfelte im November 1995 in der Washing-toner Erklärung, einer Vereinbarung über einglobales Aktionsprogramm zur schrittweisen Be-seitigung aller POP einschließlich PCB. Diese Er-klärung wurde von 100 nationalen Regierungenunterzeichnet.

1996 forderte die Richtlinie 96/59 EG des Ratesder Europäischen Union die Beseitigung von PCBund PCT (polychlorierte Triphenyle) und ihrschrittweises Verbot bis zum Jahr 2010. Dennochsind immer noch Transformatoren mit PCB-halti-gem Öl in Gebrauch. Wenn sie älter werden undrosten, steigt die Gefahr der Schadstoffemissionin die Umwelt an.

Etwa 100 Jahre nach der erstmaligen Dokumen-tation gefährlicher Wirkungen der PCB wurdeendlich das volle Ausmaß der von diesen Substan-zen ausgehenden Bedrohung erkannt. Ihr gifti-ges Erbe wird uns jedoch noch viele Jahrzehnteerhalten bleiben.

6.6. Schadstoffexpositionspfade

Beim Zerfall oder der Verbrennung PCB-haltigerErzeugnisse bleiben aufgrund der hohen Stabili-tät der PCB beträchtliche Mengen dieser Substan-zen erhalten. Zudem können bei der Verbren-nung in sauerstoffarmer Umgebung sowie unterbestimmten Abbaubedingungen hochgiftige po-lychlorierte Dibenzofurane entstehen und freige-setzt werden (siehe Kasten 2). Hinzu kommen Un-fälle, bei denen PCB und ähnliche Kontaminan-ten durch Aussickern aus „versiegelten“ PCB-Zel-len beim kommerziellen Gebrauch von Transfor-matoren und Kondensatoren bzw. durch die un-sachgemäße Entsorgung technischer Geräte oderanderer PCB-Erzeugnisse versehentlich in die Um-welt gelangen.

Gegen Ende der neunziger Jahre mussten selbstdiejenigen Organisationen, die einer „Über-Regu-lierung“ der Industrie kritisch gegenüberstanden,einräumen, „dass in der Vergangenheit die Ein-bringung PCB-haltiger Abfälle in Bäche, Flüsseund offene Deponien als akzeptables, legales undgefahrloses Verfahren galt. Bisweilen wurden PCBsogar absichtlich in die Umwelt freigesetzt – etwazur Staubbindung auf unbefestigten Straßen oderals Füllstoff in manchen Pestiziden. Im Rückblickerweisen sich diese Praktiken als unangemessenund potenziell gefährlich.“ (ASCH, 1997)

Einmal freigesetzte PCB können sich als Aerosolein der Umwelt verbreiten. Dies ist ein äußerst ef-fektiver Transportmechanismus. Starke von Südnach Nord gerichtete Luftströme, besonders überdem westlichen Eurasien, begünstigen selektivdie Anreicherung von PCB und bestimmten Pesti-ziden in der Arktis, die einst als vollkommen un-berührter Lebensraum galt (AMAP, 1997). In ge-ringen Konzentrationen (0,01–40 Nanogramm =Milliardstel Gramm pro Gramm Trockengewicht)sind PCB und die Pestizide DDT, HCH und HCB inallen Proben von Oberflächensediment aus Bin-nengewässern in Alaska, Nordkanada, Grönland,Norwegen, Finnland und Russland nachweisbar(1995 und 1996). Binnengewässer und Meere wei-sen tendenziell höhere PCB-Konzentrationen aufals terrestrische Ökosysteme. Die biologische An-reicherung von PCB ist besonders deutlich inNahrungsnetzen, die durch Organismen mit ho-hem Körperfettgehalt dominiert werden. Im Som-mer tragen zusätzlich noch die in niedrigerenBreitengraden überwinternden Tierarten POPund Schwermetalle in die Arktis (Holden, 1970;AMAP, 1998).

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Der Mensch absorbiert PCB über die Verdauungund die Atmung sowie durch die Haut. Über90 % der Substanz gelangen jedoch über die Nah-rung in unseren Körper (Theelen und Lie, 1997).Die wichtigste PCB-Quelle sind tierische Fette.Nach der Absorption verteilen sich die PCB, ge-steuert durch ihre hohe Affinität vor allem zu Tri-glyceriden und Cholesterinester bzw. ihre gerin-gere Affinität zu Phospholipiden und Cholesterin,gleichmäßig auf die Lipidkompartimente im gan-zen Körper. (Lanting et al., 1998a). In der Leberstören PCB die für die Blutentgiftung wichtigenEnzymsysteme (Matthews und Anderson, 1975).

6.7. Der jüngste PCB-Unfall

Trotz diverser internationaler und nationaler Vor-schriften und Gesetze sind PCB-Einträge in dieUmwelt, ob versehentlich oder absichtlich, nahe-zu unvermeidbar. Im Januar 1999 wurde in ei-nem belgischen Legehennenbetrieb eine aus tie-rischen Fetten bestehende Futtermischung ent-deckt, die mit 8–50 Litern PCB und Furanen kon-taminiert war. Zwar konnte die PCB-Quelle nieeindeutig nachgewiesen werden, doch bestandder Verdacht, dass die Schadstoffe aus illegal ent-sorgten alten Transformatoren stammten. Die Be-lastung von Hühnern und Eiern war extremhoch: Sie lag für 2,3,4,7,8 PCDF zwischen 1 103Picogramm (Billionstel Gramm) pro Gramm Kör-perfett im Eidotter und 1 299 pg/g im Hühner-fleisch. Die Gesamtmenge an Dioxin (Toxizitäts-äquivalente oder TEQ) betrug entsprechend 685bzw. 958 pg/g Fett (Hens, 1999). Gemäß WHO-Richtlinie beträgt die zulässige tägliche Aufnah-me oder TDI für den Menschen 1–4 PicogrammDioxin pro kg Körpergewicht (WHO, 1999). DerSkandal kam überhaupt nur ans Tageslicht, weilsich durch die extrem hohen Schadstoffmengenbei den Hühnern Ödeme bildeten (Gewebe-schwellungen durch den erhöhten Flüssigkeitsge-halt). Sehr wahrscheinlich hatte es auch vorherschon ähnliche Fälle von Tierfutterkontaminie-rung mit niedrigerem Schadstoffgehalt gegeben,und auch für die Zukunft können solche Vor-kommnisse nicht ausgeschlossen werden. Daszeigte sich schon ein Jahr später, als in einem an-deren Teil Belgiens erneut mit PCB und Dioxinenkontaminiertes Tierfutter entdeckt wurde.

1999 publizierten belgische Toxikologen eineAnalyse des Vorfalls, in der sie gesundheitlicheFolgen für die allgemeine Bevölkerung durch je-

nen Einzelfall weitgehend ausschlossen. OhneAngabe von Daten zur PCB-Hintergrundbelas-tung in der belgischen Bevölkerung zu machen,spekulierten sie, dass bei einem Anstieg auf dasDoppelte bzw. Dreifache die Belastung mit denWerten vergleichbar wäre, die bei regelmäßigenKonsumenten von kontaminiertem Fisch in denachtziger Jahren festgestellt worden waren (Ber-nard et al., 1999). Dabei blieben niederländischeStudien unberücksichtigt, die die Auswirkungender PCB-Hintergrundbelastung auf Kinder imMutterleib aufzeigen. Da die PCB-Belastung derbelgischen Bevölkerung vergleichbar ist mit derder Niederländer, erscheinen die Schlüsse derbelgischen Toxikologen etwas voreilig und erin-nern stark an die beschwichtigenden Worte desGeneraldirektors der Halowax Corporation, San-ford Brown, der sich 1937 bemühte, „eine Mas-senhysterie unter den Arbeitskräften zu vermei-den“. Angesichts dessen muss man sich wahrhaf-tig fragen, wie viel wir eigentlich seit jener Zeitdazugelernt haben.

6.8. Schlussbetrachtung

Bereits in den dreißiger Jahren gab es Hinweise,wenn auch zum Teil nur mit geringer Beweis-kraft, dass PCB beim Menschen zu Vergiftungenführen können. Diese Information wurde von derIndustrie jedoch weitgehend unter Verschluss ge-halten und scheint unter Politikern und andereninteressierten Gruppen nur geringe Verbreitunggefunden zu haben. Hätte man damals das Vor-sorgeprinzip angewandt, dann wäre uns das gifti-ge Vermächtnis, dem wir heute gegenüberste-hen, erspart geblieben.

Dreißig Jahre später, gegen Ende der sechzigerJahre, lieferte vor allem der Yusho-Vorfall eindeu-tige Beweise für die unter bestimmten Umstän-den gravierende gesundheitsschädigende Wir-kung von PCB bzw. ihren Abbauprodukten. Zu-dem lieferten die Ergebnisse von Søren Jensenden eindeutigen Beweis für die Bioakkumulationvon PCB und für ihr Vorkommen in der Nah-rungskette der Ostseeregion. Ernst zu nehmendeHinweise gab es auch auf PCB-bedingte Fertili-tätsstörungen bei den in der Ostsee lebendenRobbenbeständen. Hätten die Politiker bereits da-mals, also vor dem Vorliegen „vollkommen zwei-felsfreier Beweise“ vorsorgliche Maßnahmen er-griffen, so wären die Probleme wesentlich einfa-cher und kostengünstiger zu lösen gewesen als

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heute. Die PCB-Erzeugnisse hätten viel früher ausdem Verkehr gezogen werden können.

Die Beweise aus den sechziger Jahren und dievon ihnen hervorgerufene Furcht vor zukünfti-gen Haftungsansprüchen hatten vermutlich er-heblichen Einfluss auf die 1971 erfolgte Neufor-mulierung einiger PCB-Erzeugnisse beim ameri-kanischen Hersteller Monsanto. Bedauerlicher-weise basierten diese Maßnahmen allein auf dendamals vorhandenen, noch unvollständigen wis-senschaftlichen Erkenntnissen über die Gefähr-lichkeit von PCB.

In den siebziger Jahren wurden sowohl die Trans-portwege von PCB bis in die entferntesten Regio-nen der Welt als auch die potenzielle Gefährlich-keit dieser Substanzen näher erforscht. PCB brei-teten sich in der Umwelt immer mehr aus, wennauch zumeist nicht durch absichtliches Handeln.Erst zu Beginn der siebziger Jahre erfolgten dieersten Reaktionen von Seiten der Regierungen,und dies zunächst auch nur in Bezug auf die Ver-wendung von PCB in neuen „offenen“ Systemen.Gegen Ende der siebziger Jahre hatten einige Re-gierungen das erhöhte Gefahrenrisiko erkanntund stoppten per Gesetz die PCB-Verwendungauch in neuen „geschlossenen“ Systemen. Bis da-hin hatte noch keine Regierung Maßnahmen zurLösung der Probleme mit den bereits vorhande-nen PCB-Produkten und der Dekontaminierungder mit diesen Chemikalien verseuchten Standor-te ergriffen. Grund für dieses halbherzige Heran-gehen dürften die technischen Schwierigkeitenund die enormen Kosten solcher Maßnahmen ge-wesen sein. Gegen Ende der siebziger Jahre for-derten einige Länder einen vollständigen Pro-duktions-Stopp für PCB. Zu der Zeit gab es auchbereits Alternativen zur Verwendung von PCB ingeschlossenen Systemen.

In den achtziger Jahren bildete sich allmählichein fundierteres Wissen über die schädlicheWirkung von PCB heraus. Viele widersprüchli-che Forschungsergebnisse ließen sich durch dieExistenz unterschiedlicher PCB-Kongenere erklä-ren, so dass sich ein klareres Gesamtbild ergab.In dieser Zeit wurden auch die ersten Beweisefür die schädigende Wirkung von PCB auf dasungeborene Leben veröffentlicht. Die Nordsee-Anrainerstaaten waren sich einig über die vondiesen Substanzen ausgehende Gefahr und be-kundeten 1987 ihren politischen Willen zur Re-duzierung des PCB-Eintrags ins Meer um 50 %bis 1995.

Im selben Jahr erkannte auch die OECD an, dassdie Lage ernster geworden war, und räumte ein,dass die vorhandenen Gesetze nicht effizient sei-en. Jetzt einigten sich alle OECD-Staaten auf einVerbot sämtlicher neuen PCB-Verwendungen bis1989. Diesmal wurde die Gefährdung durch diebereits im Verkehr befindlichen PCB voll aner-kannt und eine Empfehlung zur Einführung von„Kontrollen“ sowie zur Beseitigung PCB-haltigerGeräte unter bestimmten Umständen ausgespro-chen. Dessen ungeachtet wurde die PCB-Produkti-on in einigen Ländern fortgesetzt.

1990 vereinbarten neun der Nordsee-Anrainer-staaten den schrittweisen Verzicht auf sämtlichePCB-Verwendungen. Doch erst Mitte der neunzi-ger Jahre, nach der Washingtoner Erklärung desUNEP, kam es zu einer spürbaren Reaktion aufglobaler Ebene, mit der das Problem und die Not-wendigkeit von Maßnahmen zu den im Verkehrbefindlichen PCB anerkannt wurde.

Bis heute sind noch manche wissenschaftlichenAspekte des Themas PCB umstritten. Ein wichti-ger Grund dafür sind die unterschiedlichen Wir-kungen der kommerziellen PCB-Gemische undder in der Umwelt gefundenen Substanzen, ins-besondere derjenigen, die sich in den Organis-men anreichern. Man könnte argumentieren,dass durch intensivere wissenschaftliche For-schung in der Vergangenheit eine frühere Lö-sung der Probleme möglich gewesen wäre. Ande-rerseits dient der Ruf nach verstärkter Forschunghäufig auch als Vorwand für die Verzögerung be-rechtigter Maßnahmen.

Die extreme Widerstandsfähigkeit der PCB machtihre Vernichtung sehr kostspielig. Als Folge deszögerlichen Handelns sind große Mengen der bis-lang produzierten PCB unkontrolliert in die Um-welt gelangt. Wegen der weiten Verbreitung undder Fähigkeit zur Bioakkumulation konnten sichPCB an Orten anreichern, wo ihre Entfernungbzw. Vernichtung nicht mehr möglich ist. Zudemfehlen in vielen Ländern, in denen noch immerPCB-Produkte im Umlauf sind, technische Anla-gen für ihre sichere Vernichtung.

Bei den Verhandlungen von 1999 zu einer globa-len Konvention über die schrittweise Beseitigungaller POP lag der Schwerpunkt auf den noch imVerkehr befindlichen PCB, insbesondere auf den-jenigen, die mit einem hohen Risiko für Unfälleoder Leckagen behaftet sind. Doch so wichtig sol-che Maßnahmen zur Vermeidung neuer Schad-

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stoffeinträge sind, wir müssen auch entschiede-ner auf die bereits existierende starke PCB-Konta-mination der Umwelt reagieren. Viele Verhaltens-störungen und Atemwegserkrankungen bei Kin-dern, zwei der wichtigsten Probleme der heuti-gen Pädiatrie, könnten ursächlich mit einer PCB-Vergiftung zusammenhängen. Daraus ergibt sichdie dringende Notwendigkeit zur Reduzierungder gegenwärtigen Körperbelastung durch dieseSubstanzen beim Menschen. Für die ebenfalls be-troffenen Tierarten ist entsprechendes Handelnnatürlich kaum möglich.

Im Zusammenhang mit den PCB stellt sich auchdie Frage, wer die Höhe des akzeptablen Risikos

beurteilen soll und ob in dieser Debatte wirk-lich alle Betroffenen hinreichend vertretensind. Sowohl PCB als auch Dioxine wirken feto-toxisch. Kann man das Risiko einer unfreiwilli-gen Exposition für ungeborene Kinder tolerie-ren, wenn diese ihre zukünftigen Entwicklungs-möglichkeiten und die ihrer Nachkommen be-einträchtigt?

Reaktionen auf Regierungsebene sind fast immererst dann erfolgt, wenn die wissenschaftliche Be-weislage bereits erdrückend war. Die Missach-tung des Vorsorgeprinzips hat uns ein Vermächt-nis hinterlassen, dessen Folgen und Kosten bis-lang noch nicht absehbar sind.

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 6.1. PCB: FRÜHE WARNUNGEN UND ERFOLGTE REAKTIONEN

1899 Chlorakne bei Arbeitern der Chlorindustrie beschrieben

1929 Industrielle Großproduktion von PCB für kommerzielle Verwendung beginnt

1936 Weitere Arbeiter an Chlorakne und Leberschäden erkrankt

1937Chlorakne und Leberschäden bei Experimenten mit Ratten beobachtet. Ergebnisse wurden von Politikern kaumbeachtet, doch Arbeitsaufsichtsbehörden und Hersteller erkannten die mit PCB verbundenen Gefahren

1966Jensen entdeckt in schwedischen Seeadlern unbekannte Moleküle — erst 1969 konnte er nachweisen, dass essich um PCB handelte

1968Nach der Vergiftung von 1 800 Menschen durch PCB-kontaminiertes Reisöl in Japan entsteht in der japanischenSprache der neue Ausdruck Yusho — Reisölkrankheit. Der Skandal führt zur ersten weithin veröffentlichtenWarnung vor den möglichen Gefahren von PCB für den Menschen

siebziger Jahre Hohe PCB-Konzentrationen in unfruchtbaren Tieren bei drei Robbenarten

1972 Schweden verbietet „offene“ Verwendung von PCB

1976Toxic Substances Control Act (USA) — PCB-Verwendung nur noch in „vollkommen geschlossenen Systemen“erlaubt

1979In Taiwan erneut 2 000 Menschen durch kontaminiertes Reisöl vergiftet. Die Langzeitbeobachtung der Opferzeigte, dass 25 % der von den vergifteten Müttern geborenen Kinder vor dem 4. Lebensjahr starben

1980s Beweise für die PCB-Kontamination der Muttermilch.

1990sZusammenhang erkannt zwischen PCB und dem IQ und der Hirnentwicklung von Kindern, die in utero der mitPCB-kontaminierten Nahrung der Mutter ausgesetzt waren. Fetotoxizität wird ein neues Paradigma derToxikologie

1996 EU-Richtlinie zum schrittweisen Verbot aller PCB bis 2010

1999 Mit PCB kontaminiertes Hühnerfutter in Belgien entdeckt

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Joe Farman

7.1. Überblick

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun-derts wurden ca. 23 Mio. Tonnen Fluorchlor-kohlenwasserstoffe (FCKW), ca. 11 Mio. TonnenMethylchloroform, 2,5 Mio. Tonnen Tetrachlor-kohlenstoff und 4 Mio. Tonnen der teilhaloge-nierten Verbindung H-FCKW 22 in die Atmo-sphäre eingetragen. Aufgrund ihrer langen atmo-sphärischen Lebensdauer2 können diese Halogen-kohlenwasserstoffe in die Stratosphäre gelangen.Der Chlorgehalt der Stratosphäre ist heute umdas Sechs- bis Siebenfache höher als 1950. Überder Antarktis bildet sich jedes Jahr von Septem-ber bis Dezember ein Ozonloch, in der Arktis istder Ozonverlust zwar weniger systematisch, aberdoch erheblich, und auch in den mittleren Brei-ten beider Hemisphären sind gewisse Ozonver-luste zu verzeichnen. Beweise, die zweifelsfreidarauf schließen lassen, dass die Schädigung derOzonschicht auf Halogenkohlenwasserstoffe zu-rückzuführen ist, finden sich in einer Reihe vonfünf Berichten, die die Weltorganisation fürMeteorologie (WMO) für die Unterzeichner-staaten des Wiener Übereinkommens und desMontrealer Protokolls der Vereinten Nationenerstellt hat (WMO, 1985, 1989, 1991, 1994 und1999). Diese Schädigung der Ozonschicht wirdschwer wiegende Folgen haben, darunter aucheine Zunahme der Hautkrebserkrankungen.

Das Ende des „FCKW-Kapitels“ der Industriege-schichte scheint in Sicht zu sein. In den Industrie-nationen wurde der Verbrauch (Verbrauch = Pro-duktion + Importe – Exporte) und zum Großteilauch die Produktion von FCKW, Halonen und

Methylchloroform bereits eingestellt. Die Ausnah-men umfassen Ausgangsstoffe, einige so genann-te wesentliche Verwendungszwecke3 sowie Zuge-ständnisse an den Bedarf der Entwicklungslän-der, für die ein stufenweiser Abbau vorgesehenist, vom Einfrieren des Verbrauchs im Jahr 1999bis hin zum vollständigen Verzicht im Jahr 2010.Das im September 1987 unterzeichnete und seitJanuar 1989 geltende Montrealer Protokoll mitseinen nachfolgenden Änderungen und Anpas-sungen wird vor allem wegen der Reduzierungder Einträge als großer Erfolg gefeiert.

Mit der Beendigung der Freisetzung dieser Sub-stanzen ist das Thema für die Atmosphäre unddie Ozonschicht allerdings noch keineswegs abge-schlossen. Methylchloroform ist unter den wich-tigsten ozonzerstörenden Substanzen diejenigemit der kürzesten atmosphärischen Lebensdauervon etwa 5 Jahren, und nach 20 Jahren werdennur noch ca. 2 % seiner gegenwärtigen Konzen-tration in der Atmosphäre vorhanden sein. FCKW-12 hingegen hat eine Lebensdauer von etwa 100Jahren, und im Jahr 2100 wird seine atmosphäri-sche Konzentration noch immer mindestens 37 %des gegenwärtigen Wertes betragen. Dabei istnoch nicht berücksichtigt, dass selbst in den In-dustrieländern, die die Produktion mittlerweileeingestellt haben, der Eintrag in die Atmosphäreaus den in der Vergangenheit hergestellten Pro-dukten der Geräte- und Schaumkunststoffindus-trie (geschätzter Gesamt-FCKW-Gehalt 1995 = ca.791 Kilotonnen) fortgesetzt wird. 1988 erreichtedie FCKW-Produktion ihren Höchststand, und En-de 1993 wurde sie in den Industrieländern einge-stellt. In China, Indien und Korea werden nochgeringe Mengen produziert (der Ausstieg ist für2002 vorgesehen), aber die aktuellen Einträge indie Atmosphäre sind vorwiegend auf die in derVergangenheit in den Industrieländern hergestell-

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7. HALOGENKOHLENWASSERSTOFFE, DIE OZONSCHICHT UND DAS VORSORGEPRINZIP

2 Lebensdauern werden als exponenzielle Abklingzeitenangegeben. Die Abbaugeschwindigkeit einer Substanzsinkt proportional zu ihrer Konzentration; ohne zusätz-liche Emissionen ist also nach N Lebensdauern dieRestkonzentration das e-N-fache der ursprünglichenKonzentration.

3 Dazu gehört die medizinische Verwendung von FCKWin Dosier-Inhalatoren – mittlerweile weit gehend durchteilhalogenierte bzw. vollhalogenierte Fluorkohlen-wasserstoffe (H-FKW bzw. FKW) ersetzt – sowie dieVerwendung von Halonen in Militärfeuerlöschern.

ten Produkte zurückzuführen; sie wurden für dasJahr 1995 auf 70 Kilotonnen geschätzt und sinkenjährlich um ca. 4 %. Dieser Halogenkohlenwasser-stoff hat eine atmosphärische Lebensdauer vonca. 65 Jahren, und seine Konzentration in der At-mosphäre wird etwa bis zum Jahr 2020 weiter an-steigen, wenn das Protokoll nicht um die Forde-rung nach der Vernichtung der Halogenkohlen-wasserstoffvorräte ergänzt wird.

Der einfachste Indikator für die bisherige undkünftige Schädigung der Ozonschicht ist der Ge-samteintrag von Chlor und Brom in die Tropo-sphäre, ausgedrückt als äquivalente Chlorbelas-tung. Brom ist pro Atom gegen Ozon 58 Mal sozerstörerisch wie Chlor, so dass gilt: äquivalenteChlorbelastung = Chlorbelastung + 58 x Brom-belastung. Die Meinungen sind geteilt darüber,wie weit die Schädigung der Ozonschicht zeitlichkonkret zurückzuverfolgen ist, doch herrscht mitt-lerweile Einigkeit darüber, dass eine äquivalenteChlorbelastung in Höhe von 2,5 ppbv (Teile je Mil-liarde Volumenteile), die erstmals Ende der siebzi-ger Jahre erreicht wurde, als signifikant zu be-trachten ist. Nach den letzten, 1997 vorgenomme-nen Änderungen am Protokoll wird mit einemRückgang der Belastung auf dieses Niveau zwi-schen 2050 und 2060 gerechnet. Die ursprüngli-che Fassung des Protokoll sowie die 1990 in Lon-don und 1992 in Kopenhagen beschlossenen Än-derungen enthielten keine Garantie für einenRückgang der äquivalenten Chlorbelastung auf2,5 ppbv. Erst mit den 1995 in Wien beschlosse-nen Änderungen wurde für die Zukunft ein Rück-gang festgelegt, und durch die Änderungen vonMontreal (1997) wurde dieser Rückgang um einigeJahre nach vorn verlegt. Dass in den ersten Ver-handlungsrunden nicht mit größerer Entschlos-senheit vorgegangen wurde, kann dahingehendinterpretiert werden, dass den Vertragsparteiendes Protokolls Konsens wichtiger war als seineWirksamkeit; im Nachhinein scheint es, als hättedie Meinung vorgeherrscht, beim nächsten Tref-fen sei vielleicht eher eine Einigung zu erreichen.4

Hätte man die FCKW-Problematik vermeiden sol-len? Hätte man sie vermeiden können? Die Skiz-zierung dreier Abschnitte aus der Industriege-schichte und der Geschichte des Umweltschutzeskönnten bei der Beantwortung dieser Fragen hilf-reich sein.

7.2. Die Anfänge

Die erste „Episode“ beginnt am Ende des neun-zehnten Jahrhunderts, als bei der Erforschung derChlorderivate der einfachen Kohlenwasserstoffedurch Zufall eine ganze Reihe von Verbindungengefunden wurde, für die außerhalb des Laborskeine nennenswerten Quellen existieren. Dazu ge-hören die meisten der ozonzerstörenden Substan-zen. Industriell hergestellter Tetrachlorkohlenstoffwurde als Lösungsmittel sowie in der chemischenReinigung und in Feuerlöschgeräten verwendet.Methylchloroform war zwar bekannt, fand aberkeine Anwendung, was angesichts der Entwick-lung nach 1950 überraschen muss. Der belgischeChemiker Swarts legte den Grundstein zur Erfor-schung der Fluorkohlenwasserstoffe, indem erdurch die katalysierte Reaktion von Fluorwasser-stoffsäure mit Tetrachlorkohlenstoff FKCW-11 undFCKW-12 herstellte. Um die Jahrhundertwendewar Ozon ein wichtige Substanz für die Chemie-industrie. In dieser in der Fachliteratur zumeistübergangenen Epoche fand Ozon vielfältigen Ein-satz – vom Chemielabor bis hin zu öffentlichenEinrichtungen. Es war das stärkste bekannte Oxi-dationsmittel, hinterließ keine problematischenRückstände und war relativ leicht (wenn auchnicht ganz billig) herzustellen, Der Stoff wurdezur Sterilisation des Brauchwassers und zur Reini-gung der Luft im Londoner U-Bahnnetz verwen-det sowie als Bleichmittel und Geruchsentfernerfür Öle, Wachse und Fette bei der Herstellung vonLeinen- und Baumwollstoffen, Farben, Lacken,Linoleum und Parfums. Ozon war ein Konservie-rungsstoff für Nahrungsmittel; Lagergebäude und

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4 Artikel 2 Absatz 9 Buchstabe c) des Montrealer Protokollslautet: „Bei solchen Beschlüssen bemühen sich dieVertragsparteien nach Kräften um eine Einigung durchKonsens. Sind alle Bemühungen um einen Konsenserschöpft und wird keine Einigung erzielt, so werden alsletztes Mittel solche Beschlüsse mit einerZweidrittelmehrheit der anwesenden und abstimmendenVertragsparteien angenommen, die mindestens 50 v. H.des gesamten Verbrauchs der Vertragsparteien an gere-

gelten Stoffen vertritt.“ Auf dieses Verfahren wurde bis-lang noch nicht zurückgegriffen. In Absatz 11 desselbenArtikels heißt es: „Ungeachtet der Bestimmungen diesesArtikels kann jede Vertragspartei strengere Maßnahmenals in diesem Artikel vorgeschrieben treffen.“ Daraufwurde bislang nur einmal zurückgegriffen, und zwar imMärz 1991 von der Europäischen Union, die feststellte, dieVerhandlungspartner seien insgesamt recht zufrieden miteinem am Konsens orientierten Vorgehen.

Kühlschiffe waren häufig mit tragbaren Ozonisa-toren ausgerüstet. Über Ozon als natürlichen Be-standteil der Atmosphäre war hingegen kaum et-was bekannt. 1857 wurde bei Messungen in Rou-en eine bodennahe Ozonkonzentration in derGrößenordnung 10-8 (10 ppbv) festgestellt (Hou-zeau, 1857); bald war das Netz solcher Messstatio-nen vor allem in Belgien und Frankreich rechtdicht geknüpft. Aus der Absorption des kurzwelli-gen Anteils des Sonnenlichts schloss man, dass inden höheren Atmosphärenschichten sehr viel hö-here Ozonkonzentrationen vorliegen müssen. Umdie Jahrhundertwende herrschte unter den Me-teorologen Einigkeit, dass die Atmosphäre eineeinfache thermische Struktur aufweisen müsse:man ging von einer Temperaturabnahme propor-tional zur Höhe bis hin zur Grenze der Atmosphä-re aus. Dieses Axiom wurde 1901 erschüttert, alsTeisserenc de Bort berichtete, die Temperaturab-nahme höre in einer Höhe von etwa 11 km (häu-fig abrupt) auf, und bis zu einer Höhe von ca. 14km (so weit reichten seine Messgeräte) bleibe dieTemperatur nahezu konstant (siehe zum BeispielGoody, 1954). De Bort bezeichnete seine Entde-ckung zunächst als „isothermische Schicht“,schlug später jedoch die Begriffe Troposphäre (fürdie gut durchmischte niedrigere Region) und Stra-tosphäre (für die höhere Region mit hoher stati-scher Stabilität) vor. Regelmäßige Sondierungender Stratosphäre fanden erst statt, als dies durchtragbare Funkgeräte, leichtere Messinstrumenteund verbesserte Ballons einfacher wurde. Ein An-fang wurde 1933 gemacht, doch die Weltwirt-schaftskrise und der Zweite Weltkrieg bremstenden Fortschritt bis in die fünfziger Jahre hinein.

7.3. Die dreißiger Jahre – Anfänge der FCKW-Industrie

Zu Beginn der dreißiger Jahre war Ozon alsBleich- und Sterilisationsmittel bereits weitge-hend durch Chlor ersetzt worden. Dieser Stoffwar billig, denn er fiel in großem Mengen als Ne-benprodukt bei der Elektrolyse von Steinsalz an,einem Verfahren, mit dem die zunehmendeNachfrage nach Natriumhydroxid für die Vorbe-reitung von Blech zum Lackieren befriedigt wur-de. 1926 meldete der Norweger Eric Rotheim dasPatent auf das Prinzip der Aerosolbehälter (Spray-dose) an. (Aufzeichnungen über ihre breite Ver-wendung gibt es erst aus dem Zweiten Weltkrieg,als im Pazifikraum Insektizidsprays benötigt wur-den. In den USA begann die Massenproduktion

von Spraydosen 1947, in Deutschland 1953.) 1929untersuchte Thomas Midgely vom US-amerikani-schen Konzern General Motors eine Reihe chemi-scher Stoffe auf ihre Eignung als Kühlmittel undsprach dann eine Empfehlung für FCKW-12 undFCKW-11 als wirksame, nicht-toxische und nichtentflammbare Substanzen aus. 1930 begann DuPont mit der industriellen Produktion von FCKW-12 und 1934 mit der Herstellung von FCKW-11.

Zu dieser Zeit war die Ozonschicht bereits ent-deckt und, unter Berücksichtigung der damalsverfügbaren Ressourcen, auch recht umfassenderforscht worden. Aufbauend auf den Pionier-arbeiten von Fabry und Buisson in Frankreichwurde vor allem von Dobson und seinen Mitar-beitern in Oxford ein Ozonmessnetz geknüpft,dessen Stationen zur Messung der jährlichenSchwankungen des Ozongehalts bald von derArktis bis nach Neuseeland reichten. Die grund-legenden Merkmale der vertikalen Ozonverteilungwurden zum einen von Götz, Meetham undDobson durch bodennahe Messungen des Streu-lichteinfalls vom Zenith bei Dämmerung ermittelt,und zum anderen von Regener, der ein kleinesSolarspektroskop an einem Ballon befestigte unddiesen bis in 31 km Höhe aufstiegen ließ; bisdahin hatte der Ballon ca. 70 % der Ozonschichtdurchquert. Diese beiden sehr unterschiedlichenMesstechniken führten zu erstaunlich übereinstim-menden Ergebnissen. Zur Vervollständigung die-ses Abrisses sei noch angefügt, dass Chapman1930 die erste theoretische Abhandlung über dieBildung des atmosphärischen Ozons veröffent-lichte (zu näheren Einzelheiten siehe z.B. Goody,1954). Im Rahmen der Grenzen der Fotometrie ineiner statischen Atmosphäre gab sie einen rechtgenauen Überblick über den oberen Teil der Ozon-schicht (>30 km), lieferte aber keine Erklärungenfür die beobachteten Schwankungen des Ozonge-halts je nach Breitengrad und Jahreszeit. Es solltennoch mehr als 50 Jahre vergehen, bis man in dieOzonschichtmodelle realistische Luftbewegungeneinbinden konnte, und noch heute liegt hier einfaszinierendes Wechselspiel von Unsicherheitenhinsichtlich der chemischen Zusammensetzungund der Dynamik der Atmosphäre vor.

7.4. Die siebziger Jahre – erste Zweifel

1970 wurde die Besorgnis über die Auswirkun-gen der menschlichen Aktivitäten auf die Ozon-schicht weltweit spürbar. Als Erstes wurden Be-

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fürchtungen über die umweltschädigenden Ein-träge von Stickoxiden, Kohlenmonoxid und Was-ser durch die damals geplante Flotte von Über-schall-Verkehrsflugzeugen laut. Die Warnungenfanden Gehör – die Vereinigten Staaten gaben ih-re Pläne zur Entwicklung von Überschall-Passa-gierflugzeugen auf, und die Flotte der britischenund französischen Concordes und der russischenTupolev-144 umfasste zusammen genommen niemehr als 40 Maschinen. Dann wandte sich dieAufmerksamkeit der FCKW-Industrie zu, die imgesamten Verlauf der sechziger Jahre sehr starkexpandiert hatte. Eine mit neuesten Technikenzur Messung winziger Spuren von FCKW durch-geführte Untersuchung hatte belegt, dass sichdiese Gase, deren Eintrag vorwiegend in dernördlichen Hemisphäre erfolgte, weltweit verteilthatten (Lovelock et al., 1973). Hinzu kam, dassdie gemessenen Konzentrationen auf einen ex-trem langsamen Abbau der FCKW in der Tropo-sphäre hindeuteten – fast der gesamte FCKW-Ein-trag befand sich noch in der Atmosphäre. 1974wiesen US-Wissenschaftler in Veröffentlichungendarauf hin, dass die FCKW aufgrund ihrer Stabili-tät bis in die Stratosphäre gelangen würden, waszur Freisetzung von Chlor mittels Fotolyse und zueiner ozonzerstörenden Kettenreaktion führenwerde (Molina und Rowland, 1974; Cicerone etal., 1974). Dies löste eine heftige Debatte aus, dieüber ein Jahrzehnt andauerte.

Erste wichtige Schritte waren die 1977 getroffeneVereinbarung über einen forschungsorientierten„Weltaktionsplan für die Ozonschicht“ und dieEinrichtung eines Koordinierungsausschusses zurÜberwachung dieses Aktionsplans durch das Um-weltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP).Anzumerken ist, dass an den Ausschusssitzungenauch Vertreter von Nichtregierungsorganisatio-nen teilnehmen durften. In den USA begann einesehr effiziente öffentliche Kampagne, die an dievorangegangene Debatte über die Auswirkungenvon Überschallflugzeugen anknüpfte und 1977zu einem Verbot von FCKW als Treibgas für Aero-sole führte. In Kanada, Norwegen und Schwedenwurden ähnliche Maßnahmen ergriffen. InEuropa konzentrierten sich die Umweltschutz-gruppen zu dieser Zeit auf den sauren Regen,und beim Thema FCKW gab es kaum öffentli-chen Druck auf die Regierungen. Doch 1980 wur-de mit der Entscheidung 80/372 des Europäi-schen Rates über Fluorchlorkohlenwasserstoffe inder Umwelt ein Nullwachstum der Produktions-kapazitäten für FCKW-11 und FCKW-12 sowie dieReduzierung ihres Einsatzes im Aerosolbereich

um mindestens 30 % gegenüber dem Niveau von1976 bis zum Jahr 1981 vorgeschrieben. DieseMaßnahmen zur Senkung der Einträge hattenaber keine spürbaren Auswirkungen. Durch denweltweiten Wirtschaftsabschwung infolge der Öl-krise waren die Einträge bereits einige Jahre zu-vor drastisch zurückgegangen. Die Reduzierungder Verwendung im Aerosolbereich wurde durchden verstärkten Einsatz in der Schaumstoffindus-trie wieder aufgehoben. Das in Europa festge-schriebene Nullwachstum war kaum mehr als ei-ne symbolische Geste, denn die meisten Produkti-onsstätten waren ohnehin nicht voll ausgelastet.

Gleichwohl scheinen diese Maßnahmen die ers-te – und einzige – eindeutige Anwendung desVorsorgeprinzips im Ozonbereich darzustellen.Jedenfalls wurde hier zum einzigen Mal konkretgehandelt, bevor die Beweise für die schädli-chen Auswirkungen der FCKW erdrückend wur-den. In dem 1977 in den USA erlassenen Gesetzzur Luftreinhaltung heißt es ausdrücklich, zurBegründung von Maßnahmen müssen schädi-gende Auswirkungen „nicht eindeutig nachge-wiesen, sondern lediglich vernünftigerweise zuerwarten sein“ (US EPA, 1987). Dies stand imkrassen Gegensatz zur abwartenden Haltungder Industrie. Der erste und weltweit größteFCKW-Hersteller Du Pont erklärte in der NewYork Times (30. Juni 1975) auf einer ganzseiti-gen Anzeige: „Sobald ernst zu nehmende Bewei-se dafür vorliegen, dass bestimmte Fluorkohlen-wasserstoffe zum Abbau der Ozonschicht unddamit zur Gefährdung der Gesundheit führen,sind wir bereit, die Produktion der entsprechen-den Verbindungen einzustellen.“ Bis 1986 strittdas Unternehmen das Vorliegen ernst zu neh-mender Beweise rundweg ab. Allerdings mussman auch anerkennen, dass die Industrie wäh-rend dieses gesamten Zeitraums über die Che-mical Manufacturers Association erhebliche Fi-nanzmittel zur Unterstützung der Erforschungdes Ozonproblems durch Institute und einzelneWissenschaftler bereitgestellt hat.

Zu Beginn der achtziger Jahre schien sich dasProblem mit der Ozonschicht erledigt zu haben.Simulationsmodelle sagten nur eine geringelangfristige Verringerung des Ozons voraus, wasauch im Wesentlichen den Beobachtungen ent-sprach, die keinen signifikanten Trend erkennenließen. Die auf Initiative der UNEP 1981 aufge-nommenen Verhandlungen über eine interna-tionale Konvention zum Schutz der Ozonschichtkamen nur zögerlich voran. Während die USA

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eine Reihe von Mechanismen zur Kontrolle desEinsatzes von FCKW bei den verschiedenen An-wendungen favorisierten, wollten die Europäereine Begrenzung der Produktionsmengen durch-setzen. Diese Differenzen erwiesen sich als un-überbrückbar, und das im März 1985 vereinbar-te Wiener Übereinkommen zum Schutz derOzonschicht enthielt lediglich Zusagen zur Ko-operation bei Forschung und Überwachung,zum Informationsaustausch über die FCKW-Pro-duktion und zur Weiterleitung von Kontrollpro-tokollen, sofern dies als begründet erachtet wur-de. Die USA waren zu dieser Zeit nicht bereit,einseitige Maßnahmen zu ergreifen. Das begrün-deten sie damit, dass sich ihre Produktion vonFCKW-11 und FCKW-12 durch zuvor ergriffeneMaßnahmen bereits von 46 % der weltweit pro-duzierten Gesamtmenge (1974) auf 28 % (1985)reduziert hatte. Der einzige Trost für die Befür-worter von Kontrollen bestand darin, dass dieVertragsparteien des Übereinkommens dasUNEP unverzüglich bevollmächtigten, auf derEbene von Arbeitsgruppen Verhandlungen überein möglichst 1987 zu unterzeichnendes Proto-koll zum Übereinkommen aufzunehmen.

7.5. Das Montrealer Protokoll und das Ozonloch

Das Montrealer Protokoll wurde wie geplant am16. September 1987 unterzeichnet, nachdem esin der Woche zuvor noch einmal zu hektischenAuseinandersetzungen gekommen war. Später er-klärte US-Verhandlungsführer Richard Benedick,es handle sich zum Beispiel für die Anwendungdes Vorsorgeprinzips. Eine simplere Interpretati-on würde lauten, dass die Arbeitsgruppe von denEreignissen überrollt worden war. Im Mai 1985hatte das Fachorgan Nature (Farman et al., 1985)von einem Abbau der Ozonschicht über der Ant-arktis berichtet, der weitaus gravierender war alsalle Vorhersagen. Diese Befunde wurden im Ok-tober 1985 von der NASA bestätigt. In der Be-richterstattung über die NASA-Ergebnisse verwen-dete die Washington Post erstmals den prägnan-ten Begriff „Ozonloch“. An die eigene Erklärungvon 1975 erinnert, teilte Du Pont im September1986 seinen FCKW-Kunden mit, man akzeptierenunmehr den Bedarf an gewissen Kontrollen (Ca-gin und Dray, 1993, S. 308). Im gleichen Jahr hat-te die Forschungskampagne US National OzoneExpedition (NOZE) durch Messungen in der Ant-arktis (McMurdo Station) hinreichende Beweise

dafür gesammelt, dass der Ozonabbau auf chemi-sche Prozesse zurückzuführen ist Im September1987 konzentrierte sich die Aufmerksamkeit er-neut auf die Antarktis: man erwartete Pressemel-dungen von der zweiten ForschungskampagneNOZE II und von der Messkampagne US AirborneAntarctic Ozone Experiment (AAOE), bei derFlugzeuge vom chilenischen Punta Arenas aus inund durch das Ozonloch flogen. Die Wahl desZeitpunkts der Unterzeichnung des Protokollslässt sich nur als clevere Präventivmaßnahme zurAufrechterhaltung der Glaubwürdigkeit der Ver-handlungspartner erklären sowie als Maßnahme,die der Industrie Zeit für eine sorgfältige Um-strukturierung geben sollte.

Erfolg, Kompromiss, Mischmasch, Fehlschlag – alldiese Begriffe wurden zur Beschreibung desMontrealer Protokolls verwendet. Doch zweifelloshat es einen psychologischen Durchbruch mar-kiert. Allerdings wurden seine Bestimmungendurch Rücksichtnahme auf die Praktikabilität ver-wässert, die endgültigen Zielsetzungen warennicht klar definiert, und bis zur nächsten Vollver-sammlung der Vertragsparteien stiegen die Ein-träge sprunghaft an. Das Protokoll wurde gemäßdem vorgesehenen Zeitplan ratifiziert und tratam 1. Januar 1989 in Kraft. Das Überprüfungsver-fahren wurde umgehend eingeleitet. Mittlerweilehatte man Einigkeit über die grundlegenden wis-senschaftlichen Fragen erzielt, die NRO hatten in-tensive Sensibilisierungskampagnen gestartet,und die Industrie reagierte wesentlich rascherauf das Problem, als man es zu Anfang für mög-lich gehalten hätte. Die 1990 auf der Tagung inLondon beschlossenen Änderungen waren dannzwar inhaltlich substanzieller als das ursprüngli-che Protokoll, aber gemessen an den Erklärun-gen der meisten Vertragsparteien bei den vorbe-reitenden Sitzungen doch eher enttäuschend. Ne-ben den Änderungen am Protokoll wurden aller-dings zwei Entscheidungen von großer Tragweitegetroffen. Zum einen wurde vereinbart, nunmehralle zwei statt alle vier Jahre eine umfassendeÜberprüfung vorzunehmen, und zum anderenwurde (im neuen Artikel 10) die Einrichtung ei-nes Multilateralen Fonds für die Umsetzung derBestimmungen des Montrealer Protokolls be-schlossen, um die Entwicklungsländer bei der Re-duzierung ihrer Abhängigkeit von ozonzerstören-den Substanzen zu unterstützen.

Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand dies-mal der rasche Ersatz von FCKW durch andereChemikalien, wobei die Industrie die Optionen

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der teilhalogenierten Fluorchlorkohlenwasserstof-fe (H-FCKW) und der teilhalogenierten Fluorkoh-lenwasserstoffe (H-FKW) favorisierte5. Etwa 75 %der weltweiten FCKW-Produktion entfiel auf 13Unternehmensgruppen, die sich zur Stilllegungihrer alten FCKW-Anlagen bereit erklärten, wenndas Protokoll ihnen ausreichend Zeit lasse, Ge-winne aus den Investitionen in die Produktionvon H-FCKW und H-FKW zu ziehen. Dem stimm-ten die Verhandlungsführer bereitwillig zu. Zudiesen Übergangsstoffe gab es keine Kontrollen,sondern nur Leitlinien, und ihre Zukunft blieb of-fen, da keine Einigung über ein Ausstiegsdatumerzielt wurde6. Meiner Ansicht nach war das einvöllig falscher Ansatz . Durch technische Messun-gen war bereits nachgewiesen worden, dassschlechte Arbeitspraktiken für einen unnötig ho-hen Eintrag von FCKW und Halonen verantwort-lich waren; die Ersatzstoffe wurden in weitaus ge-ringeren Mengen benötigt als der aktuelle Ver-brauch nahe legte. Zum nachhaltigen Schutz derOzonschicht, zur Abbremsung des Klimawandelsund zur Reduzierung der Kosten im Zusammen-hang mit dem Anstieg des Lebensstandards inden Entwicklungsländern hätte viel mehr Wertauf eine umsichtige Festsetzung langfristiger Zie-le gelegt und die Entwicklung energieeffizienterTechnologien ohne den Einsatz halogenierterKohlenwasserstoffe aktiv unterstützt werden müs-sen. Die Mittel aus dem Multilateralen Fondswurden größtenteils für den Ersatz von FCKWdurch H-FCKW ausgegeben, und jetzt werdennoch größere Summen für den Ausstieg aus denH-FCKW gebraucht. Es wäre mit Sicherheit bessergewesen, von Anfang an auf radikalere techni-sche Veränderungen zu setzen.

Anfang Dezember 1999 fand in Peking diejüngste Vollversammlung der Vertragsparteienmit Vertretern von 129 Regierungen statt. Wäh-rend der Vorbereitungen kam es zu zwei denk-würdigen Ereignissen: Im März 1999 genehmig-te der Multilaterale Fonds 150 Mio. USD zur Un-terstützung des vollständigen FCKW-Ausstiegs in

China (dem mittlerweile weltgrößten Herstellerund Verbraucher von FCKW und Halonen) imLaufe der nächsten 10 Jahre. Eine Woche vor Be-ginn der Versammlung genehmigte der Fonds82 Mio. USD zur Unterstützung des vollständi-gen FCKW-Ausstiegs in Indien, dem weltweitzweitgrößten FCKW-Produzenten. Auf der Konfe-renz der Vertragsstaaten wurde die Aufstockungdes Fonds, der seit 1991 mehr als 1 Mrd. USDausgeschüttet hatte, um weitere 440 Mio. USDbeschlossen. Man vereinbarte neue Kontrollmaß-nahmen für H-FCKW, darunter auch ein Han-delsverbot für diese Substanzen mit Ländern,die die Änderung von 1992 (zum H-FCKW-Aus-stieg) noch nicht ratifiziert hatten, sowie denvollständigen Ausstieg aus der Produktion vonBromchlormethan bis zum Jahr 2002. In einergemeinsamen Erklärung wurde die Fortsetzungder Bemühungen zur Verhinderung des illega-len Handels mit ozonzerstörenden Substanzengefordert. Und einmal klang sogar das Vorsorge-prinzip an: die Ausschüsse zur wissenschaftli-chen und wirtschaftlichen Evaluierung wurdenum Vorschläge zur Verhinderung der Entwick-lung und Vermarktung neuer ozonzerstörenderchemischer Substanzen ersucht7. Ungelöst blie-ben unter anderem der Abbau der Halonban-ken, ein rascherer Ausstieg aus der Methylbro-mid-Herstellung und die Reduzierung des ge-genwärtigen FCKW- und Halonverbrauchs inRussland und anderen Übergangsländern.

7.6. Späte Lehren

Der 1985 veröffentlichte Bericht zur raschenund gravierenden saisonalen Zerstörung derOzonschicht über der Antarktis war das Ergebnissystematischer langfristiger Messungen, mit de-nen man ursprünglich aus rein wissenschaftli-chem Interesse begonnen hatte. Das Ergebnisüberraschte alle, nicht zuletzt die Autorenselbst. Bis dahin galt es als gesichert, dass sichdie Auswirkungen von FCKW zuerst in den Tro-pen und dort in großer Höhe (30–50 km) be-merkbar machen würden, und dass in den nied-rigen Schichten der Stratosphäre Veränderun-gen nur sehr langsam vonstatten gehen würden.

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5 H-FKW sind ozonzerstörende Substanzen, aber weitausweniger gefährlich als FCKW. H-FKW haben keinenEinfluss auf die Ozonschicht, sind aber sehr starkeTreibhausgase.

6 Der Zeitpunkt, bis zu dem ein vollständiger Verzichtrealisierbar schien, wurde sehr kontrovers diskutiert, dieVorstellungen reichten von 2010 bis 2040.

7 Nähere Informationen zur Konferenz derVertragsstaaten in Peking unter:http://www.iisd.ca/ozone/mop11/.

Zufällig standen zwei andere Forschergruppenebenfalls kurz davor, diese einhellige Meinungzu widerlegen – japanische Wissenschaftler hat-ten anormale Ozonprofile aus der Antarktis vor-gelegt, ohne jedoch einen systematischen Trenderkennen zu können, und Wissenschaftler derNASA überprüften gerade die sehr niedrigenOzonwerte, die von der Software zur Erstanalysevon Satellitendaten als „verdächtig“ markiertworden waren. Das alles ereignete sich vor demInternet-Zeitalter, und für Institutionen mit be-grenzten Ressourcen war der Mangel an effekti-ver Kooperation damals durchaus nichts Unge-wöhnliches. Auch sei daran erinnert, dass gera-de eben der erste WMO-Bericht fertig gestelltwurde – eine schwierige Aufgabe für Autorenund Rezensenten. Auch heute noch ist die Finan-zierung langfristiger Überwachungsprogrammeein ernstes Problem. Es ist schlicht nicht mach-bar, Finanzmittel in einer Höhe, wie sie für dieErforschung eines so wichtigen Umweltthemaserforderlich ist, für einen unbefristeten Zeit-raum zur Verfügung zu stellen.

Das Wachstum der FCKW-Industrie war zunächstdurch Rezession und Krieg gebremst worden. Von1930 bis 1948 betrugen die kumulierten Einträgevon FCKW-11und FCKW-12 lediglich 5 bzw. 25Kilotonnen. In den folgenden zwanzig Jahren warein spektakulärer Anstieg zu verzeichnen: 1970lagen die jährlichen Einträge bei 207 bzw. 300Kilotonnen. Die Menschen kauften FCKW undwarfen es dann weg (Spraydosen). Die Träume derIndustrie von „chemischen Wundermitteln“schienen wahr zu werden. Zu diesem Zeitpunkthätte man sich die Frage nach der „Nachhaltig-keit“ einer solchen Entwicklung stellen müssen.

Wäre z. B. im Jahr 1965 eine konventionelle Risi-koanalyse durchgeführt worden, hätte das Fazithöchstwahrscheinlich gelautet, zu Besorgnis be-stehe kein Anlass: die Handhabung von FCKW seisicher, da diese Substanzen sehr reaktionsträge,nicht entflammbar und nur sehr schwach toxischseien. FKCW sind gute Wärmeisolatoren, und ei-nige von ihnen sind hervorragende Lösungsmit-tel, da sie sich rasch mit einer ganzen Reihe an-derer organischen Substanzen vermischen. Viel-leicht wäre in der Analyse sogar zur Sprache ge-kommen, dass die Folgen eines FCKW-Eintrags indie Atmosphäre noch nicht erforscht seien, aberman hätte sicher sofort hinzugefügt, FCKW wür-den bereits seit mehr als 30 Jahren ohne irgend-welche erkennbaren Schäden freigesetzt. Den Ab-schluss hätte wahrscheinlich eine lange Empfeh-

lungsliste für weitere Forschungsaktivitäten gebil-det. Im Nachhinein ist klar, dass diese Liste unbe-dingt die Untersuchung des UV- und Infrarot-spektrums der FCKW, die Messung ihrer atmo-sphärischen Konzentrationen und die Ermittlungihrer Zersetzungsprodukte hätte beinhalten müs-sen. Und es gab ja bereits Hinweise auf das Risikoeiner Gefährdung der Ozonschicht (Weigert,1907; Norrish und Neville, 19348), wenn man nurerkannt hätte, dass in der oberen AtmosphäreChlor- und Fluoratome von den FCKW abgespal-ten werden können. Doch diese Hinweise wärensicher mit der Begründung abgetan worden, inder relevanten Höhe gebe es mindestens 10 000mal mehr Ozon als FCKW.

Es erscheint möglich, dass eine solche Risikoana-lyse die Forschungsaktivitäten beschleunigt hätte,deren Ergebnisse letztlich zu plausiblen Einwän-den gegen die Verwendung von FCKW führten.Doch die Geschichte lehrt, dass auch plausibleEinwände oft nur geringe Wirkung zeitigen. Manbegann erst dann mit ernsthaften Verhandlun-gen , als die Ozonschicht stark geschädigt warund gewichtige Hinweise für einen Zusammen-hang mit FCKW sprachen. Die großzügig bemes-senen und häufig geänderten Zeitpläne für einenAusstieg aus der Produktion und Verwendungozonzerstörender Stoffe legt die Vermutung na-he, dass selbst in diesem Stadium das Hauptinte-resse der Politiker nicht dem vorsorglichen Um-gang mit der Umwelt galt.

Die vor kurzen getroffene Entscheidung (2001)der US-Regierung, das Protokoll von Kyoto überKlimaänderungen nicht zu ratifizieren, hat wohlviele enttäuscht, die gehofft hatten, die Erfahrun-gen mit dem Montrealer Protokoll würden zu-künftige Vereinbarungen zum Schutz der globa-len Umwelt leichter machen. Zu den Lehren, dieunbedingt hätten gezogen werden müssen, ge-hört, dass weder Regierungen noch multinatio-nale Konzerne ein Mandat für globale Experi-mente haben, auch dann nicht, wenn diese Expe-rimente „nur“ in der Fortsetzung der üblichen

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8 Diese beiden Berichte über Laborexperimente zurZersetzung von Ozon durch Chlor unter Lichtein-wirkung sind in einem 1977 veröffentlichten systema-tischen Überblick zur Chemie der Stratosphäre zitiert, es gibt aber keine Hinweise darauf, dass sie auf dieForschungsarbeiten in den sechziger Jahren und zuAnfang der siebziger Jahre Einfluss ausgeübt hätten.

Praxis bestehen. Der Fall FCKW enthält eine deut-liche Warnung. Praktiken, die zum Zeitpunkt ih-rer Einführung als sinnvoll gelten (in diesem Fallalso zu einer Zeit, als die Kenntnisse über die at-mosphärischen Prozesse noch sehr lückenhaftwaren) können später (mit fortschreitenderSchließung der Wissenslücken) als Verursachereines schwer wiegenden globalen Problems iden-tifiziert werden, das dann aber nicht mehr zuvermeiden und auch nicht mehr rasch zu lindernist. Wir haben es hier mit einem seltsamen Para-doxon zu tun: Aufgrund kurzfristiger Sicherheits-erfordernisse scheint es notwendig zu sein, dasssynthetische Chemikalien des täglichen Ge-

brauchs nicht reaktiv sind. Erst nach geraumerZeit erkannte man, dass diese Substanzen dannnatürlich extrem persistent sind.

Es wäre ein Irrglaube, anzunehmen, die Umwelt-wissenschaften seien schon so weit, dass alle Ge-fahren vorhersehbar wären. Nur allzu häufig hin-ken die wissenschaftlichen Risikoanalysen dertechnischen Entwicklung hinterher. Um aus die-sem Dilemma herauszukommen, müssen die Poli-tiker lernen, viel schneller als in der Vergangen-heit zu erkennen, wann Unwissen von Erkennt-nissen abgelöst wird, wie rudimentär diese auchimmer sein mögen.

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 7.1. HALOGENKOHLENWASSERSTOFFE: FRÜHE WARNUNGEN UND REAKTIONEN

1907 Weigert weist in Laborexperimenten die Zersetzung von Ozon durch Chlor unter Lichteinwirkung nach

1934 dito Norrish und Neville

1973 globale Erhebungen zu FCKW durch Lovelock et al. decken ihre weltweite Verbreitung in der Atmosphäre auf

1974 Molina und Rowland veröffentlichen wissenschaftlichen Bericht zum ozonzerstörenden Potenzial von FCKW

1977Verbot von FCKW in Aerosolbehältern aufgrund „vernünftigerweise zu erwartender“ Schädigungen zunächst in denUSA, dann auch in Kanada, Norwegen und Schweden

1977 Vereinbarung eines forschungsorientierten „Weltaktionsplans für die Ozonschicht“ unter Aufsicht des UNEP

1980Entscheidung des Europäischen Rates für die Einschränkung der Verwendung von FCKW in Aerosolbehältnissen;dies wird jedoch durch die zunehmende Verwendung von FCKW als Kühlmittel konterkariert

1985Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht mit Vereinbarungen zu Forschung, Überwachung,Informationsaustausch und — sofern gerechtfertigt — Beschränkungen

1985 Farman, Gardiner und Shanklin veröffentlichen Ergebnisse zum Ozonloch über der Antarktis

1987Unterzeichnung des Montrealer Protokolls zum Schutz der Ozonschicht: stufenweiser Ausstieg aus der Produktionozonzerstörender Substanzen mit unterschiedlichen Zeitvorgaben für Industrie- und Entwicklungsländer

seit 1990verstärkte finanzielle Unterstützung der Entwicklungsländer zur Verringerung ihrer Abhängigkeit von ozonzerstö-renden Substanzen

1997Änderung des Montrealer Protokolls mit Rückführung der äquivalenten Chlorbelastung auf 2,5 ppbv bis 2050—2060

1999Erklärung von Peking: Forderung nach Bemühungen zur Unterbindung des illegalen Handels mit ozonzerstörendenSubstanzen

7.7. Literatur

Cagin, S. und Dray, P., 1993. Between earth andsky, Pantheon Books, New York. Cicerone, R. J.,Stolarski, R. S. und Walters, S., 1974. Science Bd.185, S. 1165.

DETR, 1999. ‘Stratospheric ozone 1999’, DETRReference No 99EP0458, United Kingdom Stra-tospheric Ozone Review Group, Department ofthe Environment, Transport and the Regions.

Farman, J. C., Gardiner, B. G. und Shanklin, J. D.,1985. Nature Bd. 315, S. 207.

Goody, R. M., 1954. The physics of the strato-sphere, Cambridge University Press, Cambridge.

Houzeau, A., 1857. Comptes Rendus Acad. Sci.Paris Bd. 45, S. 873.

Lovelock, J. E., Maggs, R. J. und Wade, R. J., 1973.Nature Bd. 241, S. 194.

Molina, M. J. und Rowland, F. S., 1974. NatureBd. 249, S. 810.

Norrish, R. G. W. und Neville, G. H. J., 1934. J.Chem. Soc., S. 1684.

US EPA, 1987. Protection of stratospheric ozone,Fed. Register 52, S. 47491.

Weigert, F., 1907. Ann. Physik. Bd. 24, S. 243.

WMO, 1985, 1989, 1991, 1994 und 1999. GlobalOzone Research and Monitoring Project, BerichteNr. 16, 20, 25, 37 und 44, Weltorganisation fürMeteorologie, Genf.

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Dolores Ibarreta und Shanna H. Swan

8.1. Einleitung

1970 berichteten A.L Herbst und seine Mitarbei-ter über einen unerwarteten Befund. Sie hattenbei sieben jungen Frauen ein klarzelliges Adeno-karzinom der Vagina diagnostiziert, einen äu-ßerst seltenen Vaginalkrebs, der in diesem Kran-kenhaus bei dieser Altersgruppe noch nie festge-stellt worden war (Herbst und Scully, 1970). EinJahr später publizierten sie das überraschendeUntersuchungsergebnis, dass in sieben der achtbeobachteten Fälle (inzwischen war ein weitererFall aufgetreten), aber in keinem einzigen der 32Kontrollfälle, eine pränatale Exposition gegendas synthetische Östrogen Diethylstilboestrol(DES) vorgelegen hatte (Herbst et al., 1971). Sie-ben Monate nach dieser Veröffentlichung zog dieUS-Bundesbehörde für Nahrungs- und Arzneimit-tel (Food and Drug Administration – FDA) die Zu-lassung des Medikaments zur Verabreichung anSchwangere zurück. Seit 1947 war dieses starkesynthetische Östrogenpräparat in der irrigen,aber weit verbreiteten Annahme, es könne spon-tane Aborte (Fehlgeburten) verhindern, unzähli-gen Schwangeren verschrieben worden. Diescheinbar harmlose Therapie erwies sich als Zeit-bombe für die während des ersten Schwanger-schaftsdrittels exponierten Kinder. Die gefährli-che Wirkung von DES als transplazentales Karzi-nogen und schließlich auch als Missbildungenhervorrufendes Teratogen (Nachweis 1971) wurdeerst zehn Jahre nach der furchtbaren Entdeckungerkannt, dass die Einnahme von Thalidomid wäh-rend der Frühschwangerschaft bei den betroffe-nen Kindern zu schweren Missbildungen der Ex-tremitäten führte (James, 1965). Aufgrund diesertragischen Erfahrungen mussten die Wissen-schaftler von der damals weit verbreiteten Mei-nung Abschied nehmen, der Fötus sei durch die„Plazentabarriere“ vollkommen geschützt. An ih-re Stelle trat nun das Wissen um die Verwund-barkeit des Fötus, dessen Entwicklung durch jed-wede Exposition der Mutter während der kriti-schen Phasen beeinflusst werden kann, und zwarauch noch lange nach der Geburt.

8.2. Optimistische Anfänge

Östrogene sind Steroidhormone, die vorwiegendin den weiblichen Ovarien und den männlichenHoden produziert und durch Bindung an speziel-le Östrogenrezeptoren wirksam werden. Zusam-men mit den übrigen so genannten Sexualhor-monen (Gestagene und Androgene) sind sie fürdie Regulierung der Fortpflanzung und die Ent-wicklung der sekundären Geschlechtsmerkmalebei beiden Geschlechtern zuständig. 1938 formu-lierten Charles Dodds und seine Mitarbeiter DES,das erste oral verabreichbare synthetische (nichtsteroidale) Östrogen (Dodds et al., 1938). Schät-zungen zufolge besitzt es die fünffache Wirkungvon Östradiol, dem stärksten natürlichen Östro-gen bei Säugetieren (Noller und Fish, 1974). DESist kostengünstig und einfach synthetisierbar,und die pharmazeutische Industrie begann raschmit der weltweiten Produktion. Das Östrogenprä-parat kam unter mehr als 200 verschiedenenHandelsnamen auf den Markt. Genau wie anderepharmazeutische Produkte jener Zeit wurde auchDES nur wenigen toxikologischen Untersuchun-gen unterzogen. DES-Präparate fanden rasch brei-te Anwendung, unter anderem zur Behandlungvon Menopausensymptomen und Prostatakrebs.Weitere therapeutische Anwendungsgebiete fürDES waren die Unterdrückung der Laktation, diepostkoitale Empfängnisverhütung („Pille da-nach“) und die Behandlung des Postmenopausen-syndroms (Noller und Fish, 1974). Später wurde esals Wachstumsförderer bei der Mast von Hüh-nern, Schafen und Rindern eingesetzt. (Aschba-cher, 1976).

Zu den zahlreichen Anwendungsbereichen vonDES gehörte auch die Prävention spontanerAborte (Fehlgeburten). In den vierziger Jahrenglaubte man noch, Fehlgeburten würden durcheinen sinkenden Östrogenspiegel ausgelöst. Heu-te ist bekannt, dass der sinkende Östrogenspiegel,nicht Ursache, sondern Folge einer Fehlgeburt ist(Smith, 1948). Karnaky et al. experimentierten be-reits 1941 erstmals mit der Verabreichung sehrhoher Dosen DES (tägliche intramuskuläre Injek-tion von 100 mg in den Gebärmutterhals) anFrauen mit „erhöhtem Fehlgeburtsrisiko“. Sie

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8. DES: LANGZEITFOLGEN PRÄNATALER EXPOSITION

hielten das Medikament für wirksam und erklär-ten, es gebe keine negativen Folgen für Mutteroder Fötus (Karnaky, 1942). Die Verwendung vonDES zur Prävention von Fehlgeburten wurdeauch durch die Arbeit von Olive und GeorgeSmith unterstützt, die in den vierziger Jahren ei-ne Reihe von (unkontrollierten) Studien zur DES-Verabreichung während der Schwangerschaftdurchführten und zahlreiche Berichte über dieWirksamkeit der Substanz publizierten (Smith,1948; Smith et al., 1946).

Paradoxerweise spekulierte ausgerechnetCharles Dodds – jener Wissenschaftler, der DESerstmals synthetisierte und dafür sogar geadeltwurde – Jahre später über die mangelhafte Prü-fung neuer Arzneimittel zur damaligen Zeit.Beim Rückblick auf die Geschichte von Stilboe-strol (ein anderer häufig verwendeter Name fürDES) bemängelte er die Unterlassung jeglicherLangzeit-Toxizitätstests für dieses synthetischeÖstrogen (Dodds et al., 1938) und stellte fest:„Ich glaube, wir müssen sehr dankbar dafürsein, dass es (DES) sich als derart ungiftige Sub-stanz erwiesen hat.“ (Dodds, 1965) Die Langzeit-folgen von DES hatte man zu dem Zeitpunkt, alsDodds dies schrieb, bedauerlicherweise nochnicht erkannt.

8.3. Tragische Folgen

Die ersten Berichte über die Erhöhung des Krebs-risikos durch DES bei Labortieren stammen be-reits aus dem Jahr 1938 (Lacassagne, 1938; Ge-schickter, 1939; Shimkin und Grady, 1941; Greeneund Brewer, 1941). Seitdem wurde durch zahlrei-che Forschungsarbeiten die Steigerung der Inzi-denz von Krebserkrankungen der Milchdrüsen,des Gebärmutterhalses und der Vagina bei vielenNagetierarten belegt. Bis 1971 gab es allerdingsnur wenige Beweise dafür, dass die Einnahmevon DES durch Schwangere noch 20 Jahre da-nach zu Krebserkrankungen und Fortpflanzungs-störungen führen kann.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel wirkte dann1971 die von Herbst et al durchgeführte Fallkon-trollstudie , bei der sich als wahrscheinliche Ursa-che für den oft tödlich endenden Vaginalkrebsdie pränatale Exposition gegenüber DES heraus-stellte. Eine wenige Monate später durchgeführtezweite Fallkontrollstudie bestätigte diese Ergeb-nisse (Greenwald et al., 1971).

Diese schockierende Entdeckung löste endlichAlarm aus in Bezug auf die Gefahren der Verab-reichung von DES an Schwangere. Zudem liefer-te sie überzeugende Beweise für die potenziellenRisiken, die die Exposition von Schwangeren ge-genüber Arzneimitteln (und anderen Chemika-lien) für den Fötus birgt. Aufgrund dieser Unter-suchungen erklärte die US-amerikanische Arznei-mittelbehörde (FDA) in einem im November1971 veröffentlichten Bulletin die Verabreichungvon DES während der Schwangerschaft für kont-raindiziert (US Department of Health, E. andWelfare, 1971). Tragischerweise wurde DES au-ßerhalb der USA auch nach 1971 weiter anSchwangere verabreicht, in manchen Ländernsogar noch viele Jahre lang (Direcks und t’Hoen,1986). Die genaue Anzahl der mit DES behandel-ten Frauen ist nicht bekannt, doch Schätzungender amerikanischen National Institutes of Healthzufolge lag die Zahl der DES-geschädigtenSchwangeren allein in den Vereinigten Staatenbei etwa 4,8 Millionen. Weltweit wird die Ge-samtzahl der exponierten Menschen (Mütter undKinder) auf etwa 10 Millionen geschätzt (sieheKasten 8.1.).

Spätere Untersuchungen, darunter auch dieLangzeitbeobachtung einer großen KohorteDES-exponierter Frauen (DESAD-Kohorte – Ab-kürzung für DES-Adenosis), ergaben bei den„DES-Töchtern“ eine Vielzahl unterschiedlicherAbnormitäten im Fortpflanzungstrakt. Dazugehörten sowohl epitheliale Veränderungen(wie Vaginaladenosen) als auch strukturelleVeränderungen wie Zervikalstenosen (Veren-gungen des Muttermundes) und Missbildungender Gebärmutter. Anders als das bei den DES-exponierten Frauen extrem selten auftretendeklarzellige Adenokarzinom der Vagina warendiese Abnormitäten vor allem bei den Frauensehr häufig, deren Mütter DES während derFrühschwangerschaft eingenommen hatten.Diese Veränderungen, von denen zumindesteinige bereits vor der Geburt vorhanden waren(Johnson et al., 1979), hatten schwer wiegendeFolgen für die Fortpflanzungsfähigkeit der Be-troffenen. Das Risiko von Schwangerschaftsstö-rungen wie ektopen Schwangerschaften (Ein-nistung des Embryos außerhalb des Uterus),spontanen Aborten und Frühgeburten war sig-nifikant erhöht. (Swan, 1992). „DES-Söhne“ wur-den zwar wesentlich seltener untersucht, dochauch bei ihnen zeigte sich ein erhöhtes Vor-kommen genitaler Abnormitäten (Goldbergund Falcone, 1999).

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8.4. Unwirksamkeit bei der Prävention von Fehlgeburten

Nach den ersten Behauptungen über die Wirk-samkeit von DES bei der Prävention von Fehlge-burten folgten weitere Studien mit sehr gemisch-ten Ergebnissen. Je strenger die zugrundegeleg-ten Kriterien, desto weniger sprachen die Unter-suchungsergebnisse für die Verabreichung vonDES. Anfang der fünfziger Jahre wurden schließ-lich zwei randomisierte Placebo-kontrollierte Stu-dien durchgeführt. Die umfangreichere vonDieckmann et al. (1953) ergab bei den negativenSchwangerschaftsausgängen keinen statistischsignifikanten Unterschied zwischen der DES- undder Placebogabe. Die Autoren gelangten (genauwie die der kleineren Studie) zu dem Schluss,dass DES bei der Prävention von Fehlgeburtenund anderen Komplikationen in der spätenSchwangerschaft unwirksam ist. Ungeachtet des-sen wurde das Medikament auch weiterhin ver-schrieben, und zwar selbst bei Frauen ohne vor-herige Schwangerschaftsprobleme. In einer Wer-beanzeige für eines der DES-Kongenere (DesPlex)hieß es „Empfohlen für die routinemäßige Pro-phylaxe bei allen Schwangerschaften“.

Im Jahr 1978, als die langfristigen karzinogenenund teratogenen Effekte von DES bereits bekanntwaren, wurde eine weitere Analyse von Dieck-manns Datenmaterial publiziert (Brackbill undBerendes, 1978). Die Autoren fanden heraus, dassDES das Risiko für die Störungen, die es verhin-dern sollte, sogar noch erhöhte. Die bei dieserAnalyse verwendeten Methoden waren keines-wegs neu, sondern bereits 1953 verfügbar gewe-sen. Die Autoren verwiesen darauf, dass eine kor-rekte Datenanalyse im Jahr 1953 fast 20 Jahre un-nötiger DES-Exposition hätte verhindern können.Die Tatsache, dass dieses Medikament auch nachdem zweifelsfreien Nachweis seiner Unwirksam-keit noch zwei Jahrzehnte lang verschrieben wur-de, macht deutlich, dass hier ein massives Versa-gen des Systems vorliegt.

Letztlich wurde die Vermarktung von DES fürdie Behandlung von Schwangeren nicht wegenmangelnder Wirksamkeit gestoppt, sondern nurdurch einen glücklichen Zufall. Wären die sie-ben von Herbst und seinen Mitarbeitern erkann-ten Krebsfälle nicht alle im Massachusetts Gene-ral Hospital aufgetreten (wo DES sehr häufig ver-wendet worden war, da Olive und George Smithdort ihre frühen DES-Experimente durchgeführthatten), sondern in verschiedenen medizini-

schen Einrichtungen, so hätte man die mit die-sem Medikament verbundenen Gefahren wo-möglich gar nicht erkannt. Die durch DES beijungen Frauen ausgelöste Krebserkrankung (va-ginales klarzelliges Adenokarzinom) ist extremselten. Schätzungen zufolge sind weniger als einPromille der DES-exponierten Töchter daran er-krankt (Melnick et al., 1987). In dem von Herbsteingerichteten Zentralregister für junge Patien-tinnen mit vaginalem Adenokarzinom wurdenweltweit weniger als 800 Fälle verzeichnet. DieseKrebserkrankung und ihre Verbindung zu DEShätte also durchaus auch unerkannt bleibenkönnen. Dann wären wohl auch die DES-indu-zierten Veränderungen des Genitaltrakts, diesich nur mit einer speziellen DES-Untersuchungdiagnostizieren lassen, sowie die vielfältigenAuswirkungen von DES auf das Fortpflanzungs-system niemals erkannt worden.

8.5. Das Ausmaß des Schadens

Das jugendliche Alter der betroffenen Frauen ver-stärkte die Notwendigkeit der Früherkennungdes vaginalen klarzelligen Adenokarzinoms. DieIdentifizierung der exponierten Population waraußerordentlich wichtig, damit durch Screeningund Früherkennung der tödliche Ausgang derKrankheit vermieden werden konnte. Zur Daten-sammlung über diesen seltenen Krebstyp richte-ten Herbst und seine Mitarbeiter 1972 das „Regis-ter für klarzellige Adenokarzinome im Genital-trakt bei jungen Frauen“ ein (Herbst et al., 1972).Nachdem mehrere Screening-Studien an DES-Ko-horten ergeben hatten, dass DES auch weit rei-chende nicht-karzinogene Veränderungen imweiblichen Genitaltrakt hervorruft, stellte das US-amerikanische National Cancer Institute 1976 füreine Langzeitbeobachtung eine Kohorte aus über3 000 DES-exponierten Frauen und fast 1 000nicht exponierten Kontrollpersonen zusammen.Diese DESAD-Kohorte war für die Ermittlung desGesamtspektrums der negativen Folgen der DES-Exposition von unschätzbarem Wert. Bedauerli-cherweise wurde nie eine vergleichbare Kohortevon „DES-Söhnen“ gebildet.

Die genaue Zahl der in utero DES-exponiertenMenschen ist unbekannt, Schätzungen reichenvon zwei bis zehn Millionen (siehe Kasten 8.1). Ei-ne von der Europäischen Kommission finanzier-te, 1991 publizierte Studie (Direcks et al., 1991)enthält eine Einschätzung der Prävalenz DES-ge-

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schädigter Frauen in Europa. In 18 Ländern wur-de mit Hilfe von Fragebögen eine entsprechendeErhebung durchgeführt. Danach wurde DES amhäufigsten in Großbritannien, Frankreich und inden Niederlanden verschrieben, gefolgt von Bel-gien, Irland, Portugal und Spanien. Die Untersu-chung endet mit der Schlussfolgerung, dass DESin allen untersuchten Ländern mit Ausnahmevon Schweden und Ungarn in mehr oder wenigergroßem Umfang an Schwangere verabreicht wor-den war.

Das Thema DES ist noch lange nicht abgeschlos-sen. Die jüngsten in utero exponierten Frauensind oft noch keine 30 Jahre alt. Die bekanntenFolgen werden mit zunehmendem Alter dieser

Kohorte weiter auftreten. Außerdem muss die Be-obachtung der Kohorte auch fortgeführt werden,um bislang noch unbekannte Folgen zu erken-nen, wie zum Beispiel ein erhöhtes Krebsrisikoim höheren Alter. Die experimentelle Forschungam Tiermodell kann bei der Beantwortung man-cher Fragen zur zukünftigen Entwicklung hilf-reich sein. So scheinen Mäuse ein gutes Modellzu sein, um die Folgen einer DES-Exposition wäh-rend der Embryonalentwicklung zu untersuchen(McLachlan, 1993). Entsprechende Studien an äl-teren Mäusen könnten die Langzeitstudien anden oben genannten Kohorten in Bezug auf dieVorhersage der mit zunehmendem Alter auftre-tenden Auswirkungen einer DES-Exposition beimMenschen sinnvoll ergänzen.

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➔ KASTEN 8.1. VERABREICHUNG VON DES ZUR PRÄVENTION VON FEHLGEBURTEN IN EUROPA UND DEN USA

LandZeitraum der Verschreibung

Ungefähre Zahl der Schwangerschaften

Quelle: Direcks et al., 1991, wenn nicht anders angegeben

Belgien 1950–1965

Tschechoslowakei 1958–1976 63 000

Frankreich 1950–1977200 00060 000–240 000

Pons et al., 1988Direcks et al., 1991

Deutschland 1977 200 000

Irland 1950–1976 Wingfield, 1992

Italien – 1960 (?)

Niederlande 1947–1975 189 000–378 000 Hanselaar et al., 1991

Norwegen 1948–1972 Palmlund et al., 1993

Portugal 1960–1970

Spanien1953–1977 (1983?)

25 000 Garcia-Alonso et al., 1988

Vereinigtes Königreich

1940–1971 (1973?)

7 000–8 000 Kinlen et al., 1974

USA 1943–1971 2–6 MillionenGoldberg und Falcone, 1999

Quelle: EUA

Welche Folgen ergeben sich für die Nachkom-men der DES-exponierten Frauen? Von großemInteresse ist ein Monitoring der Enkel. Studien anMäusen zeigten eine erhöhte Anfälligkeit für Tu-morbildung in der dritten Generation (Newboldet al., 1998), was auch bei den DES-Enkeln ein er-höhtes Krebsrisiko befürchten lässt (Miller, 1999).Eine Antwort auf diese Frage wird noch viele Jah-ren auf sich warten lassen.

8.6. Lehren aus dem Fall DES

Nun stellt sich die Frage, wie man diese tragi-schen Ereignisse hätten verhindern können undwelche Lehren daraus zu ziehen sind. Zum einenzeigt das Beispiel DES, dass die Verabreichungvon Hormonen schreckliche Langzeitfolgen undversteckte Auswirkungen haben kann (wie wirbereits von Thalidomid und anderen Chemika-lien wissen). Demnach ist äußerste Vorsicht gebo-ten, wenn Schwangere, besonders während derFetalentwicklung, Substanzen ausgesetzt werden,die das endokrine System beeinflussen können.Das Beispiel DES zeigt zudem, dass das Fehlen un-mittelbarer, sichtbarer teratogener Auswirkungennoch kein hinreichender Beweis dafür ist, dasskeine Reproduktionstoxizität vorliegt. DES istnicht nur das erste transplazentale Karzinogenbeim Menschen, sondern auch das deutlichsteBeispiel für die Induzierung von Hormonstörun-gen im menschlichen Organismus. Auch wenndie den Schwangeren verabreichten DES-Dosenviel höher waren als die übliche Umweltbelas-tung durch synthetische Chemikalien, ist der FallDES doch eine eindeutige Warnung vor den Kon-sequenzen von Eingriffen in das endokrine Sys-tem durch künstlich hergestellte Substanzen.

Welche Vorsorgemaßnahmen hätten die Verab-reichung von DES an Schwangere verhindernkönnen? Zunächst einmal wurden keinerlei Lang-zeit-Toxizitätstests durchgeführt. DES ist ein syn-thetisches Östrogen, und das Krebs erregende Po-tenzial der Östrogene war bereits in der Anfangs-phase der experimentellen Verabreichung vonDES bekannt (Cook und Dodds, 1933). Zudem gabes bereits Berichte über negative Auswirkungenvon DES bei Tieren (Shimkin und Grady, 1941;Gardner, 1959; Dunn und Green, 1963), die aberweitgehend ignoriert wurden. Bekannt war auchdie grundsätzliche Fähigkeit von Chemikalien,die „Plazentabarriere“ zu überwinden. Auch ersteHinweise auf negative Folgen einer Östrogen-Ex-

position während der Entwicklungsphase lagenbereits vor (Greene et al., 1939), und Karnaky be-obachtete in seinen ersten Experimenten mit DESeine Verdunklung der Areolae (Vorhof um dieBrustwarzen) und der Linea alba (Linie zwischenSchambein und Bauchnabel) bei DES-exponiertenNeugeborenen, die dessen östrogene Wirkungbei weiblichen Nachkommen anzeigt (Karnaky,1945). Auch diese Beweise blieben weitgehendunbeachtet, obwohl in der Fachliteratur gelegent-lich Ansätze zur genauen Beschreibung der Risi-ken zu finden sind. So äußerte zum Beispiel dervon der Wirksamkeit von DES überzeugte ArztBernard Laplan 1948 Bedenken hinsichtlich mög-licher Langzeiteffekte: „Vor dem Hintergrund dervon Greene, Burrill und Ivy durchgeführten Tier-versuche sind gewisse latente Folgen einer hoch-dosierten Östrogentherapie für das reproduktiveund endokrine System des Kindes nicht auszu-schließen. Im Übrigen würden wir diese Therapiebei allen Patientinnen vermeiden, die in ihrer Fa-milienanamnese Fälle von Krebserkrankungenaufweisen“ (Laplan, 1948).

Zum Zweiten hätte man bereits bei den Tests vorder Markteinführung des Präparats die fehlendeWirksamkeit von DES bei der Prävention vonFehlgeburten erkennen können. Die bei den kli-nischen Tests in den Jahren 1951-1952 verwende-ten Methoden, die dies zweifelsfrei belegten, hät-ten auch schon vor 1947 zur Verfügung gestan-den, als DES ohne hinreichenden Nachweis sei-ner Wirksamkeit zur Behandlung von Schwange-ren auf den Markt gebracht wurde. Mit einer kor-rekt durchgeführten und ausgewerteten klini-schen Studie hätte der ganze Vorfall verhindertwerden können.

DES war nicht patentgeschützt und äußerst kos-tengünstig herzustellen und damit ein extrem ge-winnträchtiges Produkt. Dies trug, zusammenmit dem Fehlen eindeutiger akuter toxischerWirkungen, zu seiner raschen weltweiten Ver-breitung bei. Gefördert wurde diese Entwicklungzweifellos auch durch zwei in der Zeit nach demZweiten Weltkrieg vorherrschende Einstellungen:ein großes Vertrauen in die Fortschritte der Wis-senschaft und den Glauben an die vom Men-schen gefundenen Lösungen für die Problemeder Natur. Die DES-Befürworter waren sicher vonder Ungefährlichkeit und Wirksamkeit des Medi-kaments überzeugt und hielten es für „eine mo-derne wissenschaftliche Errungenschaft“. Beson-ders beliebt war die DES-Therapie in den Nieder-landen, was zum Teil auf die Unterstützung des

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königlichen Leibgynäkologen zurückzuführenwar (Brahams, 1988). Somit wurde auf die Ärztestarker Druck ausgeübt, DES zu verschreiben.1952 belegten Robinson und Shettles durch denVergleich mit unbehandelten Kontrollfällen dieUnwirksamkeit von DES und rieten deshalb vonder Verwendung ab. Sie nahmen auch Stellungzu dem Druck, dem die Ärzte aus den eigenenReihen ausgesetzt waren: „Das synthetische Ös-trogen Diethylstilboestrol ist inzwischen zu ei-nem beliebten Präparat zur Verhinderung einerdrohenden Fehlgeburt geworden. In Publikums-zeitschriften wurden die Vorzüge dieses Medika-ments derart häufig angepriesen, dass man jetztals Arzt schon viel Mut besitzen muss, um dieVerschreibung abzulehnen. Auch die große Zahlpharmazeutischer Fachpublikationen, in denendie Wunderwirkung dieses Präparats gerühmtwird, macht die praktischen Ärzte zugänglicherfür die Ansprüche ihrer Patientinnen. Dies undder verständliche Wunsch, eine gefährdeteSchwangerschaft zu retten, hat zur weiten Ver-breitung der DES-Therapie bei drohendem Abortgeführt.“ (Robinson und Shettles, 1952)

Auch der Einfluss der pharmazeutischen Indus-trie, einer weiteren wichtigen Interessengruppe,auf die Verwendung von DES sollte näher be-leuchtet werden. Pharmavertreter und Werbungpriesen das Präparat Ärzten und Konsumentenwegen seiner Wirksamkeit und Sicherheit an. DiePharmaindustrie ignorierte die mangelnde Wirk-samkeit ihres Produkts und unterließ Untersu-chungen zu möglichen negativen Folgen für dieGesundheit. Manche Hersteller bezeichneten esgar als Allheilmittel für jede Schwangerschaft.

Das Bestreben der pharmazeutischen Industrie,dieses profitable Produkt zu verkaufen, traf mitdem Versagen der medizinischen Kontrollinstan-zen und der Regulierungsbehörden zusammen,die nicht rasch genug auf entsprechende Hin-weise reagierten. Während die US-Arzneimittel-behörde nur wenige Monate nach Herbsts Veröf-fentlichung im Jahr 1971 die Verabreichung vonDES während der Schwangerschaft verbot (USDepartment of Health, Education and Welfare,1971), dauerte es in Europa zwölf Jahre, bis dasMedikament endgültig vom Markt genommenwurde. Erst 1974 empfahl das niederländischeGesundheitsministerium, DES nicht mehr anSchwangere zu verschreiben (Palmlund et al.,1993). In Frankreich wurde erst 1977 vorge-schrieben, in der Packungsbeilage die Kontrain-dikation Schwangerschaft anzugeben (Epelboin

und Bulwa, 1993). In manchen Ländern, zumBeispiel in Spanien, wurde Berichten zufolge DESnoch bis 1983 verwendet (Direcks et al., 1991).Und die Entwicklungsländer waren noch vieleJahre lang ein offener Markt für DES. Noch 1985wurden in Brasilien, Costa Rica, Kenia, Mexiko,Peru, Ruanda und Zaire DES-Produkte anSchwangere verabreicht. In Mexiko, Uganda undPolen wurden sie noch zu Beginn der neunzigerJahre während der Schwangerschaft verschrie-ben (Palmlund, 1996).

Noch Jahre nach der breiten Veröffentlichungder Hinweise auf negative Auswirkungen wurdeDES für eine ganze Reihe therapeutischer Zweckeeingesetzt, u.a. auch zur post-koitalen Empfäng-nisverhütung. Da DES aber kein hundertprozenti-ges Mittel zur Beendigung einer Schwangerschaftist, war auch hier der Einsatz einer für den Fötuspotenziell karzinogenen Chemikalie unzulässig.1973 riet die FDA von der Verabreichung vonDES als Kontrazeptivum ab und beschränkte sieauf Notsituationen wie Vergewaltigung oder In-zest (Mills, 1974). Die Verwendung von DES alsWachstumsförderer (siehe Kapitel 9 über Antibio-tika als Wachstumsförderer) begann in den fünf-ziger Jahren und wurde nach einer hitzigen De-batte 1979 beendet. Nach und nach ging der Ein-satz von DES auch in anderen therapeutischenBereichen zurück, und im Frühjahr 1997 stellteschließlich Eli Lilly, der letzte und führende DES-Hersteller in den Vereinigten Staaten, die Produk-tion ein (Pat Cody, persönliche Mitteilung).

In den meisten Schlüsselbereichen der Arznei-mittelbewertung wurden seit 1970 bedeutendeFortschritte erzielt, was nicht zuletzt auf die Fol-gen der Verabreichung von DES und Thalidomidzurückzuführen ist. Auch das Fachgebiet Terato-logie enstand erst aufgrund dieser Ereignisse.Die Toxizitätstests sind wesentlich umfassenderund gründlicher geworden. Heute müssen stich-haltige Beweise für die Wirksamkeit eines Medi-kaments vorliegen, ehe es vermarktet werdendarf. Zudem nehmen die RegulierungsbehördenBerichte über unerwünschte Nebenwirkungenheute wesentlich rascher zur Kenntnis, und siesind auch eher bereit, darauf zu reagieren, als inden sechziger und siebziger Jahren. Und den-noch gibt es noch immer einige Besorgnis erre-gende Missstände:

➔ bei Medikamenten, die bereits vor den stren-geren heutigen Vorschriften auf dem Marktwaren, ist eine angemessene Beurteilung der

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Wirksamkeit und Toxizität nicht immer ge-währleistet;

➔ Monitoring und Überwachung von Patienten,die Medikamente einnehmen, erfolgen wederdurchgängig noch umfassend. Zudem ist esschwierig, den Zusammenhang zwischen ei-nem Medikament und einem Krankheitsaus-gang nachzuweisen, der sich verzögert bzw.gehäuft auftritt;

➔ die Anwendung formalisierter Risiko/Nutzen-Analysen bei neuen Medikamenten (und an-deren Chemikalien) erfolgt nicht in der wün-schenswerten Breite;

➔ die Arzneimittelaufsicht (und die Bewertungvon Gesundheitsrisiken durch andere Chemi-kalien) sollte sich nicht auf die Erkennungdeutlicher Missbildungen und Krebserkran-kungen beschränken; eine derart begrenzteÜberwachung hätte wohl die meisten negati-ven Auswirkungen von DES nicht erkannt.

Im Nachhinein ist klar, dass man die Bedenkender Wissenschaftler gegen die Vermarktung ei-nes Medikaments mit bekanntem karzinogenenPotenzial hätte beachten müssen. Das Versagenin diesem Punkt spiegelt sowohl die vorherr-schende Haltung gegenüber Gesundheitsrisikenals auch das Fehlen vorsorglichen Denkens wi-der. Das Ausbleiben einer umgehenden Reakti-on der Hersteller und Kontrollbehörden, als1971 der Beweis dafür erbracht wurde, dass DESbeim Menschen als transplazentales Karzinogenwirkt, lässt sich nicht ohne weiteres entschuldi-gen. Selbst als sich die tragischen Folgen desEinsatzes von DES während der Schwanger-schaft bestätigten, wurde den wirtschaftlichenInteressen weiter Vorrang eingeräumt und ersteinmal abgewartet.

Wer heute über vorsorgliches Handeln nach-denkt, sollte den Fall DES nicht vergessen. Die

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 8.1. DES: FRÜHE WARNUNGEN UND ERFOLGTE REAKTIONEN

1938 DES erstmals synthetisiert

1938 Erster Bericht über erhöhte Krebsinzidenz bei Tieren nach Verabreichung von DES

1939 Erster Bericht über DES-Verabreichung an Menschen

1942 Genehmigung von DES durch den American Council of Pharmacy and Chemistry

1942 Erster Bericht über DES-Verabreichung zur Prävention von Fehlgeburten

1947 US Food and Drug Administration (FDA) genehmigt DES zur Behandlung drohender bzw. habitueller Fehlgeburten

1948 Verstärkte Verwendung von DES nach der Veröffentlichung einer breit angelegten Studie in den USA

1953Erste randomisierte Placebo-kontrollierte Studie belegt die Unwirksamkeit von DES bei der Prävention vonFehlgeburten

1970 Berichte über sieben Fälle von klarzelligem Adenokarzinom der Vagina bei jungen Frauen veröffentlicht

April 1971 Pränatale DES-Exposition wird mit klarzelligem Adenokarzinom der Vagina in Verbindung gebracht

November 1971 FDA zieht die Genehmigung zur Verabreichung von DES an Schwangere zurück

1972 Erstellung eines Registers von jungen Patientinnen mit klarzelligem Adenokarzinom im Genitaltrakt

1978Erneute Analyse der von Diekmann 1953 ermittelten Daten zeigt, dass DES das Risiko für Fehlgeburten bzw. einenpathologischen Schwangerschaftsausgang sogar erhöht

1985 Letzte dokumentierte Verabreichung von DES an Schwangere weltweit

karzinogene Wirkung dieses Medikaments beiTieren war bekannt, und beim Menschen wurdedieselbe Wirkung angenommen. Außerdem warnachgewiesen, dass es bei den Nachkommen ex-ponierter Schwangerer beobachtbare Verände-rungen hervorrief. Selbst wenn 1947 die Ver-marktung von DES vielleicht noch gerechtfertigtwar, weil nicht genügend Beweise für seine ne-gative Wirkung vorlagen, so hätte doch 1953 derNachweis ihrer Unwirksamkeit zu einer erneutenRisiko-Nutzen-Analyse und zum sofortigen Ver-bot führen müssen. Wenn jeder Nutzen fehlte,gab es keinerlei Rechtfertigung mehr dafür, Pa-tientinnen einem karzinogenen Risiko auszuset-zen. Wäre die Verabreichung von DES anSchwangere damals eingestellt worden, so hättedie unnötige und tragische Exposition von Mil-lionen von Müttern, Söhnen und Töchtern ver-mieden werden können.

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Lars-Erik Edqvist und Knud Børge Pedersen

9.1. Einführung

Antibiotika sind von Mikroorganismen erzeugteSubstanzen, die andere Mikroorganismen hem-men bzw. abtöten. Synthetische antimikrobielleSubstanzen werden als Chemotherapeutika be-zeichnet. Umgangssprachlich wird der Begriff„Antibiotikum“ häufig für jede natürliche oderteilweise bzw. vollständig synthetisch hergestellteSubstanz verwendet, die das Wachstum eines Mi-kroorganismus hemmt oder ihn abtötet.

Die Ära der antimikrobiellen Wirkstoffe begann1910 mit der Einführung von „Salvarsan“ zur The-rapie der Syphilis und setzte sich in den dreißigerJahren mit der ersten klinischen Verwendung vonChemotheurapeutika (Sulfonamide) in der Human-medizin fort. Das von Fleming (Fleming, 1929) ent-deckte Antibiotikum Penicillin wurde erst 1941 alsMedikament eingesetzt. Kurz nach seiner Einfüh-rung in der Humanmedizin wurde der Wirkstoffauch in der Veterinärmedizin zur Behandlung ver-schiedener bakterieller Erkrankungen verwendet.

Die Entdeckung der antimikrobiellen Wirkstoffedürfte das wichtigste Ereignis in der Medizinge-schichte überhaupt sein. Zunächst galten dieseSubstanzen als Wundermittel. Durch das Abtötender Erreger einiger der schlimmsten Infektions-krankheiten bei Mensch und Tier haben diese Stof-fe im Laufe der Jahre Millionen von Leben gerettet.

9.1.1. Antibiotika als Wachstumsförderer

Ende der vierziger Jahre entdeckte man diewachstumsfördernden Eigenschaften der antimi-krobiellen Wirkstoffe. Bei Versuchen, in denenGeflügel zur Zufuhr von Vitamin B12 mit Fermen-tationsabfällen aus der Tetracyclin-Herstellunggefüttert wurde, stellte sich heraus, dass dieseTiere schneller wuchsen als die Kontrollgruppen.Bald erkannte man, dass dies nicht auf den Vita-

mingehalt zurückzuführen war, sondern auf dieRestmengen an Tetracyclin (Stokstad und Jukes,1949). Binnen kurzem gehörte in der industriel-len Tierhaltung die Beimischung von Antibiotikain subtherapeutischen Dosen ins Futter zur tägli-chen Praxis. Neben einer Steigerung der Wachs-tumsrate und/oder Verbesserung der Futterver-wertung wird dadurch z. B. bei Legehennen einegesteigerte Eierproduktion, bei Sauen eine Steige-rung der Wurfgröße und bei Milchvieh ein höhe-rer Milchertrag erzielt.

Während Antibiotika als therapeutische Medika-mente zumeist verschreibungspflichtig sind,kann man sie als Wachstumsförderer frei aufdem Markt erwerben. Zweifellos haben sie in denletzten vierzig Jahren viel zur Entwicklung dermodernen Tierproduktion beigetragen. Sie schei-nen Schutz gegen bestimmte Krankheiten zu bie-ten, die im Zusammenhang mit der Intensivie-rung der Tierhaltung auftreten, und sie ermögli-chen eine unphysiologisch frühe Entwöhnungund hohe Bestandsgrößen, was natürlich einigeethische Fragen zur Tierhaltung und zum Wohl-ergehen der Tiere aufwirft.

9.1.2. Entwicklung von Resistenzen

Die meisten antimikrobiellen Wirkstoffe, die imÜbrigen schon lange vor der Entdeckung ihrestherapeutischen Nutzens existierten, werden vonMikroorganismen produziert. Sie töten andereMikroorganismen ab und bilden damit dieGrundlage für das eigene Überleben und Fortbe-stehen. Wenn Bakterien antimikrobiellen Wirk-stoffen ausgesetzt werden, entwickeln sie ihrer-seits Überlebensstrategien, zum Beispiel Resisten-zen. Ausgehend von der klassischen Vorstellung,dass die Fittesten überleben, dürfte es kaum ver-wundern, dass Resistenzen gegen antimikrobielleWirkstoffe wahrscheinlich schon genauso langeexistieren wie Bakterien.

Erste Bedenken im Zusammenhang mit Penicil-lin-Resistenz wurden quasi zeitgleich mit der Ein-

106

9. ANTIBIOTIKA ALS WACHSTUMSFÖRDERER — RESISTENZ GEGEN DEN GESUNDEN MENSCHENVERSTAND

führung des Medikaments zu Beginn der vierzi-ger Jahre geäußert. Der Entdecker der SubstanzAlexander Fleming warnte in einem Interview inder New York Times (1945), der Missbrauch vonPenicillin könne dazu führen, dass „die Mikrobenlernen, dem Penicillin zu widerstehen“. Schon da-mals waren bei verschiedenen wichtigen Bakte-rien, die infektiöse Krankheiten hervorrufen, Re-sistenzen festgestellt worden. Zu Beginn der fünf-ziger Jahre war das Problem der Resistenz gegenantimikrobielle Mittel in der einschlägigen medi-zinischen, veterinärmedizinischen und pharma-zeutischen Fachpresse allgemein bekannt.

Ursprünglich hatte man vermutet, Bakterienkönnten nur durch eine Mutation vorhandenerGene Resistenzeigenschaften erwerben, was be-deuten würde, dass sich die Resistenzeigenschaftund somit auch die Verbreitung der Resistenz aufden mutierten Klon beschränke (vertikale Über-tragung). In den sechziger Jahren wurde nachge-wiesen, dass sich Resistenzen nicht nur durchMutation, sondern auch durch die Aufnahmevon Genen bilden können. In diesem Fall kannsich das Resistenzmerkmal auch auf andere Bak-terienklone übertragen und auf andere Bakte-rienarten und sogar auf andere Gattungen (hori-zontale Übertragung) ausbreiten (siehe z. B. Ama-bile-Cuevas und Chicurel, 1992).

9.2. Die ersten Frühwarnungen

9.2.1. Das Swann-Komitee

Mitte der sechziger Jahre führte die wachsendeBesorgnis über lebensmittelbedingte Infektionenmit Salmonellen, die gegen die gängigen Arznei-mittel resistent waren, in Großbritannien dazu,dass die Regierung 1968 ein unabhängiges Bera-tungskomitee unter Leitung von Professor Micha-el Swann damit beauftragte, die Problematik derübertragbaren antimikrobiellen Resistenz sowiedie Folgen der Verwendung antimikrobiellerWirkstoffe als Wachstumsförderer und in der Ve-terinärmedizin für die Gesundheit von Menschund Tier zu untersuchen. Das Swann-Komiteekam in seinem Abschlussbericht (Swann, 1969) zudem Ergebnis, die vorliegenden Daten lieferten„hinreichenden Grund für die Einleitung vonMaßnahmen“; die wichtigste Empfehlung zurFrage der Verwendung antimikrobieller Wirkstof-fe als Wachstumsförderer war, „Genehmigungenzur Ausgabe und Verwendung von nicht-ver-

schreibungspflichtigen Antibiotika zur Beimi-schung in Futtermittel auf diejenigen Mittel zubeschränken, die:

➔ für die Tierproduktion unter den landwirt-schaftlichen Gegebenheiten des VereinigtenKönigreichs von wirtschaftlichem Nutzensind;

➔ nicht oder nur in geringem Umfang als thera-peutische Wirkstoffe bei Menschen oder Tie-ren Verwendung finden;

➔ nicht durch die Entwicklung resistenter Erre-gerstämme die therapeutische Wirksamkeitverschriebener Antibiotika beeinträchtigen.“

Darüber hinaus sprach das Komitee Empfehlun-gen zu bestimmten Medikamenten aus; so solltez. B. „für Tylosin als ‘Futter’-Antibiotikum die Ver-schreibungspflicht eingeführt werden.“

Zu den Empfehlungen des Swann-Reports gehör-te auch die Einrichtumg eines ständigen Aus-schusses „mit umfassender Zuständigkeit für denGesamtbereich Antibiotika und verwandte Wirk-stoffe, unabhängig davon, ob ihre Verwendungbeim Menschen, beim Tier, zur Konservierungvon Nahrungsmitteln oder zu anderen Zweckenerfolgt.“

9.3. Reaktionen

9.3.1. Umsetzung und Verwässerung des Swann-Reports

Dass den im Swann-Report ausgeprochenenEmpfehlungen keine absolute wissenschaftlicheGewissheit zugrunde lag, löste im VereinigtenKönigreich eine heftige Debatte und Forderun-gen nach weiteren Untersuchungen aus. Dochtrotz erheblichen Widerstands der pharmazeuti-schen Industrie und der Landwirte wurden diemeisten Empfehlungen im Vereinigten König-reich und später auch in der Europäischen Uni-on angenommen.

Allerdings wurden sie durch die nachfolgendenbritischen Regierungen immer weiter verwässert.So erfolgte keine vollständige Umsetzung desVorschlags, einen Ausschuss einzurichten, der fürden gesamten Komplex der Verwendung antimi-krobieller Wirkstoffe zuständig und mit weit rei-chenden Befugnissen ausgestattet war. Auch wur-den keine epidemiologischen Studien zur Über-

107

wachung der Entwicklung von Antibiotikaresis-tenzen durchgeführt.

Entgegen den Empfehlungen des Swann-Komi-tees wurden 1975 die Makrolide Tylosin undSpiramycin in der EU als Wachstumsförderer zu-gelassen. Dies ist wahrscheinlich einer derHauptgründe für die weit verbreitete Makrolid-resistenz z. B. von Enterokokken und Campylo-bacter bei Schweinen. Gleichfalls entgegen derEmpfehlung des Ausschusses wurde die Verwen-dung von Avoparcin als Wachstumsförderer aufandere Spezies wie ausgewachsene Rinder aus-gedehnt und ab Mitte der siebziger Jahre immerüblicher – etwa zur gleichen Zeit, als das ent-sprechende therapeutische Präparat Vancomy-cin immer häufiger in Krankenhäusern zumEinsatz kam.

Eines der wissenschaftlichen Argumente zuguns-ten der Verwendung von Antibiotika zur Wachs-tumsförderung lautete, die niedrige Dosierungstelle einen Sonderfall bei der Selektion von Re-sistenzen dar. So erklärte Walton (1988): „Deshalbkann der Einsatz von Antibiotika in subletalenbzw. nicht-inhibitorischen Konzentrationen inder Praxis nicht zur Selektion resistenter Stämmeeiner Bakterienpopulation führen; in dieser Hin-sicht sind die Schlussfolgerungen und Empfeh-lungen des Swann-Reports falsch.“ Neuere Studi-en haben diesen Standpunkt (von Walton u.a.)widerlegt, und vor kurzem wurden Avoparcin,Virginiamycin und Tylosin verboten.

Die gesetzlichen Bestimmungen über den Einsatzvon Antibiotika zu Therapie und Prophylaxe so-wie als Wachstumsförderer differieren weltweitganz erheblich. In einigen Ländern wie z.B. denUSA können der Tiernahrung als Prophylaxe undzur Wachstumsförderung geringe Dosen Tetra-cyclin und Penicillin rezeptfrei beigemischt wer-den, während der Einsatz von Antibiotika zutherapeutischen Zwecken meist verschreibungs-pflichtig ist.

9.3.2. Verbot in Schweden

Wie in anderen Länder verfolgten auch in Schwe-den einige Wissenschaftler die Praxis der routi-nemäßigen Beimengung von Antibiotika in dieTiernahrung mit Skepsis. Die Empfehlungen desSwann-Komitees an die britische Regierung führ-ten auch hier zu einer breiten Diskussion undschließlich zur Neubewertung der Verwendung

antimikrobieller Mittel als Zusatzstoffe im Tierfut-ter (LBS, 1977).

Eine Arbeitsgruppe des Landwirtschaftsministeri-ums kam u.a. zu dem Schluss, dass „der Einsatzvon Antibiotika als Futterzusatz zwar das Risikoeiner erhöhten Resistenz von Bakterien birgt; dajedoch diese Stoffe vorwiegend gegen grampositi-ve Bakterien wirken, bei denen keine Resistenz-übertragung stattfindet, sind die Auswirkungendieser Entwicklung zu vernachlässigen.“ Zugleichstellte die Arbeitsgruppe eine negative Einstel-lung der Verbraucher gegenüber allen Arten vonZusatzstoffen fest. Auch der Nutzen der Antibioti-ka (Produktionssteigerung, Verhütung bestimm-ter Krankheiten) wurde zur Kenntnis genommen(LBS, 1977). Um die potenziellen Risiken abzumil-dern, wurden Gesetzesänderungen insbesonderebei den Zulassungsbedingungen vorgeschlagen.

Gleichzeitig wurden die Landwirte immer skepti-scher gegenüber der Verwendung antimikrobiel-ler Zusatzstoffe in der Tierernährung. Sie fürchte-ten damit das Vertrauen der Verbraucher zu er-schüttern. Der schwedische Bauernverband (LRF)erklärte, man setze sich für eine restriktivere undkontrolliertere Verwendung von Antibiotika ein.1984 forderte der LRF in einem Schreiben an dasLandwirtschaftsministerium ein Verbot von Anti-biotika als Futterzusatz.

Daraufhin reichte das Landwirtschaftsministeri-um einen Vorschlag für ein neues Futtermittelge-setz ein (Gesetzesvorlage 1984/85). Dieser sah u.a.die Beschränkung des Einsatzes antimikrobiellerWirkstoffe in der Tierernährung auf die Behand-lung, Verhütung oder Heilung bestimmter Er-krankungen vor – also ein Verbot ihrer Verwen-dung als Wachstumsförderer. Begründet wurdedie Änderung mit dem Risiko erhöhter Resistenz-bildung, insbesondere mit dem Risiko von Kreuz-resistenzen gegen andere Substanzen und demRisiko der Anfälligkeit der Tiere für Salmonelloseund andere enterische Pathogene. Zudem beton-te die Regierung, es herrsche „Ungewissheit überdie langfristigen Auswirkungen der Dauerver-wendung von Futtermitteln, denen Chemothera-peutika beigemischt sind“ (Gesetzesvorlage1984/85).

Das neue Futtermittelgesetz wurde im November1985 vom Parlament verabschiedet und trat imJanuar 1986 in Kraft. Seitdem dürfen antimikro-bielle Mittel, sei es als Zusatzstoffe im Tierfutteroder in anderer Verabreichungsform, nur zu the-

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rapeutischen Zwecken und nur auf tierärztlicheVerschreibung hin verwendet werden. Infolgedessen sank der Gesamtverbrauch dieser Wirk-stoffe von ca. 50 Tonnen im Jahr 1985 auf ca. 20Tonnen im Jahr 1996 (SOU, 1997).

Im Zuge der Beitrittsverhandlungen zur EU wur-de Schweden eine zeitweilige Abweichung vomgeltenden Gemeinschaftsrecht zur Verwendungvon Antibiotika als Wachstumsförderer in Futter-mitteln gewährt. Zur Untermauerung des schwe-dischen Standpunktes richtete der Landwirt-schaftsminister eine Kommission ein, die mit derErhebung und Prüfung entsprechender wissen-schaftlicher Daten beauftragt wurde. 1997 legtedie Kommission ihren Bericht vor, in dem sie u.a.anmerkt, dass „antimikrobielle Zusatzstoffe inden für Tierfutter zugelassenen Konzentrationenzur Behandlung oder Prävention von Tierkrank-heiten verwendet werden können, was gegen dieRichtlinie des Rates 70/524/EWG verstößt“ (SOU,1997). Nach dieser Richtlinie mit Änderungendurch die Richtlinie 96/51/EG (Artikel 3d) wirddie Zulassung für einen Zusatzstoff gewährt, so-fern angesichts seines zulässigen Gehalts eine Be-handlung von Tierkrankheiten oder Präventionnicht damit verbunden ist.

Die schwedische Kommission gelangte zu demSchluss, dass „das Risiko einer verstärkten Resis-tenzbildung im Zusammenhang mit der Verwen-dung von Antibiotika als Wachstumsförderer kei-neswegs vernachlässigt werden kann und die po-tenziellen Folgen für die Gesundheit von Menschund Tier gravierend sind.“ (SOU, 1997).

Wegen der Komplexität des Problems und desMangels an relevanten Daten lässt sich der Um-fang des Risikos nur schwer bestimmen. Im Be-richt der schwedischen Kommission wurden diein einer 17-stufigen Kausalkette durchzuführen-den Forschungsarbeiten skizziert und der dazuerforderliche Mindestzeitaufwand auf 5–10 Jahregeschätzt. Jedes einzelne Resistenzgen und jedeantimikrobielle Substanz sollte separat unter-sucht werden, mit anschließender Aktualisierungder Risikoabschätzung.

Sodann wurde in dem Bericht die Frage gestellt,wer die Kosten zu tragen habe, die durch dasWarten auf weitere Forschungsarbeiten bzw. fürdie schließlich ergriffenen Maßnahmen zur Be-schränkung antimikrobieller Wirkstoffe entste-hen – der Verursacher des Risikos oder die davonBetroffenen. Abschließend stellte die Kommission

nachdrücklich fest: „Da die Größenordnung derentstehenden Risiken ungewiss ist, sind alle Ent-scheidungen zum Risikomanagement höchst pro-blematisch. Natürlich kann man weder jedes Risi-ko mit Sicherheit ausschliessen noch das vorhan-dene Risiko als hinnehmbar einstufen. Wissen-schaftler können durchaus erklären, die vorlie-genden Informationen reichten nicht aus, umEntscheidungen zu treffen, aber Politiker, die kei-ne Maßnahmen ergreifen, nehmen damit keines-wegs eine neutrale Position ein, sondern ent-scheiden sich für das Nichtstun. In einem vonUnsicherheit gekennzeichneten Klima sollte manbesser Vorsicht walten lassen.“ (SOU, 1997)

9.3.3. Das Verbot von Avoparcin

Im März 1995, als die ersten Informationen überavoparcin- und vancomycinresistente Entero-kokken bei Schweinen und Geflügel verbreitetwurden (Klare et al., 1995; Bates et al., 1994;Aarestrup, 1995), einigte sich der Verband derdänischen Landwirte mit der Futtermittelindus-trie auf einen freiwilligen Verzicht auf die Zuga-be von Avoparcin zum Tierfutter, um die Verbrei-tung antimikrobieller Resistenzen zu verhindern.Dieser Maßnahme folgte am 20. Mai 1995 einVerbot der Substanz durch die Regierung, vondem die Europäische Kommission gemäß derSchutzklausel der Richtline des Rates70/524/EWG in Kenntnis gesetzt wurde. Gemäßdieser Schutzklausel kann ein Mitgliedstaat dieGenehmigung für die Verwendung eines Zusatz-stoffes vorläufig aussetzen, wenn er infolge neuerDaten feststellt, dass dieser Zusatzstoff eine Ge-fahr für die tierische oder menschliche Gesund-heit darstellt.

Grundlage für das dänische Verbot war der wis-senschaftliche Nachweis, dass:

➔ Kreuzresistenz zwischen Avoparcin und Van-comycin vorliegt;

➔ die Resistenz übertragbar ist;➔ die Verwendung von Avoparcin als Wachs-

tumsförderer zur Selektion vancomycinresis-tenter Enterokokken führt, die wiederum überdie Nahrungskette auf den Menschen übertra-gen werden können (DVL, 1995).

In Norwegen wurde die Verwendung von Avopar-cin im Juni 1995 ausgesetzt, in Deutschland er-ließ die Regierung im Januar 1996 ein entspre-chendes Verbot.

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Im Mai 1996 gelangte der Wissenschaftliche Fut-termittelausschuss der EU zu dem Schluss, zumNachweis eines Risikos für die Gesundheit vonMensch und Tier oder für die Umwelt durch dieVerwendung von Avoparcin seien weitere Unter-suchungen erforderlich. Der Ausschuss nahmaber die schwer wiegenden Bedenken zur Sicher-heit von Avoparcin zur Kenntnis und stellte fest,dass der Einsatz der Substanz als Zusatzstoff imTierfutter umgehend zu überprüfen sei, wenn dieÜbertragbarkeit der Resistenz vom Tier zum Men-schen nachgewiesen werde. Die EuropäischeKommission regte jedoch angesichts der Unwäg-barkeiten und zur Vermeidung eventueller Risi-ken ein vorübergehendes Verbot von Avoparcinals Futtermittelzusatz in allen Mitgliedstaaten derEU an. Im Dezember des gleichen Jahres stimmteder Ständige Futtermittelausschuss diesem Vor-schlag mit qualifizierter Mehrheit zu, und am1. April 1997 trat das Verbot in Kraft.

9.3.4. Dänisches Verbot von Virginiamycin

Aufgrund des Risikos der Selektion streptogra-minresistenter Enterokokken bei Schweinen undGeflügel (Aarestrup et al., 1998) verhängte die dä-nische Regierung am 16. Januar 1998 ein umfas-sendes Verbot des Einsatzes von Virginiamycinals Wachstumsförderer in Dänemark. DieserSchritt sollte zum einen der Gesundheit des Men-schen und zum anderen der Sicherung der Le-bensdauer von Synercid dienen, das damals kli-nisch erprobt wurde und mittlerweile zur Be-handlung bestimmter multiresistenter Erregerbeim Menschen zugelassen ist.

9.3.5. EU widerruft Zulassung von vier antimikrobiellen Wachstumsförderern

Am 14. Dezember 1998 einigten sich die Land-wirtschaftsminister der EU-Mitgliedstaaten aufden Vorschlag, die Zulassung von Zink-Bacitracin,Spiramycin, Virginiamycin und Tylosinphosphatmit Wirkung ab Juli 1999 zu widerrufen. Zur Be-gründung hieß es: „Das Verbot ist als vorsorgli-che Schutzmaßnahme gedacht, um das Risikoder Entwicklung resistenter Bakterien zu reduzie-ren und die Wirksamkeit bestimmter Antibiotikafür die Humanmedizin zu erhalten.“ Die Pharma-Industrie protestierte dagegen und forderte wei-tere wissenschaftliche Beweise für die Risiken imZusammenhang mit dem Einsatz antimikrobiel-ler Wachstumsförderer, und der Hersteller von

Virginiamycin klagte vor dem Europäischen Ge-richtshof auf Annullierung der ganzen Verord-nung. Mit einem Urteil wurde nicht vor Ende2001 gerechnet.

9.3.6. Avilamycin

Avilamycin ist das jüngste Beispiel für ein auf derEU-Liste der zugelassenen Produkte stehendes anti-mikrobielles Mittel zur Wachstumsförderung, dasKreuzresistenz mit einem potenziellen Mittel fürdie Humanmedizin (Everninomycin) aufweist (Aa-restrup, 1998). Die Hersteller von Everninomycinhaben das Präparat jedoch vor kurzem weltweitaus den klinischen Versuchsreihen zurückgezogen.

9.3.7. Wissenschaftliche Berichte und Empfehlungen

1997 veranstaltete die Weltgesundheitsorganisati-on WHO ein wissenschaftliches Symposium zuden medizinischen Auswirkungen der Verwen-dung von Antibiotika in der Tierernährung. DerSachverständigenausschuss gelangte zu demSchluss, dass „der Umfang der Auswirkungen an-timikrobieller Wirkstoffe in der Tierernährungauf die Medizin und die öffentliche Gesundheitnicht bekannt ist“ (WHO, 1997). In seinen Emp-fehlungen heißt es: „Wachsende Besorgnis überdie Gefahren für die Gesundheit der Bevölke-rung, die aus der Verwendung antimikrobiellerWachstumsfördermittel entstehen, lasse es ange-zeigt erscheinen, in einem systematischen Ansatzwachstumsfördernde antimikrobielle Wirkstoffedurch sicherere, nicht antimikrobiell wirkendeAlternativen zu ersetzen.“

Auch auf der von der dänischen Regierung 1998in Kopenhagen veranstalteten EU-Einladungskon-ferenz zum Thema „Mikrobengefahr“ gelangteman zu ähnlichen Schlussfolgerungen: „Die meis-ten der Konferenzteilnehmer erachten den Ein-satz antimikrobieller Mittel zur Wachstumsförde-rung als nicht gerechtfertigt und vertreten denStandpunkt, dass ein systematischer Ersatz wachs-tumsfördernder antimikrobieller Mittel durch si-cherere, nicht antimikrobiell wirkende Alternati-ven sowie eine Verbesserung der landwirtschaftli-chen Methoden angezeigt ist.“ (KopenhagenerEmpfehlungen, 1998)

An dieser von den staatlichen Gesundheitsäm-tern der EU-Mitgliedstaaten organisierten Konfe-

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renz nahmen Mitarbeiter der für Human- undTiermedizin zuständigen Behörden und Wissen-schaftler aus beiden Bereichen sowie Vertreterlandwirtschaftlicher Organisationen, der Pharma-und der Tierfuttermittel-Industrie teil.

Aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Aus-wirkungen der rapide zunehmenden Entwick-lung antimikrobieller Resistenzen auf die Ge-sundheit von Mensch und Tier ersuchte die Eu-ropäische Kommission (GD XXIV) den Wissen-schaftlichen Lenkungsausschuss um die Evaluie-rung der aktuellen Lage im Hinblick auf die Prä-valenz und Entwicklung antimikrobieller Resis-tenzen sowie um die Untersuchung der Auswir-kungen auf die Gesundheit von Mensch undTier unter besonderer Berücksichtigung der Ent-wicklung von Infektionen und des Umgangs mitihnen. In seiner Stellungnahme (1999) gelangteder Ausschuss zu dem Schluss, dass „zügigeMaßnahmen zur ausgewogenen Reduzierungder Verwendung antimikrobieller Mittel insämtlichen Bereichen – Human- und Veterinär-medizin, tierische Produktion und Pflanzen-schutz – notwendig“ seien (SSC, 1999). Im Zu-sammenhang mit Antibiotika als Wachstunsför-derer empfahl der Ausschuss, „die Verwendungvon Wirkstoffen, die zu den in der Human-und/oder Veterinärmedizin verwendeten Klas-sen gehören, so rasch wie möglich einzustellen.“

In ihrer vor kurzem erschienenen Veröffentli-chung „Global Principles for the Containment ofAntimicrobial Resistance due to AntimicrobialUse in Animals Intended for Food“ empfiehlt dieWHO mangels ausreichender Studien zur Risiko-bewertung den schnellstmöglichen Verzicht aufden Einsatz antimikrobieller Wachstumsfördereraus den Klassen, die in der Humanmedizin ver-wendet werden bzw. deren Zulassung zur Ver-wendung beantragt wurde (WHO, 2000).

9.4. Vor- und Nachteile des Einsatzesvon Wachstumsförderern

Seit antimikrobielle Wirkstoffe als Wachstumsför-derer verwendet werden, hat man immer wiederihre Vorzüge als Mittel zur Verbesserung der Tier-produktion und zur Steigerung der Produktivitätins Feld geführt. Den potenziellen Nebenwirkun-gen wird weitaus weniger Gewicht beigemessen,und die Zahl der unabhängigen wissenschaftli-chen Studien ist im Vergleich zu den von der

Pharma-Industrie unterstützten Studien und Kon-gressbeiträgen eher bescheiden.

Erst in jüngster Zeit, seit ein Zusammenhang zwi-schen dem Auftreten vancomycinresistenter Ente-rokokken bei Tieren und der Verwendung vonAvoparcin als Tierfutterzusatz festgestellt und diepotenziellen Auswirkungen für die menschlicheGesundheit erkannt wurden, steigt die Zahl derunabhängigen Untersuchungen sprunghaft an.

In den letzten Jahren häufen sich die wissen-schaftlichen Hinweise auf einen Zusammenhangzwischen dem Einsatz von Wachstumsförderernin der Tierernährung und den Problemen derAntibiotikaresistenz beim Menschen. Am über-zeugendsten wurde dies bei vancomycinresisten-ten Enterokokken nachgewiesen.

Zwar hat der verbreitete Einsatz dieser Wirkstoffein der Humanmedizin für die zunehmende Anti-biotikaresistenz des Menschen zweifellos größereBedeutung, doch heißt das nicht, dass die poten-ziellen Risiken der Verwendung dieser Substan-zen im Tierfutter für die menschliche Gesundheiteinfach ignoriert werden können. Die standard-mäßige Beimengung ins Tierfutter ist eine derHauptursachen für den übermäßigen Einsatzbzw. Missbrauch antimikrobieller Wirkstoffe inder Tierhaltung.

Aus der gegenwärtig geführten Diskussion, derenEnde noch nicht abzusehen ist, wird deutlich,dass die Verwendung antimikrobieller Wirkstoffeals Futtermittelzusatz ein komplexes Thema ist,mit Folgen nicht nur für die Gesundheit vonMensch und Tier, sondern auch generell für dasWohlergehen der Tiere und die Lebensmittelsi-cherheit, für Umwelt und Produktionssysteme,Fütterungspraktiken und Management. Tabelle9.1 enthält eine Auflistung einiger positiver undnegativer Auswirkungen der antimikrobiellenWachstumsförderer.

9.5. Schlussfolgerungen und Lehren für die Zukunft

Die ersten Warnungen des Swann-Komitees vordem Risiko der Verbreitung antimikrobieller Re-sistenzen unter Tieren und vom Tier zum Men-schen erfolgten auf der Grundlage relativ weni-ger wissenschaftlicher Beweise, aber einer kom-petenten mikrobiologischen Bewertung, die die

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möglichen negativen Folgen des dauerhaften Ein-satzes therapeutischer antimikrobieller Wirkstof-fe in der Tierernährung bereits vorhersah. DieEmpfehlungen hatten zweifellos Vorsorgecharak-ter, auch wenn der Begriff Vorsorge im Berichtdes Komitees nicht auftaucht.

Die anschließend – vor allem in den neunzigerJahren – durchgeführten wissenschaftlichen For-schungen belegen, dass sich die Übertragbarkeitder Resistenz nicht auf bestimmte (gramnegative)Bakterien beschränkt, sondern im mikrobiologi-schen Universum gang und gäbe ist, und dass einGentransfer nicht nur zwischen eng verwandtenBakterienarten, sondern auch zwischen unter-schiedlichen Gattungen erfolgen kann. Diese Er-gebnisse bestätigen zum einen die präzise Daten-evaluierung des Swann-Reports und zum ande-ren dessen Weitblick bei der Abschätzung zu-künftiger Entwicklungen.

Die spätere Verwässerung der Schlussfolgerun-gen und die Kompromisse bei der Umsetzungder Empfehlungen erfolgte vor allem anhandder mit hundertprozentiger Gewissheit bekann-ten Fakten, während dem Unbekannten, denvorhandenen Wissenslücken und den möglichenFolgen der Entwicklung umfassender antimikro-bieller Resistenzen in keiner Weise Rechnunggetragen wurde. Wir brauchen also einen wis-senschaftlichen Ansatz, der komplexen Zusam-menhängen, Ungewissheiten und unbekanntenVariablen mit mehr Bescheidenheit und wenigerHybris entgegentritt.

Weiter ist anzumerken, dass sich wissenschaftli-che Ausschüsse, die mit der Auswertung vertrau-licher Informationen aus der Industrie betrautsind, aus unabhängigen, mit den aktuellen Ent-wicklungen vertrauten Experten aller Disziplinenzusammensetzen sollten, die bei der Bewertung

112

Quelle: L-E. Edqvist und K. B. Pedersen

➔ TABELLE 9.1. POSITIVE UND NEGATIVE AUSWIRKUNGEN ANTIMIKROBIELLER WACHSTUMSFÖRDERERIN BESTIMMTEN MIT DER TIERPRODUKTION ZUSAMMENHÄNGENDEN BEREICHEN

Bereich positive Auswirkung negative Auswirkung

TiergesundheitMöglichkeit der teilweisen Kontrollebestimmter, vorwiegend enterischerErkrankungen

Einschränkung der Behandlungsmöglichkeiten durchHerausbildung antimikrobieller Resistenzen; Verschleierungsubklinischer Erkrankungen und Infektionen; Einschränkung der Anreize für Verbesserungen im Hygienebereich

menschliche Gesundheit keine

Übertragung von Resistenzen auf den Menschen, dadurchAnstieg der Gesundheitskosten; Verkürzung der ökonomischenLebensdauer therapeutischer antimikrobieller Wirkstoffe;Gefährdung am Arbeitsplatz durch Staub und Aerosole, die mit antimikrobiellen Wirkstoffen versetzt sind

Wohlbefinden der TiereLinderung und Abmilderung vonKrankheitssymptomen

Verschleierung von Stressymptomen im Zusammenhang mit sub-klinischen Erkankungen; Möglichkeit höherer Bestandsgrößen

Umweltbessere Nutzung des Tierfutters,weniger Dung

Erhöhung des Reservoirs von Resistenzgenen in der Umwelt;Antibiotika-Rückstände

TierhaltungAusweitung der Produktion,Verbesserung der Produktivität

Förderung einer weiteren Intensivierung der Tierproduktion

Produktionssystemgeringerer Arbeitskräftebedarf durchintensivere Produktionsmethoden

Behinderung der Entwicklung tiergerechter Produktionssysteme

Tierernährung keineVerschleierung schlechter Futtermittelqualität; Behinderung derFormulierung besserer Futtermittel und der Entwicklung vonAlternativen

der in Rede stehenden Risiken, Nutzen und tech-nischen Möglichkeiten eine Rolle spielen. Im vor-liegenden Fall wären vor allem Fachkenntnisseaus dem Bereich der Humanmedizin für die Be-wertung der verschiedenen Risiken von großemWert gewesen.

Die Erfahrungen dieser Fallstudie zeigen, dass ei-ne Risikobewertung einen viel umfassenderenAnsatz erfordert, der die positiven und die nega-

tiven Auswirkungen, die langfristigen mikrobio-logischen und ökologischen Auswirkungen aufdie Gesundheit von Menschen und Tieren undauf die Umwelt sowie nicht zuletzt alternativeOptionen wie die Verbesserung der Tierhaltungangemessen berücksichtigt (siehe Tabelle 9.1.).

Da das Ausmaß der möglichen Gefahren weitge-hend unbekannt ist, stellt das Risikomanage-ment ein besonderes Problem dar. Natürlich

113

Quelle: EUA

➔ TABELLE 9.2. ANTIMIKROBIELLE WIRKSTOFFE: FRÜHE WARNUNGEN UND ERFOLGTE REAKTIONEN

1945Warnung Alexander Flemings vor dem Missbrauch von Penicillin, da „Mikroben lernen, der Substanz zu widerstehen“

fünfziger Jahre Antibiotika-Resistenz wird allgemein anerkannt — vertikale Übertragung

sechziger Jahre Horizontale Übertragung wird anerkannt

1969 Swann-Komitee empfiehlt strenge Auflagen für antimikrobielle Wirkstoffe in der Tierernährung

siebziger Jahre anfängliche Umsetzung der meisten Empfehlungen des Swann-Komitees im Vereinigten Königreich und in der EU

1975Verwässerung der Empfehlungen des Swann-Komitees: Zulassung von Tylosin und Spiramycin als Wachstums-förderer, Vancomicyn wird gebräuchlich

1977schwedische Landwirtschaftsbehörde kommt nach Prüfung des potenziellen Risikos der Entwicklung vonAntibiotika-Resistenzen zu dem Schluss, es sei vernachlässigbar

1984schwedische Landwirte fordern wegen gesundheitlicher Bedenken und aus Rücksicht auf Ängste derVerbraucher ein Verbot antimikrobieller Mittel in der Tierernährung

1985 schwedisches Verbot wegen Antibiotika-Resistenz bei Tieren und „unwägbarer“ langfristiger Auswirkungen

1997schwedischer Bericht gelangt zu dem Schluss, das Risiko der Entwicklung von Antibiotikaresistenzen beimMenschen sei „keineswegs zu vernachlässigen“

1997WHO-Sachverständigenausschuss hält den „Ersatz wachstumsfördernder Antibiotika durch sicherere, nichtantimikrobiell wirkende Alternativen für angezeigt“

1998Widerruf der Zulassung antimikrobieller Mittel in der Tierernährung durch die EU als „vorsorglicheSchutzmaßnahme“

1999Wissenschaftlicher Lenkungsausschuss der EU empfiehlt, die Verwendung von antimikrobiellen Wirkstoffen, die zuden in der Human- und/oder Veterinärmedizin verwendeten Klassen gehören, so rasch wie möglich einzustellen

1999Die Pharmaindustrie widersetzt sich den EU-Verboten und erhebt Klage vor dem Europäischen Gerichtshof;Urteilsverkündung steht Ende 2001 noch aus

2000Die WHO empfiehlt ein Verbot antimikrobieller Wachstumsförderer, wenn diese zu therapeutischen Zweckenbeim Mensch eingesetzt werden und keine Risikoanalysen vorliegen

kann man weder jedes Risiko mit Sicherheit aus-schliessen noch das vorhandene Risiko als hin-nehmbar einstufen. In einem von Unsicherheitgekennzeichneten Klima sollte man besser Vor-sicht walten lassen. Gerade in einer Situation, inder das Warten auf die letzte wissenschaftlicheGewissheit inakzeptabel, unmenschlich und un-ethisch wäre und sogar Todesopfer fordernkönnte, müssen Entscheidungen auf dem Vor-sorgeprinzip gründen.

Eine weitere eindeutige Lehre dieser Fallstudielautet, dass die Beteiligten selbst (z. B. die Land-wirte und ihre Verbände) im Vorgriff auf gesetz-geberische Maßnahmen freiwillig auf den Einsatzvon Produkten verzichten können, denen die Ver-braucher mit Besorgnis und Misstrauen begeg-nen. In diesem Falle hat die Geschichte den Be-teiligten und auch dem Swann-Komitee im Nach-hinein Recht gegeben. Auf der Suche nach letzterwissenschaftlichlicher Gewissheit sollte man auchden gesunden Menschenverstand nicht außerAcht lassen und stichhaltigen wissenschaftlichenBeweisen für zu erwartende Auswirkungen ange-messen Rechnung tragen.

9.6. Literatur

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Arne Semb

Im Dezember 1952 senkte sich dichter Smog –ein Gemisch aus Nebel und Kohlenrauch – überLondon. Den Aufzeichnungen der örtlichen Kran-kenhäuser zufolge starben innerhalb einer Wo-che mehr als 2 000 Menschen an den Folgen derLuftverschmutzung. Entsprechend stark war derDruck, dass sich dies nicht wiederholen dürfe.Doch die Londoner Smogkatastrophe von 1952war durchaus kein Einzelfall (Brimblecombe,1987; Ashby, 1981). Es hatte dort schon schlimme-re Smog-Zustände gegeben, die Luftqualität inLondon wurde – genau wie in anderen Städtendes Vereinigten Königreichs – besser und nichtschlechter. Neu war nur die politische und sozialeLage nach dem Krieg. Die Bevölkerung war ein-fach nicht mehr bereit, sich noch länger mit derSituation abzufinden. Zudem wurde dieser Vorfallgut dokumentiert, und zwar sowohl in Bezug aufdie gesundheitlichen Folgen als auch auf die Luft-qualität. Die von Wissenschaftlern des St. Bartho-lomew’s Hospital durchgeführten Messungen er-gaben für Rauchpartikel und Schwefeldioxid Kon-zentrationen in Höhe von mehreren Milligrammpro Kubikmeter. Ein parlamentarischer Ausschusserstellte einen Sonderbericht, der nach dem Vor-sitzenden Sir Hugh Beaver benannt wurde.

Die Autoren des Beaver Report konnten nur rechtbescheidene Maßnahmen vorschlagen. Londonwar völlig von Kohle als Wärme- und Energielie-ferant abhängig, und Kohle enthält Schwefel, dersich vor der Verbrennung nur teilweise entfernenlässt. So bezog sich auch das Luftreinhaltungsge-setz nur auf die Rauchbestandteile der Luftver-schmutzung. Es ermöglichte den jeweiligen Stadt-räten die Einrichtung „rauchfreier Zonen“, in de-nen die problematischen Kohleheizungen in denPrivathaushalten durch effizientere, mit Stromoder anderen „rauchfreien Brennstoffen“ betrie-bene Heizungsanlagen ersetzt werden mussten.Alle anderen Emissionsquellen sollten „so weitwie möglich“ rauchfrei sein. Eine Revision des Al-kali-Gesetzes im Jahr 1958 versah die zuständigeAufsichtsbehörde mit mehr Befugnissen gegen-

über industriellen Luftverschmutzern, spezifizier-te allerdings keine Emissionsgrenzen oder Stan-dards. Das entscheidende Kriterium war die„Durchführbarkeit der Maßnahmen“. In der Pra-xis bedeutete dies, dass die wichtigste Methodezur Reduzierung der Schwefeldioxid-Konzentra-tionen (SO2) am Boden die Errichtung hoherSchornsteine (je nach emittierter Schadstoffmen-ge) war. Diese Schritte gingen zwar in die richti-ge Richtung, aber nur langsam. Eine zweiteSmogkatastrophe im Jahr 1962, die etwa 800 wei-tere Todesopfer forderte, verdeutlichte den drin-genden Handlungsbedarf.

Nach 1950 gab es reichlich Öl aus dem Nahen Os-ten, das in den nachfolgenden 20 Jahren diewichtigste Energiequelle für Westeuropa werdensollte (Mylona, 1996). Wegen des damals nochrecht primitiven Raffinationsverfahrens bestandein Großteil der Produktion aus Schwer- oderRückstandsöl mit einem Schwefelgehalt von 2,5–3 %. Gasöle mit weniger als 1 % Schwefel wurdenauch als Heizöl für kleine Kessel und an Privat-haushalte verkauft. Mit Schweröl wurden in vie-len Ländern Europas – vor allem in denjenigenohne eigene Kohlevorkommen, aber auch inGroßbritannien – die neuen zur Stromerzeugungerrichteten Kraftwerke betrieben. Zudem dientees als Brennstoff für die Kessel der Zentralheizun-gen großer Gebäudekomplexe, Krankenhäuserund anderer Dienstleistungsgebäude sowie in derIndustrie. Mit dem in den sechziger Jahren auf-kommenden Umweltbewusstsein wuchs jedoch inallen europäischen Städten die Besorgnis überdie Qualität der Luft, und bald wurden die ersteneinschränkenden Bestimmungen zur Verwen-dung bestimmter Heizölqualitäten und zu ihremSchwefelgehalt erlassen. In einigen Städten wa-ren durchaus mit den Londoner Werten ver-gleichbare Ruß- und SO2-Konzentrationen gemes-sen worden, allerdings lag die Ursache dort inder unvollständigen Verbrennung schwefelhalti-ger Heizöle.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung (OECD) richtete gegen

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10. SCHWEFELDIOXID: VOM SCHUTZ DER MENSCHLICHEN LUNGE BIS ZUR WIEDERHERSTELLUNG ENTLEGENER SEEN

Ende der sechziger Jahre in Europa eine Umwelt-abteilung ein, und nach 1971 kamen die Mit-gliedstaaten in einer Arbeitsgruppe zur Luftrein-haltung zusammen, um über gemeinsame Pro-bleme und Erfahrungen zu diskutieren. Diese Ar-beitsgruppe befasste sich mit der Luftverschmut-zung in den Städten, dem sauren Regen und derBildung von Fotooxidantien und leistete einennützlichen Beitrag zur Lösung dieser Probleme.

ie Festlegung von Luftqualitätsstandards bzw. ent-sprechenden Richtlinien war besonders für diePlanung von Industrieansiedlungen und die Ge-nehmigung von Verbrennungsanlagen von gro-ßer Bedeutung. Feste Grenzwerte, deren Einfüh-rung in Europa vor allem unter dem Einfluss desUS-amerikanischen Luftreinhaltungsgesetzes(Clean Air Act, United States of America, 1970) er-folgte, wurden zunächst nur widerwillig akzep-tiert. Professor Lawther vom St. Bartholomew’sHospital hatte aber bereits anhand der Todesfällewährend der Londoner Smogkatastrophe festge-stellt (WHO, 1972), dass oberhalb einer Konzen-tration von 500 Mikrogramm SO2 bzw. 250 Mi-krogramm Ruß pro Kubikmeter stets Gesund-heitsschäden auftreten (Mylona, 1996). Da dieSchadstoffkonzentration in der Luft sehr starkvon den Wetterbedingungen abhängt, müssenLuftqualitätsstandards, die die Bevölkerung vorgefährlicher Exposition schützen sollen, erheb-lich niedriger festgesetzt werden. Bislang warendie einzelnen Länder bei der Festlegung von Luft-qualitätsstandards und insbesondere bei ihrerDurchsetzung mithilfe von Emissionskontrollenunterschiedlich vorgegangen. Die Weltgesund-heitsorganisation (WHO) hat jedoch alle verfüg-baren Dokumentationen über die gesundheitli-chen Folgen der Luftverschmutzung gesammeltund gibt auf ihrer Grundlage seit 1979 Empfeh-lungen für Luftqualitätsleitlinien heraus, diebeim Kampf um die Reduzierung der Luftver-schmutzung in Europa als fester Maßstab gelten.(WHO, 1979 und 1987).

10.1. Tote Fische, sterbende Wälder

Der steigende Energiekonsum in Europa wäh-rend der sechziger Jahre führte zu einer deutli-chen Erhöhung der SO2-Emissionen. Ein Großteildes Energieverbrauches erfolgte in Form vonelektrischem Strom, der in großen Wärmekraft-werken produziert wurde, wobei SO2 aus über100 m hohen Schornsteinen in die Luft freige-

setzt wurde. Diese auch in Industrieanlagen undin vielen Städten praktizierte Strategie der hohenSchornsteine führte trotz steigender Emissionenzu einer verbesserten Luftqualität in Bodenhöhe.Optimistische Vertreter der stromerzeugenden In-dustrie waren zuversichtlich, dass sich die Emis-sionen so verteilen und bis auf unschädlicheWerte verdünnen ließen.

Das traf nicht zu. Während man im VereinigtenKönigreich und in anderen europäischen Län-dern bestrebt war, die Luftqualität in den Städtenzu verbessern, stiegen der Energieverbrauch unddie Gesamtemission von Schwefeldioxid inEuropa dramatisch an. Der schwedische Boden-kundler Hans Egnér hatte, unterstützt von demMeteorologen C. G. Rossby, bereits mit der Analy-se der chemischen Zusammensetzung von Luftund Niederschlägen in ganz Europa begonnen(Egnér et al., 1955). Ihr Interesse galt vorrangigder Nährstoffversorgung der Pflanzen durch dieNiederschläge und dem Zusammenhang mit denmeteorologischen Verhältnissen. 1968 gelangteeiner ihrer Kollegen bei der Prüfung ihrer Ergeb-nisse zu dem Schluss, dass die Niederschläge alsFolge der steigenden SO2-Emissionen zunehmendsaurer wurden, und stellte eine Verbindung zuBeobachtungen über die Versauerung der schwe-dischen Flüsse her. Svante Odén beschloss, seineErgebnisse nicht nur in Form eines unhandlichenBerichts, sondern mit griffigen Aussagen überdie Auswirkungen garniert auch in der Presse zuveröffentlichen (Odén, 1968 und 1967). Dieschwedische Regierung legte diese Ergebnisse zu-sammen mit Nachweisen zur Dispersion und De-position sowie zu den Auswirkungen von SO2 und„saurem Regen“ auf der UN-Umweltkonferenz1972 in Stockholm als Fallstudie vor (Schweden,1971). Wie beabsichtigt weckte die gelungenePräsentation dieser Daten sofort das Interesse derWeltöffentlichkeit. War es wirklich möglich, dassdie SO2-Einträge in England die Wasserqualität inSkandinavien veränderten und damit zum Fisch-sterben und einer verminderten Waldproduktionbeitrugen? Hier waren natürlich weitere Datenerforderlich.

Schon seit 1969 hatte die OECD-Arbeitsgruppezur Luftreinhaltung Pläne für eine umfangrei-chere Studie zum grenzüberschreitenden Trans-port von Luftschadstoffen in Europa diskutiert.Dies führte 1972 zu einer Kooperationsstudie, ander sich 11 Mitgliedstaaten beteiligten. Von deneuropäischen OECD-Staaten entschieden sichnur Spanien, Portugal und Italien gegen die Teil-

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nahme, da nach ihrer Einschätzung die Thema-tik für sie nicht relevant war. In Absprache mitden nordischen Staaten wurde das NorwegischeInstitut für Luftforschung (NILU) zum Koordina-tor dieses Forschungsprogramms zum weiträu-migen Transport von Luftschadstoffen bestimmt.Der 1977 fertig gestellte Bericht enthielt die Da-ten zum Schadstofftransfer zwischen den euro-päischen Staaten sowie Informationen über dieBeziehung zwischen Emission und Depositionvon Schwefelverbindungen (OECD, 1977). Darausergab sich ein klarer quantitativer Zusammen-hang zwischen der Versauerung der Böden undGewässer in Skandinavien und den Emissionenin mehreren europäischen Staaten. Diese warensomit auch für die Schäden verantwortlich, dieder saure Regen verursachte. 1972 war in Nor-wegen ein ehrgeiziges Forschungsprogrammzum sauren Regen und seinen Auswirkungenauf Wälder und Fischbestände gestartet worden.Ein 1976 fertig gestellter Zwischenbericht ent-hielt Beweise für die weit reichende Versaue-rung der Flüsse und Seen und überzeugendesDatenmaterial zum Rückgang der Forellen- undLachsbestände in den betroffenen Regionen(Braekke, 1976). Zwar wurde das Projekt im Juni1976 einem internationalen Auditorium vorge-stellt, doch der Bericht wurde nicht veröffent-licht (Knabe, 1976; Ambio, 1976). Die vermutetenAuswirkungen auf die Wälder waren allerdingsviel schwieriger nachzuweisen. 1980 wurde dasSNSF-Projekt abgeschlossen (Overrein et al.,1980; Drabløs, 1980).

Ungeachtet der nun vorliegenden erdrückendenwissenschaftlichen Beweise gab es weiter erhebli-che Widerstände gegen Veränderungen. In ei-nem Leitartikel des britischen Wissenschaftsma-gazins Nature (Nature, 1977) hieß es, der saureRegen sei ein Millionen-Dollar-Problem mit einerMilliarden-Dollar-Lösung. Das bezog sich auf denWert der Fische und die Kosten für die Installati-on und den Betrieb von Abgasreinigungsanlagenin Kraftwerken. In seiner Reaktion bestätigte ErikLykke (Lykke, 1977) aus dem norwegischen Um-weltministerium zwar diese Einschätzung, wiesaber auf die Unvollständigkeit der Kosten-Nutzen-Analyse hin. Die Staaten wie das Vereinigte Kö-nigreich, in denen die Emissionen anfallen, müss-ten auch die durch den SO2-Ausstoß verursachtenSchäden im eigenen Land einbeziehen – undzwar sowohl die Schäden an Gebäuden und inder Landwirtschaft als auch die Schädigung dernatürlichen Ökosysteme und der Gesundheit derBevölkerung. Wenn all dieses Berücksichtigung

finde, liege der wirtschaftliche Nutzen einerEmissionsminderung klar auf der Hand. Dies warkeine Streitsache Europa gegen Skandinavien,sondern Europa gegen sich selbst.

Eine neue von der OECD durchgeführte Kosten-Nutzen-Studie (OECD, 1981) bestätigte, dass derwirtschaftliche Wert der verlorenen Fischpopula-tionen gering sei. Auch die Verluste bei der Holz-produktion waren nicht übermäßig hoch. Dage-gen verursachten die Schäden an Gebäuden undBaumaterialien ähnlich hohe Kosten wie eineEmissionsminderung durch Abgasreinigung undBrennstoffentschwefelung.

Letzten Endes würden auch die Ölgesellschaftenvon einer Entschwefelung der Brennstoffe profi-tieren, da mit leichten, schwefelarmen Destillati-onsprodukten höhere Einnahmen erzielt werdenals mit schwerem Heizöl. Die Unternehmen wa-ren sich dessen sehr wohl bewusst und hatten be-reits mit der Umstrukturierung der Raffinations-industrie begonnen, um nun weniger schweresHeizöl und mehr leichte und mittlere Destillatemit einem um 70 % niedrigeren Schwefelgehaltals das Rohöl zu produzieren. Ein Grund für dieseEntwicklung waren auch die nach der Ölkrise1973 angestiegenen Rohölpreise, die den westeu-ropäischen Staaten ins Bewusstsein riefen, wiestark sie bei der Stromproduktion von der Ölver-sorgung abhingen. Dies führte zu einer Umstel-lung der ölbetriebenen Kraftwerke auf Kohle so-wie zum Bau neuer Kohlekraftwerke, währendFrankreich auf die Atomenergie setzte.

Anders war die Situation in Mittel- und Osteuro-pa. In der DDR, der Tschechoslowakei und in Po-len waren die alten, hochwertigen Kohlevorkom-men erschöpft, und die Energie- und Industrie-produktion wurde vor allem mit Hilfe der riesi-gen Vorräte an minderwertiger Kohle mit hohemSchwefelgehalt gesteigert. Die Folgen waren dra-matisch: die SO2-Emissionen stiegen in diesenLändern von 1960 bis 1985 um das Zehnfachean. Damit war der SO2-Ausstoß dieser drei Staatenhöher als der aller übrigen Staaten Nordwesteu-ropas zusammen.

Ohne Beteiligung der Ostblockstaaten war die Be-kämpfung von saurem Regen und SO2-Emissio-nen natürlich unmöglich. In der Zeit des KaltenKrieges waren die politischen Ost-West-Beziehun-gen sehr angespannt und die Gespräche bei der1975 in Helsinki abgehaltenen Konferenz über Si-cherheit und Zusammenarbeit in Europa äußerst

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schwierig. Die beiden Blöcke konnten sich letzt-lich nur in einem einzigen Punkt einigen: demder Zusammenarbeit zur Reduzierung der Luft-schadstoffe. Die beteiligten Länder verständigtensich darauf, dass diese Zusammenarbeit unterder Leitung der in Genf sitzenden UNO-Wirt-schaftskommission für Europa (ECE) sowie unterBeteiligung der Meteorologischen Weltorganisati-on (World Meteorological Organization, WMO)und des Umweltprogramms der Vereinten Natio-nen stattfinden sollte. 1976 wurde ein Programmüber die Zusammenarbeit bei der Messung undBewertung der weiträumigen Übertragung vonluftverunreinigenden Stoffen in Europa (EMEP)ins Leben gerufen, 1979 folgte das Übereinkom-men über weiträumige grenzüberschreitendeLuftverunreinigung (CLRTAP). Mit diesem Über-einkommen bekundeten die Unterzeichner ihrenWillen zur Erforschung des Problems, zum Infor-mationsaustausch über die Emissionen und ihreAuswirkungen sowie zur möglichst weit gehen-den Reduzierung schädlicher Emissionen. Unterdem CLRTAP war zusätzlich zum EMEP die Ein-richtung einer Reihe von Task Forces und Koope-rationsprogrammen vorgesehen, die die Bewer-tung von Informationen für zukünftige Protokoll-verhandlungen vorbereiten sollten.

Mittlerweile war das Waldsterben in Europa einheftig diskutiertes Thema geworden. In Deutsch-land startete das Magazin Der Spiegel auf derGrundlage von Veröffentlichungen einer Gruppevon Forstwissenschaftlern der Universität Göttin-gen (Ulrich et al., 1980) eine ganze Artikelseriezum Problem „neuartige Waldschäden“. Demzu-folge waren Waldschäden in Deutschland weitverbreitet, vor allem entlang der Grenze zur DDRund zur Tschechoslowakei. Am deutlichsten tra-ten sie an freistehenden Bäumen, in den höherenLagen der Mittelgebirge und Alpen und in expo-nierten Kammlagen auf. Die Symptome wareneher unspezifisch und konnten auch als allgemei-ne Stressmerkmale interpretiert werden, obgleichdie Vergilbung der Nadeln an manchen Standor-ten auf einen Magnesiummangel hindeutete.Vertreter unterschiedlicher Denkrichtungen bo-ten mindestens drei verschiedene Erklärungenan, aber keine reichte für eine eindeutige Ursa-che-Wirkungs-Beziehung aus. Sowohl die Boden-versauerung als auch eine direkte Wirkung derLuftschadstoffe wurden als Ursachen genannt.Damit setzte sich ein uralter Meinungsstreit fort,der in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert zu-rückreichte. In der Zwischenzeit tauchten ausBöhmen und Polen Berichte über ein noch dra-

matischeres Waldsterben auf. Im Grenzgebietzwischen der DDR und der Tschechoslowakei warein mehrere Quadratkilometer großes Gebiet vonabgestorbenen Fichtenwäldern überzogen. Heuteweiß man, dass dies die Regionen mit demhöchsten Säuregehalt und der höchsten Konzen-tration an abgelagerten Schwefelverbindungenaus der Luft sind. (Moldan et al., 1992).

In diesem Stadium waren Öffentlichkeit und Pres-se bereits alarmiert. Saurer Regen und tote Fischein entlegenen Seen und Flüssen gab es in Nord-amerika genauso wie in Europa. Bei einer so of-fensichtlichen Gefährdung der Wälder und ande-rer terrestrischer Ökosysteme schien der Ernstder Lage für die Öffentlichkeit klar, auch wennsich die Wissenschaftler über die genauen Me-chanismen uneins waren.

Im März 1983 legte der Rat der Sachverständigenfür Umweltfragen dem Deutschen Bundestag einSondergutachten zum Thema Waldschäden vor(Umweltrat, 1983) vor. Seiner Meinung nach hät-ten in Kohlekraftwerken mit SO2-Emission vonmehr als 400 Milligramm pro Kubikmeter bereitsRauchgasentschwefelungsanlagen installiert seinsollen. Allerdings war der Rat von der wissen-schaftlichen Erklärung der neuartigen Waldschä-den nicht überzeugt und wandte mahnend ein,die Verminderung der SO2-Emissionen werde die-se spezifische Situation möglicherweise gar nichtverbessern. Maßnahmen, die sich allein auf dieseAnnahme stützten, könnten die Glaubwürdigkeitder Umweltpolitik gefährden, wenn sie sich imNachhinein als falsch herausstellten. In den Wor-ten des Sachverständigenrates:

„Soweit die Vorsorgemaßnahmen darauf abzie-len, die Emissionen der in Betracht kommendenSchadstoffe im Rahmen einer langfristig angeleg-ten Strategie und in ausgewogenen Relationen zureduzieren, laufen sie kaum Gefahr, als unver-hältnismäßig eingestuft zu werden. Das gilt auchdann, wenn sich die Immissionslage in Reinluft-gebieten dadurch nur langsam verbessern läßtund positive Einflüsse auf die Vegetation zu-nächst nur vermutet werden können. Ausgewoge-ne Reduzierung der Emissionen bedeutet, daßman von den objektiven Anhaltspunkten ausge-hen muß, die für größere oder geringere Gefähr-dungspotentiale der einzelnen Schadstoffe spre-chen, und daß man das gesamte Spektrum be-sorgnisproportional abbaut, nicht unsystematischoder nur unter dem Einfluß spezifischer Ängstein der Bevölkerung.“

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Da sich ein Großteil der geschädigten Wälder anden Deutschen Außengrenzen befand, bestanddie dringende Notwendigkeit internationaler Ko-operation in der Forschung und bei der Erarbei-tung sinnvoller politischer Maßnahmen.

10.2. Das CLRTAP-Protokoll von 1985 und die Entwicklung danach

Das CLRTAP-Protokoll von 1985, das die Staatenzu einer 30 %igen Verminderung der Schwefel-emissionen verpflichtete, wurde mithilfe des sogenannten 30 %-Clubs durchgesetzt, dem die nor-dischen Staaten, die Niederlande, die Schweiz,Österreich und später auch die BundesrepublikDeutschland angehörten. Zwei Länder, Polen undGroßbritannien, unterzeichneten das Protokollnicht. Ein ziemlich überflüssiges Forschungspro-gramm der britischen Royal Society und der nor-wegischen und schwedischen Forschungsakade-mien gelangte zu der Schlussfolgerung, dass sau-rer Regen tatsächlich zum Fischsterben führt(Mason, 1992). Der Vorsitzende des landesweitenbritischen Netzbetreibers und StromversorgersCentral Electricity Generating Board musste gegen-über dem Premierminister einräumen, dass dievon der norwegischen Regierung vorgebrachtenBeschuldigungen bezüglich der weiträumigenUmweltschäden durch britische Kohlekraftwerkesehr wohl wissenschaftlich fundiert waren.

Mehrere strenge Winter mit langen Hochdruck-perioden und östlichen Luftströmungen überNordeuropa brachten in den achtziger Jahren dieVerschlechterung der Umweltsituation in denOstblockstaaten nur allzu deutlich in Erinnerung.In weiten Teilen Deutschlands, einschließlichWestdeutschlands, wurden Ruß- und SO2-Konzen-trationen gemessen, die weit über den von derWHO in ihren Leitlinien empfohlenen Werten la-gen. (Bruckmann et al., 1986). Diese Erfahrungzeigte erneut, dass hohe Schornsteine allein dieProbleme der Luftverschmutzung nicht lösenkonnten. An die Einwohner Westberlins ergingenWarnungen vor Gesundheitsschäden, die vonden amtlichen Nachrichtenagenturen der DDRschadenfroh kommentiert wurden. Doch dieEmissionsquellen lagen in Ostdeutschland und inden angrenzenden Gebieten Polens und derTschechoslowakei, im so genannten „schwarzenDreieck“. Der Zusammenbruch der kommunisti-schen Regime war in vielerlei Hinsicht eine Folgeder unwirtschaftlichen Entwicklung der energie-

fressenden Schwerindustrie in den betroffenenLändern, und ging zudem mit dem Niedergangdes sowjetischen Imperiums einher, das seine Im-porte stets mit teurem Heizöl und Mineralölpro-dukten bezahlt hatte.

Diese neue Situation begünstigte die Verhandlun-gen über ein Nachfolgeprotokoll zu den Schwefel-emissionen (ECE, 1994). Zudem hatte Deutsch-land zusammen mit einigen anderen Staaten miteinem ehrgeizigen Programm zur Emissionsbe-grenzung begonnen, das die Installation vonRauchgasentschwefelungs- und Denitrifizierungs-anlagen in alten und neuen Kohlekraftwerkenvorsah. Neben den entschwefelten Mineralölpro-dukten war genügend Erdgas aus Russland undder Nordsee verfügbar, um die Kohle und dasschwefelhaltige Heizöl zu ersetzen. Zudem er-möglichten die wissenschaftlichen Erkenntnisseder verschiedenen unter dem CLRTAP eingerich-teten Arbeitsgruppen und Task Forces einen – ge-messen am entstandenen Umweltschaden – kos-teneffizienten Einsatz von Emissionsbegrenzungs-maßnahmen.

Einer der Hauptgründe für die Bemühungen umReduzierung der Schadstoffemissionen war nachwie vor die in vielen Ländern durch wiederholtenationale Erhebungen zur Vitalität der Bäumenachgewiesene Schädigung der Wälder. Wichti-ge Bewertungskriterien waren dabei die Kronen-ausdünnung und die Laubvergilbung. Doch esgab noch immer keine einheitliche Theorie zurUrsache und keine klaren Hinweise auf quantita-tive Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Das Pro-blem musste also aus einem anderen Winkel he-raus in Angriff genommen werden, mit stärkererBerücksichtigung des Vorsorgeprinzips: das Kon-zept der „kritischen Belastung“ kam ins Spiel(Nilsson et al., 1988). Laut Definition ist die kriti-sche Belastung derjenige Expositionsgrad einesSchadstoffes, bei dessen Überschreitung das Öko-system in nicht tolerierbarer Weise verändertwird. Für die Bodenversauerung bedeutet dies,dass sich Schwefel (und Stickstoff) maximal in ei-nem Umfang ablagern dürfen, der durch die Frei-setzung basischer Kationen (wie Kalzium) im Zu-ge der Verwitterung der Bodenmineralien nochausgeglichen wird. Bei Seen und Flüssen mussder Säureeintrag geringer sein als die Menge derausgewaschenen Basenkationen in den jeweili-gen Einzugsgebieten. Die kritische Belastunglässt sich mittels Bodenuntersuchungen und was-serchemischen Analysen des Wassers von Seenermitteln und wurde für ganz Europa bereits flä-

120

chendeckend kartiert (Hettelingh et al., 1991).Diese Daten lieferten eine rationale Grundlagefür die Verhandlungen über das Zweite Schwefel-protokoll von 1994. Da die erhöhten Schwefelde-positionen vor allem in Nordeuropa vorlagenund angesichts des technischen Entwicklungs-standes wurde die Verminderung der Schadstoff-emissionen hauptsächlich in dieser Region gefor-dert. Zudem erwies sich die Einhaltung der stren-gen Anforderungen in Bezug auf die kritische Be-lastung als nahezu unmöglich: bei den Gitterzel-len mit der höchsten relativen Überschreitungder kritischen Belastung ist zunächst nur eine60 %ige Lückenschließung realisierbar.

Diese internationalen Verhandlungen habenauch Auswirkungen auf die Luftqualität in denStädten. Längst ist bekannt, dass die Reduzierungder Luftschadstoffkonzentration in den Städtennicht nur für die Gesundheit der Menschen vonVorteil ist, sondern auch in Bezug auf materielleSchäden. Mittlerweile sind im EU-Recht neuestrenge Grenzwerte für SO2 und andere Luft-schadstoffe verankert, die der Zielsetzung gerin-gerer Emissionen und dem Nutzen einer besse-ren Luftqualität Rechnung tragen (EuropäischeKommission, 1999). Interessant ist allerdings, dassder zum Schutz der Gesundheit des Menschenfestgesetzte Kurzzeit-Grenzwert mit 350 Mikro-gramm pro Kubikmeter und Stunde nicht vielniedriger liegt als die bereits nach den Erfahrun-gen der Smogkatastrophen von London vorge-schlagenen Werte. Für die 24-stündige Expositionwurde ein Grenzwert von 125 Mikrogramm proKubikmeter festgesetzt. Rasche Fortschrittescheint es hier nicht zu geben, denn noch imJahr 1990 wurde dieser Grenzwert für 34 % dereuropäischen Bevölkerung überschritten. (Stan-ner et al., 1995).

Die durch Luftschadstoffe verursachten Schädenan Gebäuden und historischen Denkmälern sindbeträchtlich, besonders am Mauerwerk und anEisenkonstruktionen. Oberhalb einer Konzentrati-on von 10–20 Mikrogramm pro Kubikmeter über-steigt der Schaden deutlich den natürlichen Ab-bauprozess in sauberer Luft (Coote et al., 1991).Durch die Beschädigung der mittelalterlichen Or-namente und anderen Sandsteinverzierungen anGebäuden, von Skulpturen und anderen Kunst-werken sowie von bemalten Glasfenstern entste-hen Kosten, deren Höhe kaum abzuschätzen ist.Eine Reihe von retrospektiven Studien hat ge-zeigt, dass die Kosten für die Verringerung vonSchadstoffemissionen durch geringere Instand-

haltungskosten für die Gebäude und Stahlkon-struktionen in den Städten mehr als wett ge-macht werden.

Mittlerweile wurden die Schwefeldioxid-Emissio-nen über Nordeuropa gegenüber dem Höchstwertvon 1980 um mehr als 50 % reduziert. In denstädtischen Regionen wurden die Konzentratio-nen durch die Verwendung sauberer Brennstoffe,insbesondere von Erdgas, sogar noch weiter he-rabgesetzt. Im Vereinigten Königreich betrug dieReduzierung der durchschnittlichen Schadstoff-konzentrationen in den Städten mehr als 70 %.Ein neues, strengeres CLRTAP-Protokoll (ECE,1994) wird eine weitere Verminderung der SO2-Emissionen bewirken. Dabei rücken zunehmenddie Interaktionen zwischen verschiedenen Schad-stoffen wie Stickoxiden, Ammoniak und flüchti-gen organischen Kohlenwasserstoffen, der kombi-nierte Versauerungseffekt der Schwefel- und Stick-stoffdeposition, die Bildung von Fotooxidantienund schließlich der Eutrophierungseffekt durchden grenzüberschreitenden Transport von Stick-stoffverbindungen ins Zentrum des Interesses.

Bei den sauren Seen und Flüssen ist mittlerweileein langsamer aber stetiger Erholungsprozess er-kennbar (Skjelkvåle et al., 1998). Jüngste For-schungsergebnisse (UN/ECE und EuropäischeKommission, 1997) bestätigen sogar eine verbes-serte Vitalität der Wälder, auch wenn die Bewei-se nicht ganz eindeutig sind. Die Forellen- undLachspopulationen hatten anscheinend – unge-achtet ihrer geringen wirtschaftlichen Bedeutung– eine wichtige erzieherische Funktion, als es da-rum ging, Europa die volle Tragweite der Schad-stoffemissionen bewusst zu machen.

10.3. Späte Lehren

Welche Rolle hat bei alldem die Vorsorge ge-spielt? Gehandelt wurde im Allgemeinen erst beiVorliegen zweifelsfreier Beweise, und alle Akteu-re fühlten sich gezwungen, Maßnahmen mit sol-chen Beweisen zu begründen. Erst mit der Verla-gerung des Problems auf die internationale Ebe-ne konnten entscheidende Veränderungen statt-finden. Den skandinavischen Staaten fiel es rela-tiv leicht, für politisches Handeln zu argumentie-ren, denn alles deutete darauf hin, dass sie dieHauptkosten der Verbrennung fossiler Brennstof-fe in anderen Ländern tragen mussten, aberkaum Nutzen daraus ziehen konnten. Großbritan-

121

nien wiederum war davon überzeugt, durchMaßnahmen zur Reduzierung der weiträumigenÜbertragung von Schwefelemissionen hohe Kos-ten bei geringem Nutzen zu haben. Erst als manbegriff, dass der saure Regen auch vor der eige-nen Haustür Kosten verursachte, änderte sich daspolitische Klima. Die betroffenen osteuropäi-schen Länder konnten sich die notwendigenkurzfristigen Ausgaben einfach nicht leisten, wiesinnvoll die Maßnahmen auch sein mochten. Inden ersten Jahren der Diskussion um erhöhte SO2-Belastung und sauren Regen war von einem vor-sorglichen Ansatz nichts zu spüren. Dies lag vorallem an den mangelnden Kenntnissen der Ent-scheidungsträger über die damit verbundenenProbleme. Die Politik der hohen Schornsteinewar ein deutliches Beispiel für das Widerstrebengegen die Einsicht, dass es über die offenkundi-gen Auswirkungen hinaus noch weitere Folgengeben könnte.

Dies alles sollte sich spürbar ändern, als das The-ma Gegenstand einer ECE-Konvention wurde, diein den achtziger Jahren zudem als wichtiges In-strument für die Verbesserung der politischenBeziehungen zwischen den ost- und westeuropäi-schen Staaten galt. Ein weiterer wichtiger Faktorwar der politische Druck durch die Partei derGrünen in Deutschland. Erwähnenswert ist dieSorge des deutschen Umweltrates, wenn sichAussagen zum Thema Waldschäden, die unge-rechtfertigerweise als zweifelsfrei bewiesene wis-senschaftliche Fakten ausgegeben wurden, imNachhinein als wissenschaftlich nicht fundierterwiesen, könne dies die Handlungsgrundlagefür Gegenmaßnahmen gefährden. Wenn allge-mein akzeptiert werde, dass bereits bei Vorlie-gen weniger eindeutiger Beweise Handlungsbe-darf bestehe (vorsorglicher Ansatz), ließen sichderlei Probleme vermeiden. Genau genommenwar das Argument des Rates nur noch für dieAkten bestimmt. Die politische Entscheidungwar bereits gefallen.

Auf internationaler Ebene wurde für denCLRTAP-Prozess ein rationaler Ansatz für Ver-handlungen zur Begrenzung und Reduzierungder SO2-Emissionen gebraucht. Es galt eine Strate-gie zu finden, mit der die negativen Effekte mini-miert und die Kosten für die Emissionsminde-rung möglichst gleichmäßig auf alle Staaten ver-teilt werden konnten. Die zahlreichen unterCLRTAP eingerichteten Arbeitsgruppen und TaskForces sorgten für gründliche wissenschaftlicheBeratung und stellten das erforderliche Wissen

bereit, und sie garantierten zugleich die Berück-sichtigung der nationalen Interessen der einzel-nen Unterzeichnerstaaten. Die Arbeitsgruppe zuden Auswirkungen brachte letztendlich das Kon-zept der kritischen Belastung hervor. Es ist mitdem Vorsorgeansatz vergleichbar, da es auf eineSituation abzielt, in der keine Schäden oder nega-tiven Auswirkungen zu erwarten sind. Das hat ei-ne Verlagerung der Beweislast zur Folge, wegvon Nachweis und Berechnung des möglichenzukünftigen wirtschaftlichen Schadens durchWald- oder Artenverlust, hin zur relativ einfa-chen Ermittlung derjenigen Schadstoffdeposition,die keine wahrnehmbaren chemischen Verände-rungen in der Bodenzusammensetzung verur-sacht und damit toleriert werden kann. Bei derGewässerversauerung beinhalten die berechne-ten kritischen Belastungen auch einige Vereinfa-chungen, die nur wegen der relativ hohen Si-cherheitsmargen akzeptiert werden, mit denendas Überleben besonders empfindlicher Arten ga-rantiert wird.

Somit entspricht das Konzept der kritischen Be-lastungen zwar nicht hundertprozentig dem desVorsorgeprinzips, aber es erlaubt immerhin ei-nen rationalen Umgang mit den bestehendenUnwägbarkeiten in Bezug auf die möglichen Um-weltfolgen des sauren Regens.

10.4. Literatur

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122

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123

Quelle: EUA

➔ TABELLE 10.1. SCHWEFELDIOXID: FRÜHE WARNUNGEN UND ERFOLGTE REAKTIONEN

1952 Dichter Smog tötet in London mehr als 2 000 Menschen

1952In dem von einem parlamentarischen Ausschuss vorgelegten Beaver Report werden bescheidene Maßnahmenvorgeschlagen

1962 Bei einer zweiten Smogkatastrophe in London sterben 800 Menschen

1968Versauerung von Niederschlägen und Flüssen in Schweden wird mit Schwefeldioxid-Emissionen in anderenLändern in Verbindung gebracht

Ende dersechziger Jahre

Die OECD richtet eine Umweltabteilung und – etwas später – eine Arbeitsgruppe zur Luftreinhaltung ein , die zurLösung der Probleme beiträgt

1972Auf der UN-Umweltkonferenz in Stockholm werden weitere Beweise für die Versauerung schwedischer Seen vorgelegt

1972 OECD-Studie über sauren Regen

1972 OECD-Programm zum weiträumigen Transport von Luftschadstoffen

1977 OECD-Bericht bestätigt Zusammenhang zwischen Emissionen und Ablagerungen von Schwefelverbindungen

1979 Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung (CLRTAP)

1979WHO empfiehlt Luftqualitäts-Richtlinien und gibt damit Standardwerte für die Bekämpfung derLuftverschmutzung in Europa vor

achtziger Jahre Waldsterben durch „sauren Regen“ in Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei und Nordamerika

1985 CLRTAP-Protokoll sieht 30 %ige Reduzierung der Schwefelemissionen vor

1988EU-Richtlinie über Großfeuerungsanlagen wird veröffentlicht und im gleichen Jahr überarbeitet. VonDeutschland sehr effizient gegen den britischen Widerstand gegen Emissionskontrollen eingesetzt

1994Zweites Schwefel-Protokoll, das auf dem Konzept der in Europa bereits flächendeckend kartierten kritischenBelastung basiert

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124

Martin Krayer von Krauss und Poul Harremoës

11.1. Einführung

Ein zentraler Aspekt der Nachhaltigkeit ist die Zu-kunftsfähigkeit, d. h. heutige Entwicklungen dür-fen die Möglichkeit zukünftiger Generationen, ih-re Bedürfnisse zu decken, nicht beeinträchtigen.Zwar können wir nicht präzise vorhersagen, wel-che Bedürfnisse sich in Zukunft ergeben, dochkönnen wir diese im Vorfeld dadurch aufgreifen,dass wir Verfahren entwickeln, die solide undflexible Entscheidungen ermöglichen.

Ziel der vorliegenden Fallstudie ist, zu untersu-chen, wie durch vorausschauende Planung, wiesie im Vorsorgeprinzip zum Ausdruck kommt, ro-buste und flexible Entscheidungen zustande kom-men können, die nicht nur die Erfordernisse derGegenwart erfüllen, sondern auch an die verän-derte Bedarfslage der Zukunft angepasst werdenkönnen. In letzter Zeit entbrannten zunehmendDiskussionen über den Einsatz von Methyltertiär-butylether (MTBE) in Ottokraftstoffen. Aufgrundvon Bedenken hinsichtlich des möglichen Grund-wasserverschmutzungspotenzials dieser Substanzwurden die Risiken, die sich aus dem Einsatz vonMTBE ergeben, von den Behörden westlicher In-dustrienationen neu bewertet.

Nach Darstellung der grundlegenden Fakten sollin dieser Fallstudie untersucht werden, ob es zumZeitpunkt der Einführung von MTBE für die pe-trochemische Industrie und die Regulierungsbe-hörden möglich gewesen wäre, den letzten Endesunerwünschten Charakter der physikalischen,chemischen und mikrobiologischen Eigenschaf-ten bereits im Vorfeld zu erkennen. Anschließendsoll in der Analyse dargestellt werden, wie durchvorausschauende Planung in Form bestimmterzentraler, vorbeugend angelegter Fragestellun-gen robuste und flexible Entscheidungen herbei-geführt werden können.

Der vorliegende Beitrag wurde am 10. Mai 2001abgeschlossen. Auch nach diesem Datum setztsich die Debatte über MTBE fort; einige Aspektedieser Untersuchung sind möglicherweise schonbald überholt, doch ist zu hoffen, dass der vorlie-

gende Aufsatz einen wertvollen Beitrag zur De-batte um das Vorsorgeprinzip leistet.

11.2. Blei in Ottokraftstoffen

Die Toxizität von Blei ist der Menschheit seit derAntike bekannt. Bereits bei den Römern war be-kannt, dass in der Werkzeugherstellung verwen-detes Blei Vergiftungen beim Menschen hervor-rief. In der Forschung zur Gesundheit am Arbeits-platz wurde im 19. Jahrhundert die Giftigkeit vonBlei amtlich festgestellt. Bereits Anfang der zwan-ziger Jahre, in den Anfängen der Kraftfahrzeug-industrie, kamen Zweifel am Sinn des Einsatzesvon Blei in Kraftstoffen auf. In den sechziger Jah-ren lebte diese Debatte erneut auf. Es kam weit-hin zu einem dahin gehenden Konsens, dass demlangfristig zu beobachtenden Trend zu zuneh-menden Bleikonzentrationen in der Luft entge-gengewirkt werden müsse, worauf in den meis-ten westlichen Industrienationen der Beschlusszur Abschaffung von Blei als Kraftstoffzusatz fiel.Ab Ende der siebziger Jahre lief die Verwendungvon Blei als Zusatz im Ottokraftstoff nach undnach aus, worauf Mitte der neunziger Jahre Bleials Kraftstoffzusatz in den meisten westlichenLändern verschwunden war. Als Bleiersatz ent-schied sich die petrochemische Industrie für dieVerwendung von MTBE.

11.3. Der Problemfall MTBE

Die Entscheidung für MTBE als Klopfbremse unddamit als Ersatz für Blei fiel aufgrund verschiede-ner günstiger Eigenschaften dieser Verbindung:MTBE lässt sich durch chemische Prozesse kosten-günstig und auf einfache Weise herstellen, zeich-net sich durch günstige Übertragungs- undDurchmischungseigenschaften aus, kann in derRaffinerie hergestellt werden, lässt sich gut mitdem Kraftstoff mischen ohne auszufällen, undaußerdem lässt sich die Mischung durch die vor-handenen Pipelines transportieren (Squillace etal., 1996). Die gewerbliche Herstellung von MTBEwurde in Europa im Jahr 1973 und in den USA1979 aufgenommen (DeWitt & Company Inc.,

125

11. MTBE ALS BLEIERSATZ IN OTTOKRAFTSTOFFEN

2000). Italien setzte seinen Ottokraftstoffen Endeder siebziger Jahre erstmals MTBE zu, woraufweitere europäische Länder in den Folgejahren,insbesondere ab Mitte der achtziger Jahre, nach-zogen. Die gesamte weltweite Erzeugung betrug1999 rund 21,4 Millionen Tonnen. Ca. 3,3 Millio-nen Tonnen MTBE wurden 1999 in der Europäi-schen Union (EU) erzeugt. Ca. 2,3 Millionen fan-den innerhalb der EU Verwendung, 1,1 Mio. Ton-nen wurden ausgeführt, 0,2 Mio. Tonnen wurdeneingeführt (DeWitt & Company Inc., 2000). 1995war MTBE mit ca. 8,0 Mio. Tonnen pro Jahr dieam dritthäufigsten produzierte organische che-mische Verbindung in den USA (Johnson et al.,2000). Damit ist MTBE eine ausgesprochengroßtechnische Chemikalie.

In den USA stieg die Verwendung von MTBE imZuge der Änderungen des Clean Air Act von1990 rasch an, nachdem in diesen Änderungender Zusatz von Kraftstoff-“Oxygenaten“ wieMTBE oder Ethanol zum Ottokraftstoff vorge-schrieben wurde, um die Konzentrationen vonKohlenmonoxid (CO) oder Ozon in der Luft abzu-bauen. Im Januar 1995 kam eine spezielle Kraft-stoffsorte als „reformiertes Benzin“ („reformula-ted gasoline“ bzw. RFG) auf den Markt, die einenhöheren MTBE-Anteil enthält und in besondersozonbelasteten großstädtischen Ballungsgebie-ten der USA eingesetzt wird. Der gegenwärtigeMTBE-Gehalt im RFG beträgt in den USA ca. 11 %(NSTC, 1997; ENDS Env. Daily, 2000). Danebenwird in den USA ein erheblicher Anteil her-kömmlichen Ottokraftstoffs mit einem MTBE-Ge-halt von 2–3 % verkauft.

In der EU wurde die Verwendung von MTBEdurch eine Richtlinie von 1985 (85/536/EWG)zur Verwendung von Ersatz-Kraftstoffkomponen-ten geregelt, wonach kein Mitgliedstaat berech-tigt ist, den Einsatz von organischen Oxygena-ten in Konzentrationen unterhalb der in denRichtlinien festgelegten Obergrenzen zu unter-sagen. Bei MTBE beträgt diese Obergrenze 15Vol.-%. Im Jahr 1999 lag der Durchschnitt in denKraftstoffen in der EU – berechnet nach demGesamtverbrauch von Ottokraftstoffen undMTBE – bei 2,1 %. Die gegenwärtigen MTBE-Kon-zentrationen im Ottokraftstoff variieren erheb-lich und liegen zwischen 0 und 15 %, je nachBenzinsorte, Mineralölkonzern und Land (Finni-sche Umweltbehörde, 2001).

In den nachfolgenden Kapiteln sollen die rele-vanten Hintergrundinformationen zusammenfas-

send dargestellt werden. Da das Ziel darin be-steht, die mögliche Anwendung des Vorsorge-prinzips zu untersuchen, liegt der besondereSchwerpunkt auf Bereichen, in denen nach demderzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandnoch Unsicherheiten bestehen.

11.4. Die Vorteile des MTBE

Der ursprüngliche Zweck des Zusatzes von MTBEzu Ottokraftstoffen bestand in seiner Funktion als„Klopfbremse“. Darüber hinaus ermöglichenMTBE bzw. andere Oxygenate einen vollständige-ren Verbrennungsverlauf, der seinerseits eineSenkung der CO-Emissionen und geringere Emis-sionen an Vorläufersubstanzen der Ozonbildungermöglicht (Koshland et al., 1998). Außerdemlässt sich mit MTBE auch eine gewisse Steigerungder Oktanzahlen erreichen, wie sie durch alterna-tive Kraftstoffbestandteile wie Benzol (ein Krebserzeugender Stoff der Klasse 1) und andere Aro-maten erreicht wird.

Die Funktion von MTBE beim Abbau von Luft-schadstoffen ist allerdings umstritten. In dieserHinsicht ist unbedingt zwischen der generellenWirkung der Verwendung von RFG einerseitsund der speziellen Wirkung beim Vorhanden-sein von MTBE in RFG andererseits zu unter-scheiden. Im Laufe der neunziger Jahre gingendie Schadstoffemissionen an CO, Ozon in denunteren Luftschichten und Stickoxiden (NOx) injenen US-Großstädten, in denen RFG getanktwurde, erheblich zurück. Die Verwendung vonRFG führt zwar im Vergleich zu herkömmli-chem Benzin zu einer erheblichen Senkung derKraftfahrzeug-Schadstoffemissionen, doch konn-te in Untersuchungen nachgewiesen werden,dass die Emissionen an CO, NOx und flüchtigenorganischen Verbindungen (VOC) durch denZusatz von MTBE zum Kraftstoff nicht nennens-wert beeinflusst werden (NRC, 1996). Eineneuere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis,dass die Oxygenate in RFG nur vernachlässig-bare Auswirkungen auf die Ozonkonzentratio-nen in der Umgebungsluft mit sich bringen(NRC, 1999). Darüber hinaus wurde berichtet,dass die Vorteile von MTBE zunehmend ver-schwinden, da sie vorwiegend bei älteren Fahr-zeugen ins Gewicht fallen, die nach und nachdurch neuere Fahrzeuge mit wirksameren Ab-gasentgiftungsanlagen ersetzt werden (Keller etal., 1998b).

126

11.5. Die Folgewirkungen von MTBE

11.5.1. Persistenz im Grundwasser

Bedenken hinsichtlich der Verwendung vonMTBE wurden erstmals im Anschluss an Untersu-chungen laut, aus denen hervorging, dass MTBEsich mit annähernd der gleichen Geschwindig-keit wie das Grundwasser bewegt und somit alsaußerordentlich mobile Chemikalie zu betrach-ten ist (Barker et al., 1990). Diese Bedenken fan-den im Anschluss an einen 1996 vom US Geologi-cal Survey veröffentlichten Bericht weitere Ver-breitung. Von den in Proben aus oberflächenna-hem Grundwasser in acht Großstadtgebieten inden Jahren 1993–1994 analysierten VOC warMTBE die am zweithäufigsten nachgewieseneChemikalie (Squillace et al., 1996). Seine Löslich-keit liegt in der Größenordnung von 50 000 mg/l(Milligramm pro Liter). Ein Anteil von 10 % MTBEin Ottokraftstoff ergibt eine Gleichgewichtskon-zentration in der Größenordnung von 5 000 mg/lin Wasser.

Die Persistenz kann anhand der physikalischen,chemischen oder mikrobiologischen Persistenzbetrachtet werden. Unsicherheiten hinsichtlichder Persistenz von MTBE in Boden und Grund-wasser bestehen allerdings nach wie vor. MTBEwird in der Atmosphäre durch einen fotochemi-schen Prozess rasch abgebaut. Zum Verhaltenvon MTBE im bodeninneren Bereich sind aller-dings nur in begrenztem Umfang Daten vorhan-den, da nur wenige genau dokumentierte Be-richte zur Attenuierung von MTBE in diesem Be-reich vorliegen. In zwei Untersuchungen wurdefestgestellt, dass eine biologische Abbaubarkeitunter Feldbedingungen im Grundwasser nichtnachgewiesen werden konnte (Borden et al.,1997; Schirmer und Barker, 1998). Bei anschlie-ßenden Laboruntersuchungen wurde dagegeneine sehr langsame, allerdings messbare biologi-sche Abbaubarkeit beobachtet (Landmeyer et al.,1998). Jede dieser Untersuchungen erfolgte unteraeroben Bedingungen. Aus den Ergebnissen derFelduntersuchungen geht hervor, dass ein anaer-ober Abbau von MTBE möglich ist (Sufflita undMormile, 1993; Mormile et al., 1994; Yeh und No-vak, 1994; Hurt et al., 1999). Eine signifikante Ab-baubarkeit von MTBE auf biologischem Wege(Eweis et al., 1998a und b) oder chemischem We-ge wurde nur unter Laborbedingungen beobach-tet. Aufgrund seiner hohen Löslichkeit stelltMTBE also ein potenzielles Risiko für das Grund-wasser dar.

11.5.2. Wahrnehmbare Folgen

Die wahrnehmbaren Folgen der Verunreinigungdes Grundwassers durch MTBE sind erheblich.Der ausgeprägte terpenähnliche Geruch inWasser wird durch den Menschen bereits beisehr geringen Konzentrationen wahrgenommen.Die Geruchsschwelle wurde in Dänemark (Lar-sen, 1997) mit 180 µg/l (Mikrogramm pro Liter)ermittelt, in Kalifornien dagegen bereits bei5 µg/l (CAL-EPA, 1999). Nach gegenwärtig vorlie-genden Überwachungsdaten kann das Vorhan-densein von MTBE in bestimmten Fällen auch inTrinkwasser in Konzentrationen nachgewiesenwerden, welche die Geschmacks- und Geruchs-schwellen überschreiten.

Relativ geringe Mengen an MTBE können also re-lativ große Grundwasserreserven ungenießbarmachen. Wenn die Geschmacks- und Geruchs-schwellenwerte überschritten werden, wird daskontaminierte Trinkwasser normalerweise nichtmehr verwendet, sondern es müssen stattdessenalternative Versorgungsquellen genutzt werden.Wenn große und umfangreiche Grundwasservor-kommen kontaminiert sind, kann dies sowohlhinsichtlich der Kosten als auch hinsichtlich derUnterbrechung der Trinkwasserversorgung gra-vierende Folgen nach sich ziehen.

Lecks in unterirdischen Vorratstanks und beimBetanken überlaufende Tanks sind die Hauptur-sache für die Verunreinigung von Grundwasser(Finnische Umweltschutzbehörde, 2001). DieSchwere der Folgen variiert je nach Land erheb-lich – je nachdem, in welchem Umfang beispiels-weise Grundwasser für die Trinkwasserversor-gung genutzt wird und in welchem Zustand sichdie unterirdischen Lagertanks der Tankstellen be-finden. Die Zahl der Verseuchungsfälle variiertinnerhalb der EU ebenfalls erheblich von Land zuLand. Im Risikominderungsbericht der EU (Finni-sche Umweltschutzbehörde, 2001) ist angegeben,dass „MTBE-Konzentrationen im Grundwasser ge-genwärtig nicht routinemäßig überwacht wer-den. Zur Entwicklung der Konzentrationen vonMTBE liegen nur in begrenztem Umfang Datenvor“. In einem neueren Bericht an die Europäi-sche Kommission (Arthur D. Little Limited, 2001)wird ausgeführt, dass „in den Mitgliedstaaten nurin geringem Umfang öffentlich zugängliche In-formationen zur Überwachung der Grundwasser-kontaminierung durch MTBE vorliegen.“ In die-sem Bericht wird auf unveröffentlichte Daten alsumfangreiche Informationsquelle in Verbindung

127

mit Daten verwiesen, die aus sechs Mitgliedstaa-ten (Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutsch-land, Schweden und das Vereinigte Königreich)vorliegen. Zusammenfassend wird darin festge-stellt, dass „keine der Ergebnisse eine weit ver-breitete oder schwerwiegende Grundwasserkon-taminierung durch MTBE in gleichem Umfangwie in den USA erkennen lassen.“ Allerdings bie-ten laut der Risikoanalyse der EU die „dokumen-tierten Fälle ausreichenden Grund zur Besorgnis,dass MTBE ein Risiko für die geschmackliche undgeruchliche Qualität von aus Grundwasserquel-len gewonnenem Trinkwasser darstellt.“ Der Risi-kominderungsbericht der EU stellt fest: „DieSchlussfolgerung ist gerechtfertigt, dass MTBE einRisiko für die wahrnehmbare Qualität des Trink-wassers darstellt.“ (Finnische Umweltschutzbehör-de, 2001)

11.5.3. Krebs

Die Einstufung des Krebsgefährdungspotenzialsvon MTBE wird nach wie vor kontrovers disku-tiert (siehe Kasten 1). Die neueste Risikobeurtei-lung der EU kommt zu dem Ergebnis, dass MTBEein Grenzfall für die Einstufung als Karzinogensei (Finnische Umweltschutzbehörde, 2001). Des-sen ungeachtet wurde vom European ChemicalsBureau beschlossen, MTBE nicht auf die Listekrebserzeugender Stoffe zu setzen (Dixson-Decle-ve, 2001). Für die Zwecke der vorliegenden Fall-studie sei angemerkt, dass die Frage des Krebsri-sikos von MTBE erst angesprochen wurde, nach-dem die Vermarktung von MTBE als großindus-triell erzeugte Chemikalie längst aufgenommenworden war: Umfassende Karzinogenitätsprüfun-gen vor der Markteinführung wurden nichtdurchgeführt. Selbst heute bestehen nach einge-henden Untersuchungen nach wie vor Unsicher-heiten hinsichtlich der Karzinogenität von MTBE.An der anhaltenden Debatte über die Einstufungvon MTBE werden die Schwierigkeiten beim Um-gang mit Unsicherheiten und mit im Grenzbe-reich liegenden Ergebnissen deutlich.

11.5.4. Asthma

Ähnlich umstritten ist die Frage, ob der Zusatzvon MTBE zu Ottokraftstoffen zum Anstieg vonAsthmafällen in Großstädten beigetragen hat. Ineinem Leitartikel in den Archives of EnvironmentalHealth vom Februar 2000 (Joseph, 2000) wurdenBedenken hinsichtlich epidemiologischer Unter-

suchungen vorgebracht, aus denen ein Anstiegder Asthmafälle und anderer Atemwegserkran-kungen und Reizungserkrankungen in den Jah-ren nach der Einführung von MTBE in den Städ-ten Philadelphia (Joseph, 1997) und New York(Crain et al., 1994; Leighton et al., 1999) abzule-sen war. In den letzten fünf Jahren wurden Be-sorgnis erregend hohe Anteile (über 20 %) asth-makranker Kinder aus mehreren Großstädten ander Ostküste der USA gemeldet, in denen MTBEeingesetzt wurde (Mangione et al., 1997; McBri-de, 1996; Hathaway, 1999; Leighton et al., 1999).Es wurde die Vermutung geäußert, dass die Zu-nahme von Asthmaerkrankungen auf ein unbe-kanntes Abgasprodukt zurückzuführen ist, dasbei der Verbrennung von MTBE in die Umge-bungsluft freigesetzt wird (Joseph, 1999; Leikaufet al., 1995).

Im Davis-Bericht der University of California wirddie Plausibilität bestätigt, wonach Verbrennungs-produkte von MTBE Asthma verschärfen bzw. so-gar auslösen könnten, doch sind laut Bericht bisjetzt keine Untersuchungen speziell zu dieser Pro-blematik durchgeführt worden. Zusammenfas-send wird festgestellt, dass „gegenwärtig wenigBeweise vorliegen, durch die MTBE als Ursacheoder verschärfender Faktor für Asthmaerkran-kungen bestätigt oder widerlegt wird“ (Keller etal., 1998b).

11.5.5. Weitere Folgen

Aus einigen Untersuchungen geht hervor, dassMTBE zu einer Unterbrechung des endokrinenSystems führen kann (Williams et al., 2000; Moseret al., 1998; Day et al., 1998). Die Mechanismen,durch die MTBE eine Unterbrechung des endokri-nen Systems verursachen kann, sind allerdingsnach wie vor unklar, weshalb noch weitere For-schungsarbeiten notwendig sind. In dieser Hin-sicht kommt die Risikobeurteilung der EU zu fol-gendem Ergebnis: „Da die Daten nicht als ausrei-chend gelten können, wird für MTBE kein NOAEL(Ebene, auf der keine nachteiligen Wirkungenbeobachtet wurden) festgelegt.“ (Finnische Um-weltschutzbehörde, 2001)

11.5.6. MTBE in Trinkwasser

Ende 1995 stellten die städtischen Behörden inSanta Monica (Kalifornien) MTBE in einem Brun-nen fest, der zur Trinkwasserversorgung der

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Umfassende Untersuchungen der Karzinogenitätwurden in den neunziger Jahren eingeleitet. Ausden in drei Biotesten an Tieren gewonnenen Er-kenntnissen geht hervor, dass die chronische Ex-position gegenüber MTBE – durch Aufnahmeüber die Atemwege oder orale Aufnahme – beiTieren krebserzeugend wirkt. Die Expositiondurch Einatmen von MTBE führte bei männli-chen Ratten zu nachweisbar erhöhtem Auftretenvon Nieren- und Hodentumoren (Bird et al., 1997;Chun et al., 1992); darüber hinaus wurden beiMäusen Lebertumore beobachtet (Burleigh-Flayeret al., 1992). Die orale Gabe von MTBE führte zueinem signifikant gestiegenen Auftreten vonLymphomen und Leukämieerkrankungen bei Rat-tenweibchen und von Hodentumoren bei Ratten-männchen (Belpoggi et al., 1995 and 1998).

Auf der Grundlage dieser Ergebnisse ergibt sichder Eindruck, dass MTBE gutartige und bösartigeTumore an unterschiedlichen Stellen, bei unter-schiedlichen Rassen und auf unterschiedlichenExpositionswegen verursacht. Kritik wurde andiesen Ergebnissen allerdings dahingehend geäu-ßert, dass die Karzinogenitätsstudien auf unge-eignete Weise durchgeführt und dokumentiertworden seien, dass die Interpretation der Ergeb-nisse schwierig sei und der Zusammenhang desAnstiegs der Tumorerkrankungen mit der Verab-reichung von MTBE fragwürdig sei. Darüber hi-naus seien bei einigen der durch MTBE ausgelös-ten Tumore spezifische, auf Nagetiere beschränk-te Reaktionswege nachgewiesen worden, weshalbdie Ergebnisse nicht auf Menschen übertragenwerden könnten (Dekant, 2000).

Nach der International Agency for Research onCancer (IARC) der Weltgesundheitsorganisation(WHO) wurde eine mögliche Verbindung vonMTBE mit beim Menschen auftretenden Krebser-krankungen noch in keiner epidemiologischenUntersuchung behandelt. Die IARC kommt zudem Ergebnis, dass „kein ausreichender Nach-weis der Karzinogenität beim Menschen“ geführtwerden könne und auch bei Versuchstieren „nurbegrenzte Beweise“ vorlägen und somit „MTBEhinsichtlich seiner Karzinogenität gegenüberMenschen nicht eingestuft werden“ könne (IARC,1999). Der Board of Scientific Counselors des USNational Toxicology Program’s (NTP) votierte mit

6 zu 5 Stimmen dafür, MTBE nicht als Stoff zu lis-ten, bei dem „ausreichende Verdachtsmomentefür einen bei Menschen krebserregenden Stoff“bestünden (BSC, 1998). Das International Pro-gramme on Chemical Safety (IPCS), ein gemeinsa-mes Programm der Internationalen Arbeitsogra-nisation, des Umweltprogramms der VereintenNationen und der WHO, greift die Schlussfolge-rungen der IARC auf und empfiehlt, dass zur Auf-stellung quantitativer Leitlinien zu den maßgebli-chen Expositionsgrenzwerten und zur Risikoab-schätzung die Erhebung zusätzlicher Daten inmehreren Bereichen nach wie vor notwendig sei(IPCS, 1999).

Weitere Einrichtungen sowie einzelne Wissen-schaftler kamen zu dem Schluss, dass die durchBioversuche an Tieren vorgelegten Nachweise fürdie Feststellung ausreichen, dass MTBE beimMenschen mit gewisser Wahrscheinlichkeit Krebsauslöst und daher als für den Menschen wahr-scheinlich karzinogener Stoff eingestuft werdensollte (Mehlman, 2000). In einer Übersicht überdie vorliegenden Untersuchungen durch die Uni-versity of California (Keller et al., 1998b) wird aus-geführt, dass MTBE beim Menschen eine poten-ziell karzinogene Wirkung zeige, allerdings seienweitere Untersuchungen notwendig, um eine ein-deutige Feststellung treffen zu können. Der Whi-te House National Science and Technology Coun-cil kommt zu der Schlussfolgerung, dass ausrei-chende Beweise dafür vorlägen, dass MTBE alstierisches Karzinogen wirke und dass aufgrundder Beweislage davon auszugehen sei, dass vonMTBE auch ein karzinogenes Gefahrenpotenzialfür den Menschen ausgehe (NSTC, 1997). Die USEnvironmental Protection Agency (EPA) stellt fest,dass das Gewicht der Beweise dafür spreche, dassMTBE bei Tieren als Karzinogen wirke und dassMTBE auch für Menschen ein karzinogenes Po-tenzial aufweise (US EPA, 1997).

Die aktuellste eingehende Untersuchung der ver-fügbaren Karzinogenitätsdaten wurde von derFinnischen Umweltschutzbehörde im Rahmender Risikobeurteilung von MTBE durch die EUdurchgeführt (Finnische Umweltschutzbehörde,2001). Der Entwurf zum Risikobeurteilungsbe-richt enthält folgende Schlussfolgerung zur Karzi-nogenität: „Bei zwei Tierarten liegen Anzeichen

➔ KASTEN 11.1. KARZINOGENITÄT — KOMPLEXE WISSENSCHAFT, ERGEBNISSE IM GRENZBEREICH UND GEGENLÄUFIGE INTERESSEN

Stadt diente. Im Juni des Folgejahres hatte sichdas Problem verschärft, weshalb die Behördenzur Schließung einiger Grundwasserbrunnen fürdie Trinkwasserversorgung gezwungen waren.Bei der Untersuchung bekannter und vermuteterMineralöllecks wurden rund 10 mögliche Konta-minierungsquellen in einem Umkreis von 1 kmum den Brunnen festgestellt (Johnson et al.,2000). Als Folge der Kontaminierung durchMTBE wurden 71 % der lokalen Wasserversor-gungsquellen der Stadt unbrauchbar. Rund dieHälfte des gesamten Wasserbedarfs muss jetzt zuKosten von 3,5 Mio. USD jährlich von externen

Quellen bezogen werden (Rodriguez, 1997). Eini-ge MTBE-Einträge haben ihren Ursprung in sehrgeringen ausgelaufenen Mengen. So führte bei-spielsweise bei einem einzigen Kfz-Unfall ausge-laufenes Benzin in Standish, ME, zum Eintragvon MTBE durch mehr als 0,7 km Bruchgesteinund zur Kontaminierung von über 20 lokalenBrunnen (Johnson et al., 2000; Hunter et al.,1999). Bis heute liegen in den USA unzählige do-kumentierte Fälle der Verunreinigung vonGrundwasser durch MTBE vor, wobei diese Zahlstetig zunimmt und auftretende Verunreinigun-gen zu schwerwiegenden Folgen führen können.

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für eine Karzinogenität vor. Allerdings ist der Be-handlungszusammenhang der aufgetretenen Tu-more bei einigen Untersuchungen (Adenom beiMäusen) strittig, während bei anderen (Leydig-Zwischenzelle) die Relevanz der Wirkungsweisefraglich ist. Darüber hinaus treten die Tumoreüberwiegend bei sehr hohen und systematisch to-xischen Dosen auf, während MTBE in vitro oderin vivo nicht genotoxisch ist. Andererseits lässtsich die Bedeutung der bei Ratten an zwei ge-trennten Rattenstämmen beobachteten intersti-tiellen Testikularadenome nicht vernachlässigen.Außerdem bleibt noch eine gewisse Unsicherheithinsichtlich der Signifikanz der festgestelltenLymphtumore, insbesondere angesichts der Gren-zen der Untersuchung und der qualitativ einiger-maßen unzureichenden Untersuchungsberichte.Nach Ansicht des Berichterstatters stellt MTBE ei-nen Grenzfall zwischen der Nichtklassifizierungund der Karzogenitätskategorie 3 dar.“ (FinnischeUmweltschutzbehörde, 2001)

Die Klassifizierung und Kennzeichnung vonMTBE als gesundheitsgefährdender Stoff wurdevon der Arbeitsgruppe für die Gefahrgutklassifi-zierung beim European Chemicals Bureau im No-vember 2000 erörtert. Ein Vorschlag zur Klassifi-zierung von MTBE als Karzinogen der Kategorie3 mit einer Risikophase R40 wurde abgelehnt(R40 besagt, dass ein Stoff ein „mögliches Risikoirreversibler Auswirkungen“ birgt) (Dixson-Decle-ve, 2001).

Die mögliche Grundlage für diese Entscheidungliegt darin, dass allgemein anerkannt ist, dass eseinen Konzentrationsschwellenwert gibt, unter-halb dessen bei karzinogenen Stoffen keine Aus-

wirkungen beobachtet werden können, die keineVeränderung der Erbanlagen bewirken. Bei MTBEfielen verschiedene in-vitro-Versuche zur Mutage-nität mit metabolischer Aktivierung positiv aus,während die in-vivo-Untersuchungen negativ aus-fielen. Nach allgemeiner Überzeugung treten po-sitive Reaktionen dann ein, wenn Zellen in vitroextrazellular dem MTBE-Metabolformaldehydausgesetzt werden, während Formaldehyd dieseWirkung nicht erzielt, wenn es intrazellular imintakten Organismus erzeugt wird. Aus diesemGrund gilt MTBE als nicht-mutagen (FinnischeUmweltschutzbehörde, 2001).

Das Gefährdungspotenzial vom MTBE ist alsonicht so hoch, wie es im Falle eines mutagenenKarzinogens wäre, bei dem theoretisch Wirkun-gen bei jeder Dosierung bis hin zu unendlichgeringen Konzentrationen zu erwarten wären.Bei nicht mutagenen Karzinogenen steht dieWirkung häufig in Verbindung mit anderenSchädigungen des Zielorgans, z. B. der Niereoder Leber. Die ausgeprägte Regenerationsrateund das schnelle Wachstum der Zellen, das dannin Verbindung mit der Regeneration des Gewe-bes des geschädigten Organs abläuft, kann voneiner zunehmenden Tumorbildung begleitetsein. Die primäre Schädigung des Zielorgans trittab einem bestimmten Schwellenwert ein. Bei die-sem Schwellenwert handelt es sich um das Ni-veau, bei dem kein negativer Effekt beobachtetwird (NOAEL). Wenn die Werte unter demSchwellenwert bleiben, wird eine Schädigung derOrgane verhindert, ebenso die Bildung von Tu-moren (Østergaard, 2001). Das durch derartigeSubstanzen hervorgerufene Krebsrisiko gilt folg-lich als beherrschbar.

Im Falle einer Behandlung mit granulierter Ak-tivkohle könnten die Kosten für die Aufbereitungkontaminierter Trinkwasserquellen immense Hö-hen erreichen, da die Konzentrationsgrenzwertevon MTBE in Trinkwasser extrem niedrig sind (inder Größenordnung von 5 bis 30 µg/l). Die Kos-ten für die Behandlung unterirdischer Lecks anLagertanks und Pipelines sowie Verschüttungenkönnen alleine in Kalifornien Größenordnungenvon Dutzenden bis Hunderten Millionen Dollarpro Jahr erreichen (Keller et al., 1998a). Dieskönnte sich im Licht bis jetzt unveröffentlichterErgebnisse aus Untersuchungen ändern, wonachMTBE durch Sandfilterung in normalen Wasser-werken biologisch abgebaut werden könnte (Ar-vin, 2001).

11.6. Reaktionen

In Dänemark wurde 1998 ein Bericht über MTBEveröffentlicht (Miljø og Energiministeriet, 1998).Einleitend wird dort festgestellt: „Im Jahr 1990wurden der dänischen Umweltschutzbehörde vonProfessor Erik Arvin vom Institut für Umweltwis-senschaft und -technik an der Technischen Uni-versität Dänemarks Informationen über möglicheProbleme im Zusammenhang mit dem Grund-wasser vorgelegt, da MTBE sich in Grundwasserals mobil und ausgesprochen persistent zeigt.“Von der dänischen Umweltschutzbehörde wurdedies damals noch nicht als Problem betrachtet,da Lecks aus Tanks als nur geringfügiges Pro-blem galten und „Probleme mit Kraftstoffbe-standteilen seinerzeit nur selten in Trinkwasserbeobachtet wurden“. Im Jahr 1998 wurde von derdänischen Umweltschutzbehörde für Trinkwasserein vorläufiger Grenzwert von 30 µg/l festgesetzt.

In Kalifornien, dem ersten US-Bundesstaat, dermit den Folgen von MTBE zu kämpfen hatte,wurde von der Legislative des Bundesstaats eineTask Force an der University of California einge-richtet. Diese Task Force prüfte die vorliegendenBeweise, erstellte eine Gesundheits- und Umwelt-folgenabschätzung und legte dem Gouverneurund der Legislative verschiedene Empfehlungenvor, u. a. für die Abschaffung von MTBE (Keller etal., 1998b). Als Ergebnis wurde in der ExecutiveOrder des Gouverneurs vom März 1999 die Auf-stellung eines Zeitplans bis zum Juli 1999 emp-fohlen, wonach „MTBE möglichst kurzfristig, spä-testens bis zum 31. Dezember 2002 aus Otto-kraftstoffen beseitigt werden“ sollte (Davis,

1999). Die Studie der University of Californiakommt darüber hinaus zu dem Ergebnis: „EineLehre aus dem Problemfeld MTBE lautet, dassdie Freisetzung einer chemischen Verbindung indie Umwelt in Mengen, die einen signifikantenTeil des Gesamtgehalts des Ottokraftstoffs ausma-chen, zu unvorhersehbaren Folgen für die Um-welt führen kann. Wir empfehlen daher eineumfassende Umweltanalyse sämtlicher Alternati-ven zu MTBE.“ Damit soll gezielt betont werden,dass jede Alternative zu MTBE vor der Einfüh-rung umfassend analysiert werden muss. DieseMaßnahme ist insbesondere aufgrund der „mög-lichen gesundheitsschädlichen Auswirkungen imZusammenhang mit der unvollständigen Ver-brennung von Ethanol“ notwendig. Darüber hi-naus wird im Bericht ausgeführt: „Die gegenwär-tige Struktur der staatlichen Stellen, die sich aufbestimmte Medien (Land, Luft, Wasser) konzen-trieren, führt dazu, dass Umweltfolgenabschät-zungen in fragmentierter und unvollständigerWeise erstellt werden.“

Von der EPA der USA wurde 1998 ein „Blue Rib-bon Panel“ „als Reaktion auf die zunehmendenBedenken staatlicher und kommunaler Behördenund der Öffentlichkeit“ eingerichtet (Blue RibbonPanel, 1999). Im Bericht vom September 1999wurde unter anderem festgestellt: „Das Gremiumstellt in breiter Übereinstimmung fest, dass zurMinimierung gegenwärtiger und zukünftiger Ge-fährdungen des Trinkwassers die Verwendungvon MTBE erheblich einzuschränken ist. EinigeMitglieder sind der Ansicht, dass die Verwen-dung von MTBE komplett eingestellt werden soll-te.“ Nach den Feststellungen des Gremiums lauteteine der Schlussfolgerungen: „Um derartige Stör-fälle zukünftig zu vermeiden ... sollte das EPA ei-ne umfassende, alle Medien einschließende Un-tersuchung (der Auswirkungen auf Luft, Bodenund Wasser) jedes neuen Kraftstoffzusatzes vordessen Einführung durchführen.“ Im März 2000gab die US EPA bekannt, dass durch geeigneteSchritte MTBE als Kraftstoffzusatz aufgrund sei-ner „möglicherweise karzinogenen Eigenschaf-ten“ und „zum Schutz der Trinkwasservorräte derUSA“ „erheblich eingeschränkt bzw. ganz abge-schafft“ werden soll (ENDS Env. Daily, 2000).

11.7. Die gegenwärtigen Trends

Zukünftig dürfte in den USA eine Verlagerunghin zu anderen Oxygenaten wie Ethanol sowie zu

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entsprechenden, nicht oxygenierten Ottokraft-stoffen erfolgen, welche die strengen Emissions-grenzwerte erfüllen (Keller et al., 1998b; CEC,1998). In Europa kamen aufgrund der vergleichs-weise eingeschränkten Verwendung von MTBEBedenken und mögliche Probleme in Verbindungmit MTBE erst später als in den USA auf (Morgen-roth und Arvin, 1999). In den für die Kraftstoff-qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen im Jahr1998 erlassenen EU-Verordnungen (98/70/EWG)ist festgelegt, dass die Verwendung von Verbin-dungen wie Benzol (Karzinogen der Klasse 1) undAromaten insgesamt bis zu den Jahren 2000 und2005 stufenweise verringert werden soll. Dieskönnte dazu führen, dass MTBE in Europa in zu-nehmendem Maße zum Einsatz kommt. Im Au-gust 2000 wurde von der UmweltschutzbehördeDänemarks MTBE auf die Liste unerwünschterSubstanzen gesetzt und die Einführung wirt-schaftlicher Instrumentarien angekündigt, wo-durch die Verwendung von MTBE erschwert wer-den soll. Die in jüngster Zeit von der EU durchge-führte Risikoabschätzung von MTBE kam zu derFeststellung, dass aufgrund der Gefahren, die vonMTBE für die Grundwasservorkommen ausgehen,Maßnahmen zur Risikominderung gerechtfertigtseien (Finnische Umweltschutzbehörde, 2001).Am 19. April 2001 wurde ein Bericht an die Euro-päische Kommission über die Risikominderungan unterirdischen Lagertanks (Arthur D. Little Li-mited, 2001) als Anlage zum Risikominderungs-bericht veröffentlicht, der im Zusammenhangmit der Risikoabschätzung (Finnische Umwelt-schutzbehörde, 2001) verfasst worden war. In denBerichten wird die unterschiedliche Lage in denUSA und in der EU herausgestrichen. Es wird er-wartet, dass der „Oktanzahlbedarf durch MTBEsich je nach verfügbaren Oktanqualitäten im Be-reich zwischen 1 und 4 Volumen-% bewegt unddamit noch deutlich unter den 10 bis 15 Prozentliegt, wie sie gegenwärtig in reformiertem Ben-zin in den USA vorhanden sind.“ In zahlreichenEU-Ländern wurden in letzter Zeit ordnungspoli-tische Vorschriften gegen Lecks aus unterirdi-schen Lagertanks verabschiedet, damit gewähr-leistet ist, dass das Risiko einer Grundwasserkon-taminierung „auch in Zukunft gering bleibt.“ ImBericht wird auf die Risiken verweisen, die vonvorhandenen unterirdischen Lagertanks ausge-hen, die während des Übergangszeitraums biszur vollständigen Umsetzung der Vorschriften dieneuen Verordnungen noch nicht erfüllen. Eswird erwartet, dass die volle Wirkung der Verord-nungen im Jahr 2005 erreicht wird. Im Berichtwird zugleich die Notwendigkeit einer „energi-

schen Durchsetzung der Vorschriften für unterir-dische Lagertanks“ betont und „Strafen als wirk-sames Abschreckungsmittel“ vorgeschlagen.

Der Standpunkt in der EU scheint also zu sein,dass Oxygenate wie MTBE ihren Platz zur Opti-mierung des Verbrennungsprozesses und zumAbbau von CO-Emissionen und organischen Ver-bindungen haben sollten. Das erhöhte Risikodurch Lecks an unterirdischen Lagetanks gilt alstechnisches Problem, das sich durch Risikominde-rungsmaßnahmen beherrschen lässt. In Untersu-chungen in den USA wurde allerdings festge-stellt, dass selbst komplexe, doppelwandige un-terirdische Lagertanks mit Leckdetektoren infol-ge unsachgemäßen Einbaus unbemerkte Lecksentwickeln können (Couch und Young, 1998).Hieraus erklärt sich der Drang zu „strikter Durch-setzung“ der Vorschriften und Folgeüberwachun-gen des Grundwassers im Bericht an die Europäi-sche Kommission (Arthur D. Little Limited, 2001).

11.8. Erörterungen im Zusammenhangmit dem Vorsorgeprinzip

Unsere Analyse soll zunächst aus historischerSicht die Fragen beleuchten, die bei der Einfüh-rung von MTBE Anfang der achtziger Jahre hät-ten gestellt werden können. Damit sollen dieMöglichkeiten aufgezeigt werden, die sich durcheine vorausschauende Betrachtungsweise als Teildes Vorsorgeprinzips ergeben.

Bereits 1954 wurden Untersuchungen veröffent-licht, in denen auf die sehr geringe biologischeAbbaubarkeit der Etherfamilie hingewiesen wur-de (Mills und Stack, 1954). Bis 1960 war die Resis-tenz von Etherverbindungen gegen biologischeAbbaubarkeit zum Allgemeinwissen in der Fach-welt geworden (Sawyer, 1960). Auf dieser Grund-lage kann einigermaßen schlüssig angenommenwerden, dass bei der Einführung von MTBE quali-fizierte Chemiker und Mikrobiologen hätten er-kennen müssen, dass MTBE in Grundwasser be-ständig ist. Dokumente als Nachweis für diesesArgument waren allerdings nicht aufzufinden.Offensichtlich wurden die ersten Warnhinweiseauf die Persistenz von MTBE in Grundwasser, diesich auf erste experimentelle Fakten (allerdingsnur im Labormaßstab) bezogen, im Jahr 1990 ver-öffentlicht (Barker et al., 1990; Jensen und Arvin,1990). Die Behörden reagierten allerdings nichtauf diese ersten Warnungen. Erst nach Bekannt-

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werden der in der Praxis gewonnenen Ergebnissewurden die Behörden auf die Schwere des Pro-blems aufmerksam. Diese Verzögerungen lassensich in den USA und in Dänemark anhand vonDokumenten belegen.

Andererseits kann davon ausgegangen werden,dass zum Zeitpunkt, als die Entscheidung zurVerwendung von MTBE als Ersatzstoff von Bleiim Ottokraftstoff fiel, keine Anzeichen für offen-kundig gesundheitsschädliche Folgewirkungenvon MTBE bekannt waren. Die grundlegendeFrage lautet also nicht, ob eine beständige undgesundheitsschädliche Chemikalie ein unan-nehmbares Risiko darstellt. Die grundlegendeFrage lautet vielmehr, ob die vorhandenenKenntnisse zum damaligen Zeitpunkt ausreich-ten, um vorhersehen zu können, dass die Persis-tenz dieser Substanz an sich einmal zu einemProblem werden könnte.

11.8.1. Der historische Blickwinkel

Weit verbreitete Besorgnis über die Persistenzvon Chemikalien kam erstmals nach der Veröf-fentlichung des wegbereitenden Buches Silentspring (Carson, 1962) auf. In diesem Buch be-schreibt Carson die verheerenden Auswirkungendes großmaßstäblichen Einsatzes von Pestizidenauf Insekten, Vögel und Ökosysteme. Seinerzeitdrehte sich die Debatte noch eng um das „Dirtydozen“ jener Pestizide, die heute als persistenteorganische Schadstoffe (POP) bekannt sind. Seitden frühen sechziger Jahren laufen im Zusam-menhang mit dieser Debatte Forschungsarbeitenzur biologischen Abbaubarkeit und Mobilität so-wie zu anderen Merkmalen der Pestizide.

Eine ähnliche Debatte kam in den frühen sechzi-ger Jahren in Europa auf, nachdem auf FlüssenSchaumbildung als Folge der Verwendung vonbiologisch nicht abbaubaren Waschmitteln (De-tergenzien) beobachtet worden war. Die Seifen-und Waschmittelindustrie engagierte sich in derFolgezeit aktiv bei der Entwicklung von Kriterienund Verfahren zur Ermittlung der Persistenz bzw.Abbaubarkeit von Detergenzien (ASDA, 1965;Swisher, 1987), ebenso die Organisation für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung(OECD, 1970).

Hieraus ergibt sich der Eindruck, dass Industrieund Gesetzgeber Grund zu dem Verdacht hättenhaben können, dass die Persistenz einer Substanz

Komplikationen mit sich bringt, wenn sie in Ver-bindung mit schädlichen Produkteigenschaftenauftritt. Die Erfahrungen mit Pestiziden und De-tergenzien lieferten den wissenschaftlichen Nach-weis, dass Persistenz in Verbindung mit bestimm-ten anderen chemischen Eigenschaften zu blei-benden unerwünschten Effekten wie z. B. Toxizi-tät oder Schaumbildung auf Flüssen führt.

Auf der Grundlage dieser Feststellung ist weiterzu fragen, ob bei der Einführung von MTBE An-zeichen dafür vorlagen, dass die Gesellschaft ander Erarbeitung und Einführung von Gegenmaß-nahmen zur Bekämpfung des Problems der che-mischen Persistenz in Verbindung mit anderennegativen Eigenschaften arbeitete.

1978/79 wurde eine Arbeitsgruppe der OECD zuPrüfverfahren zum Abbau und zur Anreicherungvon Schadstoffen gebildet, die bahnbrechendeArbeiten zur Weiterentwicklung der speziellenVerfahren für Detergenzien zu allgemeinerenVerfahren zur Messung der Persistenz leistensollte (OECD, 1981). Bei diesen Workshops er-örterten die Vertreter der Regierungen, der In-dustrie und akademischer Gruppen die techni-schen Details des bereits allgemein anerkanntenKonzepts der Persistenz. Neben der OECD enga-gierten sich verschiedene staatliche, Industrie-und Nicht-Regierungsorganisationen in den sieb-ziger und frühen achtziger Jahren aktiv in derEntwicklung von vereinheitlichten Prüfverfahrenzur biologischen Abbaubarkeit (US EPA, 1979;ECETOC, 1982; ISO, 1984).

Persistenz wurde bereits frühzeitig bei der Erar-beitung der Umweltgesetzgebung der EU als uner-wünschte Eigenschaft einer Chemikalie festgestellt(Europäische Kommission, 1967 und 1984). Nachder sechsten Änderung (Europäische Kommission,1979) zur EG-Richtlinie für die Einstufung undKennzeichnung neuer Stoffe (Europäische Kom-mission, 1967), die im September 1979 angenom-men wurde, müssen alle neuen Stoffe, die in derEU hergestellt oder vertrieben werden sollen, derzuständigen Behörde in einem der Mitgliedstaa-ten angezeigt werden. Dieser Anzeige vor derMarkteinführung müssen Daten zu Identität, Ver-wendung und Eigenschaften des Stoffs beigefügtwerden. Der Umfang des Datenbestands ist vomvorgesehenen Produktionsvolumen der betreffen-den Substanz abhängig. In Verbindung mit Toxizi-tät, Bioakkumulationspotenzial und Verdacht aufKarzinogenität könnte Persistenz zur Einstufungals „besonders umweltgefährdend“ führen.

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Rechtlich fiel MTBE allerdings nicht unter dieseVorschriften für „neue Stoffe“, da sich diese nurauf chemische Substanzen beziehen, die in den10 Jahren vor dem 18. September 1981 nicht inder EU vertrieben worden waren. Da die Ver-marktung von MTBE bereits vor diesem Zeit-punkt erfolgt war, wurde es in der EU als „beste-hender Stoff“ klassifiziert. Verordnungen über dieEvaluierung und Kontrolle bestehender Stoffe wa-ren 1993 angenommen worden (EuropäischeKommission, 1993). Das finnische Umweltinstitutführt gegenwärtig die Risikoabschätzung vonMTBE durch, die im Rahmen dieser Verordnungvorgeschrieben ist. Entwurfsfassungen der Risiko-abschätzung, auf die bereits verwiesen wurde, la-gen Ende 2000 vor. Die Endversion dürfte im Lau-fe des Jahres 2001 fertiggestellt sein.

Aus den umfangreichen Arbeiten zur Entwick-lung von Prüfverfahren für den Nachweis derPersistenz ist abzulesen, dass der Nachweis derPersistenz in einer Chemikalie seinerzeit gesell-schaftlich noch nicht als wichtig galt. Dass in derFolgezeit Persistenz als unerwünschte Eigenschafteiner Chemikalie gesetzlich verankert wurde,kann als weiterer Beleg dafür gelten, dass die Ge-sellschaft mittlerweile bereit war, Abhilfemaß-nahmen gegen durch persistente Chemikalienhervorgerufene Schäden in Verbindung mit an-deren nachteiligen Eigenschaften umzusetzen.

Zur damaligen Zeit hätte man erwarten können,dass das erwartete hohe Produktionsvolumen vonMTBE Anlass zu Bedenken hätte geben könnenDiese Bedenken hätten den Anstoß zu weiterenUntersuchungen geben können, auch wenn hier-für zum damaligen Zeitpunkt noch keine Erfor-dernis bestand. Diese Untersuchungen hättenden Entscheidungsträgern die persistenten Eigen-schaften von MTBE vor Augen geführt.

Hätten die Industrie und der Gesetzgeber die Per-sistenz von MTBE zur Kenntnis genommen, könn-te man dann annehmen, dass sie auch eine Ant-wort auf die folgende Frage gesucht hätten:Weist MTBE noch weitere Eigenschaften auf, diein Verbindung mit der Persistenz eine Reaktionder Gesellschaft auf die damit verbundenen Risi-ken erfordern?

Wie bereits zuvor festgestellt, sind die Ge-schmacks- und Geruchsbelästigungen, die vonMTBE ausgehen, seit langem bekannt. BeimScreening-Verfahren von MTBE waren diese aller-dings übersehen worden. Scheinbar war die Mög-

lichkeit, dass MTBE die Grundwasservorkommengefährden könnte, nie in Betracht gezogen wor-den. Darüber hinaus wurden die karzinogenenEigenschaften von MTBE erst in den neunzigerJahren detailliert untersucht, wobei die Klassifika-tion von MTBE hinsichtlich seiner karzinogenenEigenschaften noch lange nach der Einführungals großmaßstäblich hergestellte Chemikalie un-gewiss blieb. Zweifellos bestehen keine Zweifel,dass die Einführung einer großmaßstäblich her-gestellten Chemikalie, deren Eigenschaften eineKombination aus Persistenz, Geschmacks- undGeruchsbelästigung, potenziell krebserregenderWirkung und weiteren nachteiligen Wirkungeneinschließen, Anfang der achtziger Jahre bereitsBedenken hätte auslösen können. Es hätten alsobereits zu dieser Zeit entsprechende Untersu-chungen durchgeführt werden müssen.

Die Entscheidung für MTBE als langfristiger Er-satzstoff für Blei in Ottokraftstoffen war nichtvon Vorsichtsgesichtspunkten getragen, da diemöglichen Gefährdungen, die von dieser Wahlausgehen, nicht angemessen präzisiert wurden.Durch vorausschauendes Handeln wären die pe-trochemische Industrie und die Behörden zu derFeststellung in der Lage gewesen, dass die Persis-tenz von MTBE irgendwann zu Problemen füh-ren könnte.

11.8.2. Die Perspektiven aus der Sicht von heute

Von allen negativen Eigenschaften von MTBE istdie Persistenz insofern einzigartig, als sie eineUnumkehrbarkeit beinhaltet. Eine persistenteChemikalie ist in der Umwelt noch lange, nach-dem ihr Einsatz bereits beendet wurde, präsent.Damit nehmen in drastischer Weise die Gefahrenzu, die aus einer Fehldiagnose der bekanntenschädlichen Wirkungen und weiterer schädlicherWirkungen herrühren, die der Wissenschaft bisjetzt noch unbekannt sind. Die Freisetzung per-sistenter Chemikalien in die Umwelt wirft folgen-de Fragen auf: Muss eine Antwort allein nachdem Kriterium der Persistenz eingeleitet werdenund kann Persistenz als auslösender Faktor für ei-ne systematische, umfassende und gründlicheUntersuchung wahrnehmbarer schädlicher Wir-kungen dienen?

Eine Antwort auf diese Fragen steht auch heutenoch aus, allerdings müssten das hohe Produkti-onsvolumen und die gute Löslichkeit von MTBEGrund zur Besorgnis geben. Die Liste bekannter

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negativer Eigenschaften von Chemikalien – überdie Persistenz hinaus – weitet sich nach wie vorständig aus. Erst jetzt laufen beispielsweise Unter-suchungen zu den Mechanismen an, die Unter-brechungen im endokrinen System verursachen.Falls neue Informationen aufgezeigt werden, dieneue schädliche Wirkungen mit einer persisten-ten Chemikalie in Verbindung bringen, dürftendie zur Schadensbeseitigung erforderlichen fi-nanziellen und technologischen Mittel wahr-scheinlich unerreichbare Dimensionen anneh-men, wenn sich diese Chemikalie erst einmal inder Umwelt ausgebreitet hat.

In diesem Fall ist das Vorsorgeprinzip dahinge-hend zu interpretieren, dass das Risiko eines Irr-tums und die möglichen Folgen stets zu berück-sichtigen sind. Im Falle persistenter Chemikalienist aufgrund der Unumkehrbarkeit das Risiko we-sentlich größer als bei anderen Chemikalien. DasFehlen umfassender wissenschaftlicher Kenntnis-se zum Zusammenhang zwischen Ursache undWirkung kann nicht als Entschuldigung für denAufschub der Abhilfemaßnahmen herhalten. Da-rüber hinaus sind Vorsorgemaßnahmen alleineschon durch die wissenschaftliche Ungewissheitund Unwissenheit gerechtfertigt.

11.8.3. Alternativen

Aus dem Vorsorgekonzept folgt das Substitutions-prinzip, nach dem sicherere Alternativen zumöglicherweise schädlichen Prozessen gesuchtwerden müssen. MTBE ist unzweifelhaft eine eini-germaßen bessere Lösung als Blei. Da jedochGrund zu der Annahme besteht, dass der Einsatzvon MTBE irreversible Schäden mit sich bringt,müssen wir auch das Prinzip der Substitution alsAlternative zur Risikominderung prüfen. Es gibtAlternativen zu MTBE, und wahrscheinlich ließensich noch weitere Alternativen finden, wenn aus-reichende Forschungsarbeiten in dieser Richtungdurchgeführt würden. Die entscheidende Frage,die aus der Umsetzung des Vorsorgeprinzipsfolgt, lautet also: Wie steht es mit den Alternati-ven zu MTBE? Die aktuellste Bestandsaufnahmefindet sich in einem EU-Bericht zur Risikominde-rung, der im Zusammenhang mit der Risikoab-schätzung verfasst wurde (Finnische Umwelt-schutzbehörde, 2001)

Bei den am häufigsten in Betracht gezogenen Al-ternativen zu MTBE handelt es sich um andereOxygenate, optimierte Motorentechnologien und

geänderte Kraftstoffzusammensetzungen (Mor-genroth und Arvin, 1999; CEC, 1998).

Zu den weiteren sauerstoffhaltigen Verbindun-gen zählen Ethanol, ETBE (Ethyltertbutylether),TAME (Tert-Amylmethylether) und DIPE (Diisopro-pylether). Andere Oxygenate könnten jedochebenfalls negative Wirkungen auf die Umweltentfalten. So wäre beispielsweise der Anbauflä-chenbedarf für Pflanzen für die Erzeugung vonbiologischem Ethanol immens hoch, und auchdie ökologischen Folgen des Einsatzes der für die-sen Anbau notwendigen Dünger und Pestizide istzu berücksichtigen. Darüber hinaus sind für dieErzeugung von Ethanol große Energiemengen er-forderlich, d. h. diese Alternative würde zu keinernennenswerten Senkung der Treibhausgasemis-sionen führen, wenn der gesamte Produktionszy-klus berücksichtigt wird. Bei anderen Etherver-bindungen könnten ähnliche gesundheitsschädli-che Auswirkungen wie bei MTBE auftreten, die –wie bereits ausgeführt – ja noch nicht in vollemUmfang bekannt sind.

Eine weitere Alternative besteht in der Einfüh-rung von Fahrzeugen mit optimierter Motoren-technik wie z. B. Otto-Direkteinspritzmotoren. ImTeillastbereich benötigen Direkteinspritzmotorenkeine so hohen Oktanzahlen wie herkömmlicheOttomotoren. Bei Volllast fallen die Unterschiedeallerdings weniger bedeutend aus. Mit der inEuropa geforderten Verringerung des Aromaten-gehalts in Ottokraftstoffen wäre die Zugabe vonOxygenaten selbst bei optimierter Motortechno-logie noch notwendig.

Als weitere weithin in Betracht gezogene Alterna-tive kommt die Optimierung der Kraftstoffzusam-mensetzung in Betracht. Höhere Oktanzahlen desKraftstoffs lassen sich durch Veränderung derStruktur der „Verzweigungsalkane“ im Ottokraft-stoff erreichen. Diese Option könnte jedoch aufWiderstand der petrochemischen Industrie sto-ßen, da dies Prozessänderungen in den Raffine-rien erfordert, die mit erheblichen Investitions-kosten verbunden sind.

Die Verwendung von MTBE als Kraftstoffzusatzzur Verringerung der Schadstoffemissionen vonKraftfahrzeugen ist ein Indikator für ein tiefer lie-gendes Problem, bei dem MTBE nur ein Symptomdarstellt. Mit der fortschreitenden Industrialisie-rung von Ländern wie Indien und China ist offen-kundig, dass zukünftige Generationen sich denBetrieb eines Massenverkehrssystems, das flüchti-

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ge organische Verbindungen CO, Kohlendioxid,NOx und weitere Schadstoffe freisetzt, nicht mehrleisten können werden. Durch die oben aufge-führten Alternativen ließe sich die gegenwärtigeSituation zwar verbessern, doch dürften die damiterzielten Fortschritte kaum ausreichen, um denBedarf zukünftiger Generationen zu decken. DasVorsorgeprinzip erinnert uns also daran, ernsthaf-te Investitionen in die Entwicklung von Alternati-ven in Angriff zu nehmen, die grundlegend vonden oben erörterten Alternativen abweichen.

Unter diesem Aspekt sprechen sich verschiedeneeuropäische Regierungen für Abhilfemaßnahmenaus, die an den Auslösern der Umweltbelastungansetzen. Im Kern stellen sie die grundsätzlicheNotwendigkeit eines Massenverkehrssystems inFrage. Der Standpunkt der gegenwärtigen Regie-rung Dänemarks geht beispielsweise dahin, dassmit den Fortschritten in der Kommunikations-technologie Privatfahrzeuge zunehmend von ei-nem „Muss“ zu einem „Möchte“-Objekt werden.Vor diesem Hintergrund wurden verschiedenewirtschaftspolitische Maßnahmen eingeleitet, diedie Bürger von der Fahrt mit Privatfahrzeugenabbringen sollen.

Ein anderer Standpunkt besagt, dass die Gesell-schaft immer ein schnelles Verkehrsmittel benö-tigt, dass aber radikale Umwälzungen in der Mo-tortechnologie den Druck beseitigen können, dervon Privatverkehrsmitteln auf die Umwelt aus-geht. Ein Beispiel für einen derartigen Technolo-gieschritt ist die Wasserstoff-Brennstoffzelle. Die-ses Antriebssystem setzt als Emissionsnebenpro-dukte lediglich Sauerstoff und Wasser frei. Pilot-projekte für den Einsatz von Bussen mit Wasser-stoff-Brennstoffzellen wurden u. a. in Chicagound Vancouver durchgeführt.

Ein Merkmal all dieser Alternativen ist, dass kei-ne dieser Optionen soweit erforscht wurde, dasseine breit angelegte Einführung kurzfristig mög-lich wäre. Nachdem die durch den Einsatz vonMTBE hervorgerufenen Probleme mittlerweilezunehmend in unser Bewusstsein rücken, wärees im Sinne vorausschauender Planung notwen-dig, Alternativen hierzu aktiv zu erforschen undzu entwickeln.

11.8.4. Kosten-Nutzen-Analyse

In eine Kosten-Nutzen-Analyse sollten idealerwei-se alle Kosten und der gesamte Nutzen einfließen

– oder aber eine angemessene näherungsweiseDarstellung dieser Faktoren. Angesichts der vor-herrschenden Unwissenheit ist eine Kosten-Nut-zen-Analyse für Entscheidungsträger nur von be-grenztem Wert und kann deshalb für sich alleinenicht die Grundlage für politische Entscheidun-gen bilden. Eine systematische und umfassendeAnalyse aller Optionen kann jedoch als wichtigesInstrument für deren relative Bewertung dienen,auch wenn teilweise Unwissenheit vorherrscht.

Im Jahr 1998 wurde eine Kosten-Nutzen-Analysedes Einsatzes von MTBE in Kalifornien durchge-führt (Keller et al., 1998a). Bei dieser Analyse wur-den die Vorteile für die Gesundheit des Men-schen aufgezeigt, die sich aus der Beherrschungder Luftverschmutzung ergaben, und anschlie-ßend die Kosten des Einsatzes von MTBE in denfolgenden Bereichen analysiert:

➔ Gesundheitskosten infolge steigender Krebser-krankungszahlen durch Luftverschmutzungdurch MTBE und dessen Verbrennungsneben-produkten (Aldehyde);

➔ Kosten für die Abwehr von Gesundheitsschä-den durch Wasseraufbereitung oder Verwen-dung alternativer Wasserversorgungsquellen;

➔ von den Verbrauchern gezahlte direkte Kos-ten, die als steigende Kraftstoffpreise sowie alsein infolge des Einsatzes von Oxygenaten sin-kender Kraftstoffwirkungsgrad spürbar wer-den;

➔ Monitoring-Kosten;➔ Erholungskosten;➔ Schädigung des Ökosystems.

In der Analyse wurden Kosten und Nutzen desEinsatzes von MTBE und Ethanol und des Einsat-zes von nicht sauerstoffangereichtem Ottokraft-stoff mit Toluol oder Isooktan verglichen. Her-kömmlicher Ottokraftstoff, wie er vor der Einfüh-rung von RFG verkauft wurde, diente dabei alsVergleichskraftstoff.

Die Vorteile in Form verbesserter Luftqualitätwaren bei allen drei Optionen in etwa gleich, daalle Rezepturen in etwa die gleiche Senkung derEmissionen an CO und Ozonvorläufern erreichen.Die Vorteile in Form verbesserter Luftqualitätgalten als relativ geringfügig und wurden auf14 Mio. USD bis 78 Mio. USD jährlich beziffert.

Infolge der beim Einsatz von MTBE entstehen-den Wasseraufbereitungskosten erwies sichMTBE als die kostenintensivste Option, wenn alle

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Kosten mit berücksichtigt werden. Ausgehendvon einer Schätzung der Anzahl der gegenwär-tig mit MTBE verseuchten Grundwasserquellenund Oberflächenwasserreservoirs wurden die ge-schätzten Gesamtkosten für die Wasseraufberei-tung in Kalifornien auf 340 Mio. USD bis 1 480Mio. USD pro Jahr geschätzt. Diesen Kosten lagdie Annahme zugrunde, dass kontaminiertesWasser mit Aktivkohlegranulat auf eine Konzen-tration unter 5 µg/l aufbereitet werden könnte.Wie bereits zuvor beschrieben, gibt es mögli-cherweise billigere Methoden. Bei nicht sauer-stoffangereicherten Ottokraftstoff- und Ethanol-mischungen wäre der Kostenunterschied für dieSanierung bzw. Wasseraufbereitung gegenüberherkömmlichem Benzin gering. Zu den weiterenwichtigen, dem Einsatz von MTBE zuzurechnen-den Kosten zählen der von den Verbrauchern di-rekt bezahlte Preis für sauerstoffangereichertenOttokraftstoff (435 Mio. USD bis 1 055 Mio. USDpro Jahr) sowie der mögliche Wegfall privaterNutzungsmöglichkeiten von Sportbooten, umdiese Quelle einer MTBE-Kontaminierung vonOberflächengewässern auszuschalten (160 Mio.USD bis 200 Mio. USD pro Jahr). Im Bericht wur-de abschließend festgestellt, dass sich mit nichtsauerstoffangereichertem Ottokraftstoff das Zieleiner Verbesserung der Luftqualität mit den ge-ringsten Kosten – gefolgt von Kraftstoffsortenauf Ethanolbasis – erreichen lässt.

Angesichts der Unwissenheit, die im Verständnisder gesundheitlichen Folgen von MTBE nach wievor bestehen, kann eine Kosten-Nutzen-Analysestets nur provisorischer Natur sein. Möglicherwei-se sind weitere potenzielle Risiken noch über-haupt nicht bekannt. Wenn beispielsweise neueInformationen vorlägen, aus denen ein eindeuti-ger Zusammenhang zwischen dem Einsatz vonMTBE und einer Häufung der Asthmafälle nach-gewiesen werden könnte, würden die MTBE zuzu-rechnenden Gesundheitskosten erheblich anstei-gen. Ließe sich andererseits anhand neuer Datennachweisen, das sich MTBE in kommunalen Was-serwerken abbauen ließe, käme dies einem deut-lichen Rückgang der MTBE zuzurechnenden Kos-ten gleich.

Auf der Grundlage der gegenwärtig mit hinrei-chender Sicherheit bekannten Fakten ist MTBEallerdings aufgrund der Wasseraufbereitungs-kosten eine ausgesprochen kostspielige Option.Wenn wir darüber hinaus von einem Worst-Ca-se-Szenario der gesundheitsschädlichen Folgendes Einsatzes von MTBE ausgehen, würden die

Schadensbeseitigungskosten noch weiter anstei-gen und damit die Präventionskosten bei wei-tem übersteigen. Es besteht dahingehend allge-meine Übereinstimmung, dass bei der Anwen-dung des Vorsorgeprinzips die Kosten etwaigerVorsorgemaßnahmen in angemessener Relationzu dem damit erreichbaren Nutzen stehen müs-sen. Die potenziell immens hohen Kosten desEinsatzes von MTBE würden daher entsprechen-de, verhältnismäßig kostenintensive Gegenmaß-nahmen erfordern.

Noch ist unklar, wer für die durch den Einsatzvon MTBE verursachten Kosten zur Verantwor-tung zu ziehen wäre. Aus unserer Analyse ergibtsich, dass sowohl die Industrie als auch die Ge-sellschaft (vertreten durch den Gesetzgeber) in ih-rer Entscheidung, Blei im Kraftstoff durch MTBEzu ersetzen, kurzsichtig handelten. Aus diesemGrund ist ein einziger Schuldiger, der die Kostenfür die Abhilfemaßnahmen zu tragen hat, nurschwer zu benennen. Von wem geht die Umwelt-belastung aus, wer muss dafür zahlen? Bis jetztwurde der überwiegende Teil der durch den Ein-satz von MTBE verursachten Kosten durch die Ge-sellschaft in Form von Kosten für Risikominde-rungsmaßnahmen, Wasseraufbereitung oder al-ternative Wasserquellen getragen. Die Folgen jeg-licher Entscheidungen im Zusammenhang mitunseren Massenverkehrsmitteln sind weit rei-chender Natur. Aus diesem Grund wäre die Ge-sellschaft unter dem Aspekt vorausschauenderPlanung gut beraten, jetzt auf diejenigen Alter-nativen zu MTBE zu setzen, die sich auf bewährteumwelttechnische Verfahren stützen, auch wenndiese Alternativen kurzfristig teurer sind. Die ge-wählten Alternativen müssen die beste Eignungfür die Bedürfnisse der Gegenwart und auch derZukunft aufweisen.

11.9. Schlussfolgerungen

Wäre man bei der Einführung von MTBE voraus-schauend vorgegangen, hätte die Möglichkeit be-standen, bereits vorherzusagen, dass die Persis-tenz von MTBE später zu einem gesellschaftlichproblematischen Faktor werden würde. Persis-tenz, Mobilität und hohe Produktionsmengenvon MTBE hätten zu systematischen, umfassen-den Untersuchungen der wahrnehmbaren nach-teiligen Eigenschaften dieses Stoffs führen müs-sen. Hierbei hätten bereits frühzeitig Ge-schmacks- und Geruchsprobleme und der Ver-

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dacht karzinogener Wirkung von MTBE aufge-zeigt werden können und die Chemikalie hätteentweder von diesem Verdacht entlastet oder derVerdacht hätte bestätigt werden können.

Die Gefahr einer Grundwasserverseuchung durchdie Persistenz und den ausgeprägten Geruch undGeschmack von MTBE wurde lange Zeit ignoriert,

ist heute aber allgemein anerkannt. Die Klassifi-zierung von MTBE hinsichtlich seiner Karzinoge-nität ist auch lange nach seiner Einführung alsgroßmaßstäblich produzierte Chemikalie nachwie vor ungewiss. Unser Kenntnisstand in derFrage einer möglichen Unterbrechung des endo-krinen Systems und der Asthma auslösendenWirkungen von MTBE ist durch weitgehende Un-

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 11.1. MTBE: FRÜHE WARNUNGEN UND MAßNAHMEN

1954Die geringe biologische Abbaubarkeit der Etherfamilie in Wasser wird erstmals in einem wissenschaftlichenAufsatz nachgewiesen

1960Informationen zu Geschmacks- und Geruchsbildung in Wasser und geringer biologischer Abbaubarkeit liegen inFachbuch vor

1990 Erste Anzeichen für mögliche Grundwasserverschmutzungen durch MTBE werden im Labormaßstab ermittelt

1990 Deutlicher Anstieg der Verwendung von MTBE in den USA im Zuge der Änderungen des Clean Air Act

1990 Umfassende Untersuchungen zur Karzinogenität werden in den 90er Jahren eingeleitet

1995MTBE wurde in Brunnen für die Trinkwasserversorgung von Santa Monica (Kalifornien) festgestellt. Durch dienotwendige Brunnenschließung fielen 71 % der kommunalen Wasserversorgung der Stadt aus

1996Nach einem Bericht des US Geological Survey werden zunehmende Befürchtungen hinsichtlich der Umweltfolgen laut

1997In einer Felduntersuchung wird nachgewiesen, dass MTBE hochgradig löslich, mobil und persistent ist und damiteine potenzielle Gefährdung des Grundwassers bedeutet

1998In einem Bericht der dänischen Umweltschutzbehörde wird festgestellt, dass die Regierung 1990 über möglicheGrundwasserbelastungen durch MTBE unterrichtet worden war, und ein Aktionsplan zur Sanierung undRisikominderung der MTBE-Belastungen vorgelegt

1999Kalifornien empfiehlt die baldmöglichste Eliminierung von MTBE aus Ottokraftstoffen, spätestens jedoch Ende 2002

2000In einigen Städten verdichten sich die Anzeichen, dass MTBE als Ursache für Asthmaerkrankungen in Betracht kommt

2000 Es treten Anzeichen auf, dass MTBE zur Unterbrechung des endokrinen Systems führen kann

2000Das EPA der USA kündigt an, dass Maßnahmen zur weitgehenden Verringerung oder Beseitigung von MTBE alsKraftstoffadditiv eingeleitet werden

2000 Die Umweltschutzbehörde Dänemarks setzt MTBE auf die Liste unerwünschter Substanzen

2001Die EU legt einen Bericht zur Risikoanalyse und Risikominimierung im Zusammenhang mit MTBE vor. Das EuropeanChemicals Bureau beschließt, MTBE nicht als Karzinogen einzustufen

2001 Die Debatte hält an

wissenheit gekennzeichnet. Weitere Forschungs-arbeiten in diesen Bereichen werden empfohlen.

Aufgrund seiner Persistenz in Grundwasser gehtvon MTBE ein ständiges, bleibendes Risiko unum-kehrbarer negativer Auswirkungen aus. Diese ne-gativen Auswirkungen könnten sich durch be-kannte Erscheinungen wie Geschmacks- und Ge-ruchsbelastung von kontaminiertem Trinkwasseroder aber durch bis jetzt noch unbekannte nach-teilige Folgen bemerkbar machen.

Die zentrale, prinzipielle Frage lautet: Bedeutetdie Persistenz dieser Substanz für sich alleine –ohne Anzeichen für weitere negative Begleit-erscheinungen – einen ausreichenden Grundfür die Anwendung des Vorsorgeprinzips? Esscheint die Schlussfolgerung angemessen, dasssystematische, umfassende und gründliche Un-tersuchungen aller bekannten möglichen nach-teiligen Wirkungen durchgeführt werden soll-ten, bevor große Mengen einer persistentenChemikalie in die Umwelt freigesetzt werden.Diese Untersuchungen müssen neu aufgenom-men und fortgesetzt werden, sobald neue Kate-gorien nachteiliger Wirkungen entdeckt wer-den. Darüber hinaus wäre es – da persistenteChemikalien für uns und zukünftige Genera-tionen eine Vielzahl möglicher Wirkungen,deren Folgen wir noch überhaupt nicht kennen,mit sich bringen – vernünftig, nach Alternati-ven zum Einsatz persistenter Chemikalien zusuchen, soweit dies irgend möglich ist. Mittler-weile sind zahlreiche Beispiele persistenter Che-mikalien bekannt (u.a. Fluorchlorkohlenwasser-stoffe, Polychlorbiphenyle und Tributylzinn), diehöchst unwillkommene „Überraschungen“ miternsten Auswirkungen verursachten.

Vorausschauendes Handeln sollte für uns Anlassgenug sein, alternative Entscheidungen gründ-lich zu untersuchen und die Alternativen zu prü-fen, wenn die Grenzen der gegenwärtigen Ent-scheidungen deutlich werden. Bewährte umwelt-technische Verfahren wie z. B. die Risikominde-rung sind weiterzuverfolgen. Da die Möglichkei-ten einer Risikominderung möglicherweise nichtausreichen, sollte die Erforschung und Entwick-lung von Alternativen aktiv gefördert werden, da-mit diese möglichst bald Praxisreife erreichen.Durch derartige gründliche Untersuchungenmuss gewährleistet werden, dass die Entscheidun-gen robust und flexibel ausgestaltet werden, sodass sie in Zukunft an unvorhergesehene Um-stände angepasst werden können. Vorausschau-

endes Handeln, wie es im Vorsorgeprinzip zumAusdruck kommt, ist also der Garant für die Zu-kunftsfähigkeit im Rahmen der Nachhaltigkeit.

11.10. Literatur

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Michael Gilbertson

12.1. Erste auffällige frühe Warnungen

Mit der Expansion der Chemieproduktion und desEinsatzes von chloroganischen Verbindungen imLaufe des 20. Jahrhunderts setzte weltweit eine zu-nehmende Kontaminierung der Umwelt durch ei-ne Vielzahl unterschiedlicher toxischer und zu-dem persistenter chlororganischer Rückstände ein.Die wahrscheinlich wichtigste „frühe Warnung“vor dieser Problematik lässt sich an der Veröffentli-chung von Silent spring durch Rachel Carson(1962) festmachen. Dieses Buch enthält die nachdem damaligen Kenntnisstand vorliegenden Hin-weise auf weiter zurückliegende frühe Warnun-gen vor den Folgewirkungen chlororganischer Pes-tizide auf den Fisch- und Wildtierbestand undwarnt insbesondere vor den Gefahren, die durchdas von diesen chemischen Substanzen hervorge-rufene Krebsrisiko für den Menschen ausgehen.

In einer bestimmten Gegend Nordamerikas – imGebiet der Großen Seen – wurden die wirtschaftli-chen und politischen Folgen der Kontaminierungdurch chloroganische Verbindungen eingehenduntersucht, insbesondere nach der Veröffentli-chung von Silent spring. Die Grenze zwischen denVereinigten Staaten von Amerika und Kanadaverläuft durch vier der fünf Großen Seen. FrüheWarnungen vor der Verschmutzung dieses riesi-gen Ökosystems wurden aus unterschiedlichenQuellen laut, nicht nur in Form chemisch-analyti-scher Beobachtungen des Vorhandenseins vonRückständen dieser chlororganischen Verbindun-gen, sondern auch durch Beobachtungen der anPopulationen von Wildorganismen, insbesonderean Greifvögeln, eingetretenen Veränderungen.

Die ersten analytischen Ergebnisse über das Vor-handensein von chlororganischen Verbindungenin den Organismen in den Großen Seen wurdenvon Dr. Joseph Hickey und dessen Mitarbeiternveröffentlicht; Gegenstand dieser Veröffentlichun-geun war die biologische Anreicherung mit DDT

(Dichlorodiphenyltrichlorethan) und dessen Meta-boliten sowie von Dieldrin in einer Nahrungsket-te im Lake Michigan (Hickey et al., 1966). Weiterechlororganische Pestizide wie Lindan, Heptachlor,Aldrin und Endrin wurden in Proben aus den Ge-wässern des Lake Erie nachgewiesen (Pfister et al.,1969). Nachdem Polychlorbiphenyl (PCB) in ei-nem Weißschwanzseeadler in Schweden festge-stellt worden war (Jensen, 1966), wurden Analyse-verfahren entwickelt, mit denen sich das Vorhan-densein von PCB (Reynolds, 1969) in Proben ausden Großen Seen nachweisen ließ. In der Folge-zeit wurde mit Hilfe dieser Verfahren festgestellt,dass Hexachlorbenzol in Proben aus den Eiernder Gemeinen Seeschwalbe in Hamilton Harbour,Ontario, nachweisbar war (Gilbertson und Rey-nolds, 1972). In der Folgezeit wurde das Brand-schutzmittel und Pestizid Mirex in Fischen ausdem Lake Ontario nachgewiesen (Kaiser, 1974).

Die ersten Berichte über die Auswirkungen chlor-organischer Verbindungen auf die Vogelpopula-tionen an den Großen Seen finden sich in den Ar-beiten der Studenten und Mitarbeiter von Dr. Jo-seph Hickey (Keith, 1966; Ludwig und Tomoff,1966), in denen die Wirkung von DDT und dessenMetaboliten sowie von Dieldrin auf die Fortpflan-zung und Sterblichkeit der Silbermöwe im LakeMichigan dokumentiert wird. Bereits zuvor warenBeobachtungen über den Populationsrückgangund ausbleibende Fortpflanzung von Weißkopf-Seeadlern in Florida veröffentlicht worden (Bro-ley, 1952; Broley, 1958); die Untersuchung derWeißkopf-Seeadler an den Großen Seen setzte da-gegen erst Mitte der sechziger Jahre ein, als be-reits ein Großteil der Population vernichtet wor-den war (Sprunt et al., 1973). Die ersten Beobach-tungen über Veränderungen der Beschaffenheitder Eierschalen wurden von Naturforschern beiStudienarbeiten auf Pigeon Island im Lake Onta-rio im Jahr 1963 publiziert (Edwards et al., 1963),als im Gelege eines Kormoranpaares zwei Eiermit ausgesprochen weichen Schalen gefundenwurden. Die erste veröffentlichte Beobachtung ei-nes missgebildeten Kükens eines Fischgreifvogelsbetraf ein Jungtier eines Weißkopf-Seeadlers

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12. DAS VORSORGEPRINZIP UND FRÜHE WARNUNGEN VOR DER KONTAMINIERUNG DER GROSSEN SEEN DURCH CHEMIKALIEN

(Grier, 1968). Systematische Untersuchungen derHäufigkeit von Missbildungen an Küken unter-schiedlicher Spezies fischfressender Vögel erfolg-ten Anfang der siebziger Jahre (Gilbertson et al.,1976). Mitte der sechziger Jahre war bei Zuchtner-zen – die mit Fischen aus den Großen Seen gefüt-tert wurden – ein Anstieg der Sterblichkeit von er-wachsenen und Jungtieren beobachtet worden,was sich einschneidend auf diesen Wirtschafts-zweig auswirkte (Hartsough, 1965).

Bedenken hinsichtlich der möglichen Auswirkun-gen chlororganischer Verbindungen auf denMenschen kamen erstmals 1974 am Beispiel ei-ner Gruppe von Fischern an den Großen Seen zurSprache (Humphrey, 1983). Durch den Verzehrvon kontaminiertem Fisch kam es zu erhöhtenPCB-Werten im menschlichen Organismus, aller-dings wurde dies nicht mit bereits erkanntenakuten Auswirkungen auf Fischfresser in Verbin-dung gebracht. Im Frühjahr 1978 gewannen die-se Bedenken dramatisch an Tragweite, nachdemLois Gibbs, die in einem Neubaugebiet in der Nä-he des Love Canal in Niagara Falls (New York)wohnte, mit der Untersuchung der Erkrankungs-fälle in ihrer Gemeinde und deren möglichemZusammenhang mit den 20 000 Tonnen toxi-scher Abfallstoffe begann, die in den 20 Jahrendavor von der Hooker Chemical Company im Ka-nal entsorgt worden waren. Diese Untersuchun-gen lösten eine Kettenreaktion psychosozialer Dy-namik in den Familien, unter den Fabrikarbei-tern, sowie innerhalb der Gemeinden und Institu-tionen wie der örtlichen Universität, Krankenhäu-sern, Kirchen und der Ärzteschaft aus (Levine,1982). Aus Verzweiflung heraus organisierte LoisGibbs ihre Nachbarn in der Love Canal Home-owners Association und nahm einen mehr alszwei Jahre währenden Kampf für die Umsiede-lung der betroffenen Bevölkerungsgruppe auf.Den Bemühungen dieser Gruppe standen aller-dings der Chemikalienhersteller Occidental Petro-leum (der die Hooker Chemical Company über-nommen hatte) sowie Politiker und Beamter aufkommunaler, bundesstaatlicher und staatlicherEbene gegenüber, die darauf beharrten, dass diean Lecks austretenden Chemikalien (u. a. auchDioxin) nicht als Ursache für das gehäufte Auftre-ten von Fehlbildungen, Fehlgeburten, Krebs undanderen Gesundheitsschäden in Frage kamen. ImOktober 1980 folgte dann schließlich die Emer-gency Declaration von Präsident Jimmy Carter,auf deren Grundlage 900 Familien aus dieser Ge-fahrenzone umgesiedelt werden konnten, womitdie Bürgerbewegung einen Sieg errungen hatte.

1981 gründete Lois Gibbs, nachdem die Einsichtüber den bleibenden Charakter der Kontaminie-rung in der Öffentlichkeit zunehmend an Bodengewann, das Center for Health, Environment andJustice (früher Citizens Clearinghouse for Hazar-dous Wastes), eine Vereinigung, die mehr als8000 Bürgerinitiativen in den gesamten USA mitorganisatorischen, Fach- und Grundlageninfor-mationen unterstützt.

Nachdem im Zuge der vorbereitenden Untersu-chungen zunehmende Besorgnis hinsichtlichüberhöhter PCB-Werte als Folge des Verzehrs vonFisch und hinsichtlich der Probleme am Love Ca-nal laut geworden war, wurde im Jahr 1980 dieBeobachtung einer Gruppe Kinder aufgenom-men, an der die Entwicklungsfolgen aufgezeigtwerden sollten, die durch den Verzehr von mitpersistenten toxischen Substanzen im Lake Michi-gan verseuchtem Fisch durch die Mütter hervor-gerufen wurden. Bei der Geburt wogen die Kin-der, die besonders hohen PCB-Konzentrationenausgesetzt gewesen waren, weniger und wieseneinen geringeren Kopfumfang auf (Fein et al.,1984); zudem zeigten sie ein oder mehrere Ver-haltensdefizite (Jacobson et al., 1984). Untersu-chungen und Tests in der Folgezeit ergaben, dassder Wachstumsrückstand irreversibel war unddass im Alter von sieben Monate bzw. vier JahrenAuswirkungen auf das Kurzzeitgedächtnis sowieeine Beeinträchtigung der Konzentrationsfähig-keit feststellbar waren (Jacobson et al., 1990; Ja-cobson und Jacobson, 1993). Tests im Alter von 11Jahren ergaben, dass die Kinder, die in utero be-sonders hohen Konzentrationen ausgesetzt gewe-sen waren, IQ-Werte aufwiesen, die mehr alssechs Punkte unter denen der Vergleichsgruppelagen (Jacobson and Jacobson, 1996). Die deut-lichsten Auswirkungen waren bei Gedächtnisleis-tung und Konzentrationsfähigkeit festzustellen,wobei die Kinder, die den höchsten Konzentratio-nen ausgesetzt gewesen waren, dreimal so häufigunterdurchschnittliche IQ-Werte und doppelt sohäufig einen Rückstand von mindestens zwei Jah-ren im Leseverständnis zeigten.

12.2. Zeitpunkt und Art der in der Folge eingeleiteten bzw. unterbliebenen Maßnahmen

Den Informationen über Vorhandensein undAuswirkungen chlororganischer Chemikalien inden Großen Seen in den sechziger Jahren war

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nicht nur die Veröffentlichung von Silent springim Jahr 1962 vorausgegangen, sondern auch Er-hebungen im Vereinigten Königreich zu den Ri-siken, denen Arbeiter bei der Verarbeitung vonPestiziden ausgesetzt sind (1951), sowie zu Rück-ständen in Nahrungsmitteln (1953) und zur Ge-fährdung des Wildtierbestands (1955) (zitiert inCook, 1964). 1961 wurde von den Behörden dasfreiwillige Verbot der Verwendung von Aldrin,Dieldrin und Heptachlor für die Saatgutbehand-lung von im Frühjahr ausgesäten Getreidesortenbeschlossen. Weitere Beschränkungen wurden1964 beschlossen, nachdem eine hohe Sterblich-keit unter Vögeln, die sich von Saatgut ernäh-ren, und ein weit verbreiteter Rückgang der Po-pulationszahlen des Wanderfalken beobachtetworden waren (Ratcliffe, 1972). Gegen diese Be-strebungen wandte sich die Shell Chemical Com-pany, die feststellte (Robinson, 1967): „Die Korre-lation zwischen dem Verwendungszeitraum vonAldrin/Dieldrin und dem Rückgang der Popula-tionen ist nur schwer zu beurteilen, da keineausreichenden quantitativen Daten vorliegen,die bei irgendwelchen dieser Greifvögel für dieAufstellung präziser Zusammenhänge herange-zogen werden können. Es ist unmöglich, aus die-sen Erhebungen in eindeutiger Form einen be-stimmten Zusammenhang zwischen dem Einsatzvon Aldrin/Dieldrin und dem Bruterfolg desWanderfalken abzuleiten.“

Diese Skepsis war auch auf jenseits des Atlantikin entsprechender Form anzutreffen. Linda Lear(1997) beschreibt in ihrer Biografie von RachelCarson die heftige Kontroverse, die sich in denfünfziger und sechziger Jahren um den Einsatzchloroganischer Pestizide entfachte, und die ein-deutige Stellungnahme des US National Academyof Sciences National Research Council in seinemheftig umstrittenen Bericht mit dem Titel „Pestcontrol and wildlife relationships“ („Zusammen-hänge zwischen Pestizideinsatz und Wildtieren“).Der Abdruck von Silent spring in Fortsetzungs-form 1962 im US-Magazin New Yorker in 1962hatte prompt ein Schreiben des Rechtsberatersder Velsicol Chemical Company an HoughtonMifflin, den Verlag von Silent spring, zur Folge,worin rechtliche Schritte für den Fall angedrohtwurden, dass der letzte Teil im New Yorker nichtgestrichen werde (Lear, 1997). Nach der Veröf-fentlichung von Silent spring gab die NationalAgricultural Chemicals Association (NACA) einekritische Informationsbroschüre mit dem Titel„Fact and fancy“ („Fakten und Einbildung“) he-raus, die den Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen

mit einem Anschreiben zugeleitet wurde, worindarauf verwiesen wurde, dass zukünftige Anzei-genschaltungen entscheidend beeinträchtigt wer-den könnten, falls Silent spring positiv rezensiertwerde (Lear, 1997).

Im November 1963 kam es zu einem massenhaf-ten Fischsterben am unteren Mississippi, als des-sen Ursache später das chlororganische PestizidEndrin und der Hersteller der Chemikalie, dieVelsicol Chemical Company in Memphis, ausge-macht wurden. Als politische Reaktion hieraufwurde die Erstellung eines Gesetzesentwurfs überdie Gewässerreinhaltung (Clean Water Bill) undeines vorsorglichen Erlasses durch Stewart Udallals Secretary im US-Innenministerium vorange-trieben, in dem der Einsatz von Pestiziden über-all dort verboten wurde, wo begründete Sicher-heitsbedenken bestanden (Lear, 1997). Selbst vierJahre später veröffentlichte die Shell ChemicalCompany (1967) allerdings immer noch einen Be-richt, in dem behauptet wurde: „Die Beteiligungvon Endrin beim Fischsterben 1963 im Mississippikonnte durch neuere Untersuchungen nicht er-härtet werden.“

Die Behörden der Vereinigten Staaten konntensich lange Zeit nicht zu irgendwelchen Maßnah-men durchringen, und das US-Landwirtschafts-ministerium, das für die Zulassung von Pestizi-den verantwortlich ist, neigte dazu, sich denStandpunkt der Pestizidhersteller und Landwirtezueigen zu machen. Nachdem Victor Yannacone1966 im Namen des Brookhaven Town NaturalResources Committee Klage mit dem Ziel erho-ben hatte, den Einsatz von DDT durch die SuffolkCounty (Long Island, New York) Mosquito Con-trol Commission zu unterbinden, wurde 1967der Environmental Defense Fund gegründet. Die-ser Verband, der sich aus Anwälten, Wissen-schaftlern und Wirtschaftsfachleuten zusam-mensetzt, erhob zunächst in Wisconsin und spä-ter in Washington, DC, Klage gegen das US-Land-wirtschaftsministerium, um die Zulassung vonDDT aufheben zu lassen. Die Zuständigkeit fürdie Zulassung von Pestiziden wurde auf die neugegründete US Environmental Protection Agencyübertragen, die Klage des Environmental Defen-se Fund führte jedoch letztendlich dazu, dass dieZulassung von DDT 1972 und die von Dieldrin1973 durch Verwaltungsgerichtsbeschlüsse wi-derrufen wurden. In Kanada setzte Professor Do-nald Chant (1969) im Namen der neu gegründe-ten Pollution Probe an der Universität Torontobei den kanadischen Gesundheits- und Landwirt-

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schaftsministerien erfolgreich das Verbot vonDDT und verwandten Pestiziden durch. Diese na-tionalen Entscheidungen waren schon bald ansinkenden Konzentrationen chloroganischer Pes-tizide in den Großen Seen abzulesen, die zu ei-ner allmählichen Erholung der Population undder Fortpflanzungsraten des Weißkopf-Seeadlersführten (Grier, 1982).

Daneben fielen auf nationaler und internationa-ler Ebene noch weitere Entscheidungen, die sichunmittelbar auf die Konzentrationen chlororgani-scher Verbindungen in den Großen Seen auswirk-ten. Im Federal Water Pollution Control Act von1972 wurde der Grundstein für die Reglementie-rung der Schadstoffemissionen in US-Gewässerngelegt. In Kanada wurden in den Nachträgen von1970 zum Fisheries Act bundesstaatliche Kontroll-mechanismen für die Gewässerverschmutzungverankert. 1970 gab Monsanto als einziger Her-steller von PCB in Nordamerika bekannt, dassman den Verkauf von PCB für die offene Verwen-dung, z. B. in Klebstoffen, Dichtmitteln, Chlor-kautschuk, Speziallacken oder feuerbeständigenHydraulikflüssigkeiten, beschränken werde (Mon-santo, 1970).

Auf regionaler Ebene hatten die Regierungen derVereinigten Staaten und Kanadas die Frage derGewässerverschmutzung der unteren GroßenSeen an die International Joint Commission (IJC)verwiesen. In den sechziger Jahren gründete sichdie Hauptsorge noch auf die Eutrophierung derGroßen Seen, insbesondere des Lake Erie, dochim Bericht an die IJC (1969) wurde ausdrücklichauf das Vorhandensein chlororganischer Verbin-dungen in Fischen und Wildtieren verwiesen.Auf der Grundlage dieses Berichts wurde 1972das Wasserqualitätsabkommen für die GroßenSeen (Great Lakes Water Quality Agreement) ge-schlossen und von Präsident Nixon und Premier-minister Trudeau unterzeichnet. Mit dem Auf-kommen neuer Informationen über Existenz undWirkung toxischer Substanzen in den GroßenSeen in den siebziger Jahren standen auch diepolitische Diskussion und die Gesetzgebung inbeiden Ländern unter entsprechenden Einflüs-sen. Nachdem beispielsweise Mirex in Fischbe-ständen im Lake Ontario nachgewiesen wordenwar (Kaiser, 1974), wurde im Bundesstaat NewYork der Besitz von im Lake Ontario gefangenenFischen verboten. Gegen dieses Vorsorgekonzeptkam es allerdings zu derart flagranten Verstößen,dass man es bereits nach wenigen Monaten wie-der fallenließ.

Als das Great Lakes Water Quality Agreement1978 neu ausgehandelt wurde, verankerten diezuständigen Behörden darin Vorsorgemaßnah-men, wonach die „Freisetzung sämtlicher persis-tenten toxischen Substanzen praktisch völlig ein-gestellt werden“ sollte. In den achtziger Jahrengestaltete sich die Politik allerdings in beidenLändern gänzlich anders als in den siebziger Jah-ren, als die Neuverhandlungen über das Great La-kes Water Quality Agreement anstanden. Seitensstaatlicher Stellen wurden Zweifel an den Aussa-gen über die Auswirkungen persistenter toxi-scher Substanzen auf Mensch und Tier an denGroßen Seen laut und es kamen Forderungennach Beweisen für einen kausalen Zusammen-hang auf, bevor „massive“ öffentliche oder priva-te Mittel für Sanierungsmaßnahmen bewilligtbzw. ausgegeben würden.

12.3. Auswirkungen der Reaktionen der Behörden

Die vergangenen dreißig Jahre waren durch Re-aktionen der Behörden gekennzeichnet, die zueiner deutlichen Verbesserung der Wasserquali-tät in den Großen Seen beitrugen, insbesondereim Hinblick auf eine Verringerung der Quellenpersistenter toxischer Substanzen und auf rück-läufige Eintragsmengen und Konzentrationendieser Substanzen. Bereits im Anfangsstadiumdieser Prozesse wurden Indikatororganismen wiez. B. Seeforellen und die Eier von Silbermöwen(Pekarik und Weseloh, 1998) bestimmt und analy-siert, um die Entwicklung der Konzentrationenverfolgen zu können. Anhand der Ergebnisse die-ser Analysen ließ sich ein deutlicher Konzentrati-onsrückgang zwischen der Mitte der siebzigerJahre und den frühen achtziger Jahren nachwei-sen (Stow et al., 1999). Der Konzentrationsverlaufzeigt im Allgemeinen einen Rückgang erster Ord-nung, wobei sich der Rückgang technisch in glei-chen logarithmischen Raten fortsetzt, währenddie Kurven in der Praxis allerdings einen vonNull verschiedenen asymptotischen Verlauf mitKonzentrationen zeigen, die nach wie vor toxiko-logisch signifikant sind.

So liegen beispielsweise die gegenwärtigen PCB-Konzentrationen in den Gewässern um rund zweiGrößenordnungen über dem festgelegten Was-serqualitätsgrenzwert für den Schutz der mensch-lichen Gesundheit, der sich an der Beurteilungdes Krebsrisikos orientiert. Im Zuge der politi-

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schen Veränderungen in beiden Ländern im Lau-fe der achtziger Jahre scheint die Eindämmungder Freisetzung von chlororganischen Verbindun-gen oder die Sanierung diffuser Kontaminie-rungsquellen, z. B. kontaminierter Deponiegelän-de, Sedimente und Luftverunreinigungen, nichtin dem Maße vorangekommen zu sein, wie esnotwendig gewesen wäre, um die menschlicheGesundheit zu schützen. Damit bleibt die Frageim Raume, ob die gegenwärtigen Kontaminie-rungsniveaus für den Menschen eine Gefahr dar-stellen und ob die Folgewirkungen derart schwer-wiegend sind, dass sie die Umsetzung der stren-gen Auflagen des Great Lakes Water QualityAgreement rechtfertigen, insbesondere hinsicht-lich der Wiederherstellung der Wasserqualität.

1990 bildete die inzwischen verstorbene Dr. He-len Daly ein Team zur Nachstellung der epide-miologischen Untersuchungen am Lake Michi-gan; hierzu wurde in Oswego, New York, eineGruppe mit Kindern gebildet, deren Mütter Fischaus dem Lake Ontario verzehrt hatten. Bei denForschungsarbeiten wurde zwar nicht der gleicheZusammenhang zwischen dem Verzehr von Fischdurch die Mütter in der Zeit vor der Schwanger-schaft und den Auswirkungen auf Körpergewichtund Kopfumfang festgestellt, doch wurden diegleichen Verhaltensauffälligkeiten beobachtet(Lonky et al., 1996). Darüber hinaus konnte in An-lehnung an Untersuchungen an Ratten (Daly,1993) nachgewiesen werden, dass die Kinder der-jenigen Mütter, die besonders viel Fisch zu sichgenommen hatten, besondere Schwierigkeitenbei der Bewältigung seelisch belastender Ereig-nisse hatten. In der Folge ließ sich in chemisch-analytischen Untersuchungen ein spezifischer Zu-sammenhang zwischen derartigen Verhaltensauf-fälligkeiten und der pränatalen Belastung durchhoch chlorierte Biphenyle nachweisen (Stewart etal., 2000).

Als Reaktion auf die allerorten um sich greifendeSkepsis der achtziger und neunziger Jahre gingeine kleine Gruppe Wissenschaftler zum Einsatzneuer Verfahren (Fox, 1991) zur Integration vonBeweisen über, mit denen ein kausaler Zusam-menhang zwischen der beobachteten Schädi-gung des Tierbestands und der menschlichen Ge-sundheit und der Belastung durch persistente to-xische Substanzen aufgezeigt werden sollte. Ausdiesem Verfahren gingen verschiedene Fallstudi-en hervor, in denen ein Zusammenhang zwi-schen den Auswirkungen auf unterschiedlicheOrganismen (auch auf den Menschen) und spezi-

fischen chemischen Ursachen hergestellt wurde(erörtert in Gilbertson, 1996). Allerdings wurdenverschiedentlich Einwände gegen ein derartigesKonzept geäußert. So wandte z. B. O’Brien (1994)ein, dass dieser Ansatz nicht als Vorsorgemaß-nahme gelten könne. Das Vorsorgeprinzip ist perDefinition auf Umstände anzuwenden, in deneneine hochgradige Unsicherheit besteht. Die An-wendung dieses a-posteriori-Prozesses ist daraufausgelegt, Unsicherheiten unter Verwendungsämtlicher vorliegenden Beweise abzubauen, umeinen kausalen Zusammenhang aufzuzeigen.Dies steht jedoch der besonderen Notwendigkeit,das Vorsorgeprinzip anzuwenden, entgegen.

In ähnlicher Weise ließen sich in letzter Zeit ausder Anwendung postnormaler wissenschaftlicherPrinzipien (Funtowicz und Ravetz, 1993) auf dieUmsetzung des Great Lakes Water Quality Agree-ment – nach den Prämissen der Komplexität undUnsicherheit des Systems -multikausale ökologi-sche Aussagen in besonderem Maße legitimieren(Shear, 1996; Hartig et al., 1998; Donahue, 1999).Die hier angenommene Komplexität und Unsi-cherheit erwies sich als nicht unwillkommen fürjene Interessengruppen, die nur zögerlich diekostspieligen Sanierungsverfahren umsetzen wol-len, die im Great Lakes Water Quality Agreementverankert sind. Demgegenüber stützen sich diekausalen Aussagen der Toxikologen auf die Inte-gration einer Vielzahl unterschiedlicher Beweise,die nach einfachen linearen Systemen aus dertraditionellen Wissenschaft gewonnen wurden.Diese ergeben zum einen ein hohes Maß an Si-cherheit, so dass die Notwendigkeit, das Vorsor-geprinzip anzuwenden, hinfällig ist. Zum ande-ren ließen sich die kausalen Zusammenhänge alszuverlässige und wissenschaftlich vertretbareGrundlage für Abhilfemaßnahmen heranziehen,mit denen die Wasserqualität wiederhergestelltwerden soll. Dies ist besonders in Fällen wie demder Großen Seen nützlich, in denen die Wasser-qualität chronisch durch die Freisetzung toxi-scher Substanzen chronisch beeinträchtigt wurdeund die dort lebenden Organismen, nicht zuletztauch der Mensch, über lange Zeit hinweg geschä-digt wurden. Abhilfemaßnahmen, die sich aufdiese Aussagen stützen und mit denen die in gra-vierender Weise kontaminierten Sedimente sa-niert und die Lecks an den Chemikaliendeponiengesichert werden sollen, wären als Vorsorgemaß-nahmen dagegen geeignet, dass eine weitere Ge-neration von Kindern heranwächst, die pränatalchemischen Substanzen ausgesetzt sind, welcheeine tief greifende Veränderung der strukturellen

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und funktionalen Entwicklung nach sich ziehen(Colborn und Clement, 1992; Colborn et al.,1998). In diesem Sinne besteht eine ausgeprägtekognitive Diskrepanz zwischen den in den ver-gangenen 20 Jahren zum Problem der Gesund-heitsschäden vorgelegten wissenschaftlichen Er-kenntnissen (Johnson et al., 1998 und 1999) undder Reaktion der Regierungen auf die Umsetzungder im Great Lakes Water Quality Agreement ver-ankerten politischen Maßnahmen.

12.4. Kosten und Nutzen

Welche Kosten und welcher Nutzen ergaben sichaus diesen Maßnahmen und wie verteilen sie sichim zeitlichen Verlauf? In den vergangenen 20Jahren waren weitreichende Verbesserungen inder Entwicklung und Anwendung von Verfahrenzur Kosten-Nutzen-Abschätzung in Relation zuchemischen Umweltschäden festzustellen (siehez. B. Swanson und Vighi, 1998). Zu den Auswir-kungen persistenter toxischer Substanzen in denGroßen Seen und der Beseitigung dieser Substan-zen aus Verklappungsstellen, kontaminierten De-ponien und Sedimenten wurden verschiedeneKosten-Nutzen-Analysen durchgeführt. Bei Bur-traw und Krupnick (1999) findet sich z. B. eineBeschreibung der Verfahren zur Messung der fi-nanziellen und nicht-finanziellen gesundheitli-chen Vorteile im Zusammenhang mit dem Schad-stoffabbau als Teil eines Programms, mit dem dieWasserqualität der Großen Seen verbessert wer-den soll.

Im Zuge der Erarbeitung der Great Lakes WaterQuality Guidance (US EPA, 1993) im Rahmen desClean Water Act wurde eine Kosten-Nutzen-Ana-lyse durchgeführt. Grenzkosten wurden für denBau zusätzlicher Wasseraufbereitungseinrichtun-gen und für Prozessveränderungen, worunterProgramme zur Vorbeugung gegen Verschmut-zung sowie Abfallminimierungsprogramme fal-len, sowie für zusätzliche Überwachungspro-gramme und Vorbehandlungsprogramme be-rechnet. Diese wurden für 316 große kommunaleEinleitungsquellen, 272 große industrielle Einlei-tungsquellen sowie 3207 kleinere Einleitungs-quellen unter vier verschiedenen Szenarien un-tersucht. Diffuse Verschmutzungsquellen bliebendabei unberücksichtigt. Die jährlichen Gesamt-kosten für die Erfüllung der Auflagen in den USAwurden je nach Szenario im Jahr 1992 auf 80 bis200 Mio. USD (ca. 80–200 Mio. EUR) geschätzt.

Die Detroiter Abasseraufbereitungsanlage (De-troit Wastewater Treatment Plant), eine der grö-ßeren nicht diffusen Verschmutzungsquellen derGroßen Seen, leitet pro Jahr mehr als 100 kg PCBein. Seit 1971 wurden fast 1 Milliarde USD für dieModernisierung der Abwasserkanalinfrastrukturaufgewandt; in neuerer Zeit wurden 120 Mio.USD für die Betriebsoptimierung durch den Baueiner Pumpstation investiert. Darüber hinaussind weitere Investitionen mit einem Volumenvon 1 Milliarde USD geplant, die u. a. die Auswei-tung der primären Aufbereitungskapazitäten ein-schließen. Ob durch diese Kosten eine Verringe-rung der PCB-Freisetzungen aus der Anlage er-reicht wird, ist ungewiss.

Verschiedene Untersuchungen wurden auch zuKosten und Nutzen der Sanierung von Chemika-liendeponien durchgeführt. Eine Untersuchung(Sudar und Muir, 1989) betraf auslaugende chlor-organische Schadstoffe aus vier der größten De-poniestätten in der Nähe des Niagara River ober-halb des Lake Ontario. Dabei wurden die drei fol-genden Optionen geprüft: keinerlei Maßnahmen,Rückhaltung sowie Abtragung und thermischeEntsorgung. Dabei wurden kurz- und langfristigeZeiträume unter dem Aspekt dessen, wer die Kos-ten trägt und wer den Nutzen hat, unter Anset-zung unterschiedlicher Nachlässe eingerechnet.Die kostengünstigste Möglichkeit ist die Rückhal-tung, indem die Schadstoffe eingeschlossen unddas austretende kontaminierte Grundwasser auf-gefangen und aufbereitet wird. Die Kosten hier-für belaufen sich auf 100 Mio. USD über einen 10-Jahres-Zeitraum, bzw. annähernd 300 Mio. USDüber einen Zeitraum von 35 Jahren. Damit wirddas Problem im Wesentlichen auf die nächste Ge-neration verlagert. Die kostspieligste Option istdie Rückhaltung, bei der Lecks verbleiben, dieüber einen Zeitraum von 100 Jahren Kosten vonüber 19 Milliarden USD verursachen würden. Ab-tragung und thermische Entsorgung der vierStandorte würden einen Investitionsaufwand vonca. 50 Millionen USD und jährliche Betriebskos-ten von ca. 75 Mio. USD über einen Zeitraum von15 Jahren erfordern. Die Alternative, überhauptnichts zu tun, würde über 35 bzw. 100 Jahre derAllgemeinheit Kosten von mehr als 1 MilliardeUSD bzw. 16 Milliarden USD verursachen. GleicheKosten würden der Allgemeinheit entstehen,wenn die Industrie 300 Mio. USD über einen Zeit-raum von 35 Jahren bzw. 3 Milliarden USD über100 Jahre aufwenden würde, ohne dass es ihr ge-lingt, das Durchsickern der Schwaden in die Nia-gara Gorge zu verhindern. Diese Schätzungen er-

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strecken sich auf vier Deponiestandorte, aller-dings gibt es im Gebiet der Großen Seen mehrerehundert Standorte, aus denen persistente toxi-sche Substanzen austreten.

Vor kurzem unternahm der Great Lakes ScienceAdvisory Board der International Joint Commissi-on eine Besichtigungsreise zu neun der Schad-stofflagerstätten im Gebiet der Niagarafälle.Durch umfangreiche technische Maßnahmenwar es gelungen, Auslaugungen von kontami-niertem Grundwasser aus den Schadstoffdeponie-stätten aufzufangen und zu behandeln und einVordringen in den Niagara River und den LakeOntario zu verhindern. Diese Anlagen sind inBau und Unterhalt allerdings ausgesprochen kos-tenintensiv. So wurden z. B. in der Gefahrstoffde-ponie Hyde Park der Occidental Chemical Corpo-ration zwischen 1998 und 2000 rund 100 Mio.Gallonen Wasser (ca. 375 Mio. Liter) aufgefangenund behandelt; außerdem wurden zwischen 1989und 2000 fast 300 000 Gallonen Flüssigstoffe innichtwässriger Phase (ca. 1,135 Mio. Liter) gesam-melt und vernichtet. Die jährlichen Betriebs- undWartungskosten belaufen sich alleine an diesemStandort auf 2 Mio. USD. Über einen Großteil dervon der Industrie bezahlten Sanierungskosten lie-gen keine Angaben vor, die vorliegenden, bisheute in den Deponiestätten in New York aufge-laufenen Sanierungskosten der Industrie und derstaatlichen Stellen betragen jedoch mindestens370 Mio. USD. Die Kosten für die Sanierung derGefahrstoffdeponien in New York dürften sichinsgesamt auf mehr als 630 Mio. USD belaufen(US EPA und NYSDEC, 2000). Hochrechnungendes Nutzens, der sich aus Sanierungsmaßnahmenin diesen und anderen Standorten um die Gro-ßen Seen ergibt, sind dringend notwendig; an-dernfalls ist damit zu rechnen, dass die politischeund öffentliche Unterstützung für diese kostspie-ligen Programme deutlich nachlässt.

Die Kosten für die Sanierung kontaminierter Sedi-mente im US-amerikanischen Teil der GroßenSeen wurden bereits detailliert beschrieben (USEPA, 1998). Seit 1985 wurden ca. 580 Mio. USD für38 Sedimentsanierungsvorhaben ausgegeben. Da-mit ist jedoch nur ein kleiner Teil der notwendi-gen Arbeiten erfasst. Die Kosten für Sanierungsar-beiten bei der Outboard Marine Corporation(OMC) in Waukegan (Illinois) betrugen 21 Mio.USD für die Entsorgung von 136 000 kg PCB vomGelände der OMC. Weitere 900 kg PCB befindensich im Schifffahrtskanal und werden ab 2002 miteinem geschätzten Kostenaufwand von 12 bis 14

Mio. USD beseitigt; hierin enthalten ist auch derBau einer in sich geschlossenen Entsorgungsanla-ge. Ähnliche Schätzungen für die Aufbereitungs-kosten für Sanierungsmaßnahmen an den Sedi-menten des Hamilton Harbour bewegen sich zwi-schen 60 Mio. CAD und 1 Milliarde CAD. Nutzen-analysen zur Abrundung dieser Kostenschätzun-gen scheinen nur in geringer Zahl vorzuliegen.

12.5. Schlussfolgerungen und dieLektionen für die Zukunft

Ungewollt wurden die Großen Seen zu einemwertvollen Labor, in dem die Auswirkungenchlororganischer Verbindungen nicht nur auf dieGesundheit von Mensch und Tier, sondern auchauf die Reaktion der Politik auf die Verschmut-zung großer Ökosysteme durch persistente toxi-sche Substanzen beobachtet werden konnten.Aus den Aufzeichnungen wird die extreme zeitli-che Dauer von der Einführung einer neuen Tech-nologie über die Entdeckung der Folgen und denNachweis eines kausalen Zusammenhangs bis zuangemessenen und ausreichenden Gegenmaß-nahmen der Behörden deutlich (Lawless, 1977).Erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach derBelastung durch die in den Großen Seen eingelei-teten chlororganischen Verbindungen verstehtdie Wissenschaft so allmählich das Ausmaß derbei Mensch und Tier eingetretenen Gesundheits-schädigungen.

Während dieses langen Zeitraums stand die Wis-senschaft vor dem Dilemma, ob man einerseitsdie Gefährdung der Fisch- und Tierpopulationenund des Menschen, als deren Ursache persistentetoxische Substanzen vermutet wurden, untersu-chen sollte, oder ob man andererseits mit Nach-druck darauf drängen sollte, die Ursachen undBelastungsquellen zu beseitigen, obwohl bisherwenig mehr als ein Verdacht vorlag. Obwohlmittlerweile ein kausaler Zusammenhang zwi-schen Gesundheitsschäden und der Einwirkungpersistenter toxischer Substanzen nachgewiesenwerden konnte, gestaltete es sich für die mit denGroßen Seen befassten Wissenschaftler ironi-scherweise weiterhin schwierig, ihre wissen-schaftlichen Erkenntnisse in dem sozialen, wirt-schaftlichen und politischen Rahmen, in demsich ihre Arbeiten vollziehen, so weiterzuvermit-teln, dass wirksame Abhilfemaßnahmen eingelei-tet werden konnten. In diesen unterschiedlichenFallstudien wurde nachgewiesen, dass die Zeit-

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spanne zwischen Einführung einer neuen Tech-nologie, eines neuen Produkts oder Projekts, derEntdeckung der damit verbundenen negativenWirkungen und den ordnungspolitischen, juristi-schen oder administrativen Maßnahmen, mit de-nen die Belastung verringert werden soll, seltenweniger als 25 Jahre beträgt.

Die vorliegenden Beweise für die Persistenz derin den vergangenen sechzig Jahren in die GroßenSeen freigesetzten chlororganischen Verbindun-

gen lassen erkennen, dass wahrscheinlich noch-mals mehrere Jahrzehnte vergehen werden, bisdurch die notwendigen Sanierungsmaßnahmendie Konzentrationen soweit abgebaut wurden,dass ein hinreichender Schutz des menschlichenErbguts und seiner Entwicklung gegen durchChemikalien verursachte Schädigungen erreichtist, insbesondere beim Verzehr von kontaminier-ten Fischen aus den Großen Seen. Die wissen-schaftlichen Aspekte dieser Problematik sinddurch ein hohes Maß an Gewissheit gekennzeich-

151

Quelle: EUA

➔ TABELLE 12.1. DIE GROSSEN SEEN: FRÜHE WARNUNGEN UND MASSNAHMEN

1962In Silent spring von Rachel Carson wird erstmals nachdrücklich vor der Wirkung chlororganischer Pestizide aufFische und Wildtiere und vor der Krebsgefahr für den Menschen gewarnt

1963Auf Pigeon Island im Lake Ontario werden erstmals Veränderungen der Beschaffenheit der Eiergelege beobachtet

1966Hickey et al. veröffentlichen die ersten Analyseergebnisse über das Auftreten von chloroganischenVerbindungen in Organismen in den Großen Seen

1969 DDT und verwandte Pestizide werden in Kanada verboten

1972DDT wird in den USA verboten (Dieldrin wird 1973 verboten); der Tierbestand an den Großen Seen erholt sichallmählich

1974 Sorgen über die möglichen Wirkungen chlororganischer Verbindungen auf den Menschen werden laut

1978Der Zusammenhang zwischen gehäuft auftretenden Erkrankungen (hohe Geburtsschadensquoten, Fehlgeburten,Krebs usw.) in Love Canal, Niagara Falls, und der Entsorgung toxischer Abfälle (u. a. Dioxin) wird durch dieHooker Chemical Company bestritten

1978Das Great Lakes Water Quality Agreement wird unter Einbeziehung vorsorgepolitischer Maßnahmen neu ausge-handelt, jedoch nicht konsequent umgesetzt

1980Durch die Emergency Declaration des US-Präsidenten werden 900 Familien aus dem verseuchten Gebiet desLove Canal umgesiedelt

1984In Untersuchungen wird nachgewiesen, dass Kleinkinder, die hohen PCB-Konzentrationen ausgesetzt waren(nachdem die Mütter kontaminierten Fisch aus dem Lake Michigan verzehrt hatten) bei der Geburt wenigerwogen und einen geringeren Kopfumfang aufwiesen

1996In Untersuchungen an Kindern, die PCB-Ablagerungen des Lake Ontario ausgesetzt gewesen waren, werden diegleichen Verhaltensauffälligkeiten wie bei den betroffenen Kindern vom Lake Michigan festgestellt

2000Die spezifischen Zusammenhänge zwischen Verhaltensauffälligkeiten und Einwirkung von hochchloriertenBiphenylen vor der Geburt werden festgestellt

2000Die Einleitung kostspieliger Sanierungsmaßnahmen wird selbst nach dem Nachweis kausaler Zusammenhängenach wie vor verschleppt

net. Im Kern geht es um die Weitergabe nichtnur der Kontaminierung und der damit zusam-menhängenden Dilemmas an die nächsten Gene-rationen, sondern auch um die Vererbung vondurch Chemikalien verursachten Schädigungenauf die körperliche und funktionale Entwicklungder diesen Belastungen ausgesetzten Neugebore-nen. Für Wissenschaftler und Politiker im Bereichdes Gesundheitswesens, der Fischereiwirtschaftund des Umweltschutzes eröffnet sich ein kom-plexes Gefüge aus sozialen, wirtschaftlichen undpolitischen Zwiespälten. So stellt sich z. B. dieFrage, ob die Gesundheitsämter auf die Kontami-nierung hinweisen und Kindern und Frauen imgebärfähigen Alter vom Verzehr von Fisch ausden Großen Seen abraten sollten, oder ob diesdie Interessen der kommerziellen oder traditio-nellen Fischerei oder der Sportfischerei gefähr-den würde? Analog hierzu ist zu fragen, ob Ge-sundheits- und Umweltforscher die Schädigungender Fisch- und Wildtierbestände und die Schädi-gungen der Gesundheit der Menschen durch dieanhaltende Einwirkung hoher Konzentrationenpersistenter toxischer Substanzen veröffentlichensollten? Oder würde die notwendige Antwort derUmweltpolitiker auf diese Informationen denSteuerzahlern der USA und Kanadas eine vorder-gründig untragbare finanzielle Last aufbürden?

12.6. Literatur

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154

David Santillo, Paul Johnston und William J. Langston

13.1. Einführung

Es kann kaum Zweifel daran geben, dass ohnegeeignete Gegenmaßnahmen der zunehmendeOberflächenbewuchs auf Schiffen und an in Mee-resgewässern errichteten Konstruktionen zu ei-ner Zunahme des Strömungswiderstands und imFalle der Schiffe zu steigendem Treibstoffver-brauch führt und damit Wirtschaftlichkeit undEmissionen erheblich beeinträchtigt. Genausowe-nig ist zu bezweifeln, dass Tributylzinnverbindun-gen (TBT) (und das seltener eingesetzte Triphenyl-zinn) außerordentlich wirksam sind und relativwirtschaftliche Einsatzmöglichkeiten als Antifou-ling-Biozide eröffnen, also beides zentrale Fakto-ren, welche die rasche Verbreitung von Anstri-chen auf Organozinnbasis durch die Schiffsindus-trie und die Eigner kleinerer Schiffe in den siebzi-ger Jahren begünstigten. Diese beiden Argumen-te bildeten die Grundlage für die Verteidigungvon TBT-Antifouling-Rezepturen, seit Ende dersiebziger Jahre die ersten unerwünschten Neben-wirkungen des Einsatzes dieser Mittel deutlichwurden, und noch heute werden diese Argumen-te von Verfechtern des Standpunkts vertreten,dass diese Mittel nach wie vor ohne weiteres ge-eignet seien (siehe z. B. Evans, 2000; Abel, 2000).In derartigen Betrachtungen fehlt allerdingsnicht nur die angemessene Würdigung der quan-tifizierbaren finanziellen Verluste, denen als Er-gebnis des weit verbreiteten Einsatzes von TBT-Farben die Aquakulturindustrie gegenüberstehtund die den Hafenbehörden auferlegt werden,sondern auch die Würdigung der weiter gefass-ten Umwelt-„Kosten“, aufgrund derer zunächstVerwendungsbeschränkungen erlassen wurdenund die jetzt die Grundlage für den Beschlusszum weltweiten Verzicht auf dieses Mittel bilden.

Hinter der Geschichte um TBT steht in gewisserWeise eine recht ungewöhnliche Fallstudie. Zumeinen ist die weite Verbreitung von TBT-Anstri-

chen ein relativ junges Phänomen, nachdem derEinsatz dieses Mittels erst in den sechziger Jahrenbegann. Zweitens wurden die ersten Bedenkenüber mögliche Nebenwirkungen zu einem Zeit-punkt laut, da der Einsatz von TBT seinen Höhe-punkt erreichte, und schon bald wurde die Ver-wendung dieses Mittels auf nationaler und regio-naler Ebene streng reglementiert. Drittens stelltdie schädliche Wirkung, die TBT am häufigstenzugeschrieben wird, nämlich der Imposex vonGastropoden-Meeresweichtieren, der aus Wech-selwirkungen mit dem Steroidhormonmetabolis-mus dieser Tiere herrührt, ein ausgesprochenempfindliches, chemikalienspezifisches Phäno-men dar. Dieser Faktor trug entscheidend dazubei, dass der unmittelbare kausale Zusammen-hang und folglich die Notwendigkeit von Regle-mentierungsmaßnahmen schon frühzeitig allge-mein anerkannt wurden. Die Farbenhersteller be-trieben zwar in Zusammenarbeit mit anderen in-teressierten Parteien Kampagnen gegen die inden achtziger Jahren verhängten Beschränkun-gen, doch ließ sich die Beweislage der gravieren-den Auswirkungen auf die Meeresfauna und -flo-ra – die bis hin zur regionalen Ausrottung be-stimmter Arten reichte – kaum leugnen.

Das Verwendungsverbot für TBT-Anstriche anBooten mit einer Gesamtlänge unter 25 Metern,das in Frankreich 1982, im Vereinigten König-reich 1987 und auch andernorts Ende der achtzi-ger Jahre und Anfang der neunziger Jahre aufbreiter Front in Kraft trat, trug erheblich zur Ver-besserung der Lage in Sporthäfen und geschütz-ten Hafenanlagen bei, in denen Sportboote domi-nierten. Mittlerweile ist in einigen Regionen zubeobachten, dass sich die betroffenen Weichtier-populationen langsam wieder erholen. In denspäten achtziger und neunziger Jahren wurdenjedoch eine vermehrte Kontaminierung durchTBT und entsprechende Auswirkungen auf dieMeerestierpopulationen beobachtet, die darausherrührten, dass verbesserte Überwachungsver-fahren aufkamen, die genauere Einblicke in dieEigenschaften und die Verteilung von Organo-zinnverbindungen in der Umwelt ermöglichten.

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13. TRIBUTYLZINN-(TBT)-HALTIGE ANTIFOULING-FARBEN: EINE GESCHICHTE UM SCHIFFE,SCHNECKEN UND IMPOSEX

Nach Schätzungen von Vos et al. (2000) wurdeImposex in der Natur mittlerweile weltweit bei150 Arten der Vorderkiemer-Meeresschnecken be-obachtet. Aufgrund von Beweisen, die die aufge-tretene Fortpflanzungsunfähigkeit mit der Dichtedes Schiffsverkehrs in Zusammenhang bringen,sowie aufgrund der mangelhaften Erholung derbetroffenen Populationen in einigen Gebietenund den weithin beobachteten Rückständen vonButylzinn in Meeressäugetieren wurde wieder-holt die Forderung erhoben, das Verbot auf sämt-liche Schiffe – unabhängig von deren Größe –auszuweiten. Was können wir nun aus dieser Ent-wicklung lernen, nachdem ein entsprechendesVerbot unter der Federführung des IMO-Aus-schusses für Meeresumweltschutz (MEPC) kurzvor der Entscheidung steht?

13.2. Das Entstehen des TBT-Problems

Organozinnverbindungen wurden erstmals inden zwanziger Jahren als Mottenimprägnie-rungsmittel entwickelt und erst später in größe-rem Umfang als Bakterizide und Fungizide ein-gesetzt (Moore et al., 1991). Dibutylzinn- undTributylzinnverbindungen werden seit Ende dervierziger Jahre produziert (Laughlin und Linden,1985), allerdings setzte die Verwendung von TBTals Antifouling-Anstrich an Schiffen erst in densechziger Jahren ein (Balls, 1987; ten Hallers-Tjabbes, 1997), und zunächst auch nur als Zu-satzbiozid in Anstrichrezepturen auf Kupferbasis.Da TBT-Anstriche wesentlich günstigere Anti-fouling-Eigenschaften als Kupfer zeigten (Wadeet al., 1988a), nahm die Verwendung von TBT-An-strichen durch private und gewerbliche Anwen-der in den siebziger Jahren deutlich zu. In die-sem Zeitraum eroberten diese Farbrezeptureneinen erheblichen Anteil am Markt für Anti-foulingmittel (Evans, 2000). Farben und Anstri-che mit „freien Assoziaten“, aus denen die Biozi-de zunächst schnell freigesetzt wurden, die aberhäufig erneuert werden mussten, wurden nachund nach durch „selbstpolierende Copolymer“-Rezepturen abgelöst, die eine gleichmäßigereFreisetzung des Biozids ergaben und nicht mehrso häufig erneuert werden mussten.

Parallel zum explosionshaften Anstieg der verar-beiteten Mengen wurden erstmals die Wirkungenvon TBT auf Organismen beobachtet, für die TBTeigentlich nicht gedacht war. Die toxische Wir-kung auf Fouling-Organismen ist gezielt beabsich-

tigt, doch die Tendenz von TBT, noch weitere Be-reiche der Meeresfauna und -flora in Mitleiden-schaft zu ziehen, war deutlich unterschätzt wor-den. Bei ersten Untersuchungen der akuten Aus-wirkungen, insbesondere der Sterblichkeitsqoute(Laughlin and Linden, 1987), waren sublethale Fol-gen der anhaltenden Einwirkung auf bestimmteGattungen nicht erkannt worden. So lässt sich Im-posex (die Ausbildung männlicher Sexualstruktu-ren in weiblichen Tieren) beispielsweise bei be-stimmten Gastropoden bereits bei TBT-Konzentra-tionen im unteren ng/l-Bereich (Milliardstel-gramm) auslösen (Bryan et al., 1986; Alzieu, 1998);darüber hinaus wurden bei diesen Konzentratio-nen auch bereits Schalenverformungen und Lar-vensterblichkeit beobachtet (Alzieu et al., 1986).

Imposex wurde erstmals detailliert von Smith(1971) nach Untersuchungen an amerikanischenMeeresschnecken (Nassarius obsoletus) in der Nä-he von Häfen an der Ostküste der USA beschrie-ben. Etwa zur gleichen Zeit beschrieb Blaber(1970), dass Penisbildung an weiblichen Nordi-schen Purpurschnecken (Nucella lapillus) imPlymouth Sound (Vereinigtes Königreich) in Ha-fennähe wesentlich häufiger als an entlegenerenStandorten zu beobachten war. Trotz der Trag-weite dieses Phänomens blieb die eigentliche Ur-sache jedoch noch unerkannt. Erst mit der Wei-terentwicklung der Analysemöglichkeiten Endeder siebziger und Anfang der achtziger Jahrekonnte die Verbindung zu Schiffsanstrichennachgewiesen und der Umfang der bereit einge-tretenen Schädigungen erkannt werden.

Zwei regionale Fallstudien spielten eine Schlüssel-rolle bei dem Nachweis, dass TBT bereits in ge-ringster Dosierung schädliche Wirkungen entfal-tet, und bei der Einleitung erster regionaler Kon-trollmechanismen: der Zusammenbruch derSchalentierindustrie in die Bucht von Arcachon(französische Atlantikküste) und Berichte überweit verbreitetes Auftreten von Imposex bei Nor-dischen Purpurschnecken in den südlichen Küs-tengewässern des Vereinigten Königreichs.

13.3. Die Bucht von Arcachon

Bis Mitte der siebziger Jahre war die Bucht vonArcachon ein wichtiges Gebiet für die Zucht vonPazifischen Austern (Crassostrea gigas) gewesenund lieferte jährlich eine Zuchtmenge von 10 000bis 15 000 Tonnen (Evans, 2000). Das Zuchtgebiet

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erstreckte sich in Austernbänken über große Teileder Wattflächen. Daneben war die Bucht von Ar-cachon bei Sportbootbesitzern beliebt, wobei sichder Bootsbestand von 7 500 Mitte der siebzigerJahre auf 15 000 Anfang der achtziger Jahre er-höhte. Der geschätzte TBT-Eintrag in der Buchterreichte in Spitzenzeiten rund 8 kg pro Tag(Ruiz et al., 1996).

Imposex wurde erstmals 1970 in der Bucht amGastropoden Ocenebra erinacea (Stachelschnecke)festgestellt, weshalb diese Gattung in der Buchtschon bald völlig verschwunden war (Gibbs1993). Erst Anfang der achtziger Jahre konnteTBT als der für dieses Verschwinden verantwortli-che Wirkstoff nachgewiesen werden.

Hätten sich die schädlichen Wirkungen auf denVerlust dieser Gattung beschränkt, die in derSchalentierindustrie durch die Schäden, die siean den Austernbänken verursacht, allgemein alsPlage gilt, wären kaum irgendwelche Maßnah-men ergriffen worden. Auf dieses erste Warnsig-nal folgten jedoch schon bald ähnliche Schädenan den Austernbänken selbst. Trotz normaler Be-fruchtung im Sommer 1976 überlebten nur weni-ge der Larven. Ende der siebziger und Anfangder achtziger Jahre blieb die Larvenansiedelungweitgehend aus, was zu massiven finanziellenEinbußen in der Schalentierindustrie führte. 1981war die jährliche Austernproduktion auf nurnoch 3 000 Tonnen zurückgegangen (Ruiz et al.,1996). Neben der ausbleibenden Fortpflanzungerwiesen sich die reifen Austern als unverkäuf-lich, da an den Schalen Verformungen und Verdi-ckungen auftraten, die in den gravierendsten Fäl-len zu einem „kugelförmigen“ Aussehen führten(Alzieu et al., 1989).

Diese Beobachtungen fielen in eine Zeit, als nochkeine ausreichend genauen Analyseverfahren zurVerfügung standen, mit denen die Verteilungvon TBT in der Umwelt hätte detailliert beschrie-ben werden können. Alzieu et al. (1986) legtendie erste zuverlässige Erhebung der Organozinn-rückstände in den Gewässern der Bucht von Ar-cachon vor, während Sedimentdaten erst in denneunziger Jahren zur Verfügung standen (Sarra-din et al., 1994). Die schwerwiegenden Auswir-kungen auf das Ökosystem in der Bucht von Arca-chon, die sich in gravierenden finanziellen Ver-lusten niederschlugen, waren allerdings Anlassgenug für ein rasches Einschreiten der französi-schen Regierung. Frankreich stützte sich dabeiauf die schlüssigsten vorliegenden Informatio-

nen, in denen der Zusammenbruch der Austern-entwicklung mit den TBT-Rückständen in Verbin-dung gebracht wurde, und erließ 1982 als erstesLand ein Gesetz zum Verbot der Verarbeitungvon TBT an kleinen Schiffen und Booten (mit ei-ner Gesamtlänge unter 25 Metern) (Michel undAverty, 1999a). Diese Regulierungsmaßnahmenbrachten zweifelsohne eine deutliche Senkungdes TBT-Eintrags in den Sportboothäfen Frank-reichs mit sich. Im Falle von Arcachon wurde dieUmsetzung des Gesetzes noch dadurch begüns-tigt, dass die meisten Bootsbesitzer aus der Regi-on stammten und ein eigenes Interesse am Erhaltder ortsansässigen Austernzuchtindustrie hatten.Die Wirksamkeit dieser Gesetze bei der Bekämp-fung großflächigerer TBT-Kontaminierung bleibtallerdings fragwürdig (Michel und Averty, 1999a).

13.4. Die Häfen und Küstengewässerdes Vereinigten Königreichs

Nach den Beobachtungen von Blaber (1970) imPlymouth Sound wurde auch in anderen For-schungsarbeiten Imposex als zunehmendes Pro-blem festgestellt. Das gehäufte Auftreten von Im-posex bei N. lapillus war insbesondere in der Nä-he von Häfen zu beobachten, allerdings ließensich auch Hinweise auf die zunehmende Verbrei-tung dieses Phänomens in den gesamten Küsten-gewässern des südlichen Vereinigten Königreichs(Bryan et al., 1986 und 1987) finden. Darüber hi-naus führten Waldock und Thain (1983) den fehl-geschlagenen Versuch, Anfang der achtziger Jah-re Kulturen der Pazifischen Auster (C. gigas) imVereinigten Königreich anzusiedeln, auf die Be-lastung durch TBT und nicht – wie bisher ange-nommen – auf das Vorhandensein feiner Sedi-mentpartikel zurück. Unterbliebene Reprodukti-on und Schalenverformungen an Austernpopula-tionen im Vereinigten Königreich wiesen zahlrei-che Parallelen zu den in der Bucht von Arcachonfestgestellten Erscheinungen auf.

Aufgrund der aufkommenden Bedenken führtedie Regierung des Vereinigten Königreichs 1985eine Überwachung des Verkaufs von TBT-Farbenfür die Behandlung von Kleinschiffen ein. Hierbeiwurden der Verkauf an Endverbraucher regle-mentiert, Leitlinien für die Verarbeitung der Far-ben aufgestellt und ein Umweltgütezielwert (EQT)von 20 ng/l TBT (8 ng/l als Zinn) festgelegt – einGrenzwert, der zu jener Zeit als ausreichend füreinen angemessenen Schutz der Meeresfauna

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und -flora galt (Waldock et al., 1987). Die TBT-Konzentrationen in zahlreichen Küstengewässernüberschritten freilich ständig den EQT. Mit zu-nehmend tieferem Einblick in die Materie, dersich in den achtziger Jahren einstellte, wurde zu-dem klar, dass gravierende Folgen bereits beiKonzentrationen deutlich unter dem EQT eintre-ten konnten.

Sterilität bei weiblichen Nordischen Purpurschne-cken tritt bereits bei TBT-Konzentrationen vonnur 3–5 ng/l TBT (Gibbs et al. 1988) auf, wobeibei Konzentrationen von 10 ng/l praktisch alleweiblichen Tiere betroffen sind und bei höherenKonzentrationen noch folgenschwerere Verände-rungen eintreten (u. a. Ausbildung von Hodenund Ausbleiben der Eiproduktion).

Im Laufe der achtziger Jahre waren ausgeprägtesaisonale Schwankungen der Butylzinnkonzentra-tionen im Zusammenhang mit Betrieb und War-tung der Bootsflotte zu beobachten. In den Som-mermonaten stiegen die Butylzinnkonzentratio-nen in den Sportboothäfen regelmäßig auf über100 ng/l und gelegentlich sogar auf 1000 ng/l(Waldock et al. 1987). Langston et al. (1987) be-schreiben ähnliche Konzentrationen in denSportboothäfen von Poole Harbour (an der Süd-küste des Vereinigten Königreichs). Diese Häfenwerden regelmäßig von 5000 Sport- und Freizeit-booten angelaufen, die hier gewartet werdenund in ihren Liegeplätzen ankern. Selbst außer-halb der Bootshäfen wurden mitunter TBT-Kon-zentrationen von mehr als 100 ng/l gemessen.Die Überschneidungen zwischen den in der Pra-xis beobachteten Konzentrationen und den Wer-ten, bei denen erwiesenermaßen schwere Schädi-gungen eintreten, lassen den Umfang des Pro-blems erkennen und verdeutlichen, dass der EQTals Schutzinstrument ungeeignet ist.

Im Laufe der achtziger Jahre verdichtete sich dieBeweislage. Die Untersuchungen von Bryan et al.(1986) an Nordischen Purpurschnecken im Süd-westen Englands erwiesen sich als besonders ein-flussreich; zusammenfassend wurde hierin festge-stellt, dass „weithin das Auftreten von Imposexverbreitet ist, dass alle Populationen in gewissemUmfang betroffen sind ... Populationen in der Nä-he von Boots- und Schiffszentren zeigen diehöchste Imposex-Rate.“

Von den Autoren wurde außerdem festgestellt,dass die rasche Zunahme von Imposex im Ply-mouth Sound auffällige Übereinstimmungen mit

der zunehmenden Häufigkeit, mit der TBT verar-beitet wurde, zeigt, und es wurde eine eindeuti-ge Korrelation mit den Konzentrationen von Or-ganozinnrückständen im Gewebe aufgezeigt. DieBedeutung dieser Untersuchung kam im Septem-ber gleichen Jahres durch die Veröffentlichung inder Fachzeitschrift Marine Pollution Bulletin („TBTlinked to dogwhelk decline“ („Zusammenhangzwischen TBT und dem Rückgang der Beständeder Nordischen Purpurschnecke“), 1986) zumAusdruck. Damit war die Feststellung, dass TBTdie zentrale Ursache für die beobachte Rückläu-figkeit der Populationen darstellt, in vielerlei Hin-sicht zu einer eindeutigen Erkenntnis geworden.

Das geografische Ausmaß des Problems der TBT-Belastung in Europa war Ende der achtziger Jah-re als unstrittiges Faktum anerkannt (Bailey andDavies, 1988a und 1989; Gibbs et al., 1991). BeiBalls (1987) wird ausgeführt, dass der Einsatz vonTBT-Anstrichen an Käfigen für die Lachszucht zurKontaminierung eines Loch in der SchottischenSee geführt hatte, und auf das durchweg gehäuf-te Auftreten von Imposex in den Meeres-Lochshingewiesen, die für die Aquakultur genutzt wer-den. Cleary und Stebbing (1987) brachten zusätz-liche Probleme zur Sprache, die sich aus der Ak-kumulierung von Organzinnverbindungen in derlipidreichen Mikroschicht der Meeresoberflächeergaben, wobei dies besonders für schwimmendeFischlarven (da diese während kritischer Entwick-lungsperioden den Schadstoffen ausgesetzt sind)und in der Gezeitenzone lebende Organismen(die der Mikroschicht beim Wechsel von Ebbeund Flut ausgesetzt sind) eine Bedrohung dar-stellt (Cleary et al., 1993). Zur gleichen Zeit wur-den auch Bedenken hinsichtlich der Folgen derAnreicherung mit TBT und dessen Persistenz undAuswirkungen in den Sedimenten laut (Langstonet al., ; 1987; Langston und Burt, 1991).

Angesichts der zunehmend dichteren Beweislageder Forschungsergebnisse wurden von der Regie-rung des Vereinigten Königreichs Möglichkeitenzur weiteren Einschränkung des Verkaufs an End-verbraucher geprüft und im Januar 1987 der ma-ximal zugelassene Anteil von Organozinnverbin-dungen in den verarbeiteten Farben herabgesetzt(Side, 1987). An die Stelle dieser Grenzwerte tratjedoch schon bald – im Mai 1987 – das völligeVerbot des Endverbraucherverkaufs von TBT-Far-ben und -Anstrichen (Waldock et al., 1987und1988) für Boote bis 25 Meter Länge und fürFischkäfige (nachdem mit früheren freiwilligenMaßnahmen letztere Anwendungsbereich nicht

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angemessen berücksichtigt worden war). Zu die-sem Zeitpunkt liefen bereits Arbeiten des WaterResearch Centre, durch die Empfehlungen für zu-sätzliche Umweltgütestandards (EQS) für Organo-zinnverbindungen in Wasser erarbeitet werdensollten (Zabel et al., 1988). Dabei sollten die Toxi-zität und das Umweltverhalten einer Palette un-terschiedlicher Organozinnverbindungen berück-sichtigt werden. Es zeigte sich schon bald, dassohne Einschränkungen in der Umwelt Grenzwer-te, bei denen keine Gefährdung auftrat, über-haupt nicht zu erreichen waren. Zwei Jahre spä-ter wurde der EQT von 1985 angesichts der Wir-kungen, die sich bereits bei geringer Dosierungeinstellten, durch einen EQS-Wert von nur 2 ng/lersetzt (Cleary, 1991).

Im Juni 1987 wurde von der für die Umsetzungdes Pariser Übereinkommens zuständigen PariserKommission (PARCOM) festgestellt, dass der Ein-satz von TBT-Farben zu einer „erheblichen Um-weltbelastung der Küstenbereiche der Gewässerim Geltungsbereich des Übereinkommens führt(Nordöstlicher Atlantik)“ (PARCOM, 1987). In derPARCOM-Empfehlung 87/1 wurden ein harmoni-siertes Verbot des Verkaufs dieser Farben und An-striche an Endverbraucher für die Verarbeitungan Sportbooten und Fischkäfigen sowie insbeson-dere Einschränkungen für Hochseeschiffe undUnterwasserkonstruktionen angemahnt.

Die PARCOM vertrat zwar strengere Ziele, dochzeigte sich schon bald, dass sich mit der PARCOMkeine Einschränkungen in der gewerblichenSchifffahrt durchsetzen ließen. Da diese Proble-matik bereits vor die Internationale Seeschiff-fahrtsorganisation (IMO) gebracht worden war,legte die PARCOM den Schwerpunkt der PAR-COM-Empfehlung 88/1 (PARCOM, 1988) stattdes-sen auf den Schadstoffeintrag, der durch Arbei-ten an den Liegeplätzen ausgelöst wird, insbeson-dere Wartungsarbeiten an den Schiffsrümpfen.Die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen lässtsich allerdings nach wie vor nur schwer beurtei-len, obwohl unstrittig ist, dass Werften undDocks immer noch wichtige Quellen für den Ein-trag von Organozinnverbindungen in die Gewäs-ser darstellen.

13.5. Ein global wirksamer Schadstoff

Bedenken hinsichtlich der Folgen des Einsatzesvon TBT wurden schon bald in aller Welt laut,

weshalb Ende der achtziger Jahre verschiedenenationale und regionale Maßnahmen eingeleitetwurden. Das jährliche Oceans-Symposium der USMarine Technology Society spielte eine Schlüssel-rolle bei der Weiterverbreitung der zunehmendumfangreicheren Forschungsergebnisse (Wade etal., 1988b; Krone et al., 1989). Die im Rahmen desMussel-Watch-Programms der NOAA (US NationalOceanic and Atmospheric Administration) durch-geführten Arbeiten ließen erkennen, dass Butyl-zinn in zweischaligen Muscheln allerorten vorden US-Küsten vorkam (Wade et al., 1988a und b;Uhler et al., 1989), während durch entsprechendeArbeiten in Neuseeland die Akkumulierung die-ser Stoffe in Sedimenten nachgewiesen wurde(King et al., 1989). Verbote für den Einsatz vonTBT an Kleinbooten wurden in den USA 1988 ver-abschiedet, worauf 1989 ähnliche Maßnahmen inKanada, Neuseeland und Australien folgten und1991 in Europa Gesetze zur Harmonisierung derKontrollmechanismen in der gesamten EU erlas-sen wurden (Evans, 2000).

13.6. Wirksamkeit der Überwachungs-maßnahmen an Kleinschiffen

Die Vertriebsbeschränkungen im Einzelhandelführten unstrittig zu einer Entwicklung weg vomEinsatz von TBT-Farben an Sportbooten (aller-dings ist das Ausmaß der illegalen Verarbeitungdieser Farben nach wie vor unbekannt) und zudeutlich geringeren Einträgen in die Gewässer.Zumindest in einigen Regionen war dies an derteilweisen Erholung der Muschelpopulationenablesbar. In der Bucht von Arcachon waren derÜberwachung der Wirksamkeit der Bestimmun-gen zur Reduzierung der Butylzinnkonzentratio-nen dadurch Grenzen gesetzt, dass die Nachweis-grenzen der frühen Analyseverfahren recht hochlagen. Alzieu et al. (1986) konnten zwar nachwei-sen, dass die Konzentrationen von 900 ng/l Zinnim Jahr 1983 bis 1985 auf unter 100 ng/l fielen,doch war erst Ende der achtziger Jahre der Nach-weis möglich, dass die Konzentrationen in denmeisten Teilen der Bucht auf unter 10 ng/l gesun-ken waren. Durch hydrodynamische Störungenwar die Aufstellung von Trendverläufen in derSchadstoffkonzentration in den Sedimenten aller-dings weitgehend unmöglich (Ruiz et al., 1996).

Die Erholung der Austernbänke und die Wieder-aufnahme der gewerblichen Austernzucht Mitteder achtziger Jahre lieferten den ersten indirek-

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ten Beweis für die Wirkung des Verbots. Geradedie Erholung der Bucht von Arcachon wird häu-fig als Beleg dafür zitiert, wie mit den begrenz-ten Kontrollmaßnahmen der achtziger Jahre dasTBT-Problem „gelöst“ werden konnte (Nicholsonund Evans, 1997; Evans, 2000). Dieser Standpunktist allerdings heftig umstritten.

Beweise für eine teilweise Erholung der schwer inMitleidenschaft gezogenen Muschelpopulationenliegen allerdings in verschiedenen Teilen Europasvor. Minchin (1995) berichtet beispielsweise, dasssich die Bestände der Gattung Lima hians undder zugehörigen Flora in der Mulroy Bay (Ire-land), die zuvor durch den Einsatz von TBT anLachskäfigen zwischen 1981 und 1985 kontami-niert worden waren, wieder erholt hatten. In dergeschützten Meerenge von Sullom Voe bei denShetland-Inseln und dem angrenzenden YellSound war Imposex bei Populationen der Nordi-schen Purpurschnecke (N. lapillus) 1995 wesent-lich weniger verbreitet als noch 1991 (Harding etal., 1997); allerdings war nach wie vor ein hoherAnteil der Tiere betroffen. Anhand des Vergleichsmit den Daten von 1991 folgern Evans et al.(2000a), dass im vergangenen Jahrzehnt eine wei-ter gehende Erholung der Populationen der Nor-dischen Purpurschnecke entlang der Küsten desVereinigten Königreichs festzustellen war.

Andere Untersuchungen bieten freilich wenigerGrund zu Optimismus. Minchin et al. (1997) be-schreiben, dass die Erholung der Nordischen Pur-pruschnecken in Ballybegs (Irland) langsamer alserwartet ablaufe, und dass der Erholung in Sul-lom Voe und im Yell Sound weiterhin stark ge-häuft auftretender Imposex gegenüberstündeund in den am stärksten betroffenen Gebietendie Nordische Purpurschnecke nach wie vor völ-lig verschwunden sei. In Kanada stellten St-Jeanet al. (1999) fest, dass die Butylzinnkonzentratio-nen im Gewebe von Miesmuscheln (Mytilus edulis)und in Sedimenten des südlichen St.-Lawrence-Golfs auch acht Jahre nach Einführung von Ver-triebsbeschränkungen noch sehr hoch waren.Trotz anfänglich rückläufiger Konzentrationen inden Küstengewässern Frankreichs stabilisiertensich die gelösten TBT-Konzentrationen dort mitt-lerweile auf einem häufig recht hohen Niveau,das deutlich über den Grenzwerten liegt, bei de-nen sich bereits schädliche Auswirkungen auf be-stimmte Arten einstellen (Michel und Averty1999a). In einigen Gegenden der Bucht von Arca-chon waren die Konzentrationen auch 10 Jahrenach Einführung der Vorschriften von 1982 noch

so hoch, dass bei empfindlichen Arten Imposexauftrat (Ruiz et al., 1996). Ähnliche Bedenkenwurden auch hinsichtlich der Mündungs- undKüstenregionen des Vereinigten Königreichs for-muliert (Cleary, 1991; Langston et al., 1994).

Die eigentlichen Gründe dafür, dass die Ökosyste-me weiterhin kontaminiert sind und sich nichtvollständig erholen, variieren von Region zu Re-gion. In einigen Fällen (z.B. Huet et al., 1996)wurde der vereinzelte, aber in signifikantem Um-fang auftretende illegale Einsatz von TBT-Anstri-chen an Kleinbooten verantwortlich gemacht,während von anderen Forschern die Bedeutungder Freisetzung von Schadstoffen aus seit langembelasteten Sedimenten angeführt wird (Waldocket al., 1990; Langston et al., 1994). Die hohe Emp-findlichkeit der Larven (Gibbs, 1993) sowie dielange Verweildauer (Rees et al., 1999) tragenebenfalls dazu bei, dass sich manche Arten nursehr langsam wieder erholen.

Als wichtigste einzelne Ursache dürfte jedoch dieanhaltende, weit verbreitete Verwendung vonTBT in den Meeresgewässern und die gegenwär-tig heftig umstrittene Verarbeitung von TBT anHochseeschiffen zu nennen sein.

13.7. Die Bedeutung der Hochseeschiffe

Als die ersten nationalen und regionalen Verord-nungen erlassen wurden, wurde die Verwendungvon TBT-Anstrichen an Handels- und Kriegsschif-fen als geringeres Problem betrachtet, da – sowurde argumentiert – diese Schiffe den Großteilihrer Betriebszeit auf hoher See verbringen. Dochlaufen auch diese Schiffe regelmäßig Küstenge-wässer und Hafenanlagen an. Bereits seit einigerZeit ist bekannt, in welchem Umfang TBT durchdie Wartung der Schiffsrümpfe von Großschiffenin die Gewässer gelangt. Waldock et al. (1988)maßen im Waschwasser einer Hochseefregattedie etwa 1-millionenfache Konzentration derniedrigsten biologisch wirksamen Konzentration,wobei der TBT-Eintrag bei der Reinigung eineseinzigen Schiffes auf 100 g frei vorliegendem TBTgemessen wird. Einschließlich des an Lacksplit-tern anhaftenden TBT, das als Langzeitspeicherfür die Freisetzung von Butylzinn in die Umweltwirken könnte, wird pro Schiff bei jeder Reini-gung fast 1 kg TBT freigesetzt. Richtlinien zur Be-grenzung des Eintrags aus derartigen Arbeitenfinden seit einiger Zeit in zahlreichen Ländern

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Anwendung, allerdings lässt sich ihre Wirksam-keit nur schwer abschätzen.

In Untersuchungen am Ölhafen von Sullom Voe(Bailey und Davies, 1988b) finden sich Beweisedafür, dass auch bei normalen Fahrten von Schif-fen mit TBT-Anstrichen Organozinnverbindungenin das Wasser freigesetzt werden. In der Anfangs-zeit rührte der TBT-Eintrag zwar auch von derVerwendung an kleinen Begleitschiffen und Mar-kierungsbojen her, doch ist der Eintrag in jüngs-ter Zeit in erster Linie auf die Fahrten der Öltan-ker selbst zurückzuführen. Erhebliche Belastun-gen durch umfangreichen gewerblichen Schiffs-verkehr wurden auch im St.-Lawrence-Golf festge-stellt (St-Jean et al., 1999).

Ständiger TBT-Eintrag aus dem Handelsschiffsver-kehr in Küstengewässern gilt heute allgemein alsunbestritten, doch ist die Bedeutung derartigerQuellen für die Gebiete in größerer Entfernungzur Küste und zu Offshore-Bereichen weiterhinheftig umstritten (ten Hallers-Tjabbes, 1997;Evans, 2000) – und dies, obwohl immer zwingen-dere Anzeichen für einen Zusammenhang zwi-schen der Schiffsverkehrsdichte und dem Auftre-ten biologischer Schäden (insbesondere Imposex)in Offshore-Gewässern vorliegen. Die ersten mar-kanten Belege für das Auftreten von Imposex beider Wellhornschnecke (Buccinum undatum) inder offenen Nordsee sowie eine eindeutige Korre-lation mit der Dichte des Schiffsverkehrs findensich bei ten Hallers-Tjabbes et al. (1994). ÄhnlicheKorrelationen wurden mittlerweile von der Meer-enge von Malakka, die die Bucht von Bengalenmit dem Südchinesischen Meer verbindet (Swen-nen et al., 1997; Hashimoto et al., 1998), sowieaus abgelegenen Teilen der galicischen Küste(Ruiz et al., 1998) gemeldet. Bei Cadee et al.(1995) findet sich die Spekulation, dass Organo-zinnverbindungen für die lokale Ausrottung vonMeerschnecken im Niederländischen Watten-meer verantwortlich sind. In jüngster Zeit schätz-ten Davies et al. (1998) den Gesamteintrag vonTBT durch Schiffsverkehr in die Nordsee auf 68Tonnen, wobei ständige Ausblutungen aus denSchiffsrumpfanstrichen im Hafen oder auf derFahrt als Hauptursachen benannt werden.

Nicholson und Evans (1997) legten weitere Bewei-se vor, mit denen die bahnbrechenden Arbeitenvon ten Hallers-Tjabbes et al (1994) untermauertwurden, stellten allerdings die Bedeutung desvon ihnen als „leichter“ Imposex bezeichneten Er-scheinungsbildes vor dem Hintergrund der Über-

ausbeutung durch den Schalentierfang in Frage.Es bestehen jedoch kaum Zweifel daran, dass dieFeststellung, dass auch Populationen in Offshore-Regionen betroffen waren, ein wichtiger Faktorwar, um den Forderungen nach einer Auswei-tung der Restriktionen Mitte der neunziger JahreNachdruck zu verleihen.

Zu gleichen Zeit war die weltweite Problematikvon TBT zu einem allgemein anerkannten Fak-tum geworden (Ellis und Pattisina, 1990; Kan-nan et al., 1995a, b und c). Zwar liegen nur ingeringem Umfang Daten zu Gegenden außer-halb Europas und Nordamerikas vor, doch wur-de das Bild in jüngster Zeit durch Untersuchun-gen aus Japan und den Philippinen (Harino etal., 1998a, b, c und 1999; Prudente et al., 1999)wieder ein Stück weit vervollständigt, nachdemhierin (wie erwartet) ähnliche Zusammenhängebestätigt wurden.

Neuere Forschungen bestätigen auch die weitverbreitete Ansammlung von Organozinnverbin-dungen in weiter oben in der Nahrungskette an-gesiedelten Organismen, u.a. in Walen. Iwata etal. (1995) stellten mit als erste Konzentrationenvon Butylzinnrückständen in Meeressäugern festund deuteten an, dass die festgestellten hohenKonzentrationen (bis zu 10 Parts per Million(ppm) in der Leber von Tümmlern) auf ein relativgeringes Metabolismuspotenzial dieser Verbin-dungen schließen ließen. Tanabe et al. (1998) wei-teten den Datenbestand später noch weiter ausund bezogen auch Arten in den Küstengewässerndes Nordpazifiks und Asiens mit ein. Bei Kannanet al. (1996) wird die Ansammlung von Butylzinnin Delfinen, Thunfischen und Haien im Mittel-meer beschrieben, wobei innerhalb der verschie-denen Taxa erhebliche Unterschiede bei den fest-gestellten Anteilen der TBT-Zersetzungsproduktefestgestellt wurden. Berichte über Butylzinnrück-stände in Walen und Seehunden in Europa, u. a.bei Seewalen, die auch in weit entlegenen Off-shore-Gewässern Nahrung aufnehmen, wurdenerstmals bei Ariese et al. (1998) und Law et al.(1998) veröffentlicht.

Ein gewisser Unsicherheitsfaktor besteht weiter-hin, doch ist anhand der vorliegenden Nachweisezu erkennen, dass die Ansammlung von Butylzinnin Tieren, die weit oben in der Nahrungskette ste-hen, das Immunsystem beeinträchtigen könnte.Kannan et al. (1997) berichten hohe Konzentratio-nen von TBT und dessen Zerfallsprodukten (insbe-sondere Dibutylzinn) in Großen Tümmlern, die

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bei Fällen von Tümmlersterben an den Atlantik-und Golfküsten der USA aufgefunden wurden.Ähnliche Korrelationen wurden auch bei kalifor-nischen Seeottern (Enhydra lutris nereis) beobach-tet, die schwere Infektionskrankheiten unter-schiedlicher Art aufwiesen (Kannan et al., 1998).

Dass der Mensch Organozinnverbindungen überFische und Meeresfrüchte aufnimmt, insbesonde-re über Fische, die in mit TBT behandelten Käfi-gen gezüchtet wurden, ist seit langem bekannt.Die Aufnahme dieser Substanzen wurde aber erstvor kurzem genauer evaluiert. Cardwell et al.(1999) berichten, dass Rückstände in Fischen undMeeresfrüchten aus den USA weithin nachweisbarseien, dass die geschätzte Aufnahme jedoch deut-lich unterhalb der Grenzen liege, die zu einer Ge-fährdung der menschlichen Gesundheit führenkönne. Demgegenüber stellten Belfroid et al.(2000) allerdings zusammenfassend fest, dass diedurchschnittliche Aufnahme von TBT aus Fischenund Meeresfrüchten dazu führen könne, dass dietolerierbare tägliche Aufnahmemenge, bezogenauf sensitivere immunotoxische Endpunkte, beieinigen Produkten, die in Nordamerika, Europaund Asien verkauft werden, überschritten werde.Gleichzeitig wurde jedoch betont, dass für diemeisten Länder keine Daten vorlägen.

13.8. Fortschritte auf dem Weg zur weltweiten Abschaffung

Trotz gewissen Unsicherheiten hinsichtlich der„Langzeitwirkung“ ist die Kontaminierung derMeereswelt durch Organozinnverbindungen un-strittig ein permanentes und überall um sichgreifendes Problem. 1995 trafen die Minister beider vierten Konferenz zum Schutz der Nordsee inEsbjerg trotz eines Beschlusses durch den MEPCvon 1994, dass keine weiteren Kontrollen notwen-dig seien, die Vereinbarung, „konzertierte Maß-nahmen innerhalb des IMO zu treffen, deren Zieldie weltweite Einstellung der Verwendung vonTBT auf sämtlichen Schiffen ist.“ (MINDEC, 1995).

Dass weltweite Maßnahmen innerhalb der IMO –entsprechend dem Standpunkt, der von derOSPAR-Kommission (Übereinkommen zum Schutzder Meeresumwelt des Nordostatlantiks) vertre-ten wird –, bevorzugt werden, ist ein Ausdruckdessen, dass regionale Maßnahmen bei einemgrenzüberschreitenden Problem nur begrenzteErfolge bringen.

Auf der Grundlage der laufenden Forschungsar-beiten vereinbarte der MEPC 1996, die Notwen-digkeit eines weltweiten Verbots von TBT noch-mals zu prüfen (ten Hallers-Tjabbes, 1997). DieMöglichkeit eines derartigen Verbots wurde beider 40. Sitzung des MEPC ausdrücklich bestätigt(MEPC, 1997), was im Standpunkt dieses Aus-schusses einen Gezeitenwechsel bedeutet. EinEntwurf verbindlicher Verordnungen wurde imFolgejahr verabschiedet (MEPC, 1998).

Die Fristen, die mittlerweile im Entwurf der Inter-national Convention on the Control of HarmfulAnti-fouling Systems (Einstellung der Verarbei-tung von organozinnhaltigen Erzeugnissen bis2003, Beseitigung dieser Erzeugnisse auf Schiffs-rümpfen bis 2008) verankert sind, wurden imRahmen der Entschließung A.895(21) der IMO-Versammlung im November 1999 verabschiedet.Die formelle Verabschiedung dieses Übereinkom-mens wird für das Jahr 2001 erwartet.

13.9. Die Frage der Alternativen

Mit der Einführung derart weit reichender Maß-nahmen wendet sich das Augenmerk zuneh-mend der Verfügbarkeit wirksamer und wirt-schaftlich vertretbarer Alternativen zu TBT zu(Evans et al., 2000b). In dieser Hinsicht steht fest,dass einige der Rezepturen, die vor der allgemei-nen Verwendung von TBT (u. a. Mittel mit Queck-silber- oder Arsenverbindungen) in Gebrauch wa-ren, als annehmbare Alternativen nicht in Fragekommen. Mittel auf Kupferbasis benötigen imAllgemeinen Booster-Biozide, um ihre Wirksam-keit zu entfalten, d. h. Biozide, die ihrerseits zu-sätzliche Probleme verursachen können. Mittel,die das Triazinherbizid Irgarol 1051 enthalten,wie sie in verschiedenen Gegenden als Ersatz fürTBT in großem Umfang an Sportbooten verarbei-tet werden, sind typische Beispiele hierfür. Dasweithin beobachtete Auftreten dieses Herbizidsin bestimmten Ästuargewässern (Scarlett et al.,1997) sowie die unmittelbaren Auswirkungen aufdas Pflanzenwachstum (Dahl und Blanck, 1996;Scarlett et al., 1999) bilden gewissermaßen einAbbild der anfänglich im Zusammenhang mitTBT getroffenen Feststellungen.

Von einigen Kommentatoren werden derartigeBeispiele als Begründung gegen den Ersatz vonTBT an Handelsschiffen angeführt (Abel, 2000;Abbott et al., 2000). Dieses Argument folgt aller-

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dings einer etwas negativen Denkweise. Ange-messener wäre die Fragestellung, ob Foulingauch ohne Rückgriff auf derart hochgradig toxi-sche, persistente Substanzen mit einer derart bio-akkumulativen Wirkung beherrschbar ist.

Die Forschung an natürlichen Antifouling-Chemi-kalien schreitet rasch voran (Clare, 1998), aller-dings dürfte die gewerbliche Anwendung nochin gewisser Ferne liegen. Nach dem gegenwärti-gen Stand stellen biozidfreie „nichtklebrige“ Be-schichtungen, die einfach eine physikalischeSperre gegen die Ansiedelung von Fouling-Schichten bilden, die aussichtsreichste Alternati-ve dar. Derartige Beschichtungen sind bereits seitJahren auf dem Markt und halten bei Sportboo-ten einen erheblichen Marktanteil. Ihre Standfes-tigkeit und ihr Antifouling-Verhalten an größerenSchiffen wird noch geprüft, allerdings wurde dieTauglichkeit für schnellfahrende Schiffe bereitsnachgewiesen. Es bleiben zwar noch weit rei-chende technische Aspekte zu lösen, doch wärenweitere Fortschritte hin zu Antifouling-Mechanis-men, die keine gefährlichen Substanzen in dasMeer freisetzen, sehr wünschenswert.

13.10. Späte Lehren aus demEinsatz von TBT

Die obigen Erörterungen verdeutlichen, in wel-chem Ausmaß die Gefahren von TBT anfangs un-terschätzt worden waren. Zunächst war bei-spielsweise anhand von Prüfungen der akutenToxizität vermutet worden, dass Konzentrationenim µg/l (Mikrogramm pro Liter) erst zum Auftre-ten biologischer Wirkungen führten und dassdaher ein EQT von 20 ng/l ausreichenden Schutzbiete. Schon bald zeigte sich allerdings, dassselbst bei Einhaltung des EQT (und dabei wurdeder EQT in einigen Gebieten erheblich über-schritten) mit schwerwiegenden biologischenAuswirkungen zu rechnen sei. Wären die endok-ringesteuerten Mechanismen, die dem Auftretenvon Imposex zugrundeliegen (Matthiessen undGibbs 1998), bereits früher erkannt worden, wä-re das Schädigungspotenzial bereits geringer Do-sen offenkundig gewesen. Ein erheblicher Teilder Kenntnisse im Zusammenhang mit der Toxi-zität von Organozinnverbindungen wurde aller-dings erst rückblickend gewonnen, und diesdürfte sich auch noch in Zukunft fortsetzen(Langston, 1996; Bouchard et al., 1999; Morcillound Porte, 2000). Einstweilen bleibt zu hoffen,

dass die Lektionen, die hieraus gezogen werdenkönnen, es ermöglichen, zukünftige Problemefrüher zu erkennen und möglichst auch bereitsim Vorfeld zu vermeiden.

Die Persistenz von Organozinnverbindungen, dieeine Akkumulierung und Weiterverbreitung die-ser Stoffe begünstigt, war gleichfalls unterschätztworden. Erste Prognosen, dass sich TBT in Ober-flächengewässern rasch zersetzen würde (sieheBestandsaufnahmen von Simmonds, 1986, undLee et al., 1989), hatten nicht bedacht, dass Orga-nozinnverbindungen in Seewasser hochgradig li-pophile und sedimentbindende Eigenschaftenzeigen. Den geschätzten Halbwertzeiten in derGrößenordnung von einigen Tagen in eutrophenOberflächengewässern steht eine Halbwertszeitvon bis zu mehreren Jahren bei Rückständen innährstoffarmen Gewässern (Michel und Averty,1999b) und Meeressedimenten (de Mora et al.,1989), insbesondere in anaeroben Gewässern, ge-genüber. Die Persistenz von TBT sowie die toxi-sche Wirkung auf die Lebewesen in den Sedi-menten lassen erwarten, dass die Erholung dergeschädigten Ökosysteme nur mit einer gewissenVerzögerung abläuft (Langston et al., 1994; Dahl-lof et al., 1999), und bedeuten eine erheblicheBürde für die Behörden, die für Nassbaggermaß-nahmen verantwortlich sind. Dieses Problem fin-det erst jetzt bei internationalen Konferenzen of-fizielle Anerkennung (London-Übereinkommen1972, OSPAR-Übereinkommen 1992), bei denendie Verklappung von Baggerrückständen auf Seegeregelt wird.

Auch die Bioakkumulierung von Organozinnver-bindungen war unterschätzt worden, und erst inletzter Zeit wurde die spezielle Rolle von Biofil-men bei der gesteigerten Bioakkumulierung undToxizität erkannt (Labare et al., 1997). Die Akku-mulierung der Schadstoffe in Raubtieren, dieweiter oben in der Nahrungskette stehen, wareinfach nicht vorhergesehen worden.

Rückblickend weiß man natürlich immer mehr.Nachdem für die Prozesse und Interaktionen, diesich in der Meereswelt abspielen, eine zuneh-mende Sensibilisierung erreicht wurde und Kom-plexität und Unbestimmbarkeit dieser Produktegenauer erfasst werden können, (Santillo et al.,1998), müssten wir mittlerweile in der Lage sein,die Gefahr zukünftiger, mit der TBT-Problematikvergleichbarer Szenarien mit anderen persisten-ten organischen Schadstoffen zu verringern odergar von vornherein zu vermeiden.

163

Zwei zentrale Faktoren waren mit dafür verant-wortlich, dass das geografische Ausmaß der TBT-Problematik anfangs überhaupt nicht erkanntwurde: die geringe Ansprechempfindlichkeitder Analyseverfahren sowie in den meisten Re-gionen das Fehlen angemessener Grundlagen-daten zu Verteilung und Ökologie nicht gewerb-lich genutzter Arten der Fauna und Flora. Dererste Faktor hing unmittelbar mit dem unver-meidbaren Prozess der Entwicklung geeigneterVerfahren ab und konnte teilweise durch dashochgradig spezifische Erscheinungsbild vonImposex als biologisches Anzeichen für die Be-lastung durch TBT überwunden werden. Diezweite Hürde verdeutlicht ein grundsätzlicheresProblem, das sich hätte überwinden lassen,wenn der Erhebung von „Basisdaten“ mehr Auf-merksamkeit zugekommen wäre. Dort, wo der-artige Daten vorlagen (z. B. in Südwestengland),waren sie bei der Früherkennung der Auswir-kungen auf nicht gewerblich genutzte Artenvon unschätzbarem Nutzen. Wiewohl häufig un-terschätzt, spielen Basisstudien dennoch einewichtige Rolle in der Früherkennung von schäd-lichen Tendenzen und sind daher für die An-wendung des Vorsorgeprinzips nützlich. Ähn-lich wichtig ist die Notwendigkeit, Langzeitüber-wachungen der TBT-belasteten Gebiete fortzu-führen, da hieraus einzigartige Einblicke in dieErholung von schadstoffbelasteten Ökosystemengewonnen werden können.

Das Fortbestehen des TBT-Problems in den Küs-tengewässern Japans (Iwata et al., 1995; Harino etal., 1998a und b) – trotz eines landesweiten Ver-bots der Verarbeitung von TBT als Antifouling-Anstrich für die Schifffahrt – unterstreicht ein-deutig den grenzüberschreitenden Charakter die-ses Problems. Unweigerlich drängt sich der Ein-druck auf, dass weltweite und allgemein gültigeBeschränkungen die einzige Möglichkeit darstel-len, um das Problem des TBT in seiner Gänze inden Griff zu bekommen und in sämtlichen Küs-ten-Ökosystemen einheitliche Umweltstandardszu erreichen.

Die Festlegung von Alternativen zu gesundheits-gefährdenden Chemikalien ist zwar nie einfach,doch ist dies keine Rechtfertigung für Untätig-keit. Einige der vorhandenen „Alternativen“ zuTBT bringen Probleme eigener Art mit sich, dochwurde bei keiner dieser Alternativen bis jetzt ei-ne mit TBT vergleichbare Schädlichkeit festge-stellt. Bei der Auswahl geeigneter Alternativenwären diejenigen Produkte, deren Wirkung sich

nicht auf die Freisetzung von Gefahrstoffen indas Meer stützt, am günstigsten einzustufen. Eineumfassendere Berücksichtigung von Problemenkönnte bessere Lösungen hervorbringen als diesimple Substitution einer chemischen Substanzdurch eine andere.

13.11. Schlussfolgerungen:Vorsorgemaßnahmen oder rückwirkende Maßnahmen?

Der Einsatz von Antifouling-Mitteln auf Organo-zinnbasis führte in der Vergangenheit – undauch noch in Zukunft – zu weit verbreiteten undmitunter schwer wiegenden Umweltschäden. Un-gewöhnlich für den Bereich der Ökotoxikologieist, dass die Beweislage zwischen Ursache undWirkung (hinsichtlich des durch TBT verursach-ten Imposex) unwiderlegbar feststeht. Vos et al.(2000) bezeichnen diesen Fall als „das beste Bei-spiel für eine endokrine Disruption bei Wirbello-sen, die kausal mit einem Umweltschadstoff inVerbindung gebracht werden kann“.

Es ließe sich wohl nur schwerlich behaupten,dass irgendeine der Maßnahmen, die bis heutezur Lösung des TBT-Problems ergriffen wurden,als Vorsorgemaßnahme durchgeführt wurde,nachdem diese Maßnahmen durch umfangreicheDokumentierung der ökologischen Folgen ausge-löst wurden. Durch Abhilfemaßnahmen konntenzwar unstrittig die gravierendsten Probleme ge-lindert werden, doch stellt dies noch keine Vor-sorge dar. Die 1987 im Vereinigten Königreicheingeführten Beschränkungen rührten aus derErkenntnis her, dass die Umweltgiftkonzentratio-nen bereits deutlich über den Werten lagen, beidenen sich chronische Schäden einstellten, unddass sie bereits zu einem deutlichen Rückgangder Gastropodenpopulationen geführt hatten.Analog hierzu ließe sich argumentieren, dass derBeschluss über die IMO-Konvention, mit der Anti-fouling-Mittel auf Organozinnbasis abgeschafftwerden, erst getroffen wurde, nachdem die Fol-gen des anhaltenden Einsatzes dieses Mittels hin-reichend genau dokumentiert waren. Die Bedeu-tung dieses weltweit gesetzlich bindenden Ver-trags darf zwar nicht unterschätzt werden, dochentfaltet auch er seine Wirkung im Prinzip erstin der Rückschau.

Das Ziel, Antifouling-Mittel auf Organozinnbasisbis zum Jahr 2008 vollständig aus den Handels-

164

165

Quelle: EUA

➔ TABELLE 13.1. TBT: FRÜHE WARNUNGEN UND MASSNAHMEN

Frühe 70er Jahre Rascher Anstieg der Verwendung von TBT-Antifouling-Anstrichen an Schiffen unterschiedlicher Größe und ersteBerichte über das Auftreten von Imposex bei Meeresschnecken (Blaber, 1970; Smith, 1971)

1976—81Wiederholt ausbleibende Larvenansiedelung führt beinahe zum Zusammenbruch der Austernfischerei in derBucht von Arcachon (Frankreich)

1982 Frankreich verbietet per Gesetz die Verwendung von TBT-Anstrichen an Kleinbooten

1985Einführung erster Regulierungsmechanismen zur Begrenzung der TBT-Konzentration in Farben im VereinigtenKönigreich

1986Bryan et al. (1986) beschreiben weit verbreitetes Auftreten von Imposex an Nordischen Purpurschnecken an derSüdküste des Vereinigten Königreichs. Dieses Phänomen wird mit TBT in Verbindung gebracht

Januar 1987 Das Vereinigte Königreich kündigt weitere Beschränkungen des TBT-Gehalts in Antifouling-Anstrichen an

Mai 1987Das Vereinigte Königreich verbietet den Verkauf von TBT-Farben an Endverbraucher zur Verarbeitung an Schiffenmit weniger als 25 m Länge und an Fischzuchtkäfigen

Juni 1987In der PARCOM-Empfehlung 87/1 wird ein ähnliches Verbot im gesamten Geltungsbereich des Abkommens(Nordostatlantik) befürwortet

1988In den Vereinigten Staaten werden Beschränkungen eingeführt. Waldock et al. (1988) weisen auf die Bedeutungdes Eintrags aus Werften in die Gewässer hin

1989 In Kanada, Australien und Neuseeland werden Beschränkungen eingeführt

1991 In der Europäischen Union wird ein harmonisiertes Verbot des Vertriebs von TBT-Farben verhängt

1994Erste Berichte über Imposex bei Nordischen Purpurschnecken in den Offshore-Gebieten der Nordsee werden mitdem Schiffsverkehr in Verbindung gebracht

1995In der Ministererklärung der vierten Nordseekonferenz (Esbjerg) wird die Verpflichtung abgegeben, auf ein welt-weites Verbot von TBT-Farben innerhalb der IMO hinzuarbeiten

1997Ein Konzept für die weltweite Abschaffung von organozinnhaltigen Farben wird auf der 40. Sitzung des MEPCbeschlossen

1998

Ein Entwurf für verbindliche Bestimmungen zur Abschaffung wird verabschiedet. Das OSPAR (Übereinkommenzum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks) nennt Organozinnverbindungen als Schwerpunkt fürMaßnahmen, durch die der Eintrag dieser Stoffe in das Wasser komplett unterbunden werden soll. Der Eintragvon Organozinnverbindungen in die Meere soll im Rahmen der Gefahrstoffstrategie des OSPAR bis 2020erreicht sein

November 1999 Die Fristen für die Abschaffung werden in der Entschließung A.895(21) der IMO-Versammlung verabschiedet

2001

Der Text des Internationalen Abkommens über die Überwachung gesundheitsschädlicher Antifouling-Systeme(International Convention on the Control of Harmful Anti-fouling Systems) wird zum Abschluss gebracht.2003 wird der Neuauftrag von Antifoulingmitteln auf Organozinnbasis an sämtlichen Schiffen verboten; bis2008 sollen die vorhandenen Antifoulingbeschichtungen auf Organozinnbasis an sämtlichen Schiffen der Weltersetzt sein

flotten der Welt zu beseitigen, markiert den Ab-schluss eines wichtigen Kapitels in der Verwen-dung von TBT. Die Persistenz in Sedimenten undlanglebigen Arten der Fauna und Flora bleibtnoch zu lösen, doch dürfte zumindest der weit-hin verbreitete Eintrag dieser Mittel von denSchiffen der Vergangenheit angehören. Natürlichist der Eintrag von Organozinnverbindungen indie Natur damit noch nicht zu Ende, da dieseVerbindungen als Additive in zahlreichen Kon-sumerzeugnissen Verwendung finden. Ob beiden Bestrebungen, diese neuen Problemfelderanzugehen, die Lektionen aus der Vergangenheitgenutzt werden, bleibt noch abzuwarten.

13.12. Literatur

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171

Jim W. Bridges und Olga Bridges

14.1. Einführung

Die zur Gruppe der Steroidhormone gehörendenÖstrogene sind bei allen Wirbeltierarten von gro-ßer Bedeutung für die zelluläre Regulation. Umsolche Änderungen hervorzurufen, genügen sehrniedrige Konzentrationen von etwa 0,1–1 pg/ml(Pikogramm pro Milliliter) Serum. Schon seitmehr als 50 Jahren ist bekannt, dass Östrogenedie Entwicklung des männlichen Fortpflanzungs-systems bei Säugetieren beeinflussen (Zucker-man, 1940). Dennoch werden Steroidhormonemit östrogener Wirkung häufig als „weiblicheHormone“ bezeichnet. Das weiblichen Fortpflan-zungssystem entwickelt sich allerdings zunächstunabhängig vom hormonellen Regulationssys-tem. Das bedeutet, dass ein Tier bei fehlenderhormoneller Stimulation immer weiblichen Ge-schlechts ist (Wilson und Lasnitzki, 1971). Den-noch sind Östrogene bei beiden GeschlechternVoraussetzung für die Fruchtbarkeit.

Auf einer der physiologischen Ebene übergeord-neten Ebene haben von Säugetieren erzeugtenatürliche Östrogene wie 17-β-Östradiol beimännlichen Tieren eine anhaltende Wirkung.Experimentelle Untersuchungen haben beispiel-weise ergeben, dass die Verabreichung von17-β-Östradiol an Mäuse, Ratten, Meerschwein-chen und Kaninchen während der fötalen undperinatalen Phase die pituitär-hypothalamischeFunktion bei männlichen Tieren erheblich be-einträchtigt. Dies wiederum kann Störungen dertestikulären Funktion bei erwachsenen Tierenzur Folge haben (Takasugi, 1979; Orgebin-Cristet al., 1983; Davies und Danzo, 1981; Brown-Grant et al., 1975).

Ein maximales Wachstum erfordert eine Kombi-nation von Östrogenen und Adrogenen (männ-lichen Hormonen). Die wachstumsförderndeWirkung wird in erster Linie auf die Fähigkeitvon Östrogen-Androgen-Kombinationen zurück-

geführt, aufgrund verschiedener Mechanismendie Retention von Nahrungsstickstoff durchEiweißsynthese zu erhöhen (Europäische Kom-mission, 1996). Nach dem Zweiten Weltkriegkam es mit der Kenntnis der wachstumsfördern-den Eigenschaften von Östrogenen, sei es alleinoder in Kombination mit Androgenen, zur Ein-führung von Östrogenen als Hilfsmittel zur Stei-gerung der Fleischproduktion. Diethylstilboe-strol (DES) als billigeres, besser absorbiertesAnalogon des natürlichen Hormons 17-β-Östra-diol wurde in vielen Ländern zum bevorzugtenWachstumsförderer für Rinder, Schafe undGeflügel (Schmidely, 1993).

Wie viele steroidale Wachstumsförderer wurdeDES in Form eines Implantats unter der Haut jun-ger Tiere oder als Futterergänzung verabreicht.Anfang der siebziger Jahre wurden Bedenken hin-sichtlich der Sicherheit von DES laut, als seine kar-zinogene Wirkung für den Menschen nachgewie-sen wurde. In der Wissenschaft war man sich je-doch darüber einig, dass das Gesundheitsrisikounbedeutend sei. Die Rückstände von DES imFleisch waren sehr gering (unterhalb der Grenzeder analytischen Nachweisbarkeit) verglichen mitder Dosis, der Personen beim Einsatz von DES alsMedikament ausgesetzt sind. In einigen Ländernder Europäischen Union (EU) wurde DES längerals Wachstumsförderer eingesetzt als in den Ver-einigten Staaten. 1987 wurde die Verwendungvon DES zu diesem Zweck schließlich in der ge-samten EU verboten, da nicht eindeutig geklärtwerden konnte, ob eine definierbare wirkungslo-se Dosis existiert, die keine potenzielle tumorindi-zierende Wirkung beim Menschen hat (Europäi-sche Kommission, 1996). In einigen Ländern wur-de allerdings schon früher ein Verbot erlassen. Inden Vereinigten Staaten verlief die Entwicklungvollkommen anders. DES wurde erstmals 1972 alsWachstumsförderer verboten, da es als Karzino-gen die so genannte „Delaney-Klausel“ aus demJahr 1958 verletzte. Diese Klausel verbietet dieVerwendung von Nahrungsmitteln, die karzinoge-ne Substanzen enthalten, für den menschlichenGenuss, war jedoch in der Praxis schwer durch-

172

14. HORMONE ALS WACHSTUMSFÖRDERER:VORSORGEPRINZIP ODER POLITISCHERISIKOBEURTEILUNG?

setzbar, da die Mehrzahl der Nahrungsmittel Spu-ren von karzinogenen Substanzen enthalten. Dieöffentliche Meinung sorgte jedoch dafür, dass dieKlausel nicht aus dem Gesetzbuch gestrichen wur-de. Die Regulierungsbehörden waren gezwungen,die Tatsache, dass sie die „Delaney Clause“ im Fallvon DES nicht umsetzten, mit dem Verweis auf„feststellbare Mindestkonzentrationen“ zu recht-fertigen. Die amerikanischen Zulassungsbehördefür Lebensmittel und Medikamente (Food andDrug Administration – FDA) schätzte die aus ei-nem DES-Verbot resultierende wirtschaftliche Be-lastung für die Verbraucher auf ca. 500 MillionenUSD jährlich. Bei dieser Schätzung wurden allder-dings fragliche Annahmen zugrunde gelegt. Dasgeschätzte gesundheitliche Risiko lag bei einemKrebsfall in 133 Jahren (Jakes, 1976).

1974 wurde DES aufgrund von Verfahrensfehlernbeim Zustandekommen des ursprünglichen Ge-setzes, mit dem DES in den Vereinigten Staatenverboten worden war, vorübergehend wieder alsWachstumsförderer zugelassen. Die Agrarlobbyerhob schwer wiegende Behauptungen in Bezugauf die wirtschaftlichen Konsequenzen einer Auf-rechterhaltung des Verbots. Diese Behauptungenwurden trotz der Tatsache aufgestellt, dass aufdem amerikanischen Markt bereits alternativeWachstumsförderer verfügbar waren (siehe Ta-belle 1). Diese „Atempause“ gab der pharmazeuti-schen Industrie Gelegenheit, weitere hormonelleWachstumsförderer zu entwickeln. Zur gleichenZeit war eine wissenschaftliche Debatte über dasDES-Rückstandsniveau im Gange, bei dem davonausgegangen werden kann, dass es kein größeresgesundheitliches Risiko für den Menschen be-steht. 1976 legte die FDA die feststellbare Min-destkonzentration (das Regulationsniveau) auf2 ppb (Teile pro Milliarde) fest. Die FDA schätzte,dass die Konzentration von DES in Fleisch in derGrößenordung von 0,5 ppb lag (McMartin, 1978),konnte diese Schätzungen jedoch nicht durchMessungen belegen. Die Sicherheit von Östroge-nen in oralen Antikonzeptiva („Pille“) und die ho-hen Konzentrationen von natürlichen Östroge-nen bei schwangeren Frauen wurden als ent-scheidende Belege dafür angeführt, dass niedrigeRückstände von DES in Nahrungsmitteln keineGefahr für den Verbraucher darstellten. DiesesArgument berücksichtigte allerdings nicht, dassKleinkinder mit niedrigem natürlichem Östro-genspiegel die wahrscheinliche Risikogruppe dar-stellten (McMartin, 1978). Die FDA ließ außerdemdie Tatsache außer Acht, dass DES gegenüber Öst-radiol und den östrogenen Komponenten der

oralen Antikonzeptiva zahlreiche strukturelle Un-terschiede aufweist.

1979 wurde DES schließlich endgültig verboten,da es keine toxikologischen Gründe für die Festle-gung eines Rückstandsniveaus gab, bei dessenUnterschreitung keine karzinogene Wirkung zuerwarten war (Jakes, 1976).

Die Bedenken, dass ein Verbot von DES mit ho-hen Kosten für den Verbraucher verbunden seinwürde, waren vermutlich nicht gerechtfertigt. Alsdas Verbot schließlich erlassen wurde, gab eskaum Belege für eine nachhaltige Kostensteige-rung bei der Fleischproduktion. Im Fall der Verei-nigten Staaten ließ sich die ausbleibende Kosten-steigerung durch die Verfügbarkeit alternativerWachstumsförderer und teilweise durch die fal-schen Annahmen bei der vorläufigen Berech-nung der Kosten erklären. Es sollte nicht uner-wähnt bleiben, dass die FDA den Einsatz andereröstrogener Präparate als Wachstumsförderer fürRinder weiterhin unterstützt (einschließlich Öst-radiol, Trenbolon und Zeranol), da ihnen großeBedeutung für eine wirtschaftliche effizienteFleischproduktion beigemessen wird.

1982 kam eine aus EU-Sachverständigen bestehenArbeitsgruppe (der so genannte Lamming-Aus-schuss), die sich aus Mitgliedern des Wissen-schaftlichen Lebensmittelausschusses und desWissenschaftlichen Futtermittelausschusses (desfederführenden Ausschusses für Fragen im Zu-sammenhang mit Wachstumsförderern) zusam-mensetzte, zu dem Zwischenergebnis, dass Östra-diol und mehrere weitere hormonell wirksameWachstumsförderer als wachstumsfördernde Sub-stanzen für Rinder sicher seien – eine Entschei-dung, mit der sich die EU-Beamten nicht zufrie-den zeigten. Während der folgenden Jahre setzteder Lamming-Ausschuss seine Arbeit fort, wich je-doch nicht von seinem Standpunkt ab. Der Aus-schuss wurde 1987 aufgelöst, seine Zwischener-gebnisse wurden von der EU nicht veröffentlicht.Allerdings veröffentlichten einige Mitglieder desAusschusses ihre Ansichten unabhängig von derEU im Rahmen von wissenschaftlichen Publika-tionen. (Lamming et al., 1987).

1988 kam eine Risikobeurteilung des gemeinsa-men Sachverständigenausschuss für Lebensmit-telzusatzstoffe (Joint Expert Committee on Food– JECFA) der Weltgesundheitsorganisation(WHO) und der Ernährungs- und Landwirt-schaftsorganisation der Vereinten Nationen

173

(Food and Agriculture Organization – FAO) zu ei-nem ähnlichen Ergebnis wie der Lamming-Aus-schuss. Der JECFA legte den Standardansatz fürRisikobeurteilungen zugrunde, der auch heutenoch von wissenschaftlichen beratenden Aus-schüssen angewandt wird. Der JECFA bezog inseine Risikobeurteilung nur die folgenden Fakto-ren ein (JECFA/WHO, 1988):

➔ Risiko bei vorschriftsmäßiger Anwendung derWachstumsförderer (allerdings gab es sowohlzum damaligen Zeitpunkt als auch in der Zwi-schenzeit Anzeichen für versehentlichen oderbewussten Missbrauch, so dass wahrscheinlichvon höheren Rückständen im Fleisch ausge-gangen werden muss);

➔ einzelne Wachstumsförderer (statt Kombina-tionen von Wachstumsförderern);

➔ von den Herstellern bereitgestellte Daten.

Kurz nach der Veröffentlichung der Ergebnissedes JECFA verbot die EU nicht nur die Anwen-dung von Östradiol, sondern auch die Anwen-dung von natürlichen und synthetischen Steroid-hormonen als Wachstumsförderern. Dieses Ver-bot wurde ursprünglich 1985 ausgesprochen,wurde jedoch vom Vereinigten Königreich vordem Europäischen Gerichtshof angefochten. Auf-grund von Verfahrensfehlern wurde das Verbotschließlich aufgehoben. 1988 wurde schließlichein endgültiges Verbot erlassen, das die Anwen-dung von 17-β-Östradiol, Testosteron, Progeste-ron, Zeranol, Trenbolonacetat und Melengestrol-acetat in den Mitgliedstaaten verbietet. 1989 wur-de das Verbot auf Importe aus Ländern der drit-ten Welt ausgedehnt. Nicht unter das Verbot fie-len Länder, in denen solche Wachstumsfördererbereits verboten waren, oder Länder, die ein Ex-portprogramm für Rinder aus hormonfreier Mastbetrieben. Diese Maßnahme könnte als Anwen-dung des Vorsorgeprinzips betrachtet werden,auch wenn das Prinzip zu dieser Zeit noch nichtformalisiert war.

Es ist wichtig, die Gründe für die Entscheidungder Europäischen Kommission zu analysieren,sich über die Ansichten beider Ausschüsse hin-wegzusetzen. Anscheinend waren es drei Fakto-ren, die besonderen Einfluss auf die Entschei-dung der Kommission über die Anwendung vonDES als Wachstumsförderer hatten:

➔ erstens die wissenschaftlichen Belege dafür,dass DES, das in großem Umfang als Wachs-tumsförderer eingesetzt wurde, vaginale Klar-

zellenadenome bei jungen Frauen verursachte(Herbst und Bern, 1988);

➔ zweitens die zunehmende öffentliche Besorg-nis über die mit Hormonen verbundenen Ge-sundheitsrisiken im Allgemeinen. Die ersteGeneration oraler Antikonzeptiva wurde fürdie Zunahme der Fälle von Brustkrebs undThrombosen verantwortlich gemacht;

➔ drittens wurde in mehreren zu dieser Zeit ver-öffentlichten epidemiologischen Studien dieBehauptung aufgestellt, dass eine Umweltbe-lastung mit Östrogenen zu Wachstumsanoma-lien sowie zu Anomalien bei der Sexualent-wicklung und in der Pubertät führen könne.In Puerto Rico wurden mehr als 10 000 Fällevon anormaler Sexualentwicklung einschließ-lich vorzeitiger Entwicklung von Brüsten undKörperbehaarung sowie vorzeitiger Pubertätverzeichnet (Perez-Comas, 1988).

Diese Veränderungen wurden von den Autorenmit einer hohen Gesamtserum-Östrogenkonzen-tration in Verbindung gebracht. Allerdings wur-de die Quelle der Östrogenkontamination nichteindeutig identifiziert. Ähnliche nachteilige Ef-fekte wurden in Italien beobachtet. Als Ursachewurde hier die versehentliche Kontaminationvon Nahrungsmitteln mit DES angesehen (Fara etal., 1979). Darüber hinaus wurden 1980 bei derAnalyse italienischer Babynahrung, die mit ho-mogenisiertem Kalbfleisch hergestellt wordenwar, erhebliche Rückstände von DES festgestellt.Die Rückstände wurden darauf zurückgeführt,dass Implantate nach dem Schlachten der Tierenicht entfernt worden waren.

Es ist offensichtlich, dass für das Risiko, das ausder Anwendung von Östradiol und östradiolhalti-gen Präparaten für den Menschen resultiert,zahlreiche zusammenhängende Faktoren bestim-mend sind:

➔ die Art der verwendeten Wachstumsförderer,der Ort und die Dosis der Anwendung beiRindern sowie der Zeitraum zwischen der Ver-abreichung und dem Schlachten des Tieres;

➔ die vom Menschen über einen längeren Zeit-raum konsumierte Menge an Fleisch undFleischprodukten, die von geschlachteten Tie-ren stammen, die mit den Wachstumsförde-rern behandelt wurden;

➔ indirekter Kontakt mit Substanzen mit östro-gener Wirkung durch Kontamination der Um-welt oder andere Formen der Exposition;

➔ die Anfälligkeit des einzelnen Verbrauchers.

174

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit eines ver-sehentlichen oder bewussten Missbrauchs vonÖstradiol und anderen hormonell wirksamenStoffen in der Rinderzucht. Der Missbrauch kannin unterschiedlicher Form erfolgen:

➔ Verwendung einer höheren als der als vertret-bar angesehenen Dosis;

➔ komplexe Mischung von Steroiden mit östro-gener Wirkung;

➔ ungeeignete Injektionsstellen➔ Unterbleiben der Entfernung einer Injektions-

stelle oder eines Implantats (die wahrschein-lich eine wesentlich höhere Hormonkonzen-tration als andere Stellen aufweisen) bei ei-nem geschlachteten Tier;

➔ Nichteinhaltung der Absetzfrist;➔ Verwendung illegaler Substanzen.

Die illegale Verwendung von wachstumsfördern-den Stoffen in den EU-Mitgliedstaaten war Gegen-stand des Pimenta-Berichts aus dem Jahr 1989.Der Bericht fand keine Beweise für die Verwen-dung von 17-β-Östradiol, billigte jedoch das Ver-bot, da es Kontrollen erleichterte und das Ver-trauen der Verbraucher in Fleischprodukte för-derte. Es wurden Behauptungen laut, das Verbotvon Steroidhormonen durch die EU habe ihre il-legale Verwendung begünstigt, und zwar nichtnur die Verwendung der „sichereren“ Steroide,sondern auch die der toxischeren Substanzen wieDES (Loizzo et al., 1984). Mit anderen Worten,durch das Verbot wurde das Risiko für den Ver-braucher möglicherweise nicht reduziert, son-dern noch erhöht. Da kein wirkungsvolles regulä-res Überwachungsprogramm existiert, ist esschwer, Aussagen über das Ausmaß eines solchenMissbrauchs und das gegebenenfalls daraus resul-tierende erhöhte Risiko für den Verbraucher zumachen. Es ist jedoch bekannt, dass im letztenJahr DES in amerikanischem Fleisch entdecktwurde, das in die Schweiz importiert wurde.

In den meisten gemeldeten Fällen einer verse-hentlichen Kontamination von Nahrungsmittelnmit östrogenen Substanzen wurden die resultie-renden Anomalien als vorübergehend und re-versibel betrachtet. Bislang liegen keine Er-kenntnisse darüber vor, welche Langzeitfolgender Kontakt vorpubertärerer Kinder mit östroge-nen Substanzen haben kann. Das Fehlen einernachweisbaren Schwellenkonzentration, bei de-ren Unterschreiten keine Wirkung eintritt, trägtzu dieser Ungewissheit bei (Europäische Kom-mission, 1996).

14.2. Auswirkungen östrogener Präparateauf Wildtiere

Dieses Thema wurde weder vom Lamming-Aus-schuss noch vom JECFA untersucht. Erkenntnisseüber die möglichen Auswirkungen östrogenerPräparate auf die Umwelt erstrecken sich auf diebeiden folgenden Bereiche:

➔ Auswirkungen der natürlichen und syntheti-schen Östrogene selbst auf die endokrineFunktion bei Wildtieren;

➔ Auswirkungen nichtsteroider chemischer Sub-stanzen, die endokrine Störungen bei Wildtie-ren hervorrufen.

Umfangreiche Studien wurden erst Ende der acht-ziger Jahre durchgeführt. Allerdings wurden be-reits in den siebziger Jahren ausreichend Informa-tionen gesammelt, um Bedenken hinsichtlich derAuswirkungen von Präparaten mit östrogenen Ei-genschaften auf die Umwelt laut werden zu lassen.So gab es beispielsweise 1970 Berichte, Dichlordi-phenyltrichloräthan (DDT) senke den Östradiolspie-gel im Blut und vermindere die Bildung von Mark-knochen (Wissenschaftlicher Ausschuss für veteri-närmedizinische Maßnahmen im Zusammenhangmit der öffentlichen Gesundheit, 1999). Es wurdevorgebracht, die östrogene Wirkung von DDT seifür den beobachteten Effekt verantwortlich.

Schon 1972 wurde bei Katfischen nach einer DES-Exposition ein vermindertes Wachstum beobach-tet, was darauf schließen ließ, dass DES wahr-scheinlich schädliche Auswirkungen auf eineVielzahl von wild lebenden Arten hat (Peakall,1970). Johnstone et al. (1978) beschrieben spätereine erhebliche Reduzierung von Länge und Ge-wicht von Regenbogenforellen nach vorherigerVerabreichung von 17-β-Östradiol mit der Nah-rung (Bulkey, 1972).

Eine Reihe von chemischen Substanzen, die inder Umwelt weit verbreitet sind (DDT, polychlo-rierte Biphenyle (PCB) und Alkylphenole) störendie Funktion der Östrogen-Rezeptoren bei Wild-tieren (Johnstone et al., 1978; Mueller und Kim,1978; Reijnders, 1986; Bergman und Olsson,1985; Aulerich et al., 1985). 17-α-Ethinylöstradiolführte zur Feminisierung von männlichen Vö-geln (die sowohl Eierstock- als auch Hodengewe-be aufwiesen) (Delong et al., 1973).

Die oben zitierten Studien wurden bis Ende derachtziger Jahre ignoriert, als Bedenken hinsicht-

175

lich der möglichen Auswirkungen von Tier-arzneimitteln und Wachstumsförderern auf dieUmwelt laut wurden. Dieses Thema wurde imCollins-Berichts aus dem Jahr 1989 erörtert;eine gründliche Bewertung erfolgte jedochnicht. Dies kann dem mangelnden Interesse derArzneimittelbehörden an Umweltfragen undder weit verbreiteten Ansicht zugeschriebenwerden, dass ausgeschiedene Arzneimittel undWachstumsförderer stark verdünnt seien und inder Umwelt schnell abgebaut würden. In wel-chem Ausmaß sich die Verwendung östrogenerWachstumsförderer auf die Umwelt auswirkt,muss noch untersucht werden. Der kürzlichveranstaltete internationale Workshop zuHormonen und endokrinen Modulatoren inNahrungsmitteln und im Wasser (in Kopen-hagen im Jahr 2000) bestätigte die diesbezüg-lichen Bedenken.

14.3. Welche Unsicherheiten in Bezug auf die menschliche Gesundheitbestanden im Zusammenhang mit der Verwendung östrogenerWachstumsförderer?

Erstens wurden östrogene Wachstumsförderermit dem Ziel eingeführt, die Effizienz der Rinder-zucht zu steigern. Fragen der menschlichen Ge-sundheit, möglicher Auswirkungen auf die Um-welt und Tierschutzbelangen wurde keine beson-dere Beachtung geschenkt. Bei Rindern wurdennach der Verabreichung von 17-β-Östradiol histo-logische Veränderungen der Prostata und derBartholinschen Drüsen festgestellt. Die physiolo-gische Bedeutung dieser Veränderungen ist je-doch nach wie vor ungeklärt.

Zweitens ergaben nachfolgende Messungen derRückstände der Präparate im Fleisch niedrigeWerte (im Fall von 17-β-Östradiol innerhalb des„physiologischen Bereichs“), auch wenn strittigist, wie der physiologische Bereich genau zu defi-nieren ist. Die zweite Einschränkung, der dieseStudien unterlagen, war die Eignung der analyti-schen Messungen. Ein Aspekt dieser Einschrän-kung ist das Unterbleiben der Untersuchung vonMetaboliten mit potenzieller östrogener Aktivität,z. B. Östradiolester.

Die EU fördert weiterhin die wissenschaftlicheBewertung der Sicherheit dieser Wachstumsför-

derer. 1995 organisierte die Europäische Kommis-sion in Brüssel eine internationale Konferenzüber Wachstumsförderer und Fleischerzeugung,an der die wichtigsten Interessengruppen teil-nahmen. Zu eindeutigen Ergebnissen gelangtediese Konferenz jedoch nicht. In der Zwischen-zeit wurden die Meinungen der Sachverständi-gen des Wissenschaftlichen Ausschusses für vete-rinärmedizinische Maßnahmen im Zusammen-hang mit der öffentlichen Gesundheit veröffent-licht. In beiden Fällen kam man zu dem Schluss,dass die Belastung empfindlich reagierender Be-völkerungsgruppen bei diesen Substanzen auf-grund der möglichen Auswirkungen auf das Im-munsystem, das endokrine System und die Ent-stehung von Krebs weiter untersucht werdenmuss. Die EU unterstützt auch eine Reihe laufen-der Forschungsprojekte in diesem Bereich. DerJECFA hält an seiner ursprünglichen Meinungfest, dass jedes der Wachstumshormone mit ste-roidähnlicher Aktivität für den Verbraucher si-cher ist.

Knaben vor der Pubertät wurden als Risikogrup-pe ermittelt. Die Zuverlässigkeit der Messungenihres endogenen Östrogenspiegels und ihrer en-dogenen Östrogenproduktion ist sehr umstritten,da die ermittelten Werte sehr nah an die fest-stellbaren Grenzwerte herankamen. Das bedeu-tet, dass zusätzliches exogenes Östrogen einenrelativ hohen prozentualen Anteil am Gesamtös-trogen im Körper hat. Dies ist insbesondere imKontext des von der FDA angewandten Sicher-heitskriteriums relevant, dass die Aufnahme vonHormonen mit der Nahrung weniger als 1 % dertäglichen endogenen Produktion des Einzelnenbetragen sollte.

Weder die mögliche menschliche Expositionüber die Ausbringung östrogen aktiver Exkre-mente von Rindern in die Umwelt noch möglicheEffekte auf Wildtiere wurden in ausreichendemMaße berücksichtigt.

Das öffentliche Interesse wurde in Europa durchden Zusammenhang zwischen DES und vagina-len Klarzellenadenomen und die zunehmendeBesorgnis über die karzinogene Wirkung be-stimmter Hormone geweckt. Relevant ist in die-sem Zusammenhang, dass in jüngerer Zeitdurchgeführte Forschungen bewiesen haben,dass 17-β-Östradiol (wiewohl ein natürliches Hor-mon) ein genotoxisches Karzinogen ist. Dieses Er-gebnis hat die Debatte über sichere Konzentra-tionen weiter angeheizt.

176

14.4. Hat sich der von der EuropäischenKommission gewählte Ansatz als fundiert erwiesen?

Es herrscht zunehmend Einigkeit darüber, dassBrustkrebs bei Frauen und Prostatakrebs bei Män-nern durch eine hohe Östrogenexposition be-günstigt wird. Nordamerika weist eine der höchs-ten Brustkrebsquoten der Welt auf, während dieQuote in Asien und Afrika wesentlich niedrigerist. Ein ähnliche Bild ergibt sich bei Prostata-krebs. Es wurde festgestellt, dass das Risiko, anBrustkrebs zu erkranken, bei Frauen mit einemhohem Östrogenspiegel und insbesondere mit ei-nem hohen Anteil freier Östrogene höher ist (Ad-kins, 1975). Studien bei Migranten haben erge-ben, dass dieses Risiko in erster Linie auf Umwelt-und nicht auf genetischen Faktoren beruht.

Bislang gibt es keine stichhaltigen Beweise, dassdas EU-Verbot der Anwendung von Wachstums-förderern eine Schutzwirkung für die Gesundheitder Bevölkerung hat. Auf der anderen Seite kannjedoch auch argumentiert werden, dass in denLändern, in denen Wachstumsförderer weiterhineingesetzt wurden, keine zuverlässigen Beweisedafür gesammelt wurden, dass diese für die Si-cherheit der Verbraucher unbedenklich sind. Ob-wohl potenzielle Risiken für die Umwelt aufge-zeigt wurden, konnten keine schlüssigen Beweisedafür vorgebracht werden, dass Wachstumsförde-rer ein erhebliches Umweltrisiko darstellen.

Die Argumente für die Anwendung von DES alsWachstumsförderer waren rein wirtschaftlicherNatur. Weder für die Rinder (oder andere Arten,denen DES verabreicht wurde) noch für die Um-

welt bot DES irgendwelche Vorteile. Agrarexper-ten streiten sich weiter über das Ausmaß des Nut-zens anaboler Steroide als Wachstumsförderer.Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten unddie EU in der Frage anaboler Steroide als Wachs-tumsförderer nun getrennte Wege gehen, hat be-trächtliche wirtschaftliche Folgen, deren vollerUmfang noch zu ermitteln ist. Die Meinungsver-schiedenheit hat zu einem Handelsstreit zwi-schen der EU und den Vereinigten Staaten ge-führt (Henderson et al., 1988). Ab 1989 verhäng-ten die USA einseitige Sanktionen in Form eines100%-igen Ad-Valorem-Zolls auf eine Reihe von Ex-porten aus EU-Staaten mit einem Wert von 93Millionen USD pro Jahr (ca. 93 Millionen •). 1996wurden diese Maßnahmen aufgehoben, da sieden Vorschriften der Welthandelsorganisation(WTO) widersprachen. 1997 wurde die Rechts-grundlage für das Verbot der EU von den Verei-nigten Staaten und Kanada vor einem Gremiumder WTO angefochten. Das Gremium entschiedin wesentlichen Punkten gegen die EU. In einemBerufungsverfahren wurden mehrere Gründeaufgehoben. Der einzige Aspekt, in dem derStandpunkt des Gremiums aufrechterhalten wur-de, war der, dass sich das Verbot der EU nichtspezifisch genug gegen Rückstände der einzel-nen Wachstumshormone in Fleisch richtete. DerStreit wirft die Frage auf, welchen Nutzen die An-meldung von Bedenken haben sollte. Es ist be-denklich, dass Versuche zur Lösung des Problemsunternommen werden, ohne dass ein formalerMechanismus für die Abwägung von Risiken undNutzen für die Öffentlichkeit existiert. Die The-matik potenzieller Auswirkungen auf die Umweltoder auf das Wohl der Tiere war nicht Gegen-stand dieses Streits.

177

➔ TABELLE 14.1. GENEHMIGUNGSDATEN DER AMERIKANISCHEN FDA FÜR ANABOLISCHE WIRKSTOFFE

Handelsname Anabolisches Agens Genehmigungsdatum

Synovex-S200 mg Progesteron/20 mg Östradiolbenzoat

20.2.1956

Synovex-H200 mg Testosteronpropionat/20 mg Östradiolbenzoat

16.7.1958

Ralgo36 mg Zeranol Oder 12 mg Zeranol

5.11.1969

MAG 0,25—0,50 mg/Tag MGA 3.6.1977

Quelle: Henderson et al., 1988

Derzeit unterliegen Exporte aus der EU Sanktio-nen in Höhe von 100 Millionen GBP (ca. 160 Mil-lionen •) pro Jahr. Der Erfolg der VereinigtenStaaten bei den Anhörungen der WTO zu anabo-len steroiden Wachstumsförderern hat den An-stoß zu weiteren Aktionen im Zusammenhangmit anderen Produkten gegeben, bei denen dieEU aus Gründen der Gesundheit einen auf Vor-sorge ausgerichteten Ansatz verfolgt. Es stellt sichdie Frage, ob das Vorsorgeprinzip aus Gründender Gesundheit für die WTO akzeptabel wäre,wenn es von der EU auf sämtliche Produkte ange-wendet würde. Einige strittige Punkte wurden je-doch in der Berufung vor dem Gremium derWTO geklärt; demnach ist eine Gesundheits-schutzmaßnahme (einschließlich eines Verbots)zulässig, wenn sie durch eine Risikobeurteilunggestützt wird, auch wenn diese:

➔ nicht unbedingt quantitativer Natur ist;➔ reale Bedingungen Probleme berücksichtigt,

wie Schwierigkeiten bei Kontrollmaßnahmen;➔ auf „qualifizierten und anerkannten Quellen“

(WT/DS, 1997) basiert, selbst wenn diese inder Minderzahl sind.

14.5. Schlussfolgerungen

Die EU unternahm 1985 und erneut 1988 Schrit-te zu einem Verbot von Wachstumsförderern mitsteroider Wirkung. Der Grund dafür war in ers-ter Linie die Besorgnis der Öffentlichkeit überdie unfreiwillige und unnatürliche Hormonexpo-sition. Zum damaligen Zeitpunkt wurde das Vor-gehen der EU weder vom eigenen wissenschaftli-chen Ausschuss der EU (dem Lamming-Aus-schuss) noch von dem der WHO (JECFA) unter-stützt. Die Anwendung des Vorsorgeprinzips istin Situationen gerechtfertigt, in denen die wis-senschaftlichen Grundlagen nicht ausreichen,um die Sicherheit eines Produkts zu bestätigen.Keiner der Ausschüsse musste den Grad der Unsi-cherheit seiner Bewertung genau definieren. Dadiese Frage nie gestellt wurde, handelte es sichbei dem ursprünglichen Verbot der EU in Wirk-lichkeit um eine politische Risikobeurteilung.Jüngere wissenschaftliche Forschungen werdendie Anwendung des Vorsorgeprinzips durch dieEU zur Aufrechterhaltung des Verbots jedochwahrscheinlich rechtfertigen.

Die Frage des Einsatzes von Steroidhormonenals Wachstumsförderer hat die folgenden weiter

reichenden Implikationen für die Bestimmungder Zulässigkeit der Verwendung chemischerSubstanzen:

➔ Es ist sehr wichtig, wissenschaftliche Aus-schüsse dazu zu verpflichten, im Rahmen ih-rer Schlussfolgerungen die Unsicherheiten ih-rer Bewertungen näher zu spezifizieren;

➔ Für die Abwägung von Risiken und Nutzenmüssen strenge und transparente Mechanis-men entwickelt werden.

14.6. Literatur

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179

Quelle: EUA

➔ TABELLE 14.2. HORMONE ALS WACHSTUMSFÖRDERER: FRÜHE WARNUNGEN UND MASSNAHMEN

70er JahreBedenken hinsichtlich der Sicherheit von Wachstumsförderern aufgrund der karzinogenen Wirkung von DES fürden Menschen

1972Peakal erklärt in einer Veröffentlichung, dass DES wahrscheinlich Auswirkungen auf eine Vielzahl wild lebenderArten hat; dies wurde bis Ende der 80er Jahre ignoriert

1972 DES als hormoneller Wachstumsförderer in den Vereinigten Staaten verboten

1974 Verwendung von DES in den Vereinigten Staaten wieder erlaubt

1976Amerikanische Zulassungsbehörde für Lebensmittel und Medikamente (FDA) legt die feststellbareMindestkonzentration für DES fest

1979DES erneut verboten, da es nicht gelingt, eine Konzentration zu ermitteln, bei deren Unterschreiten DES nichtkarzinogen wirkt

1982Arbeitsgruppe von EU-Sachverständigen (Lamming-Ausschuss) kommt zu dem Ergebnis, dass bestimmteWachstumsförderer sicher sind

1985Erstes EU-Verbot; Ergebnisse des Lamming-Ausschusses werden ignoriert, da die Grundlage seinerBeurteilungen nicht breit genug war

1987 Lamming-Ausschuss von der EU aufgelöst; seine Ergebnisse wurden nicht veröffentlicht

1988Verbot mehrerer Wachstumsförderer in der gesamten EU aufgrund ihrer ungewissen Auswirkungen auf den Menschen

1988Gemeinsamer FAO/WHO-Sachverständigenausschuss für Lebensmittelzusatzstoffe kommt beiStandardRisikobeurteilungen zu denselben Ergebnissen wie der Lamming-Ausschuss

1989 EU-Verbot wird auf andere Wachstumsförderer und Importe aus Ländern der dritten Welt ausgeweitet

1989 Pimenta-Bericht stellt illegale Anwendung von Wachstumsförderern in einigen Mitgliedstaaten fest

1989–96 USA verhängen einseitige Sanktionen gegen EU-Exporte

1995Europäische Kommission organisiert internationale Konferenz über Wachstumsförderer und Fleischerzeugung, beider die Auswirkungen auf Immunsystem, endokrines System und Krebs nicht vollständig geklärt werden können

1999Der Wissenschaftliche Ausschuss für veterinärmedizinische Maßnahmen im Zusammenhang mit der öffentlichenGesundheit veröffentlicht einen Bericht mit dem Ergebnis, dass für sechs Wachstumsförderer keine Schwellen-konzentration festgelegt werden kann

2000Internationaler Workshop über Hormone und endokrine Modulatoren in Nahrungsmitteln und Wasser bestätigtdie Auswirkungen von Tierarzneimitteln auf die Umwelt (Wildtiere)

2001 EU unterliegt nach wie vor Exportsanktionen in Höhe von jährlich 160 Mio. •

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180

Patrick van Zwanenberg und Erik Millstone

15.1. Einführung

Viele politische Entscheidungsträger im Ver-einigten Königreich, die für politische Ent-scheidungen über BSE (Bovine SpongiformeEnzephalopathie) unmittelbar Verantwortungtrugen, behaupten, ihr Ansatz sei seinerzeitexemplarisch gewesen für einen extrem aufVorsorge bedachten Ansatz und eine rigorosePolitik mit wissenschaftlicher Grundlage.9 Wirbestreiten die Stichhaltigkeit dieser Behaup-tungen, weil die Maßnahmen der Regierungnicht wirklich auf Vorsorge ausgerichtet warenund die Implikationen des verfügbaren wissen-schaftlichen Beweismaterials nicht ausreichendberücksichtigten.

Die BSE-Story ist äußerst komplex und der vorlie-gende Bericht daher gezwungenermaßen selek-tiv. Allerdings muss der Tatsache Rechnung ge-tragen werden, dass die öffentliche Politik imVereinigten Königreich durch einen fundamenta-len Interessenkonflikt behindert wurde. Die ver-antwortliche Stelle für die BSE-Problematik wardas Ministerium für Landwirtschaft, Fischereiund Ernährung (Ministry of Agriculture, Fisheriesand Food – MAFF), das einerseits den wirtschaftli-chen Interessen der Landwirte und der Nah-rungsmittelindustrie dienen und andererseits dieöffentliche Gesundheit vor Nahrungsmittelrisikenschützen sollte. Die hier zitierten Beweise legenden Schluss nahe, dass das MAFF aufgrund derErwartung, es solle gleichzeitig zwei gegensätzli-chen Zielen gerecht zu werden, letztlich beideZiele verfehlte.

15.2. Eine neue Rinderseuche

Die ersten Fälle von BSE wurden im November1986 offiziell bestätigt. Die pathologischen Merk-male der neuen Rinderseuche wiesen große Ähn-lichkeit mit Scrapie auf, einer transmissiblen(übertragbaren) spongiformen Enzephalopathie(TSE), die bei der Schafpopulation im VereinigtenKönigreich endemisch ist. Bei den TSEs handeltes sich um eine Gruppe bislang weitgehend un-geklärter, nicht behandelbarer und stets tödlichverlaufender Gehirnerkrankungen, von denen so-wohl Tiere als auch Menschen befallen werdenkönnen. Die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD) istdie bekannteste humane TSE-Krankheit.

Wissenschaftler des MAFF vermuteten als Ursa-che für BSE eine Übertragung des Erregers vonmit Scrapie infizierten Schafen über kontaminier-tes Futter. Die bei der Tierkörperbeseitigung an-fallenden Überreste von Schafen, Rindern undanderen Tieren wurden routinemäßig zu Tierfut-ter verarbeitet. Infiziertes Futter wurde schnellals Hauptüberträger der Krankheit erkannt. Obder Ursprung von BSE jedoch tatsächlich Scrapieoder eine spontan aufgetretene TSE bei Rindernwar oder ob BSE eine ganz andere Ursache hat,bleibt unklar.

Es gab keine Belege dafür, dass der Verzehr desFleischs mit Scrapie infizierter Schafe CJD hervor-rufen kann. Leider konnten die politischen Ent-scheidungsträger jedoch nicht mit Sicherheit da-von ausgehen, dass das Agens, das BSE hervorrief,tatsächlich seinen Ursprung in der Scrapie-Er-krankung hatte. Selbst wenn der Scrapie-Erregerdie Artengrenze zwischen Schafen und Rindernübersprungen hatte, konnten die politischen Ent-scheidungsträger außerdem nicht sicher sein,dass BSE schließlich dieselben Übertragungs-merkmale aufweisen würde wie Scrapie. Experi-mentelle Beweise zeigten, dass es damals nichtmöglich war, das Wirtsspektrum eines bestimm-ten Scrapie-Stamms vorherzusagen, nachdem die-ser die Artengrenze überwunden hatte (Kimber-lin et al., 1987). Selbst wenn die politischen Ent-

181

15. „RINDERWAHNSINN“ — 80ER JAHRE BIS 2000:WIE DIE VORSORGE DURCHBESCHWICHTIGUNGEN UNTERGRABEN WURDE

9 Gillian Sheppard (BSE Inquiry Abschrift, 15. Dezember1998, S. 10–11); John Gummer (BSE Inquiry Abschrift,8. Dezember 1998, S. 50).

scheidungsträger davon ausgingen, dass BSE fürden Mensch pathogen war, konnten sie das Risi-ko nicht quantifizieren. Niemand wusste z. B.,welche Rindergewebe, wenn überhaupt, von deminfektiösen Agens frei waren, in welchem Maßedie verschiedenen Gewebe infektiös waren oderinwieweit sich dies im Lauf der Inkubationszeitverändern konnte. Auch wusste niemand, ob viel-leicht ein Schwellenwert für die Exposition desMenschen existierte, unterhalb dessen das Risikovernachlässigbar wäre. Ende der achtziger Jahregab es keinen Test, mit dem der Erreger bei le-benden Tieren vor dem Auftreten klinischerSymptome zuverlässig nachgewiesen werdenkonnte. Symptomfreie Rinder konnten wederidentifiziert noch von nicht infizierten Rindernunterschieden werden.

Sobald die ersten Fälle von BSE diagnostiziert wa-ren, erkannten hohe Beamte, dass BSE eine mög-liche Gefahr für die menschliche Gesundheit dar-stellte (BSE Inquiry, 1999b, Abs. 22). So teilte derUntersekretär des Referats Tiergesundheit (Ani-mal Health Group) des MAFF seinen Kollegen An-fang 1988 mit: „... Wir wissen nicht, ob (BSE) aufden Menschen übertragbar ist. ... Es gibt keineBeweise dafür, dass Menschen infiziert werdenkönnen, aber wir können nicht sagen, dass keineGefahr besteht. ... wir müssen uns mit der Möglich-keit abfinden, dass die Krankheit eine weitere Arten-grenze überschreiten könnte“ (Hervorhebung er-gänzt) (BSE Inquiry, 1999c, Abs. 59). Die politi-schen Entscheidungsträger hatten keine Wahl,als dringliche Entscheidungen im Zusammen-hang mit einer neuartigen Krankheit zu treffen,deren Auswirkungen nicht bekannt waren.

15.3. Erste Entscheidungen

In der Anfangsphase der BSE-Epidemie stand denpolitischen Entscheidungsträgern ein breitesSpektrum an möglichen politischen Reaktionenzur Verfügung. Das Spektrum reichte von denam stärksten bis zu den am wenigsten auf Vorsor-ge ausgerichteten Maßnahmen. Ferner ließensich die Maßnahmen entsprechend ihrer voraus-sichtlichen Kosten gliedern, doch wurde die Rei-henfolge dann umgekehrt. Um die Krankheit undihren Erreger in der Landwirtschaft und in derNahrung vollständig auszurotten, wäre es unteranderem erforderlich gewesen, alle Tiere, derenFutter erwiesenermaßen oder vermutlich mitdem Erreger infiziert war, zu keulen und nicht

der Nahrungskette zuzuführen. Da es keine Mög-lichkeit gab, festzustellen, welche Futterpartienverseucht waren, und weil nicht alle Milchvieh-bestände fleisch- und knochenmehlhaltiges Fut-ter erhalten hatten, und weil der größte Teil derRinderpopulation aus Milchviehbeständen ge-züchtet worden war, hätte dies die Schlachtungfast der gesamten britischen Rinderpopulationerfordert, was mit Kosten in der Größenordnungvon 12–15 Mrd. GBP verbunden gewesen wäre10.Auf der anderen Seite standen zahlreiche andereOptionen zur Wahl, die die Risiken erheblich ver-mindert hätten, ohne hohe öffentliche Ausgabenzu erfordern. Denkbar gewesen wäre z. B. einVerbot der Verwendung von Tieren aus betroffe-nen Beständen für den menschlichen Verzehr,der Ausschluss aller Rindergewebe, die unterdem Verdacht standen, das pathogene Agens zuenthalten, aus der Nahrungskette oder auch nurein Verbot der Verwendung klinisch betroffenerTiere für den menschlichen Verzehr. 1987 und inder ersten Hälfte des Jahres 1988 wurden ca.1 200 klinische Fälle von BSE registriert (obwohldie Seuche zu diesem Zeitpunkt nicht anzeige-pflichtig war und die tatsächliche Zahl der Er-krankungen mit großer Wahrscheinlichkeit hö-her war), die Mehrzahl dieser Tiere wurde zurVerwendung für den menschlichen Verzehr ver-kauft. Die Kosten einer Entschädigung für die Be-seitigung dieser klinisch kranken Tiere hättensich nur auf 1 000 GBP pro Tier, d. h. auf insge-samt ca. 1,5 Millionen GBP belaufen. WelchenSchaden der Verzehr dieser Tiere verursacht hat,lässt sich noch nicht abschätzen.

Selbst wenn die Unsicherheit in Kreisen der Wis-senschaft wesentlich geringer gewesen wäre,hätten wissenschaftliche Überlegungen alleinenie ausgereicht, um aus der Skala der politi-schen Maßnahmen eine angemessene Reaktionauszuwählen. Die politischen Entscheidungsträ-ger mussten unter politischen Gesichtspunktenüber die zu ergreifenden Maßnahmen und dieKostenverteilung auf öffentliche und private Trä-ger entscheiden.

182

10 Ausgehend von einer Entschädigung in Höhe von 865GBP pro geschlachtetem Rind (der 1996 tatsächlich anLandwirte gezahlten Entschädigung) und einer Popula-tion von etwa 12 Millionen Rindern belaufen sich diegeschätzten Kosten für Keulung und Verbrennung derRinder und die Folgewirkungen auf die Beschäftigungauf maximal 15 Mrd. GBP („Cash for cows“, 1996).

183

➔ KASTEN 15.1. FRÜHE WARNUNGEN

Im Rahmen der Tierkörperbeseitigung verarbei-tete Schlachtabfälle wurden seit Anfang des20. Jahrhunderts als Tierfutter wiederverwertet(Cooke, 1998). Zu den bekannten Risiken dieserPraxis gehörte die Übertragung, das Recyclingund die Verbreitung von Krankheitserregern. Sieveranlassten die Königliche Kommission für Um-weltverschmutzung (Royal Commission on Envi-ronmental Pollution, RCEP) 1979, Mindeststan-dards für die Verarbeitung in Tierkörperbeseiti-gungsanstalten zu empfehlen (RCEP, 1979). Nochbevor die Labour-Regierung diese Empfehlungenumsetzen konnte, verlor sie im Jahr 1979 dieWahlen. Es ist noch nicht klar, welche Wirkungderartige Vorschriften eventuell auf die Eindäm-mung der BSE-Epidemie gehabt hätten, da dieneue konservative Regierung die Rücknahme dervorgeschlagenen Regelungen beschloss, die siefür unnötig und übermäßig restriktiv hielt. DieRegierung Thatcher vertrat den Standpunkt, dassdie Tierkörperbeseitigungsbranche selbst überdie Nutzung ihrer Einrichtungen entscheiden sol-le (Barclay, 1996, Section II B, S. 13). Nach 1996wurden in der TierkörperbeseitigungsbrancheMindeststandards für die Verarbeitung einge-führt; Versuche zur Inaktivierung wurden durch-geführt und sind noch im Gange. Irgendwannwerden wir vielleicht erfahren, welche Wirkungdiese Standards auf die Verbreitung der TSE-Erre-ger gehabt hätte, wären sie bereits 1979 einge-führt worden.

Mitte der siebziger Jahre entschied das US-Land-wirtschaftsministerium, dass die Kadaver vonSchafen und Ziegen, die mit Scrapie infiziertwaren oder mit Scrapie in Kontakt gekommenwaren, nicht für menschliche oder tierischeNahrungsmittel verwendet werden durften. Da-mit sollte zum einen die Ansteckung andererHerden mit Scrapie verhindert werden; zum an-deren fürchtete das Ministerium einen mögli-chen Zusammenhang zwischen Scrapie und CJD(Martin, 1998). Im Vereinigten Königreich gabes keine vergleichbaren Maßnahmen. Wenn derUrsprung von BSE tatsächlich die Übertragungdes Scrapie-Erregers von Schafen auf Rinderwar, hätten ähnliche, relativ kostengünstige Be-schränkungen die BSE-Epidemie unter Umstän-den verhindert.

Die Möglichkeit der Übertragbarkeit von BSE aufden Menschen wurde von Veterinärbeamten desMAFF schon bei der ersten Diagnostizierung derKrankheit im Jahr 1986 in Betracht gezogen. Al-lerdings schätzten sie die Wahrscheinlichkeit,dass BSE für den Menschen pathogen sein könn-te, als sehr gering und damit akzeptabel ein. Diefrüheste dokumentierte offizielle Bestätigung, dieuns bekannt ist, dass die Wahrscheinlichkeit ei-ner Übertragung mehr als nur äußerst geringsein könnte, stammt aus einer Sitzung des Natio-nal Institute for Biological Standards and Controlim Mai 1988. Im Protokoll der Sitzung wurde dasErgebnis festgehalten, dass BSE „per Analogie(mit Scrapie und CJD) auf den Menschen über-tragbar sein könnte“ (BSE Inquiry, 1999c, Abs.186). An der Sitzung nahmen führende Regie-rungsberater teil.

Zwischen 1990 und 1995 tauchten nach undnach Beweise dafür auf, dass BSE von Scrapie beiSchafen abweichende Übertragungsmerkmaleaufwies, was darauf hindeutete, dass BSE ein un-bekanntes und nicht vorhersehbares Wirtsspek-trum aufwies. Der entscheidenste Beweis war die1990 und in den Folgejahren gemachte Entde-ckung, dass BSE über die Nahrung auf Hauskat-zen übertragbar war – eine Art, die nicht vonScrapie befallen werden kann.

Beweise für die Verursachung von CJD durchBSE wurden erst 1995 gefunden, als erstmalsFälle einer ungewöhnlichen Form von CJD (diespäter als neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit – vCJD – bezeichnet wurde) bei ganzjungen Menschen auftraten. Der zeitliche undgeografische Zusammenhang zwischen den bei-den Krankheiten war ein Indizienbeweis für ih-re Kausalität.

1996 und 1997 wurden direkte Beweise gefun-den, die einen kausalen Zusammenhang zwi-schen BSE und der neuen Variante der CJD an-zeigten. Dazu gehörten Untersuchungen, die diepathologischen und klinischen Merkmale vonBSE und der neuen Variante der CJD als identischauswiesen, während sie sich von den entschei-denden Merkmalen von Scrapie und der spora-disch auftretenden CJD unterschieden.

Ein Problem im Zusammenhang mit regulatori-schen Maßnahmen bestand damals aus derSicht der britischen Regierung darin, dass jederegulatorische Reaktion – ja jedes Eingeständ-nis, dass der Verzehr von Fleisch, Milch oderMilchprodukten britischer Rinder möglicher-weise gesundheitsschädlich sei – das Vertrauenin britisches Rindfleisch sowohl im Inland alsauch auf internationaler Ebene untergrabenhätte und negative Auswirkungen für dieFleischindustrie gehabt hätte. Selbst die nahezukostenfreie Option, Informationen über dieKrankheit aus dem MAFF an Außenstehendeweiterzugeben, hätte die Verbraucher im Inlandund potenzielle Importeure von britischen Rin-dern auf die Existenz einer neuen, potenzielltödlichen, von Tieren auf Menschen übertrag-bare Krankheit aufmerksam gemacht. Die Angstvor diesen Folgen und die mangelnde Bereit-schaft, die öffentlichen Ausgaben zu erhöhen,dominierten die Politik im MAFF während derersten 20 Monate der Epidemie. Als z. B. derleitende Veterinärbeamte am MAFF seine Kolle-gen erstmals von BSE in Kenntnis setzte, warnteer, dass „... die Krankheit möglicherweise ernsteFolgen haben könnte, und zwar nicht nur imInland, sondern auch für britische Exporte“. Ervertrat die Auffassung, regulatorische Beschrän-kungen seien nicht angebracht, und bemerkte,dass „verantwortungslose und schlecht infor-mierte Publicity wenig hilfreich wäre, da sie zuhysterischen Forderungen nach sofortigen dra-konischen Regierungsmaßnahmen führen könn-te und auch andere Länder veranlassen könnte,britische Exporte lebender Rinder sowie vonRinderembryos und -samen abzulehnen“ (BSEInquiry, 1999b, S. 27–28). Selbst die Option, dieKrankheit anzeigepflichtig zu machen, ein we-sentliches Hilfsmittel für die Überwachung vonKrankheiten, wurde teilweise deshalb zurückge-wiesen, weil, wie ein Beamter es ausdrückte,eine derartige Maßnahme „... der Allgemeinheitden Schluss nahe legen könnte, dass wir etwaswissen, was sie nicht wissen, etwa dass Fleischoder Milch eine Gefahrenquelle für den Menschdarstellt“ (Phillips et al., 2000, Vol. 3, Abs.2.130).

Als sich die Epidemie rasch ausbreitete, be-schlossen die politischen Entscheidungsträgerim Vereinigten Königreich nicht nur, vollkom-men auf regulatorische Maßnahmen zu verzich-ten, sondern sie beschlossen auch, keine Infor-mationen über BSE aus dem Ministerium nachaußen dringen zu lassen. Einer der Wissen-

schaftlicher des MAFF erinnerte sich später: „...Als sich 1986 die Bestätigung der Krankheit ab-zeichnete, unterlagen wir im zentralen Veteri-närlabor dem strikten Verbot, mit Außenstehen-den über die Krankheit zu sprechen ...“ (BSE In-quiry, 1999b, S. 13). Wie die Phillips-Untersu-chung von BSE in der ersten Hälfte des Jahres1987 feststellte, „... galt der Grundsatz, die Ver-breitung von Informationen über die neueKrankheit selbst innerhalb des staatlichen Vete-rinärdienstes zu beschränken“ (Phillips et al.,2000, Vol. 3, Abs. 2.137). Der größte Teil der wis-senschaftlichen Forschungsgemeinde, der medi-zinische Berufsstand sowie leitende Beamte undMinister in anderen Ministerien erfuhren erstAnfang 1988 von BSE.

Als im Februar 1988 die Medien begannen, sichmit der neuen Rinderseuche und der ständigwachsenden Zahl betroffener Rinder zu befas-sen, änderten führende Vertreter des MAFF ihreMeinung und empfahlen ihren Ministern dieEinführung einer Keulungs- und Entschädi-gungspolitik für klinisch kranke Rinder, diezum damaligen Zeitpunkt für den menschli-chen Verzehr verkauft wurden. Privat vertratenBeamte den Standpunkt, dass die Regierungohne eine Keulungspolitik zur Verantwortunggezogen würde, falls sich später herausstellensollte, dass BSE auf den Menschen übertragbarsei. Der Landwirtschaftsminister, John MacGre-gor, wies diese Empfehlung zurück. Der persön-liche Sekretär des Ministers erläuterte dieGründe: „Er (der Minister) sieht keine Möglich-keit, weitere Schritte einzuleiten, ohne dass geklärtist, wo die ausgleichenden Einsparungen erzieltwerden könnten … Noch wichtiger aber ist, … dasArgument (das in diesen Berichten unterstütztwird), eine Entschädigungspolitik für Keulun-gen werde dazu beitragen, die Ausbreitung derKrankheit zu stoppen, ist genau dasselbe, dasdie Zuckerrübenzüchter vorgebracht haben unddas wir vehement und öffentlich zurückgewie-sen haben. Außerdem ist er der Ansicht, dass anden jetzigen Empfehlungen orientierte Maßnahmendie Exportsituation erheblich verschlechtern, nichtverbessern würden“ (Hervorhebung ergänzt)(Minute, 1988).

Die Regierungspolitik war nicht auf Vorsorge be-dacht. Ihr oberstes Ziel war es vielmehr, die kurz-fristigen negativen Auswirkungen von BSE aufdie Rentabilität der Nahrungsmittelindustrie unddie Höhe der öffentlichen Ausgaben so weit wiemöglich einzudämmen.

184

15.4. Beratung durch Sachverständige und regulatorische Kontrollen

Mitte des Jahres 1988 wurde erstmals ein kleinerberatender Sachverständigenausschuss gebildet,der im Zusammenhang mit BSE beratend tätigsein sollte, und auch dies erst auf Drängen desleitenden medizinischen Beamten im Gesund-heitsministerium, der erst im März 1988 über dieneue Krankheit informiert worden war – 17 Mo-nate nach ersten Warnungen an das MAFF (BSEInquiry, 1999c, Abs. 115). Dazu kam es nur, weildas Landwirtschaftsministerium von seinen Be-amten informiert worden war, dass für die Ent-scheidung, klinisch betroffene Rinder nicht ausder menschlichen Nahrungskette zu entfernen,die Unterstützung des leitenden medizinischenBeamten des Gesundheitsministeriums erforder-lich war (BSE Inquiry, 1999c, Abs. 76).

Der beratende Ausschuss unter dem Vorsitz vonSir Richard Southwood bestand am Tag seinesersten Zusammentreffens (20. Juni 1988) darauf,dass klinisch betroffene Rinder aus der menschli-chen und tierischen Nahrungskette ausgeschlos-sen und die Bauern entschädigt werden müssten.Eine weitere wesentliche Änderung war die An-kündigung des MAFF vom selben Tag, man wer-de die Verwendung von potenziell kontaminier-tem Eiweiß von Wiederkäuern in Futtermittelnfür Wiederkäuer verbieten. Das Verfütterungsver-bot galt nur für Wiederkäuer. An Tiere wieSchweine und Geflügel konnte das kontaminierteEiweiß weiterhin verfüttert werden, obwohl nie-mand wusste, ob auch diese Tiere von BSE befal-len werden konnten oder nicht. Tatsächlich hat-ten Beamte des MAFF ein Verbot der Verfütte-rung von eiweißhaltigem, von Wiederkäuernstammendem Tiermehl an sämtliche Tiere erwo-gen, dieses Verbot dann aber abgelehnt, da esdie Tierkörperbeseitigungsbranche ihres wich-tigsten Marktes beraubt hätte (der Großteil destierischen Eiweißes wurde an Schweine und Ge-flügel verfüttert) (BSE Inquiry Abschrift, 1998, 29.Juni 1998, S. 35). Leitenden Veterinärbeamtenwar dennoch bewusst, dass ihre Entscheidungein Glücksspiel war. Im Juni 1988 gab der leiten-de Veterinärbeamte Keith Meldrum im privatenKreis einem Kollegen gegenüber zu: „Alles waswir sagen können ist, dass das gesamte Eiweißvon Wiederkäuern, das (an Schweine) verfüttertwird, das BSE- oder Scrapie-Agens enthaltenkönnte. Ob das Schwein infiziert wird oder nichtund ob es den Erreger weitergeben könnte, wis-sen wir nicht“ (BSE Inquiry Abschrift, 1998,

16. Juni 1998, S. 99). Eine unglückliche Folge die-ser Entscheidung war, dass in etwa während dernächsten sechs Jahre Kreuzinfektionen zwischenfür Rinder bestimmten Futter und für andere Tie-re bestimmtem Futter auftraten, wodurch dieBSE-Epidemie erheblich verlängert wurde.

Obwohl der beratende Ausschuss von Sir RichardSouthwood rasch die Forderung stellte, dass kli-nisch betroffene Tiere aus der menschlichen Nah-rungskette zu entfernen seien, empfahl er keineKontrollen der Verwendung klinisch infizierterTiere, deren Gewebe ebenfalls das infektiöseAgens beherbergen, für den menschlichen Ver-zehr. (Da es keinen Test gab, der eine Diagnoseam lebenden Tier ermöglichte, hätten alle Kon-trollen für die gesamte britische Population ein-geführt werden müssen). Im März 1996 bestätig-te Southwood nach Ausbruch der akuten BSE-Kri-se, dass ein Verbot der Verwendung sämtlicherRindergehirne 1988 möglicherweise nicht durch-setzbar gewesen wäre. Er erläuterte: „Wir hattendas Gefühl, das sei keine gute Idee. Sie (dasMAFF) hielten unsere Vorschläge ohnehin fürziemlich revolutionär“ (New Scientist, 1996).

Ein Verbot der Verwendung der Gehirne undsonstiger Innereien sämtlicher Rinder für denmenschlichen Verzehr wurde vom MAFF imNovember 1989 erlassen, neun Monate nachdem Bericht des Southwood-Ausschusses. DasVerbot kam erst, nachdem bekannt gewordenwar, dass einer der eigenen beratenden Sachver-ständigen der Regierung privat für die Haustier-futterindustrie beratend tätig gewesen war undin der Folge ein Verbot von Rinderinnereien inHaustierfutter empfohlen hatte, und nachdemdie Minister beschlossen hatten, sich von derFleisch verarbeitenden Industrie und der Haus-tierfutterindustrie nicht die Schau stehlen zulassen, die dem MAFF beide mitgeteilt hatten,sie würden im Alleingang auf Rinderinnereienin ihren Produkten verzichten (BSE Inquiry,1999e, Abs. 87–89 und 135).

Das Verbot von Tierfutter aus Wiederkäuern, dieKeulung und die Beseitigung von infizierten Rin-dern sowie das so genannte SRM-Verbot (das Ver-bot spezifizierter Risikomaterialien) waren bis En-de des Jahres 1989 unter Dach und Fach. DieKontrollen waren allerdings nicht auf eine Aus-rottung des BSE-Agens, sondern lediglich auf eineVerminderung des Risikos ausgerichtet. So wur-den die für das SRM-Verbot ausgewählten Gewe-be nicht ausgewählt, weil sie allein das infektiöse

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Agens beherbergten, sondern weil sie am ein-fachsten zu entfernen waren und den geringstenkommerziellen Wert hatten. Zum damaligenZeitpunkt lagen keine Untersuchungsdaten vor,aus denen hervorging, welche Organe von Rin-dern mit dem Erreger kontaminiert sein könn-ten, obwohl Analogien zu anderen Arten undden bei ihnen vorkommenden TSEs darauf hin-deuteten, dass zahlreiche andere Gewebe dasAgens wahrscheinlich ebenfalls beherbergten.Lymphknoten und periphere Nervenstränge z. B.waren mit großer Sicherheit hoch infektiös, lie-ßen sich jedoch praktisch nicht entfernen, undauch Organe wie die Leber müssten per Analogiemit anderen TSEs ebenfalls (geringe) Mengen desinfektiösen Agens enthalten, waren jedoch kom-merziell wertvoll (BSE Inquiry, 1999e, Abs. 85).Außerdem schloss das SRM-Verbot Rinder im Al-ter von unter sechs Monaten aus. Die Kadavervon Kälbern wurden in der Regel im Schlachthofnicht geteilt, so dass die Entfernung ihres Rü-ckenmarks die Schlachtkosten erhöht hätte. DerAusschluss von Kälbern wäre nur dann sinnvollgewesen, wenn man davon hätte ausgehen kön-nen, dass die vertikale Übertragung von BSE vonder Kuh auf das Kalb nicht möglich ist. Diese An-nahme war nicht plausibel, da bereits bekanntwar, dass Scrapie sehr wohl von Schafen auf ihreLämmer übertragen werden konnte, und weil dasMAFF die Erforschung der Übertragung von BSEdurch die Mutter erst ab 1989 finanzierte (Bar-clay, 1996, S. 16; Nature, 1990).

Die verzögerte Umsetzung der wichtigsten Vor-schriften bedeutet auch, dass Menschen bereitsmehrfach mit dem Erreger in Berührung gekom-men waren. Beispielsweise wurden von Mitte1988, als Southwood die Beseitigung aller klinischinfizierten Rinder empfahl, bis Ende 1989, als dasSRM-Verbot schließlich eingeführt wurde, schät-zungsweise 30 000 infizierte Rinder, die die durch-schnittliche Inkubationszeit für BSE zumindest zurHälfte durchlaufen hatten, verzehrt (Dealler, 1996).

15.5. Ein Kartenhaus

1987 schlossen sich die politischen Entschei-dungsträger im Vereinigten Königreich der Hy-pothese an, BSE sei eine harmlose Version vonScrapie. An dieser Hypothese hielten sie auch an-gesichts der wachsenden Zahl gegenteiliger Be-weise unverrückbar fest, da diese Darstellung derbritischen Regierung die Grundlage für ihre be-

schwichtigende und optimistische Botschaft lie-ferte, die darin bestand, dass die Existenz von BSEin britischen Milchvieh- und Rinderbeständen diemenschliche Gesundheit nicht gefährde. DasMAFF versicherte wiederholt, seine beschwichti-genden Erklärungen seien in vollem Umfangdurch wissenschaftliche Erkenntnisse, Know-howund Empfehlungen abgesichert. Allerdings ent-sprach diese Darstellung nicht den Tatsachen.

Die politischen Entscheidungsträger wurden vonden wissenschaftlichen Sachverständigen, auf diesich angeblich stützten, und von der größerenwissenschaftlichen Gemeinde wiederholt darüberinformiert, dass man unmöglich sicher sein kön-ne, dass der Verzehr von Fleisch, Milch undMilchprodukten von Tieren mit BSE keine Gefahrdarstelle. Im Mai 1990 z. B. teilte der beratendeAusschuss für spongiforme Enzephalopathie(Spongiform Encephalopathy Advisory Commit-tee, SEAC) der Regierung den politischen Ent-scheidungsträgern mit, dass es „beim gegenwär-tigen Wissensstand nicht gerechtfertigt wäre, ka-tegorisch zu behaupten, dass keine Gefahr fürden Menschen bestehe, und dass es nicht angin-ge, an einem Nullrisiko festzuhalten“ (BSE InquiryAbschrift, 1998, 24. März 1998, S. 71). In der Öf-fentlichkeit freilich behaupteten Minister undführende politische Entscheidungsträger das Ge-genteil. Am 7. Juni 1990 z. B. erklärte der Land-wirtschaftsminister vor dem britischen Unter-haus, es gebe „... eindeutige wissenschaftliche Be-weise dafür, dass britisches Rindfleisch absolut si-cher sei“ (Hansard, 1990, Spalte 906). PolitischeEntscheidungsträger nahmen wiederholt einenicht existente Gewissheit für sich in Anspruch,über deren Nichtexistenz sie wohl informiert wa-ren. Gelegentlich räumten politische Entschei-dungsträger ein, sie könnten nicht mit Sicherheitbehaupten, dass BSE eine harmlose Form vonScrapie sei, immer jedoch versicherten sie, die imNovember 1989 eingeführten regulatorischenKontrollen verhinderten, dass potenziell kontami-niertes Material in die Nahrungskette gelangenkönne (Radio Times, 1992).

Das Ziel deregulatorischer Kontrollen war es je-doch nie, die Exposition gegenüber dem BSE-Agens vollkommen zu beseitigen, sondern ledig-lich, es zu vermindern, und Wissenschafter sowiesachverständige Berater des MAFF sorgten dafür,dass dies den führenden politischen Entschei-dungsträgern bekannt war (siehe z. B. BSE Inqui-ry, 1999e, Abs. 275). 1990 z. B. entwarf der SEACein Dokument über die Sicherheit von Rind-

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fleisch, das für den Leiter der Gesundheitsbehör-de bestimmt war und das beispielsweise Folgen-des konstatierte: „Einige der essbaren Innereien... die in seltenen Fällen niedrige Infektiositäts-Ti-ter auswiesen, fallen nicht unter das Verbot vonRisikomaterialien“ und „manche geben sich nichtmit weniger als einer absoluten Sicherheitsgaran-tie zufrieden. Kein Wissenschaftler ist in der La-ge, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine solche Ga-rantie für britisches (oder irisches) Rindfleisch zuübernehmen“ (Hervorhebung im Original) (Phil-lips et al., 2000, Vol. 11, Abs. 4.120). Dieses Doku-ment ließ man im Gesundheitsministerium undim MAFF zirkulieren, damit Änderungsvorschlä-ge gemacht werden konnten. Der Beamte desMAFF, der das Dokument schließlich an die Mi-nister weiterleitete, teilte den Ministern und an-deren Beamten des MAFF mit, dass „die Abschnit-te aus früheren Entwurfsversionen, die das größ-te aufrüherische Potenzial aufwiesen (einschließ-lich der obigen Zitate), nun ausgemerzt wordenseien“ (Phillips et al., 2000, Vol. 11, Abs. 4.118).Dann jedoch, wie Phillips in einem denkwürdi-gen Schlusssatz bemerkte, folgten Minister undBeamte einem Ansatz zur Informationsbereitstel-lung, „dessen Ziel es war, zu beruhigen“(Phillipset al., 2000, Vol. 1, Abs. 1179).

Die Behauptung, Rindfleisch sei vollkommen si-cher, war nicht nur irreführend, sondern machtees für das MAFF auch zunehmend schwieriger, di-verse andere vorbeugende Schritte durchzufüh-ren. Jede neue regulatorische Maßnahme, ganzgleich wie nützlich oder kostengünstig sie war,lief nicht nur Gefahr, Fragen über die Beschwich-tigungsversuche der Regierung aufzuwerfen, son-dern hätte auch ernsthafte Zweifel an der Logikder unterbliebenen Einführung zusätzlicher undteurerer Kontrollen aufkommen lassen (ein Null-risiko würde ohne die Keulung und Wiederbele-gung der gesamten britischen Population und ei-ne Bereinigung der Futterkette immer unerreich-bar bleiben). Mit anderen Worten, eine Teilredu-zierung des Risikos war schwer vermittelbar; dieeinzigen glaubwürdigen Optionen bestanden un-ter rhetorischen Gesichtspunkten darin, eine Li-nie zu ziehen, diese Linie als Garant absoluter Si-cherheit hinzustellen und an dieser Linie festzu-halten oder aber alternativ, eine vollständige Aus-rottung des Agens anzustreben.

Zahlreiche Vorsorgemaßnahmen unterbliebendaher nicht aufgrund ihrer unmittelbaren Kos-ten, sondern aufgrund ihres Potenzials, die be-schwichtigende Botschaft der Regierung zu un-

terminieren. Es herrschte beispielsweise weitge-hend Einvernehmen darüber, dass Separatoren-fleisch Reste potenziell hoch infektiöser Nerven-gewebe enthielt (BSE Inquiry Abschrift, 1998, 6.Juli 1998, S. 104–106 und 127). Ein Verbot von Se-paratorenfleisch hätte die Risiken offensichtlichgemacht, die von peripheren Nervengewebenausgehen, deren Entfernung aus dem Kadavergrößtenteils praktisch nicht durchführbar war.Aus dem Protokoll einer Sitzung, die im Septem-ber 1989 im MAFF stattfand, heißt es: „Separato-renfleisch – die von mehreren der befragten Per-sonen eingeräumte mögliche Gefährdung wurdezur Kenntnis genommen, und während der De-batte wurde die mangelnde Logik des gewähltenVorgehens angesprochen sowie insbesondere,wie leicht der Fall eintreten könne, dass man diemöglichen Gefahren von Materialien, die nichtunter das vorgeschlagene Verbot fallen, eingeste-hen müsse. Man kam überein, die Gefährdungnicht publik zu machen“ (BSE Inquiry, 1999e,Abs. 263).

Im Februar 1990 äußerte das Institut für Umwelt-gesundheit (Institute of Environmental Health Of-ficers, IEHO), dessen Mitarbeiter für die Durch-führung der Kontrollen in Schlachthöfen verant-wortlich waren, gegenüber dem MAFF Bedenkenhinsichtlich der üblichen Praktiken zur Entfer-nung von Rindergehirnen aus den Schädeln, vondenen keine, so das IEHO, ohne Kontaminierungdes Schädelfleischs durchführbar war. Das IEHOmachte den sinnvollen Vorschlag, das gesamteKopffleisch zu entfernen, bevor der Schädel zurEntnahme des Gehirns gespalten wird. Obwohldie Landwirtschaftsminister Skrupel wegen derPraktik hatten, das Gehirn vor der Entfernungdes Schädelfleischs zu entnehmen, und der An-sicht waren, dass diese Praktik verboten werdensollte, vertraten die Beamten erfolgreich denStandpunkt, dass keine neuen Kontrollen einge-führt werden sollten. So erläuterte ein höhererBeamter der Abteilung für Fleischhygiene desMAFF dem Minister für Ernährung: „Eine Ände-rung der Vorschriften würde die allgemeine BSE-Debatte anheizen und unvermeidlich zu Forde-rungen nach ähnlichen Maßnahmen im Zusam-menhang mit dem Rückenmark führen ... EinVerbot der Spaltung (der Wirbelsäule) hätteschwer wiegende Folgen für die Industrie und fürden Exporthandel. Auch wäre das Rückenmarknicht das Ende. Anschließend würden sich die Be-denken gegen Nervenstränge und Lymphknotenrichten, die nicht aus den Kadavern entfernt wer-den können“ (BSE Inquiry, 1999f, S. 7).

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Wiederum wurde eine billige, einfache und risi-komindernde Maßnahme nicht durchgeführt,um eine beschwichtigende und verfälschendeBotschaft der Sicherheit aufrechtzuerhalten undpolitischem Druck zur Einführung immer neuerVorsorgemaßnahmen entgegenzuwirken. Hättedas MAFF einige der Unsicherheiten und Risikenöffentlich eingestanden und zugegeben, dassmanche Kontrollmaßnahmen möglicherweisekaum durchführbar und/oder zu teuer wären,und dass aus diesem Grund eventuell ein niedri-geres, aber akzeptables Risikoniveau toleriertwerden müsse, wäre es für die politischen Ent-scheidungsträger einfacher gewesen, auf Vorsor-ge ausgerichtete Kontrollmaßnahmen einzufüh-ren, ohne die Glaubwürdigkeit des Ministeriumszu gefährden.

Als die Ereignisse und Beweismittel schließlichzusätzliche regulatorische Kontrollen erforderlichmachten, wurde es zunehmend schwieriger, die-se Maßnahmen mit der beschwichtigenden Dar-stellung der Regierung in Einklang zu bringen,insbesondere wenn diese zusätzlichen Vorschrif-ten weitere Bereiche aufzeigten, in denen dieEinführung von Kontrollen notwendig wäre. Indem Versuch, ihre Darstellung aufrechtzuerhal-ten, gaben politische Entscheidungsträger dahergelegentlich ein falsches Bild ihrer Gründe fürdie Einführung von Vorschriften. Das MAFF be-harrte z. B. darauf, dass das SRM-Verbot aus wis-senschaftlicher Sicht nicht notwendig sei (siehez. B. House of Commons Agriculture Committee,1990, S. 9 und 71), so dass es schwer war, die In-dustrie und andere Interessengruppen von derentscheidenden Bedeutung dieser regulatori-schen Maßnahmen für die öffentliche Gesundheitzu überzeugen. Bei unangekündigten Besuchen,die für die Umsetzung der Vorschriften verant-wortliche Beamte 1995 Schlachthöfen im Verei-nigten Königreich abstatteten, wurde festgestellt,dass ca. 48 % die SRM-Vorschriften nicht beachte-ten (House of Commons Agriculture and HealthSelect Committees, 1996, S. 10). Wie ein Vertreterder für die Umsetzung der Vorschriften fürSchlachthöfe verantwortlichen Beamten es aus-drückte: „Man gab uns zu verstehen, dass eswahrscheinlich ohnehin gar kein Problem gebe,so dass das wohl alles nur Mache sei, aber keinernsthaftes Problem für die öffentliche Gesund-heit darstelle ...“ (Panorama, 1996).

Es waren allerdings nicht nur neue regulatori-sche Maßnahmen, die die Behauptungen der Re-gierung, die Risiken seien gleich null, in Frage

stellten. Die Aufrechterhaltung der beschwichti-genden Botschaft der Regierung bedeutete auch,dass unwillkommene Informationen und Beweisedie offizielle Darstellung entlarven konnten. Bera-tende Sachverständige wurden daher sorgfältigausgewählt; wer die politischen Vorgaben desMinisteriums nicht unterstützte oder unter Um-ständen nicht bereit wäre, die Beschränkungenzu akzeptieren, denen die Weitergabe von Infor-mationen unterlag, wurde ausgeschlossen. Wieein Beamter des MAFF es formulierte: „... Man istauf externe Einrichtungen angewiesen, wenn öf-fentliche Verlautbarungen einen gewissen Gradan Glaubwürdigkeit haben sollen. Daher ist manin hohen Maße abhängig davon, was die Aus-schüsse schließlich herausfinden ... Ausschlagge-bend ist eigentlich die Einrichtung des Ausschus-ses, seine Mitglieder und die Art seiner Untersu-chungen“ (BSE Inquiry Abschrift, 1998, 29. Juni1998, S. 79–81). Einige Sachverständige wurdenauch ausgeschlossen, weil ihre Zugehörigkeit zueiner bestimmten Institution einen falschen Ein-druck hätte erwecken können. Der britische Pu-blic Health Laboratory Service (PHLS) z. B. – dierenommierte Institution zur Überwachung neuerund sich ausbreitender Krankheiten im Vereinig-ten Königreich – war immer von der BSE-Politikausgeschlossen. Der Leiter der walisischen Ge-sundheitsbehörde erinnert sich: „Die Basis für diekonsequente Ablehnung einer Einbeziehung desPHLS war die Besorgnis, seine Einbeziehungkäme dem Eingeständnis gleich, dass eineGefährdung der menschlichen Gesundheit vor-liegt“ (Phillips et al., 2000, Vol. 11, Abs. 4.28).

Führende politische Entscheidungsträger ver-suchten auch sicherzustellen, dass die BSE-For-schung, was Beauftragung, Durchführung undBerichterstattung anging, streng kontrolliertwurde. Viele wichtige Experimente wurden garnicht oder erst spät eingeleitet; gelegentlichwurden Informationen und Beweise zurückge-halten, Daten und Materialien wurden anderenForschern nicht immer zur Verfügung gestellt.Post mortem durchgeführte stichprobenartigeUntersuchungen von Tieren in Schlachthöfen z.B. hätten eine Schätzung der Anzahl infizierteraber symptomloser Tiere ermöglicht, die in diemenschliche Nahrungskette gelangten. Die La-borressourcen waren verfügbar, und die Kostenwären relativ gering gewesen. Dennoch wurdeim Vereinigten Königreich nur eine solche Un-tersuchung durchgeführt, und zwar im Jahr1999 und nur bei Rindern, die aus der menschli-chen Nahrungskette ausgeschlossen waren. Ein

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Experiment von größter Wichtigkeit, bei demfestgestellt werden sollte, ob Rinder, die absicht-lich mit Scrapie infiziertes Futter erhielten, anBSE erkrankten, wurde erst 1996 gestartet (BSEInquiry Abschrift, 1998, 11. März 1998, S. 132).Sobald BSE anzeigepflichtig wurde, gingen alleinfizierten Rindergehirne in das Eigentum desMAFF über, und das Ministerium war nur äu-

ßerst widerwillig bereit, führenden Wissen-schaftlern in den Vereinigten Staaten pathoge-nes Material zur Verfügung zu stellen (BSE In-quiry, 1999a, Abs. 493–505). Ein auf Vorsorgeausgerichteter politischer Ansatz andererseitshätte bedeutet, dass weit mehr Informationenund Beweismittel hätten beschafft und offen ge-legt werden müssen.

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➔ KASTEN 15.2. DIE EUROPÄISCHE DIMENSION

Obwohl BSE zunächst im Vereinigten Königreichauftrat, breitete sich die Seuche infolge des Han-dels mit Tieren und Futtermitteln auch auf ande-re Länder vor allem in Kontinentaleuropa aus.Einzelne Mitgliedstaaten und die EuropäischeKommission hatten daher mit vielen der Schwie-rigkeiten und Dilemmas zu kämpfen, von denenauch das Vereinigte Königreich betroffen war. InLändern wie Irland, Portugal und Frankreich wardie BSE-Inzidenz so hoch, dass die Regierungendieser Länder in den neunziger Jahren die Not-wendigkeit erkannten, Kontrollen ihrer inländi-schen Produktionssysteme einzuführen. AndereLänder mit einer geringeren Zahl von BSE-Fällenwie Belgien, die Niederlande und Italien reagier-ten mit Besorgnis und einigen regulatorischenMaßnahmen, die jedoch in erster Linie den Han-del mit Tieren und Futtermitteln betrafen. Dieverschiedenen nationalen Hoheitsgebiete reagier-ten unabhängig vom Stand ihrer industriellenEntwicklung und von der Zahl der BSE-Fälle in ih-rem Land ganz unterschiedlich. Eine genaue Auf-schlüsselung, inwieweit und weshalb diese Reak-tionen voneinander abwichen, würde den Rah-men dieser Fallstudie sprengen11. Dennoch ist of-fensichtlich, dass die Verteilung der Verantwor-tung für die BSE-Politik großen Einfluss auf dieFestlegung der Art und Weise hatte, wie das BSE-Problem definiert, bewertet und angegangenwurde. Im Allgemeinen wurden in den nationa-

len Hoheitsgebieten, in denen die Zuständigkei-ten für Industrieförderung und Verbraucher-schutz in einer Institution zusammengefasst wa-ren (z. B. Irland), in geringerem Maße auf Vorsor-ge ausgerichtete Ansätze zum Schutz der öffentli-chen Gesundheit aufgegriffen als in solchen, indenen Förderung und Regulierung von mehre-ren Institutionen gemeinsam oder getrennt bear-beitet wurden (z. B. Österreich) (BASES, o. J.).

Innerhalb der Europäischen Kommission z. B. lagdie Verantwortung für die BSE-Politik vor 2000 inerster Linie bei der Generaldirektion III (GD III)(zuständig für den Binnenmarkt der Europäi-schen Union und Unternehmen) und der GD VI(zuständig für Landwirtschaft und Fischerei). Ob-wohl im Vereinigten Königreich im Juni 1988 einGesetz in Kraft trat, das es verbietet, kontaminier-tes Eiweiß von Wiederkäuern zur Herstellung vonFuttermitteln zu verwenden, die für Wiederkäuerbestimmt sind, wovon die Europäische Kommissi-on zum damaligen Zeitpunkt in Kenntnis gesetztwurde, wurde erst sechs Jahre später ein EU-wei-tes Gesetz erlassen, mit dem die Ausbreitung vonBSE bekämpft werden sollte. Nach Juni 1988 ex-portierte das Vereinigte Königreich weiterhinkontaminiertes Futter in andere Mitgliedstaaten,das in der Folge zum Teil auch an Rinder verfüt-tert wurde. So stiegen die Exporte von Fleisch-und Knochenmehl in die EU von 12 553 Tonnenim Jahr 1988 auf 25 005 Tonnen im Jahr 1989(Europäisches Parlament, 1997, S. 8). Im Sommer1989 forderte die Kommission das Vereinigte Kö-nigreich auf, ein Ausfuhrverbot für diese Futter-mittel zu erlassen, was das Vereinigte Königreichjedoch ablehnte (BSE Inquiry, 1999d, Abs. 257).Die Kommission behauptet seitdem, sie habe vorder Einheitlichen Europäischen Akte selbst keinerechtliche Handhabe gehabt, Exporte von briti-

11 Nationale Berichte über die politischen Reaktionen aufBSE in 11 europäischen Ländern, die im Rahmen einesvon der Europäischen Kommission geförderten For-schungsprojekts erstellt wurden, liefern ausführlichereInformationen. Diese Berichte sind unter folgenderInternetadresse verfügbar: http://www.upmf-grenoble.fr/ inra/serd/BASES/.

15.6. Die Fehlschläge und der letztliche Zusammenbruch des politischen Gebäudes

In den Jahren nach der Veröffentlichung desSouthwood-Berichts wurde die beschwichtigendeDarstellung des MAFF gleich mehrfach und im-mer weiter entlarvt. Dies war zum Teil darauf zu-rückzuführen, dass die wissenschaftlichen Bewei-se, die nie wirklich beruhigend waren, immerbeunruhigender wurden, weil das Ministeriumdie Weitergabe von Informationen nicht hun-dertprozentig unter Kontrolle hatte und weil Ak-teure und Vertreter, die nicht der Kontrolle desMinisteriums unterstanden, unabhängige Ent-scheidungen trafen. Dies konnten auch ange-strengte Versuche des MAFF nicht verhindern,seine Politik trotz ihrer inhärenten Schwächen

und der wachsenden Zahl von Gegenbeweisenaufrechtzuerhalten.

Ende 1995 hatte eine lange Reihe von Ereignis-sen und Beweisen das MAFF dazu gezwungen,seine Vorschriften nach und nach zu verschärfen,wenn auch auf reaktive, statt antizipative Weise.Zu diesem Zeitpunkt war in Wissenschaft undForschung im In- und Ausland die Besorgnis überdie von BSE ausgehenden Risiken stetig gewach-sen. Im März 1996 scheiterte die Politik des MAFFvollends, nachdem im Vereinigten Königreich ei-ne neue Variante der CJD (die heute als neue Va-riante der CJD oder vCJD bezeichnet wird) aufge-treten war und nachdem der SEAC zu dem Ergeb-nis gekommen war, dass der Verzehr von mit BSEkontaminierten Nahrungsmitteln die wahrschein-lichste Ursache sei.

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schem Fleisch- und Knochenmehl zu verbieten(eine Behauptung, der das Europäische Parla-ment allerdings widerspricht). Stattdessen forder-te die Kommission alle Mitgliedstaaten auf, dieEinfuhr von Fleisch- und Knochenmehl von Wie-derkäuern aus dem Vereinigten Königreich miteinem nationalen Verbot zu belegen (Europäi-sches Parlament, 1996, S. 10). Einige Mitgliedstaa-ten kamen dieser Aufforderung nach oder hattenbereits ein solches Verbot erlassen (z. B. die Nie-derlande), während andere Länder erst später Im-porte von britischem Fleisch- und Knochenmehluntersagten (z. B. Portugal). Bis 1994 bestand dieEuropäische Kommission nicht auf einem EU-wei-ten Verbot der Verfütterung von Fleisch- undKnochenmehl an Wiederkäuer. Erst 1996 unter-sagte die Kommission Exporte von Fleisch- undKnochenmehl (und von allen sonstigen aus Rin-dern hergestellten Produkten) britischer Her-kunft. Das Europäische Parlament zog denSchluss, dass die Kommission den Schutz der Tier-und menschlichen Gesundheit konsequent derAufrechterhaltung des Binnenmarktes unterord-nete (Europäisches Parlament, 1997).

Als Ergebnis der BSE-Krise im Jahr 1996 durchlau-fen die wissenschaftliche Beratung und die Poli-tik für Nahrungsmittelsicherheit in der Europäi-schen Kommission und in den Mitgliedstaaten ei-ne Umstrukturierung. In der Europäische Kom-mission wurde das wissenschaftliche Beratungs-system reformiert, und die Zuständigkeit für die

Verwaltung der wissenschaftlichen Beratungwurde von der GD XXIV übernommen, die in GDSANCO bzw. Generaldirektion Gesundheit undVerbraucherschutz umbenannt wurde. Im Jahr2000 wurden die regulatorischen und Förde-rungsfunktionen der GD III und der DG VI aufge-teilt, und die regulatorischen Funktionen wurdenebenfalls der GD SANCO übertragen. Im Weiß-buch zur Lebensmittelsicherheit der Europäi-schen Kommission wurde eine weitere institutio-nelle Aufteilung vorgeschlagen; so soll eine Euro-päische Lebensmittelbehörde geschaffen werden,die der GD SANCO unabhängige Beratungsdienst-leistungen auf wissenschaftlicher Grundlage zurVerfügung stellen soll (Europäische Kommission,2000). Ähnliche Reformen und Reformvorschlägegab es in zahlreichen Mitgliedstaaten.

Seit dem Jahr 2000 sind in einzelnen Mitgliedstaa-ten ansteigende Zahlen von BSE zu verzeichnen (z.B. Frankreich und Irland), und in den Ländern, diebis zu diesem Zeitpunkt dachten, sie seien eventu-ell BSE-frei, wurden BSE-Fälle bei der eigenen Rin-derpopulation festgestellt (z. B. Deutschland undSpanien). Wesentliche historische Unterschiede beider Art der Kontrollen, die in den verschiedenenMitgliedstaaten eingeführt wurden, und der Um-fang, in dem diese Kontrollen umgesetzt wurden,haben zur Folge, dass sich einige nationale Ho-heitsgebiete viele Jahre lang erheblichen Heraus-forderungen im Bereich der Tier- und menschli-chen Gesundheit gegenüber sehen werden.

15.7. Schlussfolgerungen

Seit BSE in der Rinderpopulation im VereinigteKönigreich festgestellt wurde, sollte die Anwen-dung eines auf Vorsorge ausgerichteten Ansatzesauf diese Seuche stets ein Problem darstellen. ImNovember 1986 waren viele infizierte Rinder be-reits verzehrt worden, und selbst in diesem Stadi-um hätte es einen enormem finanziellen Auf-wand erfordert, die Seuche auszurotten.

Dennoch hätte die Regierung vieles tun kön-nen, um die Risiken für den Verbraucher undlangfristig auch für die Fleischindustrie undden Schatzkanzler zu mindern, vor allem wennsie offen gelegt hätte, was die wissenschaftli-chen Beweismittel besagten und was nicht.Stattdessen gab die britische Regierung vor, siesorge umsichtig für den Schutz der öffentlichenGesundheit, während sie den Schutz der öffent-lichen Gesundheit in Wirklichkeit insgeheimder Stützung des Absatzes in der Landwirtschaftunterordnete, auch im Hinblick auf eine Mini-mierung der staatlichen Interventionen und deröffentlichen Ausgaben. Die Vorschriften, die er-

lassen wurden, waren folglich nicht ausrei-chend und kamen zu spät, und selbst dann wur-den sie nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Außer-dem investierte die Regierung zuwenig in diewissenschaftliche Forschung und suchte aktiv,die Hinzuziehung unabhängiger Wissenschaft-ler zu verhindern.

Hätte die britische Regierung einen wirklich aufVorsorge ausgerichteten Ansatz gewählt, wärees zunächst und am dringendsten erforderlichgewesen, die politischen Institutionen zu refor-mieren, um die Zuständigkeiten für Regulie-rung und Förderung zu trennen. Der Verlaufder BSE-Krise hat zu einer Neubeurteilung derArt und Weise geführt, wie Risiken für die öf-fentliche und für die Umweltgesundheit im Ver-einigte Königreich bewertet und gehandhabtwerden. Seit Mai 1997 steht die britische Regie-rung dazu, dass der Aufgabenbereich des MAFFim Kern einen krassen Widerspruch aufwies,und diese Erkenntnis war es, die zu der Ent-scheidung führte, die Food Standards Agency zugründen, die für die Sicherheit von Nahrungs-mitteln zuständig ist.

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➔ KASTEN 15.3. DIE KOSTEN VON BSE

Die Folgen von BSE sind beträchtlich und nochnicht in vollem Umfang absehbar; teilweise las-sen sie sich in Geld messen, teilweise jedoch sindsie nicht quantifizierbar.

1998 wurden die Gesamtausgaben der britischenRegierungsstellen im Bereich Landwirtschaft alsFolge der BSE-Krise für den Zeitraum 1996 bis 2001auf voraussichtlich 4,2 Mrd. GBP geschätzt (Houseof Commons, 1999). Die Ausgaben dienten unddienen größtenteils der Entschädigung von ge-werblichen Unternehmen, insbesondere der Ent-schädigung von Landwirten für die Entnahme vonmehr als 30 Monate alten Rindern aus der mensch-lichen Nahrungskette und zur Unterstützung derSchlacht- und Tierkörperbeseitigungsindustrie. DieZahlen beinhalten auch die Ausgaben für For-schungsprogramme und Verwaltung. Sonstige seit1996 angefallene Kosten, die hauptsächlich vonder öffentlichen Hand getragen wurden, umfassendie öffentliche Untersuchung von BSE und belau-fen sich auf schätzungsweise 25 Millionen GBP(Farmers Weekly Interactive Service, 1999).

Auch die Kosten von BSE für den privaten Sektorwaren beträchtlich. Das Ausfuhrverbot für briti-sches Rindfleisch im März 1996 führte zumkompletten Ausfall von Handelsgeschäften imWert von 700 Millionen GBP pro Jahr (DTZ Pie-da Consulting, 1998). In den ersten zwölf aufden März 1996 folgenden Monaten fiel der Ge-samtwert des Marktes für Rindfleisch britischerHerkunft effektiv um schätzungsweise 36 % (ei-ne Kombination aus Exportverlusten und dersinkenden Inlandsnachfrage), was für die briti-sche Wirtschaft einen Mehrwertverlust in Höhevon 1,15 Mrd. GBP bedeutet (DTZ Pieda Consul-ting, 1998).

Es wäre verfrüht, eine präzise Schätzung der -Gesamtkosten von BSE abgeben zu wollen, nichtzuletzt deshalb, weil noch nicht absehbar ist,wie viele Menschen letztlich an der neuenVariante der CJD sterben werden; vielleichtwerden es nicht mehr als weitere 100 sein,vielleicht aber auch bis zu einer Million (Collin-ge, 1999).

Ein auf Vorsorge ausgerichteter Ansatz hätte au-ßerdem das Eingeständnis erforderlich gemacht,wie wenig „fundierte wissenschaftliche Erkennt-nisse“ tatsächlich vorlagen, und hätte offene undverantwortliche Diskussionen über die möglichenKosten und Vorteile umfasst, die entstanden wä-ren, hätte man eine breite Palette möglicherMaßnahmen ergriffen oder nicht ergriffen. EinGesetz über die Informationsfreiheit (Freedom ofInformation Act) könnte einen kulturellen Wan-

del für die Art und Weise bedeuten, wie politi-sche Entscheidungsorgane wissenschaftliche Be-weismittel präsentieren. Eine institutionelle Tren-nung zwischen den Verantwortlichen für die Be-reitstellung einer wissenschaftlichen Beratung,von Risikobeurteilungen und Forschung und denVerantwortlichen für eine regulatorische Politikhätte möglicherweise ebenfalls eine offenere undintensivere Diskussion möglicher Risiken begüns-tigt. Je größer die Unterstützung für Forschungs-

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➔ KASTEN 15.4. SCHLUSSFOLGERUNGEN AUS DER PHILLIPS-UNTERSUCHUNG

Im Januar 1998 veranlasste die Labour-Regierungeine Untersuchung zu BSE, um „die Geschichtedes Auftretens und der Bestimmung von BSE undder neuen CJD-Variante sowie der als Reaktionbis zum 20. März 1996 ergriffenen Maßnahmenzu ermitteln und zu prüfen“ und „zu einer Beur-teilung der Angemessenheit dieser Reaktion un-ter Berücksichtigung des damaligen Wissen-stands zu gelangen“. Der Untersuchungsaus-schuss unter dem Vorsitz von Lordrichter Phillipslegte seinen Bericht im Oktober 2000 vor, nach-dem er mündliche und schriftliche Aussagen vonmehr als 600 Zeugen aufgenommen hatte.

Der 16 Bände umfassende Bericht konzentriertesich im Wesentlichen auf Verfahren und nicht aufErgebnisse. Das Untersuchungsteam wollte nichteinmal kommentieren, inwieweit die Politik ver-hältnismäßig war oder nicht und zog es stattdes-sen vor, auf Fragen der Kommunikation innerhalbund außerhalb der Regierung, die Verwendungvon Expertenratschlägen und die Kooperationzwischen Regierungsstellen einzugehen. Haupt-kritikpunkt von Phillips war die Dominierung deröffentlichen Politik durch das politische Ziel, dieÖffentlichkeit zu beschwichtigen. Das Untersu-chungsteam vertrat dennoch die Auffassung, diegetroffenen politischen Entscheidungen seien an-gemessen gewesen, wenn auch Timing, Formulie-rung, Umsetzung und Durchsetzung nicht immerden Anforderungen entsprochen hätten.

Zwei der Ergebnisse, zu denen Phillips und seineKollegen gelangten, sind die, dass „die Regierungbestrebt war, im Interesse der menschlichen Ge-sundheit zu handeln“ und dass „die Politik (desMinisteriums für Landwirtschaft, Fischerei undErnährung (MAFF)) keine Tendenz aufwies, die

die landwirtschaftlichen Erzeuger begünstigteund die Verbraucher benachteiligte“. Es ist aller-dings schwer nachvollziehbar, inwiefern die Be-weismittel, die dem Untersuchungsausschuss vor-lagen, und von denen einige in dieser Fallstudiezusammenfassend dargestellt werden, mit diesenErgebnissen vereinbar sind.

Der Phillips-Bericht umfasst 160 Einzelbände. Vie-le davon befassen sich mit Tiergesundheitspolitikund landwirtschaftlichen Produktionsmethoden,die wichtigsten allgemeineren Ergebnisse aberbetreffen folgende Bereiche:

➔ die angemessene Nutzung und Rolle von be-ratenden Ausschüssen

➔ die Gewährleistung eines ausreichenden inter-nen Know-how

➔ verstärkte Kooperation zwischen Fachleutenfür Tier- und Humangesundheit

➔ die ordnungsgemäße Umsetzung, Durchfüh-rung und Durchsetzung von politischen Maß-nahmen

➔ Koordination von Forschungsaktivitäten zurVerminderung politisch relevanter Ungewiss-heiten

➔ der Grundsatz, dass Unsicherheit Handlungenrechtfertigen kann

➔ die Wichtigkeit der Schaffung von Glaubwür-digkeit und Vertrauen

➔ Vermittlung von Ungewissheiten➔ Offenheit und Transparenz

Viele dieser Ergebnisse sind von Bedeutung fürDebatten zum Thema Vorsorge, in keinem derFälle wird aber explizit erörtert, welche Folgendie Vorsorge in der Praxis für die Durchführungvon Politik und Forschung haben könnte.

aktivitäten ist, die von einer Vielzahl von Diszipli-nen und interdisziplinären Gruppen und in einerVielzahl von Institutionen mit freiem Zugang zuBeweismitteln und Daten durchgeführt werden,um so schwerer wäre es, Ungewissheiten zu ver-tuschen, so dass Ungewissheiten vielleicht bereit-williger verringert würden.

Einer der Faktoren, die dem MAFF vor März 1996halfen, bei seiner optimistischen Darstellung zubleiben, war die Bereitschaft von sachverständi-gen wissenschaftlichen Beratern, sich auf ein Ar-rangement einzulassen, bei dem die Wissen-schaftler Ratschläge auf der Basis wissenschaftli-cher und nichtwissenschaftlicher Überlegungenerteilten, die der breiten Öffentlichkeit jedoch alsrein wissenschaftlich fundiert präsentiert wur-den. Dies kam den Ministern zupass, die auf diese

Weise argumentieren konnten, sie folgten aus-schließlich den Empfehlungen ihrer wissenschaft-lichen Berater, und schmeichelte den Wissen-schaftlern, da sie als maßgebend und einfluss-reich dargestellt wurden. Ein stärker auf Vorsorgeausgerichteter Ansatz wäre zu erwarten gewesen,wenn die Rolle der wissenschaftlichen Berater en-ger umrissen gewesen wäre und der Überprüfungdurch Sachverständige und durch die Öffentlich-keit unterlegen hätte. Da Risikobeurteilungen niefrei von sozioökonomischen Erwägungen sind,sollte die Verantwortlichkeit eines demokratischrechenschaftspflichtigen Ministers die Offenle-gung und Rechtfertigung dieser für die Bewer-tung relevanten Annahmen umfassen. Teil derVerantwortlichkeit der sachverständigen wissen-schaftlichen Berater sollte es zudem sein, für allerelevanten Beweise aufzuzeigen, wie sie gesam-

193

Quelle: EUA

➔ TABELLE 15.1. BSE: FRÜHE WARNUNGEN UND MASSNAHMEN

Mitte der70er Jahre

Die Vereinigten Staaten schließen Fleisch von mit Scrapie infizierten Schafen und Ziegen aus der Nahrungskettevon Rindern aus

1979Königliche Kommission für Umweltverschmutzung im Vereinigten Königreich erkennt Risiko vonKrankheitserregern in Tierfutter an und empfiehlt Mindeststandards für die Verarbeitung in derTierkörperbeseitigungsindustrie

1986 Erste Fälle von Boviner spongiformer Enzephalopathie (BSE) werden offiziell bestätigt

1988 Erste dokumentierte offizielle Bestätigung, dass BSE u. U. auf den Menschen übertragbar ist

1988Southwood-Ausschuss wird eingerichtet und empfiehlt, dass klinisch betroffene Rinder nicht zu menschlichenoder tierischen Nahrungsmitteln verarbeitet werden sollten

1989Verbot von aus Wiederkäuern gewonnenen Futtermitteln, Keulung und Vernichtung betroffener Rinder undVerbot von spezifizierten Risikomaterialien (SRM)

1995 Fast 50 % der überprüften Schlachthöfe halten das SRM-Verbot nicht ein

1995 Nachweis, dass BSE die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD) verursachen kann

1996Endlich wurde mit Experimenten zur Feststellung begonnen, ob Rinder, die absichtlich mit Scrapie infiziertesFutter erhielten, an BSE erkranken

1996BSE-Krise, nachdem im Vereinigten Königreich eine neue Variante der CJD aufgetreten war und nachdem derVerzehr von mit BSE kontaminierten Nahrungsmitteln als wahrscheinlichste Ursache angesehen wurde

1998—2000

Durchführung der Phillips-Untersuchung und Veröffentlichung des 16-bändigen Berichts. Seine Ergebnisse liefernkeine ausreichend strenge Beurteilung der Regierungsmaßnahmen über die Jahre. Die Ergebnisse besagen, diegetroffenen politischen Entscheidungen seien angemessen gewesen, wenn auch Timing, Umsetzung undDurchsetzung nicht immer den Anforderungen entsprochen hätten

melt und interpretiert wurden. Seit März 1996verfügen die Mitglieder des SEAC gegenüber ih-ren Vorgängern über größere Unabhängigkeit.Bei der Beratung über mögliche Risiken des Ver-zehrs von nicht ausgelöstem Rindfleisch schilder-te der SEAC die möglichen Folgen unterschiedli-cher Vorgehensweisen und legte die von den Mi-nistern zu treffenden Entscheidungen explizitdar. Die BSE-Politik ist stärker auf Vorsorge ausge-richtet, was teilweise auf ihre größere Offenheitund Verantwortlichkeit zurückzuführen ist, insbe-sondere nachdem im Vereinigte Königreich dieneue, für Nahrungsmittelsicherheit zuständigeFood Standards Agency eingerichtet wurde.

15.8. Literatur

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RCEP, 1979. ‘Agriculture and pollution’, SeventhReport, Royal Commission on EnvironmentalPollution.

195

16.1. Einführung

Die Fallstudien liefern eine Fülle „später Lehren“für die zukünftige Politik. Sie alle zusammenfas-sen zu wollen, würde letztlich eine Wiederho-lung des bereits Geschilderten bedeuten. Sinnvol-ler erschien es, zu den vier allgemeinen Fragenzurückzukehren, die wir den Autoren gestellt hat-ten, und zu versuchen, daraus eine Reihe konkre-ter Lehren abzuleiten. Diese Lehren könnten zu-künftig in der Politik Anwendung finden, um ei-ne Wiederholung der Fehler – oder zumindestder Versäumnisse – der Vergangenheit soweit wiemöglich zu verhindern.

Die erste Frage betraf den Zeitpunkt der erstenglaubhaften wissenschaftlichen „Frühwarnung“.Die zweite lautete: Wann erfolgten und welcheswaren die wichtigsten Maßnahmen oder unter-lassenen Maßnahmen der Aufsichtsbehörden undanderer verantwortlicher Stellen? Entscheidendhierbei ist die Zeitspanne zwischen der Ermitt-lung des spezifischen Problems und der Ergrei-fung wirksamer Maßnahmen. Bei vielen Fallstudi-en lautete die Antwort, dass die Zeitspanne langwar und mit Sicherheit viele Jahre oder Jahrzehn-te, in einzelnen Fällen sogar über ein Jahrhun-dert umfasste. Für die Zeit vor der konkreten Er-mittlung der Notwendigkeit zur Einführung desVorsorgeprinzips in den 70er und 80er Jahrendes 20. Jahrhunderts mag dies nicht überra-schen. Doch selbst danach sind Beispiele für ein-deutiges vorsorgendes Handeln relativ selten an-zutreffen. Bemerkenswert erscheint auch, dasszwar die Diskussion über das Vorsorgeprinzip ge-legentlich als eine Auseinandersetzung zwischender Europäischen Union und Nordamerika darge-stellt wurde, die Fallgeschichten jedoch etwasganz anderes belegen, nämlich unterschiedlicheGrade der Akzeptanz der Notwendigkeit zur Vor-sorge innerhalb verschiedener Institutionen so-wohl in Nordamerika als auch in Europa.

In den Fallstudien waren ausreichende Informa-tionen über potenzielle Gefährdungen vielfachbereits lange Zeit verfügbar, bevor entscheiden-de behördliche Maßnahmen ergriffen wurden,doch wurden die Informationen entweder denzuständigen Entscheidungsträgern nicht recht-zeitig zur Kenntnis gebracht oder sie wurden,

aus welchen Gründen auch immer, außer Achtgelassen. Es trifft auch zu, dass bei einigen Fall-studien frühzeitige Warnungen – und selbstnoch „laute und späte“ Warnungen – von denEntscheidungsträgern wegen kurzfristiger wirt-schaftlicher und politischer Interaktionen wil-lentlich ignoriert wurden (siehe die Fallstudienzu Asbest, PCB, den Großen Seen sowie Schwefel-dioxid und saurer Regen).

Bei der dritten Frage ging es darum, welche Kos-ten und Nutzen durch die Maßnahmen oder Un-terlassung von Maßnahmen entstanden. Dies er-wies sich für die Autoren der Fallstudien als dieam schwierigsten zu beantwortende Frage, zu-mindest, was ihre umfassende Beantwortung an-ging. Zum Teil ist dies darauf zurückzuführen,dass viele der Autoren eher technische Expertenauf ihrem jeweiligen Fachgebiet sind und weni-ger Fachleute in der Beurteilung von wirtschaftli-chen Kosten und Nutzen oder der weiter gefass-ten Vor- und Nachteile von Maßnahmen. Doch istdas Thema auch an und für sich schwierig undkontrovers. Es gibt keine Möglichkeit, die Vor-und Nachteile alternativer Handlungsweisen aufeine einzige wirtschaftliche oder sonstige Größezu reduzieren. Dies nicht zuletzt aufgrund derProblematik eines Vergleichs von nicht vergleich-baren Größen und weil es unwahrscheinlich ist,dass Vor- und Nachteile gleichmäßig auf alle Inte-ressengruppen verteilt sind. Sicherlich gibt eskonstruktive Vorgehensweisen zur Bewältigungdieser Komplikationen, doch eine grundlegendeAnalyse lag letztlich außerhalb des Rahmens die-ser Veröffentlichung.

Bei der Auseinandersetzung mit der vierten Fra-ge an die Autoren, welche Lehren sich für künfti-ge Beschlussfassungen aus der Fallstudie ziehenlassen, auf einige Kosten- und Nutzenaspekte ein-zugehen, ist allerdings unerlässlich. Für die Zwe-cke der vorliegenden Veröffentlichung ist diesnämlich die zentrale Frage.

Das Projekt „Technische Risiken und Manage-ment von Unsicherheitsfaktoren“ des Europäi-schen Wissenschaftlich-technischen Observatori-ums (ESTO) (siehe z. B. Stirling, 1999) bildete dengrundlegenden Rahmen dieser Analyse. Damit isteine umfassende Struktur für die Behandlung

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16. ZWÖLF SPÄTE LEHREN

von Themen mit Bezug zur Vorsorge vorgegeben.So war nicht nur eine organisatorische Hilfestel-lung bei der Abwägung der Lehren gegeben, son-dern es bot sich auch die Möglichkeit, zahlreicheder Fragen, die sich aus den ESTO-Studien erga-ben, anhand des umfangreichen Bestands an his-torischem Material, das die Fallstudien enthiel-ten, zu prüfen oder herauszuarbeiten. Die über-wiegende Mehrzahl der zentralen Fragen, diesich aus den Fallstudien ergaben, konnte mit 12„späten Lehren“ abgedeckt werden:

1. Unkenntnis, Unsicherheit und Risiken bei derBeurteilung von Technologien und bei derSchaffung des Gemeinwohls erkennen undihnen entgegentreten.

2. Langfristige Umwelt- und Gesundheitsüber-wachung sowie Forschung aufgrund vonFrühwarnungen durchführen.

3. Schwachpunkte und Lücken in der Wissen-schaft erkennen und reduzieren.

4. Interdisziplinäre Hindernisse für die Lernent-wicklung erkennen und beseitigen.

5. Sicherstellen, dass die realen Bedingungenbei der Beurteilung durch Behörden ange-messen berücksichtigt werden.

6. Die angeführten Begründungen und Vorzügesystematisch prüfen und gegenüber poten-ziellen Risiken abwägen.

7. Eine Anzahl alternativer Möglichkeiten zurBefriedigung von Bedürfnissen neben der zubeurteilenden Option bewerten und stabile-re, vielfältigere und anpassungsfähigereTechnologien fördern, so dass die Kosten un-angenehmer Überraschungen minimiertund die Vorteile von Innovationen maxi-miert werden.

8. Sicherstellen, dass bei der Beurteilung dasWissen von „Laien“ sowie lokal verfügbaresWissen neben dem Fachwissen von Sachver-ständigen herangezogen wird.

9. Die Werte und Ansichten unterschiedlichersozialer Gruppen vollständig berücksichtigen.

10. Die Unabhängigkeit von Behörden gegen-über Interessengruppen bewahren undgleichzeitig ein umfassendes Konzept zur

Sammlung von Informationen und Meinun-gen verfolgen.

11. Institutionelle Hindernisse für die Lernent-wicklung und Handlungsmöglichkeiten er-kennen und beseitigen.

12. Vermeiden, dass eine „Paralyse durch Analy-se“ entsteht, und stattdessen so handeln, dasspotenzielle Risiken gesenkt werden, wenn einbegründeter Anlass zur Besorgnis besteht.

Die Unterscheidungen zwischen den einzelnenAspekten dienen der Anschaulichkeit und habenkeinesfalls definitiven Charakter. Zwischen vielenAspekten bestehen eindeutig Zusammenhänge.Einzelne Aspekte ließen sich auch zusammenfas-sen oder auch weiter untergliedern. Letztlich je-doch bilden die hier zusammengefassten Punkteeine Grundlage für die praktische Anwendungdes Vorsorgeprinzips. Zahlreiche Lehren bezie-hen sich auf Art, Qualität, Aufbereitung und Nut-zung von Informationen im Kontext eines ver-mehrt partizipativen und demokratischen Prozes-ses. Ein derart integrierter und umfassender Pro-zess der Beurteilung von Risiken und Möglichkei-ten muss sicherlich zu der zu erwartenden Grö-ßenordnung der potenziellen Folgen (für Umwelt,Gesellschaft und Wirtschaft) der betreffenden Ak-tivität in Bezug gesetzt werden.

Bei der Herausarbeitung dieser Lehren ging esuns darum, keinesfalls Material einzuführen, dasin den Fallstudien ursprünglich nicht enthaltenwar. Im Schlusskapitel werden allerdings einigeallgemeinere Punkte angesprochen, mit denenversucht wird, die Schlussfolgerungen zu densonstigen Entwicklungen auf dem Gebiet in Be-zug zu setzen.

16.2. Zwölf „späte Lehren“

16.2.1. Unkenntnis undUnsicherheit entgegentreten

Eine der zentralen in diesem Bericht formulier-ten Lehren betrifft die Tatsache, dass es wichtigist, das Wesen und die Grenzen unseres Wissenszu erkennen und auch zu verstehen. Hinter demvielfach verwendeten Begriff der „Unsicherheit“verbergen sich eigentlich wichtige fachliche Un-terscheidungen (siehe Kasten 1). Alle in den Fall-

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beispielen geschilderten Aktivitäten wurden inder einen oder anderen Form einer (formellenoder informellen) Risikoabschätzung unterzogen.Was dabei allerdings vernachlässigt wurde, wardie faktische Sicherheit, dass es Faktoren gebenwürde, die bei der Risikoabschätzung nicht be-rücksichtigt würden. Dies ist der Bereich der Un-kenntnis – die Quelle unvermeidbarer Überra-schungen oder nicht vorhergesagter Wirkungen.

Egal, wie hoch entwickelt unser Wissen ist, eswird immer ein gewisser Grad der Unkenntnisbestehen bleiben. Es kommt entscheidend daraufan, dass wir uns der potenziellen Lücken in unse-rem Wissen, das in unsere Entscheidungsprozes-se einfließt, bewusst sind und eine gewisse De-mut wahren. Überraschungen sind unvermeid-lich. So wie eine der Grundlagen wissenschaftli-cher Forschung die Erwartung von positivenÜberraschungen – der „Entdeckungen“ – bildet,genauso ist damit immer auch die Aussicht aufnegative Überraschungen verbunden. Naturge-mäß werden vor allem komplexe, kumulative, sy-nergistische oder indirekte Effekte seit jeher beider Beurteilung durch Behörden nicht ausrei-chend berücksichtigt.

Ein wesentliches Element einer jeden vorsorgen-den Vorgehensweise bei der Regulierung ist da-her die vermehrte Bereitschaft anzuerkennen,dass Überraschungen durchaus möglich sind. Da-mit ist beileibe keine generelle Ablehnung vonInnovationen gemeint. Doch die Einsicht in dieunvermeidlichen Grenzen des Wissens bewirktmehr Bescheidenheit hinsichtlich des wissen-schaftlichen Erkenntnisstands, was wiederumgrößere Sorgfalt und Behutsamkeit bei den nach-folgenden Entscheidungen erfordert. Sie führtauch zu breiter angelegten Beurteilungen unterEinbeziehung von weiteren wissenschaftlichenDisziplinen, vielfältigeren Informationen undWissen und mehr Meinungen.

Unkenntnis kann dramatische Folgen haben, wiedie Fallstudie über Halone belegt. Bis 1974 dieHypothese über einen Mechanismus, der dasOzon in der Stratosphäre abbaut, aufgestellt wur-de, war die zwischenzeitlich allseits bekannteWirkung der Fluorchlorkohlenwasserstoffe(FCKW) ein überzeugendes Beispiel für sich überviele Jahrzehnte erstreckende Unkenntnis. Nichtnur die Wahrscheinlichkeit, sondern selbst dieMöglichkeit eines „Ozonlochs“ wurde in Abredegestellt. Chemische Substanzen, die unter „nor-malen“ Umständen relativ inert und gutartig wa-

ren (und konventionell gesehen weniger gefähr-lich als die Substanzen, die sie ablösten), zeigtenunter Bedingungen, die bei der Risikoabschät-zung nicht berücksichtigt worden waren, ein völ-lig anderes Verhalten. Die Auswirkungen des syn-thetischen Östrogens Diethylstilboestrol (DES) aufdie Kinder der damit behandelten Patientinnenwaren völlig überraschend, während die durchFäulnisschutzanstriche mit Tributylzinn (TBT) ver-ursachte Ansammlung von Organozinnverbin-dungen im Körper von hoch entwickeltenFleischfressern schlicht nicht vorhergesehen wor-den war. Hierzu die Autoren der Fallstudie überantimikrobielle Substanzen: „Grund für die späte-re Verwässerung der Schlussfolgerungen (desSwann-Komitees) und für die Kompromisse beiseinen Empfehlungen waren hauptsächlich dieBeschränkung auf Fakten, die genau bekannt wa-ren, statt der Einbeziehung des Unbekannten,der Unkenntnis auf dem Gebiet ... Mit anderenWorten: Wir brauchen eine Wissenschaft, dieauch komplexe Sachverhalte, Unsicherheiten undUnbekannte mit mehr Demut und weniger Über-heblichkeit gelten lässt.“

Die Lehre scheint eindeutig. Statt sich auf dienächstliegenden und direkten Auswirkungen zukonzentrieren, sollte bei der behördlichen Beur-teilung ein möglichst weit gefasstes Spektrumvon Konditionen und Wirkungen einbezogenwerden. Sicherlich muss in Kauf genommen wer-den, dass auch durch noch so breit angelegte Be-urteilungsprozesse „Überraschungen“ möglicher-weise nicht vorhersehbar bleiben, doch kann vieldafür getan werden, sich vor manchen Folgender allgegenwärtigen Erfahrbarkeit von Unkennt-nis und Überraschungen zu schützen.

Diese Erkenntnis bildet den Kernpunkt der Fall-studien und ist ein zentraler Aspekt des Vorsorge-gedankens. Auf den ersten Blick scheint die For-derung, der Unkenntnis entgegenzutreten, völligunrealistisch. Wie können Strategien entwickeltwerden, mit denen Folgen verhindert werden,die per Definition nicht bekannt sind? Und dochlegen die Fallstudien nahe, dass hier zumindestmehr getan werden kann als bisher.

So kann beispielsweise – wenngleich dies nichtso einfach ist, wie es den Anschein hat – der po-tenziellen Unumkehrbarkeit von Maßnahmenselbst dann Rechnung getragen werden, wenndie Folgen noch nicht bekannt sind. Im Fallekünstlich hergestellter chemischer Substanzenwie Halone, polychlorierter Biphenyle (PCB) und

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Methyltertiärbutylether (MTBE) könnte allein de-ren Neuheit als Warnsignal verstanden werden.Über ihre Umweltpersistenz war von Beginn angenügend bekannt, um dies als weitere War-nung zu nehmen. Zudem konnten sie sich ohneweiteres in der gesamten physikalischen Umweltzu verbreiten – ein weiteres Warnzeichen. Manhätte von Beginn an darauf kommen können,dass, wenn diese Stoffe in die Umwelt freigesetztwürden, und in der Folge ein Problem entstünde,es viele Jahre dauern würde, bis sowohl die Stoffeals auch das Problem „verschwinden“ würden.Die Fallstudie über die Großen Seen veranschau-licht Langzeitgefahren durch andere organischeDauergifte (POPs). Andererseits war vielleicht dieUnumkehrbarkeit gewisser Maßnahmen zu-nächst nicht absehbar, doch nachdem dies be-kannt wurde, zögerten die zuständigen Stellenhäufig zu lange. Es stand relativ schnell fest, dassTBT persistenter ist als zunächst angenommen,und die Persistenz von Asbeststaub war überJahrzehnte hinweg als Teil der Problematik be-kannt. Doch in keinem der beiden Fälle wurdedie Langzeitwirkung rechtzeitig in Maßnahmenzur Risikominderung miteinbezogen. Wenn Per-sistenz und Bioakkumulation als Prüfgrößen zurEliminierung potenzieller Gefährdungen durchchemische Substanzen eingesetzt werden, dürf-ten Ausmaß und Schwere zukünftiger „Überra-schungen“ geringer ausfallen.

Nun beschränkt sich Irreversibilität sicherlichnicht auf die möglichen Folgen chemischer Sub-stanzen. Resistenz gegen antimikrobielle Wirk-stoffe ist – wie man jetzt weiß – eine Langzeitfol-ge. In der Fischerei kann es – wenn überhaupt –lange Zeit dauern, bis sich die Bestände von ei-nem Zusammenbruch erholt haben. Die Berück-sichtigung der Irreversibilität oder der langsa-men Reversibilität von Maßnahmen ist notwendi-ger Bestandteil eines breiter angelegten Ansatzesin der Beurteilung. Ein weiterer maßgeblicherAspekt bei der Beurteilung ist die Größenord-nung der potenziellen Gefährdung, insbesonde-re, wenn sie global ist und wenn es nur ein einzi-ges, noch dazu „experimentelles“ Modell gibt.

Die Fallstudien bestätigen auch, dass potenzielleProbleme in gewissem Umfang vorhersehbarsind. In Bezug auf den Einsatz von antimikrobiellwirksamen Substanzen in der Tierhaltung wurdedas Vertrauen in die geringen Risiken der Über-tragbarkeit einer Antibiotikaresistenz auf denMenschen mit fortschreitendem Kenntnisstandimmer weiter eingeschränkt. Bereits in den 60er

Jahren hatte das britische Swann-Expertenkomi-tee zahlreiche der später eingetretenen Schwie-rigkeiten vorhergesagt. Dieses frühe Beispiel fürdie Sensibilität gegenüber möglichen Quellen derUnkenntnis wurde in der Folge durch ein über-höhtes Vertrauen der Wissenschaft in die Sicher-heit von antimikrobiellen Wirkstoffen hinwegge-fegt. Ähnlich hätten man bei den PCB frühe Er-kenntnisse – wie sie 1937 bei Tierversuchen ge-wonnen wurden – eindeutiger als Warnzeichenregistrieren können.

Wenn bei einer chemischen Substanz eine ge-sundheits- oder umweltschädliche Eigenschaftfestgestellt wird, könnte es vorsichtigerweisesinnvoll sein, davon auszugehen, dass damit wei-tere potenziell schädliche, aber weniger leicht er-kennbare Wirkungen verbunden sind. Bei denFallstudien gingen im Fall der Schwefeldioxid-emissionen, der ionisierenden Strahlung, vonBenzol, Asbest, TBT und PCB kurzfristige akuteWirkungen, die ohne weiteres feststellbar waren,den weniger offensichtlichen chronischen Proble-matiken voraus – gelegentlich sogar um vieleJahrzehnte. Daraus lässt sich allerdings keine all-gemein gültige Regel ableiten. Zumindest jedochhandelt es sich hierbei um eine asymmetrischeBeziehung. Während das Auftreten akuter Wir-kungen chronischen Folgewirkungen zugeordnetwerden kann, gehen chronischen Wirkungennicht zwangsläufig akute Wirkungen voraus –wie an den Beispielen BSE und Halone ersicht-lich. Ähnlich können Schadwirkungen in der Na-tur als „Wächterereignisse“ gewertet werden, dieuns vor potenziellen Schadwirkungen für denMenschen warnen. Daraus folgt die Notwendig-keit von integrierten ökologischen und gesund-heitlichen Risikoabschätzungen.

Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischendem Zustand der Unkenntnis am eigentlichenEntscheidungspunkt und einem in der gesam-ten Gesellschaft endemisch herrschenden Zu-stand der Unkenntnis. Die erstgenannte Katego-rie, die als „institutionelle Unkenntnis“ ange-sprochen werden könnte, bezieht sich auf eineSituation, in der für die Entscheidung maßgebli-che Informationen möglicherweise in der Ge-sellschaft vorhanden sind, jedoch denjenigen,die die Entscheidung treffen müssen, nicht zurVerfügung stehen. Bei dieser Kategorie der Un-kenntnis können spätere „Überraschungen“,auch wenn diese schwerwiegende Folgen habenkönnen, lokal eng einzugrenzen sein. Diese Pro-blematik wird in den meisten hier beschriebe-

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nen Fallstudien deutlich. Hier kann durch eineReihe von Vorkehrungen, die eine wirksamereKommunikation und soziales Lernen bewirken,Abhilfe geschaffen werden. Die zweite Katego-rie, die „gesellschaftliche Unkenntnis“, ist weit-aus schwieriger einzugrenzen. Auch diese Pro-blematik ist in vielen der Fallstudien (auch beider BSE-Krise) zu erkennen. Sie erfordert ganzandere Abhilfemechanismen, so z. B. wissen-schaftliche Forschungsarbeit und die Förderungeiner größeren Vielseitigkeit, Anpassungsfähig-keit und Flexibilität beim Treffen von Entschei-dungen wie bei der Auswahl von Technologien.Auf diese Punkte werden wir am Ende dieses Ka-pitels noch einmal zurückkommen.

16.2.2. Forschung und Überwachung aufgrund von Frühwarnungen durchführen

Man könnte allgemein angelegte Forschungsar-beiten und Langzeitbeobachtung als zu aufwen-dig und zu wenig zielgerichtet abtun. Genau ge-plante Forschungsarbeiten und Überwachungs-maßnahmen sind indes für die systematische Er-mittlung von Bereichen, in denen Unsicherheitherrscht, unverzichtbar. Allerdings muss auchüberlegt werden, wie eine generelle Überwa-chung stattfinden kann, um die Chance fürrechtzeitige Alarmsignale bei Problemen, dieaus Unkenntnis hervorgerufen werden, zu erhö-hen. Das Bewusstsein von Unsicherheit und Un-kenntnis trägt mit dazu bei, dass an die For-schung entsprechende Fragen gestellt und einerwissenschaftlichen Bewertung unterzogen wer-den. Daraus folgt, dass die angemessene finan-zielle Ausstattung von Forschungs- und Überwa-chungsvorhaben Grundvoraussetzung für einentragfähigen Ansatz bei der Beurteilung von po-tenziellen Risiken durch die Behörden ist, mitdenen frühzeitige Warnsignale aufgefangen wer-den können.

Die Fallstudie über Halone und das Ozonlochvermittelt hier eine mehrdeutige Botschaft.Durch „Neugier angetriebene“ Forschungs-arbeit zu einem anderen Zweck führte zur Ent-deckung des Ozonabbaus in der Stratosphäreüber der Antarktis. Diese Entdeckung erfolgteeigentlich rein zufällig (siehe nächster Ab-schnitt). Während dieses Beispiel den Wert reinakademischer wissenschaftlicher Fragestellun-gen unterstreicht, wirft es kein sehr Vertrauenerweckendes Licht auf den Sachstand gezielterÜberwachungen.

Viele Fallstudien belegen den Wert von einge-henden, langfristig angelegten Überwachungs-maßnahmen. Während sich im Fall von Asbest,Benzol und PCB Beweise für die negativen Aus-wirkungen dieser Substanzen auf die Gesundheitbereits im 19. Jahrhundert häuften, spielte diesystematische Überwachung zum damaligenZeitpunkt noch gar keine Rolle. Daten wurdenentweder überhaupt nicht verglichen (wie imFall von Benzol) oder sie wurden erst sehr lang-sam und eher spontan über viele Jahrzehnte hin-weg verfügbar. Vermutlich war man davon aus-gegangen, dass schädliche Auswirkungen, so essie denn geben sollte, sich schon von selbstrechtzeitig genug zeigen würden, um Abhilfe-maßnahmen zu ergreifen. Mit einer anderenEinstellung hätten gesundheitsschädliche Aus-wirkungen wesentlich früher verhindert werdenkönnen. Auf die gegenwärtige Situation übertra-gen bedeutet dies, dass bei Fortbestehen der Ten-denz zu geografisch weiträumigeren und weni-ger reversiblen Aktivitäten die Nutzung der„Welt als Labor“ zunehmend problematischwird. Vermutlich trifft immer noch zu, dass viel-fach weiter stillschweigend davon ausgegangenwird, dass sich größere Probleme schon rechtzei-tig genug bemerkbar machen, um Abhilfe zuschaffen. Notwendig wäre jedoch eine verstärkteÜberwachung der einzigen Biosphäre, die unsgegeben ist, nach ökologischen und biologi-schen Gesichtspunkten stattfinden.

Weiter geht aus den Fallstudien hervor, dassselbst kritische Entwicklungen, die bereits früh-zeitig erkannt wurden, nicht unbedingt rechtzei-tig oder wirksam verfolgt wurden. Im Fall vonBSE wurden im Vereinigten Königreich For-schungsarbeiten zu einer Reihe wichtiger Fragenerst eingeleitet, nachdem die Seuche bereitsrecht weit fortgeschritten war. 1986 wurde BSEals neue Krankheit bei Rindern erstmals identifi-ziert, doch Forschungen, mit denen die vermute-te Nichtübertragbarkeit über das Muttertier – einwichtiger Aspekt für den vom britischen Ministe-rium für Landwirtschaft, Fischerei und Forsten(MAFF) frühzeitig vertretenen Standpunkt – verifi-ziert werden sollte, wurden erst 1989 in Auftraggegeben. Schließlich stellte sich heraus, dass sehrwohl eine Übertragung über das Muttertier statt-findet. Ähnliche Versuche in Bezug auf die Über-tragbarkeit von Scrapie von Schafen auf Rinder(eine favorisierte Hypothese für die Krankheitsur-sache) wurden gar erst 1996 eingeleitet. Erhebun-gen über die Zahl der infektiösen, aber asympto-matischen Rinder, die in die Nahrungsmittelkette

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➔ KASTEN 16.1. RISIKEN, UNSICHERHEIT UND UNKENNTNIS

Das Vorsorgeprinzip wird grundsätzlich als eineVorgehensweise gesehen, die anzuwenden ist,wenn nicht genügend wissenschaftliche Sicher-heit gegeben ist. Eine wichtige Grundlage unse-rer Schlussfolgerungen betrifft das Wesen derwissenschaftlichen Sicherheit als solcher. Drin-gend gefordert ist hier eine vollständigere undsystematischere gedankliche Grundlage hinsicht-lich der verschiedenen Formen, in denen wissen-schaftliche Unsicherheit in der Beurteilung durchdie Behörden ihren Niederschlag finden kann.

Zunächst gibt es als allgemein bekannten Zustanddas Risiko in der in der Wahrscheinlichkeitstheo-rie formell definierten Form. Risiko bedeutet, dassalle möglichen Ergebnisse im Voraus bekannt sindund dass deren relativ wahrscheinliches Eintretenin Form von Wahrscheinlichkeiten angemessenausgedrückt werden kann. Sofern dieser Zustandvorherrscht, ist die Risikoabschätzung ein taugli-ches Verfahren, das Leben retten, Umweltschädenverhindern und als robuste Grundlage für Ent-scheidungen dienen kann. Dennoch bleibt die Be-urteilung dessen, was als gefährdet angesehenwird und wie eine ausgewogene Entscheidungauszusehen hat, notwendigerweise subjektiven An-nahmen und Bewertungen unterworfen.

Im Zustand der Unsicherheit existiert, gemäß derformellen Definition, keine angemessene empiri-sche oder theoretische Grundlage, auf die sich dieWahrscheinlichkeit bestimmter Folgen stützen lie-ße. Gründe hierfür können die Neuheit der betref-fenden Aktivitäten oder die Komplexität oder Va-riabilität des jeweiligen Kontexts sein. In jedemFall ist jedoch die herkömmliche Risikoabschät-zung in ihrer Reichweite zu begrenzt, als dass siebei Unsicherheit angewandt werden könnte. Zwarkönnen hier bestimmte Techniken wie Sicherheits-faktoren, Szenario- oder Sensitivitätsanalysen Hilfe-stellung leisten, doch ermöglichen auch sie keineangemessene Beurteilung der Auswirkungen ver-schiedener Optionen. In diesem Fall bleibt die Be-urteilung dessen, was als gefährdet angesehenwird und wie eine ausgewogene Entscheidungauszusehen hat, mehr denn je subjektiven Annah-men und Bewertungen unterworfen.

In zahlreichen Fallstudien in diesem Bericht wer-den Beispiele angeführt, bei denen die Beurteilungdurch die Behörden nicht nur unter mangelnderGewissheit hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit ver-schiedener Folgen litt, sondern bei denen die Mög-

lichkeiten an sich unbekannt blieben. Hier ist derEntscheidungsprozess mit der andauernden Aus-sicht auf Überraschungen konfrontiert. Dieser Zu-stand wird formell als Unkenntnis bezeichnet.Mehr noch als der Zustand der Unsicherheit unter-streicht dieser Zustand die Notwendigkeit einer ge-sunden Bescheidenheit hinsichtlich der Hinläng-lichkeit der zur Verfügung stehenden wissenschaft-lichen Kenntnisse und, was entscheidend ist, dieNotwendigkeit der Fähigkeit der Institutionen zurfreimütigen Reflexion über Qualität und Nutzender verfügbaren Wissensbestände. Bei der behördli-chen Beurteilung muss explizit den Implikationenvon alternativen Annahmen Rechnung getragenund systematisch dokumentiert werden, in wel-chem Bezug diese zu den Perspektiven der verschie-denen sozialen Gruppen und zur Umwelt stehen.

Sobald wir erkennen, dass die Wahrscheinlichkeitbestimmter Folgen unter Umständen nicht voll-ständig quantifizierbar ist, oder wenn bestimmteandere Möglichkeiten unter Umständen über-haupt nicht berücksichtigt werden, ist die Situati-on nicht mehr durch Risiken, sondern vielmehrdurch Unsicherheit und Unkenntnis gekennzeich-net. Die Anwendung von robusten, transparentenund verantwortlichen Vorgehensweisen in Bezugauf die verschiedenen Aspekte von Risiken, Unsi-cherheit und Unkenntnis kann als ein entschei-dendes Mittel gelten, mit dem sich das Vertrauender Öffentlichkeit in Entscheidungen der Behör-den zurückgewinnen lässt.

Der Entscheidungsprozess muss expliziter undsystematischer hinsichtlich der Beweislage sein,die erforderlich ist, um die Verringerung von Ge-fahren zu rechtfertigen. Beispiele hierfür sind der„wissenschaftlich begründete Verdacht“, der „be-rechtigte Grund zur Besorgnis“, eine „ausgewoge-ne Beweislage“ und „unzweifelhafte Beweise“ (sie-he Tabelle 16.1 im letzten Abschnitt dieses Kapi-tels und die Ausführungen dazu im letzten Teildes Berichts). Es besteht somit ein Spektrum anWahlmöglichkeiten hinsichtlich der Beweislage,anhand derer die Handlungsgrundlage bestimmtwird, wobei jede dieser Möglichkeiten mit unter-schiedlichen Vor- und Nachteilen für verschiede-ne Gruppen verbunden ist. Diese unterschiedli-chen Beweislagen bilden eine wesentlich viel-schichtigere Grundlage für die Gewichtung vonpotenziellem Nutzen und Schaden als simple Er-klärungen über Richtigkeit oder Unrichtigkeit.

gelangten, wurden zu keinem Zeitpunkt vorge-nommen. Während dieses gesamten Zeitraumsjedoch wurde in den Zusicherungen der briti-schen Regierung immer wieder eindringlich aufdas Fehlen von Beweisen verwiesen, während tat-sächlich gar nicht nach Beweisen gesucht wurde.Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, dass dieAussage, dass es „keinen Beweis für die Schäd-lichkeit“ gibt, als „Unschädlichkeitsbeweis“ fehlin-terpretiert wird.

Ähnliche Versäumnisse bei der Durchführungmaßgeblicher wissenschaftlicher Forschungsar-beiten sind auch in anderen Fällen dokumen-tiert. Im Zusammenhang mit dem routinemäßi-gen Einsatz von antimikrobiell wirksamen Sub-stanzen in der Tierproduktion wurden die vom1967 eingesetzten Swann-Komitee geäußerten Be-denken hinsichtlich der Folgen der Entwicklungwiderstandsfähiger Erreger erst Ende der 90erJahre aufgegriffen – und dies, obwohl seit lan-gem bekannt war, dass der weit verbreitete Ein-satz von Antibiotika zur schnellen Entwicklungvon widerstandsfähigen Erregern führen könnte.Ebenso fand im Fall von Asbest trotz eindeutigerWarnungen und Empfehlungen aus Mortalitäts-studien zwischen 1898 und den 20er Jahren des20. Jahrhunderts und trotz der Tatsache, dass esdurchaus bereits geeignete Verfahren zur Über-wachung der Gesundheit der Arbeitnehmer gab,keine systematische Überwachung der gesund-heitlichen Auswirkungen statt. Die Autoren derTBT-Fallstudie zogen die Schlussfolgerung, dass„Basisstudien, wiewohl häufig unterschätzt, einewichtige Rolle in der Früherkennung von schädli-chen Tendenzen spielen und daher der Anwen-dung des Vorsorgeprinzips dienlich sind“. DieFallstudien zu MTBE und PCB nehmen ebenfallszu der relativ geringen Häufigkeit von For-schungsarbeiten zu bereits ermittelten Ursachenfür Bedenken Stellung. Überwachung alleinreicht nicht aus. Genauso wichtig sind eine ange-messene Berichterstattung und die Weitergabeund Anwendung der Ergebnisse von Forschungund Beobachtung.

Allerdings bietet weder speziell die Langzeit-überwachung noch die Umweltwissenschaftganz allgemein ein Allheilmittel. Diese Diszipli-nen beantworten möglicherweise einige Fragen,doch werfen sie dafür andere Fragen auf, unddie Wissenschaft schreitet von relativ einfachenund häufig linearen Theoremen zu einer dyna-mischeren und komplexen „Systemwissen-schaft“voran. Durch Forschung können sich ge-

wisse Aspekte unserer Unkenntnis in Unsicher-heit wandeln – und sogar Unsicherheiten in Ri-siken –, doch ist dies nicht zwangsläufig derFall. Es gibt Beispiele dafür, dass durch For-schung Unsicherheit erzeugt und neue Quellender Unkenntnis aufgezeigt werden. Im Bereichder Fischerei legte ein in Kanada entwickeltesmathematisches Modell der Wechselbeziehun-gen zwischen verschiedenen Fischarten nahe,dass deren Bestandsentwicklung umso wenigervorhersagbar wurde, je mehr biologische Datenin das Modell aufgenommen wurden. Im Fallder Großen Seen wurden durch intensive For-schung die Unsicherheiten immer größer, undes entstanden immer neue Fragen hinsichtlichder möglichen Ursachen der beobachteten Ein-brüche der Vogelpopulation. Dies stellt schein-bar die Auffassung in Frage, dass eingehenderewissenschaftliche Forschung zwangsläufig eineVorsorgemaßnahme darstellt oder auch die An-nahme, dass eine Ausweitung des Beurteilungs-prozesses auf unterschiedliche wissenschaftlicheDisziplinen zwangsläufig Vorsorge bedeutet (sie-he Abschnitt „Interdisziplinäre Hindernisse fürdie Lernentwicklung erkennen und beseitigen“weiter unten). Wenn eingehende Forschungentatsächlich ergeben, dass Bedenken hinsichtlichbestimmter Stoffe unbegründet sind, indem bei-spielsweise ein überzeugender Alternativmecha-nismus für einen beobachteten Effekt nachge-wiesen wird, dann bedeutet es keinesfalls Vor-sorge, auf weiteren Einschränkungen für den ur-sprünglich inkriminierten Stoff zu bestehen.

Andere Fallstudien wie z. B. zu antimikrobiellwirksamen Substanzen, Schwefeldioxid und PCBveranschaulichen die Öffnung des Forschungs-bereichs und die Aufdeckung von Quellen derUnkenntnis durch die Entdeckung immer weite-rer komplexer Zusammenhänge. Wie die Fallstu-die über antimikrobiell wirksame Substanzenzeigt, sollten Risikobeurteilungen möglichst prä-zise Angaben darüber enthalten, mit welcherwissenschaftlichen Fragestellung, sich weitereForschungsarbeiten auseinander setzen sollten,wie lange diese Forschungsarbeiten dauernkönnten und woher die finanziellen Mittel dafürkommen sollen, und auch die Unabhängigkeitder Organisation, die sie durchführt, sollte ge-währleistet sein. In der Beurteilung sollte – wieim Swann-Bericht – auch eine klare Aussage da-rüber getroffen werden, ob Maßnahmen zurVerringerung der Risiken bereits vor oder erstnach Abschluss der Forschungsarbeiten eingelei-tet werden sollten.

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16.2.3. Schwachpunkte und Lücken in der Wissenschaft erkennen und reduzieren

Verschiedene Fallstudien können als Beleg fürSchwachpunkte innerhalb der am Prozess der Re-gulierung beteiligten vorherrschenden Disziplindienen. Im Fall der Halone wurde der für denOzonabbau in der Stratosphäre verantwortlichechemische Vorgang 1974 in der renommiertenFachzeitschrift Nature beschrieben. Dies hielt dieBehörden allerdings nicht davon ab, diese Er-kenntnis so lange zu ignorieren, bis eindeutigeempirische Beweise für die konkreten Auswirkun-gen vorlagen. Doch selbst in diesem Fall stellt dieArt und Weise, in der die empirischen Beweisezu Tage kamen, eine heilsame Lektion dar. DieBestätigung des „Ozonlochs“ über der Antarktis1985 war eigentlich ein Zufall – ein Nebenpro-dukt eines Experiments, das für andere Zweckedurchgeführt worden war. Ein spezielles satelli-tengestütztes Beobachtungsprogramm zur Über-wachung des Ozons in der Stratosphäre hatte be-reits zuvor eine beträchtliche Schädigung erge-ben, doch die Ergebnisse wurden als suspekt er-achtet und deshalb beiseite gelegt. Dies ist eineinschlägiges Beispiel dafür, dass Annahmen auf-grund von Analysen zu voreiligen Schlüssen füh-ren können, aus denen ihrerseits gravierendeSchwachstellen in der Politikgestaltung erwach-sen. In diesem Fall betrafen die Schwachpunktenicht allein die zentralen Annahmen der wich-tigsten an der behördlichen Beurteilung beteilig-ten wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auchdie theoretische Vorgehensweise und die empiri-sche Beweisführung.

Ein Schwachpunkt in einer wissenschaftlichenDisziplin wurde auch im Fall des Einsatzes vonantimikrobiell Wirkstoffen in der Landwirtschaftdeutlich. Beweise, die dem britischen Swann-Ko-mitee 1968 vorlagen, ließen eine Reihe potenziel-ler Probleme in den Bereichen Umwelt, Tier-schutz und menschliche Gesundheit, aus denensich später schwerwiegende Bedenken entwickel-ten, ziemlich genau erahnen. Die Empfehlungendes Swann-Komitees hatten zwar zunächst eini-gen Einfluss, wurden dann aber im Laufe der fol-genden Jahrzehnte zunehmend verdrängt. Wä-ren sie umgesetzt und konsequent durchgehaltenworden, hätten dadurch die jetzt erkanntenSchwierigkeiten zumindest abgemildert werdenkönnen. Ähnlich war im Fall von MTBE die zen-trale problematische Eigenschaft der Persistenzbereits von Beginn an offenkundig, und man hät-te erwarten können, dass daraufhin im Zuge der

formellen behördlichen Beurteilung mehr Fragenhinsichtlich der potenziellen Umweltprobleme,die der weit verbreitete Einsatz dieser Chemikalieverursachen könnte, aufgeworfen würden alsdies dann tatsächlich der Fall war. Bei TBT gingman bei der Bestimmung der Abbaugeschwindig-keit von Annahmen über die Merkmale der Mee-resumwelt aus, die vielfach ganz offenkundigfalsch waren. Beim Einsatz von Hormonen alsWachstumsförderer war es falsch anzunehmen,dass Kinder mit einem niedrigen natürlichen Ös-trogenpegel die wahrscheinliche „Risikogruppe“seien. Bei den Schätzungen des Strahlungsrisikosvon üblichen Dosen wurden lange Zeit die Unsi-cherheiten übersehen, die sich daraus ergaben,dass die Daten überwiegend aus den Krankenak-ten der Überlebenden der Atombombenabwürfeüber Japan bei einer atypisch hohen Dosierungund Strahlungsintensität abgeleitet wurden.

Ein weiterer Schwachpunkt kann dadurch entste-hen, dass davon ausgegangen wird, dass mit derEinführung einer neuen Praktik historische Pro-bleme quasi von selbst gelöst werden. Bei Asbestwurde immer wieder behauptet, dass in der Ver-gangenheit festgestellte Auswirkungen auf dieGesundheit auf Bedingungen zurückzuführen sei-en, die beseitigt worden seien. Die lange Liste derBehauptungen, dass „ein Auftreten der Krankheit(künftig) nicht so wahrscheinlich ist“, lässt sichbis 1906 zurückverfolgen. Bei jeder nachfolgen-den geringfügigen weiteren Verbesserung der Be-dingungen dauerte es wiederum weitere Jahr-zehnte, bis die mit den neuen Bedingungen ver-bundenen persistenten Risiken sichtbar wurden.Bemerkenswerterweise wurde, als die festgestellteGrößenordnung der gesundheitlichen Auswir-kungen eine Substitution von Asbest erforderlichmachte, zunächst versucht, Mineralfaserstoffeeinzusetzen, die zum Teil genau die Eigenschaf-ten aufwiesen, die bereits die Auswirkungen vonAsbest verursacht hatten (wie z. B. die Größe derFasern) – bis dann schließlich festgestellt wurde,dass diese Ersatzstoffe Auslöser von im Wesentli-chen gleichen, wenn auch geringeren Risikenwaren. Im Fall von Schwefeldioxid wurde durchden Bau höherer Schornsteine zwar der unmittel-bare lokale Effekt gebessert, doch wurde damitdas übergeordnete Problem der kumulativenEmissionen und des großräumigen Schadstoff-transports nicht gelöst.

Eine vermehrt am Vorsorgeprinzip ausgerichte-te Vorgehensweise umfasst daher auch die syste-matische Suche nach Schwachpunkten inner-

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halb der historisch am Prozess der behördlichenBeurteilung beteiligten Disziplinen. Dies wirderleichtert, wenn mehrere fachliche Disziplinenund andere Wissensquellen beteiligt sind, wasdie gelegentlich unbequemen Interaktionen för-dert, durch die fehlerhafte Annahmen und wei-tere Fragen eher ans Tageslicht gefördert wer-den. Dies führt uns direkt zur nächsten derzwölf Lehren.

16.2.4. Interdisziplinäre Hindernisse für die Lernentwicklung erkennen und beseitigen

Wenn Auswirkungen, die einem bestimmtenFachgebiet zuzuordnen sind, zunächst stärkerhervortreten oder früher erkannt werden, kanndies dazu führen, dass die Beurteilung durchdie Behörden in unzulässiger Weise von einerbestimmten Disziplin beherrscht oder gar „ab-hängig“ ist. Dies kann eine Form der „institutio-nellen“ Unkenntnis – im Gegensatz zu der wei-ter oben erörterten Unkenntnis der gesamtenGesellschaft – zur Folge haben. Sowohl im Fallvon Asbest als auch bei der ionisierenden Strah-lung wurde die Festlegung von Normen wesent-lich durch das vorrangige Interesse medizini-scher Kliniker an unmittelbaren akuten Auswir-kungen beeinflusst. In beiden Fällen wurden dieToxikologie und Epidemiologie der chronischenLangzeitauswirkungen weitgehend vernachläs-sigt. Bei der Einführung von MTBE stützte mansich auf Wissensbestände über Motoren, Ver-brennung und Luftverschmutzung. Die Aspekteder Wasserverschmutzung und die damit zu-sammenhängende Persistenz sowie beträchtli-che Probleme geruchlicher und geschmackli-cher Art wurden kaum berücksichtigt, obwohlentsprechende Informationen vorlagen. Bei denSchwefelemissionen standen zunächst gesund-heitliche Bedenken im Mittelpunkt der behördli-chen Beurteilung. Als die Auswirkungen auf dieUmwelt sichtbar wurden, zeigte sich, dass esschwierig ist, einen auf Gesundheitsfragen aus-gerichteten behördlichen Prozess an die neueProblemstellung anzupassen und zu entspre-chenden Reaktionen zu veranlassen. Ähnlichder Fall bei den hormonellen Wachstumsförde-rern in der Tierproduktion: Zunächst lag auchhier der Schwerpunkt auf den möglichen Aus-wirkungen auf die menschliche Gesundheit. Be-denken hinsichtlich möglicher Folgen für Wild-tiere wurden zwar ebenfalls vorgetragen, dochstießen sie bei den Behörden zunächst offenbarnur auf geringes Interesse.

Im Gegensatz hierzu wurden bei antimikrobiel-len Wirkstoffen in der Tierproduktion und beiBSE Überlegungen hinsichtlich der Auswirkun-gen auf den Menschen anfangs weitgehend bei-seite gelassen, da das Hauptaugenmerk der Be-hörden zunächst der Veterinärwissenschaft galt.Tatsächlich lagen diese Bedenken im Fall der an-timikrobiellen Wirkstoffe der frühen Empfeh-lung des Swann-Komitees aus dem Jahr 1968 zu-grunde, wonach ein einheitlicher Beratungspro-zess geschaffen werden sollte, der „die Gesamt-verantwortung für den gesamten Bereich desEinsatzes von Antibiotika und verwandter Sub-stanzen beim Menschen, bei Tieren, in der Nah-rungsmittelkonservierung und zu anderen Zwe-cken übernimmt“. Diese Empfehlung wurdeüber Jahre hinweg weder im Vereinigten König-reich noch anderswo aufgegriffen. Im Fall vonBSE stuften die britischen Veterinärbehörden dieMöglichkeit einer Übertragbarkeit auf den Men-schen als vertretbar gering ein. Ganz anders hin-gegen die Vorgehensweise in den USA, wo einZusammenhang zwischen Scrapie bei Schafenund dem Auftreten der Creutzfeldt-Jakob-Krank-heit beim Menschen bereits seit den 70er Jahrenfür möglich gehalten und in der Folge die Ver-wertung von infizierten Tieren in der Nahrungs-kette verboten wurde.

16.2.5. Sicherstellen, dass die realen Bedingungenangemessen berücksichtigt werden

Reale Bedingungen können von theoretischenAnnahmen drastisch abweichen und diese Unter-schiede können ernste Folgen haben. Grundsätz-lich ist dieses Problem allseits bekannt, und esgibt Möglichkeiten, dieses Risiko deutlich zu sen-ken. In der Praxis jedoch zeigen die Fallstudieneine Vielzahl unvollständiger Beurteilungen auf,die zu falschen Einschätzungen und Entscheidun-gen der Behörden geführt haben.

Im menschlichen Einflussbereich wird häufig da-von ausgegangen, dass sich Technologien nachden vorgegebenen Normen richten. Doch im„richtigen Leben“ entspricht die Praxis nur seltendieser Idealvorstellung, wobei es jedoch langedauern kann, bis dies erkannt wird. Gelegentlichwerden Maßnahmen ergriffen, die scheinbar invölligem Widerspruch zu jeder Erfahrung stehen.Die Kraftstoffmengen, die aus den Lagertanks derTankstellen austreten, wurden von den US-Behör-den bei ihrer Beurteilung der Gefährlichkeit vonMTBE nicht richtig eingeschätzt, dies hatte eine

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Unterschätzung der daraus resultierenden Belas-tung zur Folge. Zwar können an Lagertanks bau-liche Veränderungen vorgenommen werden, diedie Gefahr von Leckagen verringern, doch kanndieser Vorteil bereits durch Fehler bei der Instal-lation wieder zunichte gemacht werden. Von denPCB wurde angenommen, dass sie in „geschlosse-nen“ Betriebssystemen bleiben würden. Diese An-nahme erwies sich als nicht haltbar, und es kamzu Betriebsunfällen wie Yusho und Yucheng in-folge von Wartungsmängeln und sogar der ille-galen Einschleusung in die menschliche Nah-rungskette. Ähnlich optimistische Annahmenhinsichtlich der Leistungsfähigkeit von techni-schen Anlagen oder der Wirksamkeit von Stillle-gungen trugen auch dazu bei, dass die Maßnah-men zur Halonbekämpfung nicht wirksam grei-fen konnten. Zwar wurden einzelne Aspekte derBelastung der Allgemeinheit durch Benzol inten-siv bekämpft, doch werden dadurch nicht unbe-dingt die Wege unterbunden, auf denen diegrößte Belastung erfolgt. Ein bemerkenswertesBeispiel ist die unterlassene Entwicklung von Ab-schwächungspraktiken oder gar Warnungen inBezug auf die Benzolbelastung durch Kraftstoffe.In der klinischen Anwendung von Röntgenstrah-len lässt sich die Bedeutung der Festlegung undAnwendung der optimalen Strahlungsdosis für je-de Form der Untersuchung bis 1949 zurückverfol-gen. Und dennoch kann die Dosierung für diesel-be Untersuchung an verschiedenen Krankenhäu-sern immer noch um den Faktor 100 variieren.Im Fall der Wachstumsförderer berücksichtigtenwissenschaftliche Beratungsgremien wie der Ge-meinsame Sachverständigenausschuss für Nah-rungsmittel von WHO und FAO lediglich ein be-grenztes Spektrum von Optionen, unter anderemnur die bei zulässiger Anwendung auftretendenGegebenheiten, und auch nur die Beurteilungenfür einzelne Wachstumsförderer und nicht vonKombinationen. Auch dem Missbrauch vonWachstumshormonen, etwa in höherer als derempfohlenen Dosierung, unsachgemäßer Injizie-rung, der unterlassenen Entfernung von Hormo-nimplantaten aus Schlachttieren und der Nicht-einhaltung von Sperrfristen wurde nur wenig Be-achtung geschenkt.

Eine Lücke zwischen Annahmen und realen Be-dingungen kann sich auch auftun, wenn sich An-wendungen verändern, ohne dass die Regulie-rung entsprechend angepasst wird, wie dies beider Ausweitung der Anwendung von Asbest inVerbraucherprodukten und im Wohnungsbau so-wie zur Isolierung von Boilern der Fall war. Auf-

fallend ist bei Asbest auch wie viele Zeit ver-strich, bis anerkannt wurde, dass unter realen Be-dingungen die Anwender (und sogar die Anwoh-ner in den Wohnvierteln rund um eine Fabrik)ebenso wie die Produktionsarbeiter gefährdet wa-ren. Bezeichnenderweise gelangte 2001 die Beru-fungsinstanz der Welthandelsorganisation (WTO)zu dem Schluss, dass Risikomanagement in Formvon „kontrollierter Anwendung“ unter realen Be-dingungen keinen zuverlässigen Schutz der Ge-sundheit der Arbeitnehmer gewährleiste.

Manchmal wird allerdings auch bewusst gegenVorschriften verstoßen. Neben der bereits ange-sprochenen illegalen Entsorgung von PCB fällthierunter auch die unsachgemäße Anwendungvon antimikrobiell wirksamen Substanzen in derLandwirtschaft, durch die sich die Resistenz wei-ter ausbreitete, und die Umgehung von Regulie-rungsversuchen in der Fischerei, die zur Reduzie-rung der Fischbestände beitrug. Ähnlich unrealis-tisch waren die Annahmen in Bezug auf die Ein-führung von Änderungen in der Praxis britischerSchlachthöfe als wichtiger Teil der Reaktion aufdie BSE-Krise. In Puerto Rico und Italien festge-stellte Akuteffekte bei Menschen wurden der ille-galen oder unsachgemäßen Anwendung vonWachstumsförderern in der Tierproduktion zuge-schrieben, und auch der Schmuggel von Halonenstellt die Wirksamkeit globaler Kontrollmaßnah-men in Frage.

Unzutreffende Annahmen hinsichtlich der rea-len Bedingungen wirken sich auch auf unsereInterpretation von Vorgängen in der natür-lichen Umwelt aus. Die Fallstudie über PCBschildert das erstaunliche Potenzial dieser che-mischen Substanzen (sowie einiger andererorganischer Dauergifte), sich weltweit in denPolregionen besonders zu konzentrieren. Zudemwurde festgestellt, dass bioakkumulierte PCBunter realen Bedingungen eine unverhältnis-mäßig höhere Toxizität aufweisen, mit der Fol-ge, dass deutlich stärkere Effekte auftraten alsbei Versuchen mit den kommerziellen Original-rezepturen. In der Fischerei konzentrieren sichModelle zur Bestandsbeurteilung zumeist aufbestimmte Bestände, während sie die Wechsel-beziehungen zwischen diesen Beständen undanderen Spezies vernachlässigen. Die Auswei-tung des Anwendungsbereichs nach dem Be-standsmodellierungsansatz stellt ein enormes,wenn nicht gar unlösbares Problem dar. Der aufeinen Bestand beschränkte Ansatz allerdingsentspricht nicht den tatsächlichen Bedingun-

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gen. Die unerwarteten Folgen des durch Haloneverursachten Ozonabbaus in der Stratosphäresind ein weiteres Beispiel für die unerwarteteKomplexität der realen Bedingungen. In diesenund in vielen weiteren Fällen ist das Verhaltenrealer natürlicher Systeme nachweislich weitvon den Standardannahmen entfernt, auf diesich behördliche Beurteilungen und die darausfolgernden Entscheidungen stützen. Der Fall derhormonellen Wachstumsförderer macht deut-lich, dass es unter realen Bedingungen auchGruppen besonders sensibler Individuen (z. B.männliche Jugendliche) gibt, die auf Belastun-gen anders reagieren als dies die von der„durchschnittlichen“ Reaktion ausgehendenAnnahmen vermuten lassen.

16.2.6. Die angeführten Vor- und Nachteile systematisch prüfen und abwägen

Ein Aspekt der Diskussionen über Umweltrisikenist die typische Forderung aller Protagonisten,dass dem angeblichen Nutzen der fraglichenTechnologien mehr und systematischere Auf-merksamkeit gewidmet werden müsse. Manchebefürchten, dass eine Überbewertung der Risi-ken oder deren unzutreffende Einschätzung derWürdigung des erhofften Nutzens der vonihnen favorisierten Technologien im Wegestehen könnte. Wieder andere sind in Sorge,dass die Rechtfertigung für neue Technologienund die für sie in Anspruch genommene Effi-zienz nicht kritisch genug beleuchtet würden.Wie auch immer, beide Seiten fordern nichtsweniger als eine zielgerichtetere und systemati-schere Untersuchung der Behauptungen überNutzen und Vorteile einer Technologie odereines Produkts im Rahmen des Prozesses derbehördlichen Beurteilung, die eine Ermittlungund Bewertung der Bedingungen, unter denendiese behaupteten Nutzen oder Vorteile zumTragen kommen, mit einschließt.

Probleme können sich aus der unvollständigenBewertung von Umweltschutzmaßnahmen erge-ben. Die Schornsteine zu erhöhen und auf rauch-frei verbrennende Brennstoffe umzustellen, wareine wirksame Reaktion auf die in den 50er Jah-ren auftretenden schwerwiegenden Atemwegser-krankungen, die auf Schwefelemissionen undLuftverschmutzung in den BallungszentrenEuropas zurückzuführen waren. Doch genau die-se Wirksamkeit könnte verhindert haben, dassdie Problematik des großräumigen Transports

von sauren Gasen und die daraus folgernde Be-schleunigung von Umweltproblemen in beson-ders gefährdeten Regionen rechtzeitig die not-wendige Aufmerksamkeit erfuhr. Dies war einklassisches Beispiel für eine zu kurz greifende„Lösung“, die nur andere, zunächst weniger deut-lich erkennbare Risiken hervorruft. Mit einer stär-ker integrierten Vorgehensweise konnten schließ-lich alle Probleme verringert werden. Ähnlichder Fall bei MTBE: Weil sich MTBE als einfacheLösung für die durch die Bleiemissionen von Mo-torfahrzeugen verursachten schwerwiegendenUmweltprobleme anbot, wurde über die Umwelt-probleme durch Geruchs- und Geschmacksverän-derungen und die Persistenz im Grundwasservielleicht bereitwilliger hinweggesehen als diesansonsten der Fall gewesen wäre. Die Einführungvon hormonellen Wachstumsförderern kannebenfalls als ein Beispiel für eine eng begrenzteund unvollständige Abwägung von Vor- undNachteilen gesehen werden. Fragen der mensch-lichen Gesundheit, möglicher Umweltauswirkun-gen und des Wohls der landwirtschaftlichenNutztiere wurde nach Einschätzung der Autorender entsprechenden Fallstudie „keine signifikanteBedeutung“ beigemessen.

Eine weiterer Aspekt der Schwefeldioxid-Fallstu-die war die sehr unterschiedliche oder als sehrunterschiedlich wahrgenommene Verteilungvon Vor- und Nachteilen auf das Vereinigte Kö-nigreich und die skandinavischen Länder. ImHinblick auf die Auswirkungen auf die natürli-che Umwelt hatte Schweden offensichtlich ammeisten zu leiden. Erst nach Feststellung der –durch die Luftverschmutzung verursachten –schweren Schäden an Gebäuden im VereinigtenKönigreich stellte sich in beiden Ländern die Er-kenntnis ein, dass sie unter den Auswirkungendes sauren Regens litten.

In zwei Fällen, bei BSE und Fischerei (Zusam-menbruch der kanadischen Kabeljaubestände),waren Vor- und Nachteile frühzeitiger Maßnah-men bereits vor Eintreten des Ereignisses aufge-zeigt worden. Da jedoch erhebliche Unsicherheitbestand und geeignete Maßnahmen hohe finan-zielle Kosten nach sich gezogen hätten, wurdenur eingeschränkt gehandelt. Die Folge warenweitaus höhere Kosten (die vielfach vorhergese-hen worden waren), nachdem sich die ergriffe-nen Maßnahmen als unzureichend erwiesen hat-ten. In der Fischerei bringt es, selbst wenn dieBestände nicht zusammenbrechen, beträchtlichewirtschaftliche, soziale und ökologische Vorteile,

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wenn abgefischten Beständen eine Erholungs-phase eingeräumt wird.

Man sollte gemeinhin davon ausgehen können,dass Arzneimittel auf ihre Wirksamkeit über-prüft werden. Im Fall von DES ergaben aller-dings die Daten aus den Versuchen des Jahres1953, dass DES zur Verringerung des Risikos vonSpontanaborten bei bestimmten Gruppen vonSchwangeren unwirksam war und dass DES ein-deutig gesundheitsschädlich war. Dies wurde of-fensichtlich zum damaligen Zeitpunkt nicht klargenug erkannt. Die Folge war, dass das Medika-ment noch viel länger verabreicht wurde als diesmöglicherweise sonst der Fall gewesen wäre; esgab keine Maßnahmen vonseiten der Behördenund die Vermarktung wurde unvermindert wei-tergeführt. Erst 20–30 Jahre später wurde dasMedikament in verschiedenen Ländern tatsäch-lich verboten, nachdem das vermehrte Auftreteneiner seltenen Krebsart in der Vagina der Töch-ter von behandelten Frauen entdeckt wordenwar. Wäre von Beginn an der behaupteten Wirk-samkeit des Medikaments größere kritische Auf-merksamkeit gewidmet worden, hätte ein Teildieser Krebsfälle in der zweiten Generation ver-mieden werden können.

Ein Schritt über die passive Beurteilung der Vor-und Nachteile hinaus wird aktiv vor der Rechtfer-tigung getan. Ionisierende Strahlung ist eines derseltenen Beispiele für die Anwendung eines sol-chen „Rechtfertigungsprinzips“, das in den 50erJahren von der Internationalen Strahlenschutz-kommission entwickelt wurde. Dies war eine Re-aktion darauf, dass in der Zeit davor radioaktiveStoffe für eine Vielzahl von zweifelhaften oder in-effektiven Anwendungen (z. B. zur Behandlungvon Pilzinfektionen der Haut, zur Anpassung vonKinderschuhen, zur kosmetischen Haarentfer-nung oder zur Behandlung von psychiatrischenErkrankungen) genutzt worden waren. Dochselbst bei Anwendung dieses Kriteriums bleibtdie Frage offen, welche Belastung durch ionisie-rende Strahlung durch den Nutzen gerechtfertigtist. Erhebungen der Röntgenpraxis über die letz-ten zehn Jahre haben ergeben, dass zwar dieStrahlungsdosen deutlich reduziert wurden, dassjedoch ein Großteil der medizinischen Röntgen-untersuchungen nach wie vor von zweifelhaftemklinischem Nutzen ist. Die geringere Anwendungvon antimikrobiell wirksamen Substanzen zu-nächst in Schweden kann ebenfalls als ein Bei-spiel für eine Beurteilung der Vor- und Nachteileauf breiterer Grundlage angeführt werden.

Die sachgerechte Zuweisung von Kosten und Nut-zen stellt auch eine wichtige Voraussetzung fürdie optimale Ressourcenaufteilung zwischen ver-schiedenen technologischen Optionen dar. Unterdem allgemeinen Oberbegriff „Verursacherprin-zip“ wird ein riesiges Spektrum an Risikomanage-mentmaßnahmen angeboten, darunter Steuern,Subventionen und Haftungsklauseln, die dieMöglichkeit einer gerechteren Verteilung der imZusammenhang mit Entscheidungen zur Risiko-lenkung entstehenden Kosten und Nutzen bieten.Dadurch, dass etwa bei Asbest, Halonen und PCBdie Berücksichtigung der gesamten Umwelt- undGesundheitskosten in den Marktpreisen unter-blieb, erlangten diese Produkte einen ungerecht-fertigten Marktvorteil. Dies wiederum half, tech-nisch überlegene Ersatzstoffe länger als aus Sichtder Gesellschaft optimal vom Markt fernzuhalten.Wenngleich die Mechanismen zur Internalisie-rung externer Umweltkosten und zur praktischenUmsetzung von Haftungsregelungen umstrittensind, kann auf derartige Maßnahmen nicht ver-zichtet werden, wenn den beiden Ziele der Effi-zienz und der Gerechtigkeit wirksam Rechnunggetragen werden soll.

16.2.7. Alternativen bewerten und stabile, vielfältige und anpassungsfähige Lösungen fördern

Selbst wenn Vor- und Nachteile parallel zueinan-der abgewogen werden, können wichtige Er-kenntnisse aus der Praxis übersehen werden,wenn sich die Aufmerksamkeit nur auf einzelneTechnologien oder Produkte richtet. Hier kommthäufig der Mechanismus zum Tragen, dass, so-bald das Interesse auf eine Technologie einge-grenzt wird, eine Vielzahl institutioneller undmarktbezogener Prozesse greift, die die Entschei-dung für diese Technologie auch dann stützen,wenn sie potenziellen Alternativen eigentlichdeutlich unterlegen ist.

So kann zwar grundsätzlich die Funktion vonMTBE in gleicher Weise von anderen Oxygena-ten wie Bioethanol übernommen oder durchVerbesserungen in der Motortechnik oder durchErhöhung der Oktanzahl der Kraftstoffe erreichtwerden, doch wurden diese Optionen bei derEntscheidung für MTBE offenbar nicht ernsthaftgeprüft. In Kalifornien wurde bei der Suchenach einem Ersatz für MTBE festgestellt, dass al-le vorgeschlagenen Alternativen einer umfassen-den Bewertung unterzogen werden müssen. Die

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Autoren der TBT-Fallstudie merken an, dass „ei-ne umfassendere Berücksichtigung von Proble-men bessere Lösungen hervorbringen kann alsdie simple Substitution einer chemischen Sub-stanz durch eine andere“, und nennen auch Bei-spiele für solche Alternativen. Im Fall der ioni-sierenden Strahlung werden Ersatzlösungen fürdie Röntgendiagnose weiterhin nur wenig ge-nutzt. Die ozonschädigenden Eigenschaften vonFCKW-Substituten der zweiten Generation wur-den möglicherweise ebenfalls einfach deshalbin unverantwortlicher Weise toleriert, weil sie,verglichen mit den vorher verwendeten Stoffen,relativ geringe Auswirkungen haben und weilnicht intensiv genug nach der Existenz verträgli-cherer Substitute oder alternativer Ansätze ge-sucht worden war. Und in der Tierhaltung wer-den zwar in einer wachsenden Zahl europäi-scher Länder effektive Praktiken erprobt, die oh-ne den Einsatz von antimikrobiellen Wirkstoffenin großem Maßstab auskommen, doch werdendiese Alternativen nicht aktiv gefördert.

Dies wirft kritische Fragen hinsichtlich des Ver-hältnisses zwischen behördlichen Prozessen undder Produktentwicklung durch private Unterneh-men auf. Die Förderung und Erzeugung von Al-ternativen muss in einer Kultur der „Öko-Effi-zienz“, der „sauberen Produktion“ und geschlos-sener Wertstoffkreisläufe stattfinden, damit dieGrößenordnung zukünftiger „Überraschungen“hinsichtlich Anwendung und Auswirkungen vonTechnologien möglichst klein gehalten werdenkann. Am Ende des Kapitels werden wir auf dieseFragen zurückkommen.

16.2.8. Neben dem Fachwissen von Sachverständigen auch das Wissen von „Laien“ sowie lokal verfügbares Wissen heranziehen

Wie wichtig es ist, bei der Beurteilung durch dieBehörden darauf zu achten, dass alle maßgebli-chen Disziplinen einbezogen werden, wurde be-reits erwähnt. Eine weitere damit zusammenhän-gende Lehre lautet, dass auch das Wissen von„Laien“ genutzt werden sollte. Als Laien werdenhier unter anderem Industriearbeiter, die Anwen-der der betreffenden Technologien und auch An-wohner angesprochen, da deren Lebensgewohn-heiten und Verbraucherverhalten häufig amstärksten beeinflusst werden. Es geht hierbeinicht darum, dass Laien grundsätzlich bessereKenntnisse hätten oder sich stärker für die Um-

welt engagierten, vielmehr beruht der besondereWert des „Laienwissens“ in dessen ergänzendemCharakter, seiner – wie bereits angesprochen –gelegentlich festeren Verankerung in den realenBedingungen und der damit einhergehenden Un-abhängigkeit von den engen fachbezogenenSichtweisen, die sich mitunter als Nachteil des Ex-pertentums bemerkbar machen. Darüber hinausstützt sich Laienwissen über eine Technologieoder bestimmte Risiken häufig auf andere An-nahmen dessen, was wichtig ist oder welchesAusmaß an Kontrolle begründeterweise zu erwar-ten oder zu verlangen ist, während sich Spezialis-ten einfach ohne weitere eigene Überlegung anden Vorgaben orientieren.

Ein herausragendes Beispiel für den Beitrag vonLaienwissen zum Regulierungsprozess ist die Sen-sibilisierung für neu entstehende Erkrankungs-muster im Arbeitsumfeld. Die Vorgeschichte derAnwendung von Asbest und PCB liefert Beispieledafür, dass den Arbeitern bereits bekannt war,was die Behörden erst später als ein ernstes Pro-blem erkannten. Ähnlich die Tatsache, dass unge-wöhnliche Häufungen von Erkrankungsfällen un-ter den Anwohnern bereits bekannt sind, nochbevor die Behörden dies zur Kenntnis nehmen,wie bei der in der Fallstudie über die GroßenSeen als Beispiel angeführten Verunreinigungdes Gebiets am Love Canal.

Eine weitere Form des Laienwissens betrifft Ab-hilfemaßnahmen. Die Fischerei kennt mehrereBeispiele hierfür, und wenngleich Fischer zuwei-len weniger vorausschauend über den Abbauvon Fischbeständen denken als andere, so lassensich zahlreiche Fälle anführen, in denen die Fi-scher gerne mehr Vorsorge üben würden, je-doch aufgrund von Fehlern im System daran ge-hindert werden. In Kanada und anderen Län-dern ist man heute zunehmend bestrebt, die Fi-scher in die Bewirtschaftung der Bestände ein-zubeziehen und ihr Wissen und ihre Sichtwei-sen möglichst umfassend zu nutzen. Ähnlichesgilt für den Einsatz von antimikrobiellen Wirk-stoffen in der Tierproduktion. Das Wissenschwedischer Bauern über alternative Tierhal-tungstechniken bewog sie dazu, antimikrobielleWachstumsförderer nicht mehr in großem Maß-stab einzusetzen. Damit brachten sie nicht nurwertvolle neue Erkenntnisse in die Diskussionein, sondern waren auch in der Lage, bereits vorder behördlichen Anordnung freiwillige Kon-trollen durchführen. Aus dieser Fallstudie ergibtsich als ein weiterer Gesichtspunkt, dass für die

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wirksame Einführung von weniger schädlichenAlternativen ein breiter fundiertes Wissen erfor-derlich ist – in der Tat eine Grundvoraussetzungdafür, dass die Existenz möglicher Alternativenüberhaupt erkannt wird.

Ein weiterer Aspekt des Laienwissens betrifftdie Fälle, in denen die Arbeitnehmer wissen,dass die Praxis nicht den theoretischen Annah-men der Risikoabschätzung entspricht. So wur-den im Vereinigten Königreich die Vorschriftenfür die Entfernung von Gewebeteilen mit ho-hem Risiko beim Rind in den Schlachthöfenvielfach nicht eingehalten, doch Schwachstellenim Inspektionsprozess führten dazu, dass diesden Behörden nicht zur Kenntnis gelangte. Indiesem Fall waren die Beschäftigten der Bran-che über die betriebliche Realität offenbar bes-ser informiert als hochrangige Behördenvertre-ter und deren Berater.

Selbstverständlich muss das Laienwissen genausosorgfältig einer kritischen Überprüfung unterzo-gen werden wie das Expertenwissen. Laien sindin ihrer Sichtweise nicht immun gegen oder garnoch anfälliger für die in diesen Schlussfolge-rungen genannten Irrtümer und Schwierigkei-ten. Ein Beispiel hierfür ist der als „Pensioners’Party Fallacy“ bekannt gewordene Irrtum unterAsbestarbeitern, die als Beweis für die vermeint-liche Unschädlichkeit von Asbest die Anwesen-heit gesunder Rentner auf der Firmenweih-nachtsfeier anführten.

Unabhängig hiervon können Arbeitnehmer, An-wender und Anwohner mit Sicherheit wichtigeInformationen in den Prozess der behördlichenBeurteilung einbringen. Dies erfordert allerdingsein verstärktes Engagement für die Entwicklungvon Methoden, mit denen Gruppen mit poten-ziell verwertbarem Wissen die Möglichkeit gege-ben wird, dieses Wissen weiterzugeben und mitdenen dieses Wissen auch verwertet werdenkann. Eine solche Erweiterung der Wissensbasiskann den Beurteilungsprozess stärken, zu einerbesseren Politikgestaltung und mehr Demokratieführen und Akzeptanz und Legitimität des Pro-zesses verbessern.

16.2.9. Werte und Ansichten unterschiedlicher sozialer Gruppen berücksichtigen

Möglichst das gesamte verfügbare Wissen zusammeln ist nicht der einzige Beweggrund für

eine Öffnung des Beurteilungsprozesses. Histo-risch gesehen bestehen kaum Zweifel daran,dass die einseitige Ausrichtung von Behörden-meinungen an Expertenurteilen und die man-gelnde Berücksichtigung von Ansichten undWerten der Allgemeinheit zur Verschärfung vongesellschaftlichen und politischen Konfliktenbeitragen können. Dahinter steht – wie bereitsangesprochen – zum Teil auch eine breiter an-gelegte Beurteilung der Vor- und Nachteile. EinZusammentreffen von Spezialisten und Interes-sengruppen mit unterschiedlichen Standpunk-ten kann produktiv sein, indem es dazu bei-trägt, dass der Ansatz überdacht wird, und dieÜberprüfung der impliziten Annahmen aller Be-teiligten erlaubt. Das Beispiel der schwedischenBauern in der Fallstudie über antimikrobielleWirkstoffe zeigt, wie Laienmeinungen mithelfenkönnen, dass sichergestellt wird, dass der Pro-zess der behördlichen Beurteilung an den vor-herrschenden ethischen und soziokulturellenWerten ausgerichtet bleibt (oder wird).

Dieser Ansatz beinhaltet, dass sich Intuitionen,die in den Werten der Allgemeinheit zum Aus-druck kommen, gelegentlich als äußerst bestän-dig gegenüber behördlichen Vorgaben erwei-sen. Vorbehalte gegenüber Situationen, die weitjenseits der Grenzen der allgemeinen Erfahrungliegen, oder zumindest der Wunsch nach einervorsichtigen Vorgehensweise lassen sich sicher-lich als rationale Reaktion auf Unsicherheit be-gründen. Ein zentraler Aspekt der Reaktion derAllgemeinheit auf die zunehmenden Beweisefür BSE Ende der 80er Jahre waren Überra-schung und Abscheu gegenüber der Tatsache,dass Schlachtabfälle und Tiermehl an Wieder-käuer verfüttert werden. Es scheint wahrschein-lich, dass zumindest die Größenordnung dernachfolgenden BSE- und CJD-Problematik we-sentlich geringer ausgefallen wäre, wenn anWiederkäuer keine Schlachtabfälle verfüttertworden wären. Gleiches trifft auf den Einsatzvon antimikrobiellen Wirkstoffen in der Tierpro-duktion zu: Wäre das weit verbreitete Unbeha-gen der Allgemeinheit stärker beachtet worden,wäre die Entwicklung von resistenten Organis-men nicht außer Kontrolle geraten. Die Fische-reistudie veranschaulicht, in welchem Umfangdie Ziele einer vorsorgenden Vorgehensweise –Vorbeugung des Zusammenbruchs von Bestän-den, Aufrechterhaltung maximal nachhaltigerErträge oder Gewährleistung des Schutzes ande-rer Arten – von den Wertvorstellungen der je-weiligen Interessengruppen abhängen.

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16.2.10. Die Unabhängigkeit von Behörden gegenüber wirtschaftlichen und politischen Sonderinteressen bewahren

Ein wichtiger Aspekt bei einem breiter angeleg-ten Ansatz der behördlichen Beurteilung ist dieWahrung einer angemessenen Distanz zwischenden für die Beurteilung Verantwortlichen undverschiedenen konkurrierenden Interessengrup-pen, die deren Entscheidungen zu beeinflussensuchen. Sicherlich müssen im Zuge des Beurtei-lungsprozesses Behauptungen bezüglich Vor- undNachteilen von den Betroffenen aktiv vorgetra-gen und untermauert werden. Die anschließendeAbwägung zwischen den konkurrierenden Be-hauptungen ist dann die Aufgabe unabhängigerInstitutionen, die für ihre Entscheidungen auchin die Pflicht genommen werden können.

Die Fallstudien belegen, dass Interessengruppennicht selten Behörden in unerwünschter Weisebeeinflussen. Die Folge: Entscheidungen, dieeigentlich aufgrund vorliegender Beweise hättengetroffen werden müssen, unterblieben. Benzolwurde bereits 1897 als starkes Knochenmarksgiftnachgewiesen; die Möglichkeit akuter Auswirkun-gen von Asbest auf die Atemwege war seit 1898 be-kannt, und die ersten Fälle einer durch PCB ausge-lösten Chlorakne wurden bereits 1899 dokumen-tiert, die Auswirkungen von PCB auf Arbeiter kann-te man seit Ende der 30er Jahre. Doch erst in den60er und 70er Jahren wurden bei der Eindäm-mung der durch diese Substanzen verursachtenSchäden deutliche Fortschritte erzielt. Ein Grundfür die späte Reaktion auf BSE im Vereinigten Kö-nigreich bestand darin, dass sich die staatlicheAufsichtsbehörde in erster Linie gegenüber der In-dustrie und erst in zweiter Linie gegenüber denVerbrauchern verantwortlich sah. Ähnlich die Si-tuation bei der zeitweiligen Aufhebung des Verbotsfür den Einsatz von DES als Wachstumsförderer inden USA auf erheblichen Druck der Agrarlobby –obwohl Alternativen zur Verfügung standen.

Bemerkenswert ist auch die schwache Begrün-dung mancher lange Zeit gültiger „Widerlegun-gen“ kritischer Erkenntnisse. Dies gilt für die Er-mittlung von PCB als weit verbreitete Umweltgif-te in den 60er Jahren genauso wie für die briti-sche Reaktion auf die Auswirkungen des saurenRegens in den 70er und frühen 80er Jahren. As-best liefert ein eindeutiges Beispiel für Behinde-rung und Fehlinformation zwecks Besitzstand-wahrung und für dramatische Fehleinschätzun-gen im weiteren Verlauf. Die zahlreichen medizi-

nischen und pathologischen Beweise hatten zwarnur wenig Auswirkung auf die behördliche Wahr-nehmung, doch reichten sie aus, um bei Teilender US-amerikanischen und kanadischen Versi-cherungsbranche bereits 1918 Bedenken hinsicht-lich der weiteren Abdeckung dieses Schadensrisi-kos auszulösen – eine vorsorgliche Einstellung,die ironischerweise bei zunehmender Eindeutig-keit der Beweislage nicht beibehalten wurde, wassich als ein Fehler herausstellte, der die Versiche-rungsindustrie Milliarden Dollar kosten sollte.Und auch nachdem die krebserregende Wirkungvon Benzol auf Menschen eindeutig nachgewie-sen worden war, wurde die Einleitung von ent-sprechenden Gesundheitsschutzmaßnahmen wei-terhin mit der Behauptung behindert, dass imTierversuch noch nicht genügend Beweise für diekarzinogene Wirkung erbracht worden seien. Sol-che nachweislich falschen Behauptungen (z. B.gestützt auf grundlegende Statistikfehler) gab esauch später in Bezug auf Beweise für die Folgenbereits sehr niedriger Benzolbelastungen.

Und selbst wenn die Beweislage nicht grundsätz-lich in Frage gestellt wird, werden gelegentlichDaten und Berichte zurückgehalten oder Journa-listen eingeschüchtert, wie dies in der Fallstudieüber die Großen Seen berichtet wird. Im Fall derantimikrobiell wirksamen Substanzen wurdenForschungsarbeiten, von denen zu erwarten war,dass sie kritische Positionen untermauern wür-den, einfach zurückgestellt. Im Fall von BSE undAsbest wurden durch nichts zu rechtfertigendeAnstrengungen unternommen, um unabhängigeKritiker in Misskredit zu bringen. Im kaliforni-schen Streit um die Sardinenfischerei wurden inden 30er Jahren unliebsame Wissenschaftler vonden Behörden entlassen. Den Überbringer beun-ruhigender Nachrichten dafür büßen zu lassen,ist seit Galileo durchaus üblich, doch dem Ge-meinwohl ist dies nur in den seltensten Fällen zu-träglich. BSE liefert ein eindrückliches Beispiel da-für, wie von unabhängigen Sachverständigengre-mien bei der Beratung der Behörden aufgrundihrer Einschätzung, was „realistisch“ oder „er-reichbar“ sei, Selbstzensur geübt wurde. DasSouthwood BSE Committee gelangte 1988 zu demSchluss, dass ein grundsätzliches Verbot der Ver-arbeitung von Rinderhirn in der menschlichenNahrungskette zwar wissenschaftlich gerechtfer-tigt, politisch jedoch nicht realisierbar sei.

Bei behördlichen Beurteilungen kommt es häufigzu Fehleinschätzungen, weil die Entscheidungs-träger bei der Risikoabschätzung auf Informatio-

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nen eben derjenigen Akteure angewiesen sind,deren Produkte beurteilt werden. UnabhängigeInformationsquellen sind eine notwendige, wennauch noch nicht hinreichende Voraussetzung füreine unabhängige, strenge und vertrauenswürdi-ge Beurteilung durch die Behörden. Unabhängi-ge Informationen über Risiken und mögliche Ri-siken lagen in den untersuchten Fallbeispielenhäufig nicht vor. Bei einigen der vorgenanntenBeispiele, z. B. bei Benzol, PCB, Asbest, Halonenund DES, waren die Gefahren seit langem be-kannt, bevor behördliche Maßnahmen beschlos-sen wurden. Nicht in allen Fällen wird allerdingsdie verzögernde oder verzerrende Wirkung nichtunabhängiger Informationsquellen deutlich. Unddoch geht die Veröffentlichung von Beweisen fürRisiken gelegentlich mit heftigen, doch häufigverdeckten Auslegungstricksereien einher, mitdenen versucht wird, Untätigkeit zu rechtferti-gen. Schwerlich zu bestreiten ist allerdings, dassdie Auslegungsdiskussion über politische Maß-nahmen offener und pluralistischer geführt wor-den wäre, wären entsprechende Informationen,welcher Provenienz auch immer, als rechtmäßigeKontrollinstrumente wahrgenommen und von ei-nem unabhängigen öffentlichen Gremium ver-breitet worden, dessen zentrale Aufgabe die Wei-tergabe für das Gemeinwohl wichtiger Informa-tionen ist. Unterschiedliche Interessenlagen wä-ren gerechter, umfassender und vermutlich ratio-naler dargestellt worden. Unabhängige Informa-tionseinrichtungen, ausgestattet mit entsprechen-den Rechte, Mitteln und Verantwortlichkeitensind somit ein wesentliches Element wahrer Un-abhängigkeit der Behörden und von unbeein-flussbarer Führung und Urteilskraft. Dieser Tatsa-che wird zunehmend Rechnung getragen, indemetwa Beratungsausschüsse von den den „Produ-zenten“ nahestehenden Generaldirektionen derEuropäischen Kommission (z. B. Landwirtschaft)zur Generaldirektion Gesundheit und Verbrau-cherschutz verlagert werden. Die Einrichtung un-abhängiger Lebensmittelbehörden in einigenMitgliedstaaten und auch auf EU-Ebene ist eben-falls ein Zeichen für den Wunsch nach unabhän-gigeren Einrichtungen zur Risikobeurteilung.

16.2.11. Institutionelle Hindernisse für die Lernentwicklung und Handlungs-möglichkeiten erkennen und beseitigen

Die fortschreitende Entwicklung der Szenarienbei Asbest, Benzol und PCB seit Ende des 19. Jahr-hunderts liefert vielfältige Beispiele dafür, wie

sich kurzzeitige Horizonte, insbesondere Wahl-und Geschäftszyklen, mittel- und langfristig zu-ungunsten des Gemeinwohls auswirken können.Allerdings können institutionelle Hindernisse, diedem rechtzeitigen Schutz von Gesundheit undUmwelt entgegenstehen, auch andere Formenannehmen. Aus den Fallstudien werden drei wei-tere Bereiche deutlich, aus denen sich Schwierig-keiten ergeben können: Schwierigkeiten auf-grund langer Übergangszeiten (z. B. bei der Ge-schäftsübergabe aufeinander folgender gewähl-ter Gremien) oder aufgrund von Spannungenzwischen verschiedenen Ministerien oder Regie-rungsebenen und „deren“ Behörden und auf-grund von Meinungsverschiedenheiten, die aufunterschiedliche nationale Vorgehensweisen zu-rückzuführen sind.

Ein Beispiel für einen Fall, in dem ein Regie-rungswechsel dazu beigetragen haben könnte,dass vorhandenes Wissen unzureichend umge-setzt wurde, ist BSE. Im Vereinigten Königreichempfahl 1979 eine von der Regierung eingesetzteKommission die Festlegung von Mindestvorschrif-ten für die Verarbeitung in den Schlachthöfen.Die neue Regierung beschloss im selben Jahr dieRücknahme der daraufhin ausgearbeiteten Ver-ordnungsentwürfe, weil diese ihrer Meinungnach eine unnötige Belastung der Branche dar-stellten. Es lässt sich nicht eindeutig feststellen,inwieweit solche strikteren Vorgaben tatsächlichden späteren Ausbruch von BSE verhindert hät-ten, doch fällt auf, dass die Einführung entspre-chender Vorschriften 1996 eine der wichtigstenReaktionen ebendieser Regierung auf die BSE-Kri-se waren.

Ähnlich der Fall in der kalifornischen Sardinenfi-scherei: Das Vorsorgeprogramm zur Bestandser-haltung wurde bei einem Regierungswechselaufgehoben. Die kalifornische Fischerei bietetauch ein anschauliches Beispiel für Spannungenzwischen verschiedenen Regierungsebenen, dasallerdings bereits aus den 30er Jahren datiert.Die von der kalifornischen Staatsbehörde emp-fohlene Vorsorgemaßnahme stieß bei der Fische-rei-Bundesbehörde auf heftigen Widerspruch, dasie die gewerblichen Aktivitäten in unzulässigerWeise beeinträchtige. Ein Beispiel für ähnlichgestörte Kommunikation zwischen verschiede-nen Ministerien liefert die BSE-Krise im Vereinig-ten Königreich. Das Gesundheitsministeriumwurde vom Landwirtschaftsministerium erst 17Monate nach Eingehen der ersten Warnungenüber das Auftreten der neuen Krankheit unter-

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richtet, und auch dann nur, weil für einen Be-schluss über den Ausschluss von klinisch betrof-fenen Rindern aus der menschlichen Nahrungs-kette die Zustimmung des Gesundheitsministeri-ums benötigt wurde. Die Beziehungen zwischenBehörden und Regierungen gestalten sich nichtselten schwierig, wenn letztere auch auf aus-drücklich unabhängige Behörden in mehr oderminder subtiler Form Einfluss zu nehmen su-chen. Schwierigkeiten kann es auch geben,wenn die Behörde aufgrund zurückliegenderEntscheidungen Teil des Problemfelds wird. Bei-de Situationen veranschaulicht die BSE-Krise, beider Erkennung und Anerkennung des Problemsinfolge politischer Rücksichtnahmen (wegen derwirtschaftlichen Auswirkungen auf die Agrarin-dustrie) und durch die Sorge, dass mangelndeKonsistenz die Glaubwürdigkeit der Regierungund der Behörden untergraben könnte, beein-flusst und verzögert wurden.

Skepsis hinsichtlich der wissenschaftlichen Er-kenntnisse anderer Länder prägte die Grundein-stellung der Behörden im Vereinigten König-reich, als es Mitte der 80er Jahre um die Schwe-felemissionen ging. Während Forschungsergeb-nisse, die sowohl die Schwere der Auswirkungenauf die Umwelt als auch die Identität der Verur-sachersubstanz belegten, in Norwegen bereits1976 anerkannt wurden, wurde im VereinigtenKönigreich die wissenschaftliche Begründung füreinen Kausalzusammenhang erst 1985 aner-kannt. Wie bereits geschildert, war während die-ses gesamten Zeitraums das Für und Wider indieser Frage zwischen den widerstreitenden Par-teien ungleich verteilt, und es wäre wenig über-raschend gewesen, wenn dies nicht die Skepsisim Vereinigten Königreich beeinflusst hätte.

Ähnlich gelagert waren die Spannungen zwi-schen Schweden und der EU im Fall der antimi-krobiellen Wirkstoffe, wobei sich unterschiedli-che Regulierungssysteme auf unterschiedlicheAnnahmen stützten. Wie auch immer man dasFür und Wider in der Auseinandersetzung bewer-tet, die Erfordernisse der EU-Mitgliedschaft stell-ten ein institutionelles Hindernis für die weitereDurchführung einer einzelstaatlichen politischenMaßnahme dar. Auf anderer Ebene erfordernweltweite Probleme sicherlich ein weltweites Rea-gieren. Dies machen die äußeren Umstände imFall TBT deutlich. Hier hängt ein wirksames Vor-gehen, das die Verwendung von Bioziden in Fäul-nisschutzanstrichen von Handelsschiffen, dieweltweit verkehren, regelt, von einer Einigung in

internationalen Institutionen wie der Weltschiff-fahrtsorganisation ab.

Im Fall von BSE ist bemerkenswert, dass Mitte der70er Jahre den Vereinigten Staaten und dem Ver-einigten Königreich dieselben wissenschaftlichenNachweise für die Übertragbarkeit von Scrapieund die möglichen Verbindungen zwischen Scra-pie und CJD zugänglich waren. Diese veranlass-ten zwar das US-amerikanische, nicht jedoch dasbritische Landwirtschaftsministerium zu der Ent-scheidung, dass mit Scrapie infizierte Tiere nichtin die menschliche oder tierische Nahrungsmit-telkette gelangen durften. Auch der unterschied-liche Zeitpunkt nationaler Beschlüsse über dieVerwendung von DES als Arzneimittel und alsWachstumsförderer in der Tierzucht macht deut-lich, wie unterschiedlich Entscheidungen ausfal-len können, auch wenn ihnen dieselben Informa-tionen zugrunde liegen. Institutionelle Hindernis-se spielten offenkundig bei diesen und anderenBeispielen eine wesentliche Rolle.

16.2.12. „Paralyse durch Analyse“ vermeiden

Grundtenor der bisherigen Lehren ist die Forde-rung nach mehr Wissen, zum Beispiel durch dasErkennen von Schwachpunkten in der Wissen-schaft und Hinzuziehung von weiteren Diszipli-nen, Laienwissen und lokal verfügbarem Wissensowie durch Berücksichtigung der Perspektivenunterschiedlicher sozialer Gruppen. Eine mögli-che Antwort liefert aber auch die Frage, wie vieleInformationen vorliegen müssen, um Maßnah-men zur Verringerung potenzieller Risiken zurechtfertigen. Eine offenkundige Sorge gilt derGefahr der „Paralyse durch Analyse“, also demFall, dass entweder ein Informationsüberhangoder mangelnder politischer Wille verhindert,dass rechtzeitig Maßnahmen zur Risikominde-rung ergriffen werden. Ein Beispiel hierfür ist dieeindeutig gegen Vorsorgemaßnahmen gerichtete„Zwangsjacke“ für die Benzolregulierung durcheinen Beschluss des US-Supreme Court, mit demimmer neue Informationen gefordert wurden,bevor behördliche Maßnahmen zur Risikomini-mierung ergriffen werden konnten.

Von Expertenseite wurde häufig bereits frühzei-tig argumentiert, man wüsste genug, um Schutz-maßnahmen zu ergreifen. Im Fall der antimikro-biellen Wirkstoffe zog das britische Swann-Komi-tee 1969 die Schlussfolgerung: „Trotz der vor-handenen Wissenslücken ... sind wir ... aufgrund

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der uns vorliegenden Beweise der Überzeugung,dass diese Beurteilung eine tragfähige Hand-lungsgrundlage bildet ... die Forderung nachweiteren Forschungsarbeiten darf unsere Emp-fehlungen nicht beeinträchtigen.“ Weitere Fall-studien, z. B. zu Asbest und BSE, legen nahe,dass weitere oder intensivere Forschungsarbeitenzu einem früheren Zeitpunkt dazu beigetragenhätten, künftige Kosten zu minimieren. Ähnlichargumentierte im Fall der Fischerei der Beiratfür grundsätzliche Fragen der Ökosysteme desUS-Kongresses: „Es wird immer nicht gemesseneGrößen, nicht berücksichtigte Zufallseffekte undsubstanzielle Unsicherheiten geben, doch lieferndiese keine Entschuldigungen, die ein Hinauszö-gern der Einführung einer am jeweiligen Ökosys-tem ausgerichteten Bewirtschaftungsstrategierechtfertigen würden.“

Andererseits wird in der Fallstudie über die Gro-ßen Seen aufgezeigt, dass durch die Öffnung fürweitere Disziplinen die Unsicherheit nur größerwurde und dass dies letztlich zu einer Paralysedurch Analyse bei der Anwendung des Vorsorge-prinzips führte. Bei den Großen Seen ergibt sicheine höchst wichtige Fragestellung, die am bes-ten zu verstehen ist, wenn man den wesentlichenUnterschied zwischen dieser und den übrigenFallstudien deutlich macht. Die meisten Fallstudi-en betreffen Bedenken hinsichtlich bestimmterSubstanzen. Dabei geht es um die „prospektive“Risikoabschätzung, bei der – ausgehend von ei-ner Substanz – mögliche Auswirkungen unter-sucht werden. Die Großen Seen sind hingegenein Beispiel für einen ganz anderen, „retrospekti-ven“ Prozess. Am Anfang steht hierbei die Doku-mentation einer Reihe bereits festgestellter Aus-wirkungen auf Gesundheit oder Umwelt, wobeinach den als Auslöser in Frage kommenden Sub-stanzen gesucht wird. Die Ausweitung der pro-spektiven Beurteilung stellt insofern einen vorsor-genden Ansatz dar, als sie dazu führt, dass einegrößere Zahl möglicher Auswirkungen unter-sucht wird. Die Ausweitung einer retrospektivenBeurteilung kann hingegen zur Folge haben, dassUnsicherheiten hinsichtlich der Grundlage fürdie Regulierung einzelner Substanzen in den Pro-zess hineingetragen werden.

Wie bereits mit Blick auf die Überwachung fest-gestellt, kann es nicht als vorsorgliche Maßnah-me gelten, wenn Einschränkungen in Bezug aufdie falschen Substanzen gefordert werden. Aller-dings gilt das Vorsorgeprinzip in gleichem Maßefür Unsicherheiten bezüglich Substanzen wie für

Unsicherheiten bezüglich der Auswirkungen.Wenn bei einem breit angelegten retrospektivenProzess wissenschaftliche Unsicherheiten oderZweifel hinsichtlich der Gründe aufgeworfen wer-den, die dazu führten, dass eine bestimmte Sub-stanz im Mittelpunkt der Untersuchungen steht,kann das Vorsorgeprinzip dennoch, und zwarvöllig zu recht, geltend gemacht werden, um dieWeiterführung von Maßnahmen gegen dieseSubstanz so lange zu verteidigen, bis diese Unsi-cherheiten ausgeräumt sind.

Die Tatsache, dass das Vorsorgeprinzip im Fallder Großen Seen nicht unter dieser Prämisse inAnspruch genommen wurde, sagt mehr über dieWerturteile im vorherrschenden juristischen undsoziopolitischen Kontext aus als über immanenteInkonsistenzen im Vorsorgekonzept selbst. Wel-che Aussichten für eine erfolgreiche Berufungauf das Vorsorgeprinzip bestehen, hängt davonab, in welcher Kultur diese Berufung erfolgt.Wenn diese Kultur nicht handlungsbereit ist, ob-wohl Nachweise über Ursache und Wirkung ge-führt werden können, wird die Berufung auf dasVorsorgeprinzip kaum zum Erfolg führen. In derRealität weist die ordnungspolitische und sonsti-ge Kultur der einzelnen Gesellschaften eine Viel-zahl von Schattierungen zwischen diesen Extre-men und selbst zwischen verschiedenen ord-nungspolitischen Untergliederungen der Kultu-ren auf (z. B. die unterschiedliche Vorgehenswei-se in den USA in den Fallstudien zu BSE, Fische-rei, MTBE, Benzol und den Großen Seen).

Ob nun durch die Forderung nach mehr Informa-tion die Gefahr einer „Paralyse durch Analyse“wächst oder ob sie nur Bestandteil einer „über-legten und sorgfältigen Bewertung“ der Situationist, wird dadurch beeinflusst, wie der Einzelneoder die verschiedenen sozialen Gruppen oderInteressengruppen die sie betreffenden wahr-scheinlichen Vor- und Nachteile beurteilen.Wenn die frühzeitige Einleitung von Vorsorge-maßnahmen deutliche Vorteile bringt und dienegativen Folgen als relativ gering wahrgenom-men werden, und wenn sie sich gleichmäßig aufdie Interessengruppen verteilen, dann ist eswahrscheinlich, dass frühzeitige Maßnahmen er-wogen werden. Wenn die Vorteile allerdings we-niger gewiss und – ebenso wie die Kosten – sehrungleich auf verschiedene Interessengruppenoder Zeiträume verteilt sind, dann wird esschwieriger, über den angemessenen Umfangvon Forschungsarbeiten oder über Maßnahmenzur Risikominderung Einigkeit zu erzielen.

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Natürlich kann es sein, dass es in bestimmtenFällen notwendig ist, Innovationen in einem be-stimmten Bereich oder einer technologischenRichtung gravierend einzuschränken oder gar zuunterbinden, wenn die Gesellschaft die Risikenfür nicht annehmbar erachtet. Doch ist es einimmenser Unterschied, ob eine bestimmte Inno-vationsrichtung unterbunden oder ob die Inno-vationstätigkeit in alternative Richtungen kanali-siert wird. Wie in den Fällen von Asbest, der Ha-lone, PCB und antimikrobiell wirksamen Sub-stanzen veranschaulicht, kann die Einschrän-kung einer bestimmten Option sogar zur Förde-rung und Intensivierung der Innovationstätigkeitin anderen Bereichen beitragen. Hieraus kannsogar ein Wettbewerbsvorteil für die Wirtschaf-ten derjenigen Länder erwachsen, die in diesenInnovationsbereichen führend sind. Die intelli-gente Anwendung von Vorausschau und Vorsor-geprinzip kann somit nicht nur die Gesamtkos-ten bestimmter wirtschaftlicher Entwicklungenfür die Gesellschaft verringern, sondern kann dieInnovationstätigkeit anregen, eine bessere undverstärkt systemorientierte Entwicklung der Wis-senschaft fördern und öffentliche Entscheidungs-prozesse verbessern.

Auf einige dieser weiter reichenden Auswirkun-gen eines vermehrt am Vorsorgeprinzip orien-tierten Ansatzes gegenüber potenziellen Risikenund Innovationen wird im nächsten Abschnittnäher eingegangen.

16.3. Die weiter reichenden Auswirkungen der Vorsorge

Die oben dargestellten 12 allgemeinen Lehrenfür die Politikgestaltung im Falle von Risiken fol-gen einer Reihe von Kriterien. Erstens basierensie auf den empirischen Details der einzelnenFallstudien. Zweitens sind sie so allgemein formu-liert, dass sie auf praktisch jede Problemstellungim Risikomanagement angewendet werden kön-nen. Drittens setzen sie sich in ihrer Gesamtheitmit einem ausgewogenen und recht umfassen-den Spektrum von Überlegungen auseinander,das einen Großteil der aktuellen Diskussion überden Umgang mit Risiken und die Anwendungdes Vorsorgeprinzips abdeckt. Und viertens sindsie zwar zwangsläufig allgemein gehalten, dochdabei konkret genug, um als Grundlage für poli-tische Maßnahmen und institutionelle Verfahrendienen zu können, auch wenn die genaue Vorge-

hensweise im Einzelfall notwendigerweise vonden wechselnden örtlichen Bedingungen be-stimmt wird.

So gesehen ist es schlichtweg unmöglich im Rah-men einer einzigen Erörterung oder in einerGruppe von „Lehren“ das gesamte Spektrum unddie Vielfalt ins Detail gehender praktischer Vor-sorgemaßnahmen und -verfahren zu behandeln,geschweige denn die spezifischen kontextbezoge-nen Überlegungen im Zusammenhang mit ihrerAnwendung zu beleuchten. Derartige Fragensind Gegenstand umfangreicher und in ihrerZahl weiter zunehmender Abhandlungen (siehez. B.: O’Riordan und Cameron, 1994; Hardingund Fisher, 1999; Raffensperger und Tickner1999; Stirling, 1999; O’Riordan et al., 2001). Zwarist dort nicht in jedem Fall von „Vorsorge“ die Re-de, doch wurden viele dieser Lehren auf derGrundlage einer Vielzahl einflussreicher politi-scher Studien entwickelt und ausgearbeitet, diein den letzten Jahren in den Industrieländerndurchgeführt wurden.

In den USA beispielsweise dokumentierten diewegweisende Studie des National ResearchCouncil (NRC) unter dem Titel „Understandingrisk“ (NRC, 1996) und der vom Präsidialausschussvorgelegte Folgebericht (Omen et al., 1997) dieGrenzen der herkömmlichen eingeschränktenRisikoabschätzung und machten deutlich, wiewichtig es ist, interdisziplinäre Gesichtspunkte,Laienwissen und divergierende Standpunkte vonInteressengruppen in die Charakterisierung vonRisiken und die Festlegung der geeigneten He-rangehensweise bei der Risikoabschätzung einzu-beziehen. Im Bericht der britischen Royal Com-mission on Environmental Pollution aus demJahr 1998 wird dieses Thema weiter vertieft(RCEP, 1998); dabei wird die potenzielle Bedeu-tung von Unsicherheit und unterschiedlichen„Rahmenannahmen“ für Gestaltung und Inter-pretation der behördlichen Beurteilung unter-strichen. In Frankreich (Kourilsky und Viney,1999) wurde in Empfehlungen zur Anwendungdes Vorsorgeprinzips die Notwendigkeit unter-strichen, das auf nationaler Ebene vorhandeneFachwissen systematisch zu organisieren unddabei neben dem wissenschaftlichen und techni-schen Fachwissen auch die wirtschaftlichen undsozialen Aspekte nicht zu vernachlässigen. InDeutschland bekräftigt der Wissenschaftliche Bei-rat der Bundesregierung Globale Umweltverände-rungen – WBGU (WBGU, 2000) die Bedeutungbreiter angelegter Diskurse, während man sich in

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Schweden bei der Aufstellung der politischenLeitlinien für chemische Substanzen auf viele derhier aufgeführten Lehren stützte, die die grundle-genden Grenzen der Risikoabschätzung – insbe-sondere die Heranziehung von Persistenz undBioakkumulation als Prüfgrößen für unbekannte,aber mögliche Auswirkungen – betreffen.

Von Fachleuten wurden darüber hinaus die allge-meinen Aussagen dieser Lehren in Bezug auf diestrukturellen Einschränkungen der Risikoabschät-zung in den EU-Vorschriften über genetisch ver-änderte Organismen (GVO) im Detail ausformu-liert (van Dommeln, 1997). Im Lichte dieser über-zeugenden Kritiken an dem überzogen minima-listischen und einengenden Charakter der wis-senschaftlichen Risikoabschätzung im Fall derGVO in Europa sollte daran erinnert werden, dassebendiese in der EU praktizierte Risikoabschät-zung von den US-Behörden als in irrationalerWeise übertrieben angesehen wird, gemessen andem, was dort als „vernünftige Wissenschaft“gilt. Jedenfalls wird mehr als deutlich, dass inden meisten dieser Fälle eine wissenschaftlicheFormulierung der Fragestellungen, gerade so alswären sie alle mit vorhandenem oder verfügba-rem Wissen über die Risiken lösbar, völlig unvoll-ständig ist – und dies nicht nur mit Blick auf dieAntworten, sondern insbesondere mit Blick aufdie Fragen, die als vordringlich gelten, selbstwenn ihre Beantwortung nur unter Schwierigkei-ten oder eben gar nicht möglich ist.

In Dänemark und den Niederlanden hat mandiese weiter reichenden Dimensionen erkanntund verfolgt nunmehr breit angelegte, praxisbe-zogene institutionelle Verfahrensweisen wie Kon-senskonferenzen und Szenario-Workshops, mitdenen versucht wird, Fragen und Wertvorstellun-gen der Allgemeinheit in Bezug auf wissenschaft-lichen Annahmen über die Antworten zu formu-lieren; diese Vorgehensweise fand zuletzt zahlrei-che Nachahmer (Renn et al., 1996). Im Vereinig-ten Königreich wurden in jüngster Zeit neue„Strategiekommissionen“ zu Lebensmitteln, Hu-mangenetik sowie GVO in Landwirtschaft undUmwelt eingesetzt, mit denen im Prozess der Ri-sikoabschätzung der in den hier genannten Leh-ren vorgeschlagene Weg der Öffnung beschrittenwird. Im Zuge eingehender politischer Beurtei-lungen zu Themen wie BSE (Phillips et al., 2000)und Mobiltelefone (IEGMP, 2000) wurden ver-schiedene dieser Lehren im Detail beleuchtet. Da-bei wurden konkrete Empfehlungen aufgestellt,wie mit Problemen wie institutionellen Interes-

senkonflikten und unrealistischen Erwartungenbezüglich der Rolle der Wissenschaft als Prüf-stein oder Schiedsrichter für ultimative Wahrhei-ten umzugehen sei.

Die zwölf Lehren dürften bei der politischen Ent-scheidungsfindung wertvolle Hilfestellung leis-ten. Allerdings sollte man sich davor hüten, sichallzu sehr auf eine Sammlung von Anleitungendafür zu verlassen, wie im Einzelfall eine „vorsor-gende Vorgehensweise“ auszusehen hat. Die An-wendung des Vorsorgeprinzips setzt ein Heran-ziehen des gesamten Spektrums an Methoden,Verfahren und Instrumenten voraus, von denensich viele im gleichen Rahmen bewegen wie diegebräuchlichen Ansätze für das Risikomanage-ment. Die Aufgabe, eine Entscheidung für ein be-stimmtes Spektrum von Reaktionen statt für einanderes zu treffen, muss notwendigerweise aufeiner bestimmten Ebene im Wesentlichen der Po-litik überlassen bleiben und unterliegt damit allden üblichen Prozessen der rationalen politi-schen Beratung, fachlichen Prüfung und demo-kratischen Diskussion und Rechenschaftspflicht.

Abschließend sei daran erinnert, dass das Vorsor-geprinzip ein umweltpolitisches Konzept war, wo-bei jedoch richtigerweise erkannt wurde, dass ei-ne konstruktive und wirksame Umweltpolitik dieEinbindung von Umweltzielen in alle Bereicheder Entscheidungsfindung ebenso wie das Enga-gement von Technik und auch Politik erfordert.Es ist daher einleuchtend, dass ein geeigneterRahmen für wohl abgewogene und wirksamevorsorgende Politikgestaltung diesen weiter ge-fassten Aspekten, wenn auch nur indirekt, Rech-nung tragen muss. Über die 12 Lehren hinauswird eine Anzahl allgemeinerer Grundsätze undkonkreter Botschaften für die Praxis vorgeschla-gen, welche die Zusammenhänge zwischen Vor-sorge und Wissenschaft, Vorsorge und Innovati-on sowie Vorsorge und Lenkung betreffen.

16.3.1. Vorsorge und Wissenschaft

Das Vorsorgeprinzip wirft wichtige Fragen an dieWissenschaft auf. Zum Teil betreffen sie Aspekte,die gemeinhin als die „Wirkmechanik der Wis-senschaft“ betrachtet werden könnten, wie Fra-gen des statistischen Nachweises und die Formu-lierung von Hypothesen. Darüber hinaus geht esaber auch um grundlegende interdisziplinäreFragen, die das eigentliche Wesen der Wissensbe-schaffung betreffen.

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„Statistischer Nachweis“ und die Formulierung von Hypothesen

In den Umweltwissenschaften werden Fragen zuNachweisbarkeit und Vorsorge oft durch die Aus-legung von Statistiken aufgeworfen. Da eine Hy-pothese (z. B. „alle Schwäne sind weiß“) nicht be-wiesen, sondern nur widerlegt werden kann(durch die Entdeckung des australischen Konti-nents und des australischen schwarzen Schwans),geht es bei der Statistik darum, die Unrichtigkeiteiner „Nullhypothese“ nachzuweisen. Dies ist dasGegenteil der betreffenden Hypothese, beispiels-weise, dass Konzentrationen von chemischenSubstanzen gestiegen sind. Wenn ein Anstieg, ge-messen an einem beliebigen Schwellenwert, ei-nen Wert überschreitet, der als zufällige Fluktua-tion zu erwarten wäre, wird die Nullhypotheseverworfen und es wird angenommen, dass einAnstieg stattgefunden hat. Es ist allerdings im-mer noch möglich, dass es sich bei dem Ergebnisum einen Ausreißer handelt und dass der Anstiegrein zufällig eingetreten ist. Dies bezeichnet manals „statistischen Fehler des Typs I“ oder als„falsch positiv“. In der Vergangenheit war mansehr darum bemüht, Fehler vom Typ I zu vermei-den. Bei dem gewählten Beispiel würde man da-von ausgehen, dass einem verzeichneten Anstiegder Konzentration einer chemischen Substanznur dann eine tatsächliche Veränderung zugrun-deliegt, wenn die Wahrscheinlichkeit einer zufäl-ligen Veränderung sehr gering ist – im Normal-fall weniger als 1:20 oder 1:100 (ein auf der Ebe-ne von 95 % oder 99 % signifikantes Ergebnis).Tatsächlich steht hierbei die Richtigkeit gegen-über der Sicherheit im Vordergrund. Zwischen-

zeitlich wird diese Problematik allerdings zuneh-mend von der Politik erkannt. Tabelle 1 enthälteinige Beispiele für politische Maßnahmen, dieauf verschiedenen Nachweisstufen eingeleitetwurden. Weitere Ausführungen hierzu enthältder Teil „Auswirkungen“ dieses Berichts.

Darüber hinaus besteht bei der Statistik ein wei-teres grundlegendes Problem. Da Umweltbeob-achtung kostenintensiv ist, wird sie zumeist nurin begrenztem Umfang durchgeführt. Je kleinerallerdings die Stichprobengröße und/oder je grö-ßer die naturgegebene Schwankungsbreite, destogeringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein tat-sächlicher Anstieg unter eindeutiger Trennungvon statistischem Rauschen bestimmt werdenkönnte. Die Möglichkeit, dass ein tatsächlicher Ef-fekt als falsch erkannt wird, wird als Fehler von„Typ II“ oder als „falsch negativ“ bezeichnet. Un-derwood (1999) zieht den Schluss „Um Fehlervom Typ II kümmert man sich gemeinhin wenig.Die Chance eines Irrtums „zugunsten“ der Um-welt (eines Fehlers vom Typ I) wird absichtlichniedrig gehalten, ganz im Gegensatz zu denChancen eines Irrtums „zuungunsten“ der Um-welt!“ Man kann, zum Beispiel für teure Meeres-beobachtungssysteme von Schiffen aus, eineMenge Geld vergeuden, wenn die tatsächlicheZahl der Stichproben, die auf ein paar Fahrtendurchgeführt werden, keinerlei Aussicht bietet,negative Auswirkungen von statistischem Rau-schen unterscheiden zu können, das heißt, diestatistische Aussagekraft ist gering (HELCOM,1996). Hinzu kommen Komplikationen aufgrundder Formulierung der zu prüfenden Hypotheseund des Versuchsaufbaus: Wenn zum Beispiel ei-

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 16.1. UNTERSCHIEDLICHE NACHWEISSTUFEN FÜR VERSCHIEDENE ZWECKE — BEISPIELE

Verbale Umschreibung Beispiele

„Völlig außer Zweifel“Strafrecht, schwedisches Gesetz über chemische Substanzen, 1973 (als „Sicherheitsbeweis“vonseiten der Hersteller)

„Ausgeglichene Beweislage“ Intergovernmental Panel on Climate Change, 1995 und 2001

„Berechtigter Grund zur Besorgnis“ Mitteilung der Europäischen Kommission [über] die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips

„Wissenschaftlich begründeterRisikoverdacht“

Schwedisches Gesetz über chemische Substanzen, 1973 (als Nachweis, damit vonBehördenseite Vorsorgemaßnahmen in Bezug auf von bestimmten Substanzen ausgehendepotenzielle Gefahren eingeleitet werden können)

ne Frage falsch gestellt wird; wenn aufgrund ei-ner falschen Vorannahme über die Bedeutungein Faktor aus der Beurteilung herausgenommenwird; wenn festgelegt wird, was und wie oft be-obachtet wird; wenn bestimmt wird, welche Be-deutung sporadisch auftretenden Ereignissen bei-gemessen wird oder wenn entschieden wird, wiekomplexe Interaktionen oder nichtlineare Reak-tionen wie z. B. Chaos zu behandeln sind.

Genauso können bereits geringfügige Fehleinstu-fungen der Belastung in epidemiologischen Stu-dien zu erheblichen Verringerungen der relati-ven Risiken führen, wobei Zusammenhänge eherübersehen als falsch impliziert werden (Copelandet al., 1977). Generell ist die Fähigkeit, mit Hilfeepidemiologischer Studien relevante Risiken zuerkennen, durchaus gegeben, sie wird jedochhäufig übersehen, so dass ein falsches Sicher-heitsgefühl aufgrund so genannter „negativer“Studien entsteht, die ein Risiko nicht erkennen.

Die Neigung der Wissenschaft, falsch positiveBeispiele zu vermeiden, führt unweigerlich zurEntstehung von falsch negativen Beispielen, wasaber, wenn es sich dabei um Katastrophen fürMensch und/oder Umwelt handelt, wie dies inden meisten Fallstudien zutrifft, keine tragfähigepolitische Vorgehensweise darstellt. Diese Bevor-zugung von falsch negativen Beispielen ent-spricht eindeutig nicht dem Vorsorgeprinzip; derTeil „Auswirkungen“ dieses Berichts geht auf die-ses Problemfeld nochmals kurz ein.

Derlei Problemstellungen werden zwar häufig alseine reine Frage der wissenschaftlichen Beurtei-lung betrachtet, doch führen sie weiter zu eini-gen tiefer gehenden Punkten.

Grundlegende Fragen

Das gebräuchliche Wort „Unsicherheit“ muss zu-mindest in die Begriffe „Risiko“, „Unsicherheit“und „Unkenntnis“ untergliedert werden. Eine ein-gehendere Untersuchung darüber, wie sich ledig-lich Einigkeit darüber herstellen lässt, was die„Fakten“ sind, müsste weiteren verschiedenen Di-mensionen wie Komplexität, Unbestimmtheit,Mehrdeutigkeit und Art der Nichtübereinstim-mung Rechnung tragen (Wynne, 2001; Stirling,1999). Der Begriff der Vorsorge hat in der Wis-senschaftssoziologie und der Philosophie zu neu-en Denkansätzen geführt und damit zur Erken-nung neuer Formen der Unkenntnis, die den Pro-

zessen des Wissenserwerbs zugrunde liegen. Au-toren wie Krohn und Weyer (1994) erklären, dasssich umfassendes Wissen über die Folgen von In-novationen nur gewinnen lässt, wenn man dieGesellschaft und die Umwelt als solche als Ver-suchslabor behandelt. Diese Argumentation hattief greifende, doch bislang nicht erkannte Aus-wirkungen auf demokratische Entscheidungenüber neue und auch über bereits existierendenTechnologien.

Die zunehmende Akzeptanz der Gesellschaft fürdas Vorsorgeprinzip ist eigentlich eine Reaktionauf ein zunehmendes Spannungsverhältnis zwi-schen zwei Aspekten der Wissenschaft: Mit derwachsenden Innovationskraft der Wissenschaftkann offenkundig ihre Fähigkeit, die Folgen derAnwendung ihrer Erkenntnisse vorherzusagen,nicht Schritt halten. Hinzu kommt, dass nur allzuhäufig aus den Kreisen der Wissenschaft derenschwindende Fähigkeit, die Folgen vorherzusa-gen, geleugnet wurde. Dies hat mit dazu beige-tragen, dass als vernünftige demokratische Reak-tion die Forderung nach mehr Umsicht aufkam.Diese Umsicht sollte weniger Innovation und Risi-ken gelten als vielmehr unserer Fähigkeit, Wissenzu erwerben. Mit anderen Worten, es geht dabeium die Wissenschaft und die Fähigkeiten, die siesich anmaßt. Solche Fragen sind durchaus nichtgegen die Wissenschaft gerichtet. Vielmehrkönnte als anti-wissenschaftlich derjenige ange-sprochen werden, der sich solchen Fragen ver-weigert. Der „Wissensanspruch“ hat überhauptnichts Wissenschaftliches an sich (von Hayek,1978). Dieser Anspruch hat vielmehr zur Folge,dass dadurch Autorität und Glaubwürdigkeit derwissenschaftlichen Institutionen – und damit derleistungsfähigsten intellektuellen Ressource derGesellschaft – untergraben werden.

Vor diesem Hintergrund gilt es, einige weitereBeobachtungen anzustellen. In Diskussionen zwi-schen Sachverständigen ist allgemein anerkannt,dass der wissenschaftliche Nachweis an sich kom-plexer Natur, offen und immer vorläufig ist. Vonaußen wird allerdings aus gewissen Kreisen dieForderung an die Wissenschaft herangetragen,dass diese dem politischen Prozess einfache Ant-worten und Gewissheit bieten müsse. Diese dop-pelte Identität der „Wissenschaft“ bringt be-trächtliche Spannungen mit sich – nicht zuletztdeshalb, weil der Widerspruch zwischen imma-nenter Vorläufigkeit und behaupteter Gewissheithäufig zwar nicht eingestanden, nichtsdestotrotzjedoch offenkundig bemerkt wird.

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Dies führt uns zu einem tief greifenden Unter-schied in Auffassung und Darstellung wissen-schaftlicher Unsicherheit und Unkenntnis aufsei-ten der politischen Institutionen und der Allge-meinheit. Meinungsumfragen zu GVO auf beidenSeiten des Atlantiks (Levy und Derby, 2000; Wyn-ne et al., 2000) lassen erkennen, dass Nichtexper-ten eigentlich korrekt zwischen Unsicherheit undUnkenntnis unterscheiden. Während sich die wis-senschaftliche Risikoabschätzung auf (bekannte)Unsicherheiten konzentriert, steht im Mittel-punkt der Bedenken der Allgemeinheit die un-eingestandene Unkenntnis, die selbst bei den bes-ten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu findenist. Insbesondere mit Blick auf die rasche Ausbrei-tung sehr neuartiger Innovationen sorgt sich dieAllgemeinheit um die möglichen Folgen von Un-kenntnis. Die Reaktion lässt sich wie folgt zusam-menfassen: „Wenn wir schon die Folgen nicht ge-nau kennen, dann sollten wir zumindest dafürsorgen, dass die Zwecke, die das Unternehmenverfolgt, und die Interessen, die die Reaktionenauf sich daraus ergebende Überraschungen steu-ern, positiv sind“ (Wynne, 1992 und 2001). Mitanderen Worten: Die Menschen wollen vor allemwissen, welches die Triebkräfte einer Innovationsind und wer davon profitiert.

Zur Beruhigung der Öffentlichkeit greift die Poli-tik vielfach zu dem Mittel, die Forschungstätig-keit zu bekannten unsicheren Aspekten zu inten-sivieren, um so die intellektuelle Beherrschbar-keit der Problematik nachzuweisen und zu ver-deutlichen, dass Bedenken hinsichtlich der (be-kannten) Risiken völlig unbegründet sind. DieseReaktion der Politik auf die vermeintlich fehlge-leiteten Forderungen der Allgemeinheit nach„null Risiko“ und „null Unsicherheit“ sind aller-dings zwecklos, da sie davon ausgehen, dass demMisstrauen der Öffentlichkeit eine irrige Sicher-heitserwartung zugrundeliegt und dass die Öf-fentlichkeit ein falsches Verständnis von Wissen-schaftlichkeit, Risiko und Unsicherheit hat. DieseVorgehensweise der institutionalisierten Wissen-schaft verkennt grundlegend die typischen An-sichten und Erwartungen der Allgemeinheit.Vielmehr verstärkt sie deren Misstrauen, indemsie unbeabsichtigt ihr eigenes Leugnen von Un-kenntnis und fehlender intellektueller Beherrsch-barkeit demonstriert, was die Öffentlichkeit allemAnschein nach intuitiv besser erkennt als die in-stitutionalisierte Wissenschaft selbst.

Während Kritiker des Vorsorgeprinzips darindie Bestärkung einer populistischen antiwissen-

schaftlichen Grundhaltung sehen, die angeblichvor der Einwilligung in jedwedes innovative En-gagement Sicherheit einfordert, gibt es genü-gend Beweise dafür, dass die Menschen durch-aus bereit sind, eine wesentlich radikalere Formder Unsicherheit in Kauf zu nehmen als die in-stitutionalisierte Wissenschaft zu einzugestehenin der Lage ist, nämlich Unkenntnis und das da-mit verbundene Fehlen von Kontrollmöglichkei-ten. Wie Stirling (1999) und Kollegen an ande-rer Stelle ausführen, hat das Vorsorgeprinzipüberhaupt nichts mit antiwissenschaftlicher Ein-stellung zu tun, sondern wendet sich vielmehrgegen eine minimalistische, geschlossene undwillkürlich engstirnige Wissenschaft – zuguns-ten einer vernünftigeren, rigoroseren und ro-busteren Wissenschaft.

Die vielleicht grundlegendste Erkenntnis, die sichdaraus ergibt,. lautet, dass wissenschaftliche Unsi-cherheit wie auch wissenschaftliches Wissen,wenn sie angewendet werden, um der Politik Au-torität zu verleihen, bestimmt keine Privatangele-genheit wissenschaftlicher Organisationen sind,die von diesen im Auftrag der Allgemeinheit/Po-litik selbständig geklärt, definiert oder anderwei-tig ausgelegt wird, bevor sie dieser zur Kenntnisgebracht wird. Wie der NRC (1996) in den USAund die RCEP (1998) im Vereinigten Königreichunabhängig voneinander feststellten, erfordernvordringliche Fragen öffentliche Diskussion. Hier-zu gehören mit Blick auf die Umweltpolitik imUnterschied zu genauer eingegrenzten Bereichenwie technischen Risiken die Fragen: Mit welchenThemen soll sich die Wissenschaft auseinandersetzen? Welches sind die entscheidenden Fakto-ren? Welche allgemeinen Grundsätze sollen fürgute wissenschaftliche Arbeit gelten (z. B. einausgewogenes Verhältnis zwischen Vollständig-keit und Genauigkeit)?

Diese Fragen machen deutlich, wie wichtig esist, zwischen Fakten und Werten zu unterschei-den. Gelegentlich wird davon ausgegangen, dassnach der Einigung auf eine vorsorgende Vorge-hensweise diese automatisch zu dem „richtigen“Ergebnis führen werde. Dies ist eine überzogeneVereinfachung. Die Problemstellungen werdensich verändern. Die bevorzugten Ergebnisse wer-den sich je nach Interessenlage, Zielen undWertvorstellungen der Menschen verändern.Wie Popper bereits vor langer Zeit feststellte, istes rational nicht möglich, einen Vorschlag füreine politische Vorgehensweise alleine von denFakten abzuleiten (Popper, 1962). Politiken, die

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in fahrlässiger Weise auf Fakten als Grundlagevon Entscheidungen abheben, ohne explizit aufdie Werturteile einzugehen, die ebenfalls Teildieser Entscheidungen sind, sind kaum konsens-fähig oder zumindest akzeptanzfähig, wenngrundlegende Meinungsverschiedenheiten be-stehen (RMNO, 2000).

Aus diesem Grund müssen alle Betroffenen vonBeginn an in die behördliche Beurteilung einbe-zogen werden. Eine künstliche Begrenzung derBeteiligung auf die nachfolgenden „Risikomana-gement“-Phasen wie beim konventionellen An-satz ist hier wenig sinnvoll. Die Phasen Abschät-zung, Management und Kommunikation von Ge-fahren und Risiken laufen nicht – wie beim her-kömmlichen Modell – nacheinander ab, sondernerfordern die Einbeziehung der Betroffenen be-reits in der allerersten Phase. Dies wurde vonNRC, RCEP und in den Schlussfolgerungen desMinisterrats von Nizza über das Vorsorgeprinzipim Jahr 2000 bestätigt.

Auch hier wieder muss betont werden, dass dasAnsprechen derartiger Fragen nicht als die Schaf-fung einer neuen Form der „Paralyse durch Ana-lyse“ gesehen werden sollte. Die Fallstudien unddie daraus abgeleiteten Lehren zeigen einen posi-tiven und gangbaren Weg auf. Wenn jedoch die-se komplexen Zusammenhänge nicht explizit an-gesprochen werden, werden dadurch Fortschritteverzögert und Fehler verschlimmert.

16.3.2. Vorsorge und Innovation

In der Einführung wurde festgestellt, dass nachdem deutschen Konzept des Vorsorgeprinzipsaus den 70er Jahren Innovation, Beschäftigungund vorausschauende Planung als integrale Be-standteile des Vorsorgeprinzips gelten. Ein über-greifender Grundsatz, der sich aus allen Fallstu-dien und auch aus der weiteren Analyse und Er-fahrung ergibt, lautet, dass die polarisierten Pro-zesse der technischen Innovation und der Risiko-regulierung in Zukunft weniger stark getrenntund antagonistisch betrachtet werden müssen.Viele der hier formulierten Lehren treffen aufden Innovationsprozess genauso zu wie auf dieRegulierung der daraus entstehenden Produkteund Technologien. Würde man die Lehren be-reits in den Innovationsprozess einbeziehen, sokönnte dadurch das antagonistische Verhältniszwischen Innovation und Regulierung überwun-den werden.

Die traditionelle Risikoabschätzung für chemi-sche Substanzen konzentriert sich beispielsweiseauf die mit einer bestimmten Substanz verbun-denen Risiken. Der Anwendungsbereich derSubstanz wird bestimmt, doch wird diese Anga-be dann nicht für eine vermehrt integrierte Be-urteilung des Potenzials von Alternativen heran-gezogen. Nicht zum ersten Mal wird hier dieNotwendigkeit der Integration von Innovationund Risikoregulierung und allgemein der Inte-gration von Konzepten zur Technikfolgenab-schätzung (TA) deutlich. Hierauf gehen bei-spielsweise (zumindest in Teilen) die in den Nie-derlanden entwickelten Techniken der konstruk-tiven TA (Constructive Technology Assessment,CTA) ein (Rip et al., 1996; Wynne et al., 2001).Die konstruktive TA geht von der Feststellungaus, dass Technologien mehr umfassen als diereine Hardware. Förderung und Akzeptanz vonTechnologien hängen von den Zielsetzungen,Beziehungen, Kenntnissen und Fähigkeiten ver-schiedener Bereiche der Gesellschaft ab. Je stär-ker ausgeprägt Umfang, Leistungsfähigkeit,Komplexität und Vernetzung der jeweiligentechnologischen Systeme sind, desto wichtigerwird die Berücksichtigung dieser sozialen undinstitutionellen Aspekte. Die konstruktive TAversucht, kurz gesagt, die Anerkennung dieservernachlässigten und doch grundlegenden Di-mension von Technik und Innovation zu för-dern. Durch vielfältige Mittel ist sie bestrebt,von Beginn an die Integration der Perspektivenvon Innovatoren, Regulierungsstellen, Anwen-dern und sonstigen Beteiligten zu verbessern.Auf diese Weise erhält die Innovation kreativenInput in einer Phase, in der dieser Input realis-tisch nutzbar gemacht werden kann, und eswird darauf verzichtet, eine solche weiter ge-hende soziale Interaktion einfach in die Formeiner (häufig kontraproduktiven) nachgeschalte-ten Reaktion auf eine Technologie zu zwingen,die in einem geschlosseneren Prozess bereits fer-tig entwickelt wurde. Die der konstruktiven TAzugrundeliegende Analyse trägt der TatsacheRechnung, dass technologische Systeme sonstdie Tendenz haben, sich in einer relativ frühenEntwicklungsphase in bestimmte Konfiguratio-nen zu „verkapseln“, wodurch andere Optionenvon vornherein ausgeschlossen und die Kostenfür den Umstieg auf Alternativen höher werden.Auf diese Weise erlangen Technologien keines-wegs wegen ihrer spezifischen Qualitäten dieOberhand, sondern vielmehr aufgrund von Zu-fällen und des Vorteils einer frühzeitigen Füh-rungsposition. Die konstruktive TA versucht, sol-

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che Fragen vermehrt in den Vordergrund zu rü-cken und die intellektuellen Ressourcen für ihreLösung bereitzustellen.

Das potenziell positive Verhältnis zwischen Regu-lierung und Innovation wird auch im Konzeptder Analyse der technischen Optionen (Technolo-gical Options Analysis, TOA) betont, das in denUSA entwickelt wurde (Ashford, 1981 und 1994;Tickner, 2000). Bei der TOA wird eine Vielzahlpraktischer Verfahren routinemäßig angewendet,damit neben der betreffenden Technologie oderdem betreffenden Prozess sowohl fertige als auchsich erst abzeichnende Alternativen in die Über-legungen Eingang finden. Wie die konstruktiveTA, so kann auch die TOA je nach Kontext vonBehörden genauso wie von privatwirtschaftlichenUnternehmen durchgeführt werden. Beide Kon-zepte sind Teil einer umfassenderen Kultur der„Alternativenbeurteilung“ (O’Brien, 2000), die dieBedeutung der Innovation hervorhebt und sichals ein Prozess mit offenem Ausgang versteht, derwillentlichen Entscheidungen und Bindungenunterliegt. Hinter diesen innovativen Konzeptenverbirgt sich eine nachdenklichere und intelli-gentere Heransgehensweise an Entwicklung, Be-urteilung, Auswahl und Umsetzung von Techno-logien. Durch Einbeziehung der Innovation zumfrühestmöglichen Zeitpunkt schaffen sie die Vo-raussetzungen dafür, dass die hier formuliertenLehren so umgesetzt werden können, dass wirt-schaftliche Ineffizienz und soziale Spannungenminimiert und auf längere Sicht nachhaltige We-ge der Innovation aktiv unterstützt werden.

Die Förderung von robusten, vielfältigen und an-passungsfähigen Technologien schafft nicht nurInnovationsanreize, sondern bildet zugleich eine„Rückversicherung“ gegen Überraschungen, wiedie in den Fallstudien beschriebenen, durch As-best ausgelösten Mesotheliome und die Schädi-gung der Ozonschicht durch Halone. Denn dieGrößenordnung zukünftiger Überraschungenwird geringer ausfallen, wenn mehrere konkur-rierende Technologien zu Wahl stehen, mit de-nen die Bedürfnisse der Menschen gedeckt wer-den, statt nur einer weltweit eingesetzten Tech-nologie mit Quasi-Monopolstellung wie dies beiAsbest, Halonen und PCB der Fall war. Wenn esmehrere verschiedene Technologien und andereMöglichkeiten, die Bedürfnisse zu decken, gibt,so kann dies dazu beitragen, das scheinbar un-ausweichliche Problem der „Unkenntnis der Ge-sellschaft“ und daraus folgernder Überraschun-gen in den Griff zu bekommen.

16.3.3. Vorsorge und Lenkung

„Lenkung“ bezeichnet die Art und Weise, in derein Vorgang nach Managementmethoden undRegulierungssystemen formeller oder informel-ler Art geführt oder gelenkt wird. Im weiterenSinne bezeichnet der Begriff die Lebensführungoder die Führung von Unternehmen ganz allge-mein oder die Lebens- oder Verhaltensweise inder Gesellschaft. Die mit dem Vorsorgeprinzipverbundenen Herausforderungen beinhaltenmehr als lediglich neue Entscheidungsregelnund ein technisches Instrumentarium, und diessetzt einen Lernprozess in Politik, Industrie, Wis-senschaft und in der gesamten Bürgergesell-schaft voraus. In diesem Abschnitt geht es umdrei Aspekte der Lenkung, die für die Vorsorgevon Bedeutung sind: Wie können sich bestehen-de Institutionen, die mit der Abschätzung vonRisiken befasst sind, weiterentwickeln, um demVorsorgeprinzip Rechnung zu tragen? Wie ist esum die Relevanz von partizipativen Konzeptenund der Subsidiarität bestellt?, und: Wie wichtigist eine verstärkte, auch ethische Sensibilisie-rung der Bürgergesellschaft mit dem Ziel einerbesseren Wahrnehmung von Rechten und auchvon Verantwortlichkeiten?

Evolution, nicht Revolution

Über die Disziplinen der konstruktiven TA hinausist unter den etablierten Konzepten für die be-hördliche Beurteilung von Risiken eine Vielzahlvon Perspektiven zu finden, die in konstruktiverWeise ausgeweitet und weiterentwickelt werdenkönnten. Bei geeigneter Ergänzung und Interpre-tation eröffnen viele dieser Konzepte Möglichkei-ten, auf die hier erörterten Lehren einzugehen.So vereint beispielsweise das Multi-Criteria Map-ping (MCM) Flexibilität und Reichweite qualitati-ver Konzepte mit der Transparenz und Spezifizi-tät quantitativer Lehren. Es bietet eine Möglich-keit, einem vielfältigen Spektrum von Perspekti-ven unterschiedlicher Interessengruppen undverschiedenen technischen und wissenschaftli-chen Faktoren, auch Unsicherheiten, Rechnungzu tragen, ohne dabei die divergierenden Rah-menbedingungen der betreffenden Problemati-ken in unzulässiger Weise zu beschneiden (Stir-ling und Mayer, 1999). Die Lebensweganalyseoder Life Cycle Analysis (LCA) ihrerseits hat einePalette von Verfahren entwickelt, die gewährleis-ten, dass kein Glied der mit unterschiedlichenOptionen verbundenen technischen Lebenswege

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und Ressourcenketten der Aufmerksamkeit ent-geht (van den Berg, 1995). Die Kosten-Nutzen-Analyse eignet sich – all ihren Idiosynkrasien undernsthaften Einschränkungen – ungewöhnlichgut, um der in den hier formulierten Lehren be-tonten Bedeutung der Beachtung von „Für“(Rechtfertigungen und Nutzen) und „Wider“ (Ri-siken und Kosten) Rechnung zu tragen (Hanleyund Spash, 1993). Wenngleich sie weniger häufigangewendet werden, bieten auch Sensitivitäts-und Szenarioanalysetechniken Möglichkeiten, dieAuswirkungen unterschiedlicher Annahmen undSichtweisen zu untersuchen und sich somit ge-genüber dem Status jedes speziellen Verständnis-ses einer Risikoproblematik mit mehr „Demut“anzunähern (Godet, 1992).

Die integrierte Umweltbewertung (Integrated En-vironmental Assessment, IEA), ein breit angeleg-ter Ansatz, der im Laufe der letzten zehn Jahreentstanden ist, bietet ein Gerüst für eine neueSynthese dieser unterschiedlichen positiven Attri-bute bestehender Ansätze, um damit die Vor-und Nachteile konkurrierender Alternativen be-urteilen zu können (EFIEA, 2000; Dowlatabadiund Rotmans, 2000). Die IEA ist speziell für großdimensionierte und komplexe Umweltproblemekonzipiert und bietet daher die Möglichkeit, der-artige Methoden in einen breit angelegten, meh-rere Perspektiven berücksichtigenden, bescheide-neren und ergebnisoffenen Ansatz zu integrie-ren, wie er in den Lehren postuliert wird. In ihrergegenwärtigen Form setzt die IEA an der Schnitt-stelle zwischen dem wissenschaftlich-technischenBereich und der Politik an, wobei die Schwer-punkte auf folgenden Forderungen liegen: einerinterdisziplinären Vorgehensweise, Integrationüber die Umweltmedien Wasser, Luft und Boden,Materialbilanzierung in Wirtschaft und Gesell-schaft sowie Untersuchung von Alternativen. MitBlick auf die Lehren aus den Fallstudien würdeeine gleichrangige Schwerpunktsetzung auf fol-gende Themen die Perspektiven der IEA weiterverbessern: mehr Offenheit und Überlegung beider Gestaltung von Agenden, Unterscheidungzwischen Risiko, Unsicherheit und Unkenntnis,vermehrte Berücksichtigung der Gefahr und derFolgen von Irrtümern, Berücksichtigung allerWertvorstellungen, Ausdehnung der Kosten-Nut-zen-Analyse auf die Beurteilung weiter gefassterVor- und Nachteile (wie in diesem Bericht defi-niert) und sehr viel frühere Einbeziehung dieserweiter gefassten Bedenken in die maßgeblichenEntscheidungsprozesse. Die Anwendung von„What-if“-Szenarien und partizipativen Techniken

zur Szenarioentwicklung kann hier einen bedeu-tenden Beitrag zum Umgang mit Überraschun-gen und Unsicherheiten leisten.

Partizipative Ansätze und Subsidiarität

In der Vergangenheit war in der juristischen undwirtschaftlichen Regulierung die Tendenz zurZentralisierung auf einer globalen, regionalenoder nationalen Führungsebene und zur Aus-grenzung vieler Interessengruppen zu beobach-ten. Zwar sind zwischenzeitlich Anzeichen für ei-ne Veränderung erkennbar, doch stehen die Ver-suche zur Etablierung partizipativer Ansätze aufgenauso wackligen Beinen wie jede andere Initia-tive zur Zentralisierung von Belastungen. Sokönnte z. B., wenn keine entsprechenden Vorkeh-rungen getroffen werden, das Instrument derKonsenskonferenz auf das Niveau einer Art Kon-sultation zurückfallen, die sich nach den Vorga-ben der Sponsoren richtet. Auch Beschwerdever-fahren beinhalten partizipative Ansätze, dochkommen sie in einem viel zu späten Stadium desRegulierungsprozesses zur Anwendung, als dasssie mehr als marginale Korrekturen bewirkenkönnten. Die Folgerung aus den „späten Lehren“lautet, dass die Beteiligung von Interessengrup-pen in einem frühen Stadium erfolgen, ein brei-tes Spektrum umfassen und bis auf die jeweils be-troffene lokale Ebene hinunterreichen muss.

Eine Beteiligung der lokalen Akteure ist selbstver-ständlich nur im Kontext demokratisch legiti-mierter strategischer Rahmenvorgaben für Inno-vation und die Politik generell sinnvoll. Grund-sätzlich geht es darum, dass die an technischenEntwicklungen beteiligten Experten – und Behör-denvertreter – auf unterschiedlichsten Ebenen, inder Bandbreite von lokal bis international, mehrSensibilität für (häufig nicht nachdrücklich ge-nug vertretene) Wertvorstellungen, Prioritätenund Bedenken der Allgemeinheit aufbringen soll-ten. Dies kann auch ohne ein lähmendes Instru-mentarium zur unterschiedslosen Beteiligung dergesamten Öffentlichkeit an jeder einzelnen Ent-scheidung erreicht werden. Neben den bereitsangesprochenen Beispielen aus Europa sind auchaußerhalb der EU beachtenswerte Entwicklungenzu verzeichnen. Hierzu gehört die neuseeländi-sche Umweltgesetzgebung, mit der das Subsidia-ritätsprinzip als Alternative zur zentralisiertenRegulierung eingeführt wurde (Ministry for theEnvironment, 2001) und deren erklärtes Ziel da-rin besteht, dass Verfahren zur lokalen Beteili-

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gung und Konsensbildung Vorrang gegenüberder zentralen Regulierung erhalten. In Australienwurden sowohl bei der Formulierung als auchbei der Umsetzung der Meerespolitik beträchtli-che Anstrengungen unternommen, um Interes-sengruppen einzubinden (National Oceans Of-fice, 2000). Neben zahlreichen anderen Erkennt-nissen führten die der Meerespolitik zugrundelie-genden Forschungsarbeiten zu der wichtigenFeststellung, dass die Standpunkte lokaler Interes-sengruppen nicht zwangsläufig mit denen ihrernationalen oder internationalen Äquivalente, sei-en dies nun nichtstaatliche Umweltorganisatio-nen oder die Industrie, identisch sind.

Das Instrumentarium für partizipative Ansätzebefindet sich in unterschiedlichen Entwicklungs-stadien, wobei die Aufgabenstellung alles andereals einfach ist (Brookes, 2001). Dieser Situationmüssen allerdings die bisherigen Ansätze gegen-übergestellt werden, die im Falle des Versagensebenfalls hohe Kosten nach sich ziehen können,wie dies an der Ablehnung von bestrahlten Le-bensmitteln durch die Verbraucher, dem abge-brochenen Versuch der Entsorgung der Ölplatt-form „Brent Spar“ in der Nordsee und der Reakti-on auf GVO deutlich wird.

Sensibilisierung und Ethik

Partizipative Ansätze funktionieren nicht ohnevermehrte Sensibilisierung, Interesse und Enga-gement aufseiten der Betroffenen und auch derAllgemeinheit. Die Erfolgsaussichten für einebreiter angelegte Umweltbewertung dürftennicht besonders gut sein, solange die Gesellschaftihre Einstellung, ihr Verantwortungsbewusstseinund ihre ethische Grundhaltung gegenüber derUmwelt nicht weiterentwickelt. Es müssen paral-lele Anstrengungen unternommen werden, umdie Gesellschaft stärker zu sensibilisieren, ein ent-schiedenes Eintreten für Umweltbelange zu för-dern und durch Aufklärungsarbeit die Basis fürdie Konsensbildung zu verbreitern. Hierzu gilt es,das Wissen über sämtliche Umweltaspekte überdas gesamte Spektrum der Fachgebiete hinwegzu erweitern. Dieser Prozess, der in den Familienund in den Schulen beginnt, erreicht sein vollesPotenzial durch die interessierte und engagierteMitwirkung an partizipativen Verfahren. Dabeigeht es nicht um die Verknüpfung dieser Aufklä-rung mit einem bestimmten Standpunkt, son-dern vielmehr um die Entwicklung der Fähigkeitzur kritischen Beurteilung von Argumenten, zum

Vertreten von Standpunkten und zur Mitwirkungam demokratischen Prozess.

Hierzu gehört auch die professionelle Vermitt-lung der Fragestellungen im Zusammenhang mitder Vorsorge. Fest steht, dass zumindest in gewis-sem Maße eine Vermittlung der komplexen Zu-sammenhänge notwendig ist, um im Sinne allerInteressengruppen voranzukommen. Es entbehrtdaher nicht einer gewissen Ironie, dass die Me-dien und andere professionellen „Kommunikato-ren“ den Weg in die entgegengesetzte Richtungeingeschlagen haben und in einer Kultur der of-fenen Auseinandersetzung ausschließlich auf „po-sitives Wissen“ und „eindeutige und einfacheBotschaften“ setzen. Dabei wird zumeist die Kom-munikation von Unkenntnis, Komplexität undVerantwortlichkeit angesichts der essenziellen Be-schränktheit jedweden Wissens ausgegrenzt.

Die vordringliche Notwendigkeit der institutio-nellen Anerkennung, dass es Unkenntnis undauch Unwissenheit wirklich gibt, beinhaltet aucheinen ethischen und kulturellen Aspekt. Ursachehierfür ist die Art, in der die ethischen Grenzenfür das Bekenntnis zur Verantwortung für Unsi-cherheiten über die Folgen menschlicher Innova-tion von wissenschaftlichem Wissen abgeleitetwurden. Zukünftige Folgen jenseits des bestehen-den wissenschaftlichen Wissens und der Vorher-sagbarkeit liegen damit per Definition außerhalbdieses Verantwortungsbereichs. Dies ist so festge-legt, obwohl man weiß, dass infolge von Entschei-dungen und Aktivitäten zwangsläufig Überra-schungen eintreten werden. Das Vorsorgeprinziperfordert im Zuge einer Veränderung der Kultur,dass die Institutionen der Gesellschaft das bishe-rige Verständnis von ethischer Verantwortungauch auf diese Unbekannten ausweiten, diegrundsätzlich, wenn auch nicht in ihren Einzel-heiten, vorhersagbar sind. Vorschläge, wie dieserProzess der intellektuellen Erweiterung des Ver-antwortungsbegriffs eingeleitet werden könnte,wurden gemacht. Die zwölf „späten Lehren“ sindein Anfang.

Der vorliegende Bericht bringt die aufrichtigeÜberzeugung zum Ausdruck, dass für eine zu-kunftsfähige Umweltpolitik und eine an den Fak-ten orientierte ausgewogene Anwendung desVorsorgeprinzips ein kultureller Wandel hin zumehr bürgerschaftlicher Verantwortung und En-gagement in der Politik (einschließlich der Wis-senschaftspolitik und der technischen Innovati-on) erforderlich ist. Dies wiederum erfordert,

222

dass die auf Expertenwissen gestützten Institutio-nen von Wissenschaft, Industrie und Politik da-rauf zu vertrauen lernen, dass die Bürgergesell-schaft diese Verantwortung annimmt, sie dazuauffordern und die Voraussetzungen und dieRahmenbedingungen dafür schaffen.

Die Fallstudien, die zwölf „späten Lehren“ unddiese weiterführenden Überlegungen zu Wissen-schaft, Innovation und Lenkung führen zu dereindeutigen Erkenntnis, dass das Vorsorgeprinzip– die Notwendigkeit, vorausschauend zu handeln– sobald es denn anerkannt ist, weit über seinesimple Definition hinausreicht. Vielmehr hat esAnteil an der Entwicklung der Bürgergesellschaftund an der Politikgestaltung im frühen 21. Jahr-hundert, das – so hat es den Anschein – ebensowie die Jahrhunderte zuvor seinen ganz eigenenCharakter entfalten wird.

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225

Die in diesem Bericht untersuchten Fallstudienzeigen, dass wir viel aus der Geschichte lernenkönnen. Ausgangspunkt hierfür sind zwei grund-legende Feststellungen:

➔ Bei der Beurteilung und Kontrolle von Tech-nologien und wirtschaftlicher Entwicklungdurch die Behörden gilt es, zu einem Aus-gleich zwischen den Kosten einer allzu restrik-tiven Haltung gegenüber Innovationen einer-seits und den Risiken und Kosten einer allzupermissiven Einstellung in Fällen wissen-schaftlicher Unsicherheit und Unkenntnis an-dererseits zu gelangen. Die Fallstudien enthal-ten zahlreiche Beispiele für Fälle, in denen dieUntätigkeit der Behörden teure und unvorher-gesehene – und teilweise auch nicht vorher-sehbare – Folgen nach sich zog.

➔ Darüber hinaus geben die Fallstudien vieleBeispiele, in denen frühzeitige Warnungenund sogar „laute und späte“ Warnungen ein-deutig ignoriert wurden, in denen die Beur-teilung der Risiken nicht weitreichend genugangelegt war und in denen behördliche Maß-nahmen eingeleitet wurden, ohne dass Alter-nativen ausreichend geprüft oder die Voraus-setzungen für die erfolgreiche Umsetzung derMaßnahmen unter realen Bedingungen unter-sucht worden wären.

Wenn sich Entscheidungen auf wissenschaft-licher, politischer und wirtschaftlicher Ebenevermehrt auf einen umfassenderen Informati-onsbestand aus unterschiedlicheren Quellenstützen, kann die Gesellschaft in Zukunft einenwesentlich besseren Ausgleich zwischen Innova-tionen und deren Risiken erzielen. Aus der Erör-terung der Fallstudien ergaben sich zwölf „späteLehren“, die, so sie denn auf zukünftige Ent-scheidungsprozesse angewendet werden, dazubeitragen könnten, diesen besseren Ausgleichzu erreichen.

Das Vorsorgeprinzip bildet den globalen ge-danklichen Rahmen für die Anwendung einervorausschauenden Perspektive in Situationen,die durch Unsicherheit und Unkenntnis geprägtsind und in denen Handeln oder auch Untätig-keit der Behörden potenziell hohe Kosten nachsich ziehen.

Die spezifischen Schwierigkeiten bei der Anwen-dung des Vorsorgeprinzips auf Problematiken,die mit Komplexität, Unsicherheit und Strittigkeitverbunden sind, beruhen auf mangelnder Einig-keit über die Definition und die Bedeutung zen-traler Begriffe.

Die nachstehende Tabelle soll zu einer Klärungder Bedeutung sechs grundlegender Begriffe bei-tragen, die den Kernpunkt der Diskussion bilden.Was gelegentlich in unverbindlicher Form als„Unsicherheit“ angesprochen wird, setzt sich ei-gentlich aus den analytisch unterschiedlichen Be-griffen „Risiko“, „Unsicherheit“ und „Unkenntnis“zusammen. Die Handlungskonzepte der „Präven-tion“, der „vorsorgenden Prävention“ und der„Vorsorge“ können zu diesen drei Wissensstän-den sinnvoll in Bezug gesetzt werden. Dies veran-schaulicht Tabelle 17.1.

Die Verfahren für den Umgang mit Situationen,in denen Risiken, Unsicherheit und Unkenntnisbestehen, müssen fair, transparent und verant-wortungsvoll sein – zentrale Aspekte der „gutenStaatsführung“, die erreicht werden muss, umdas Vertrauen der Öffentlichkeit in politischeEntscheidungen über Technologien, derenNutzen und ihre potenziellen Risiken zurück-zugewinnen.

Die Auswirkungen der meisten hier geschilder-ten Fälle waren für die öffentliche Gesundheitund die Umwelt mit hohen Kosten verbunden. Inbeiden Bereichen der Wissenschaft und der Poli-tik hat in den zurückliegenden 100 Jahren eineSpezialisierung und auch eine gewisse Polarisie-rung stattgefunden. Der Einzelne erfährt Ge-sundheit und Umwelt als ganzheitliche Realität,Wissenschaft, behördliche Beurteilung und Poli-tik müssen daher auf analoge Weise integriertwerden. Der vorliegende Bericht soll einen Bei-trag zu dieser Integration von Gesundheit undUmwelt leisten.

Die Bandbreite der behördlichen Beurteilungmuss erweitert werden und neben den physikali-schen, chemischen, biologischen und medizini-schen Aspekten der jeweiligen Technologienauch maßgebliche soziale Fragen in angemesse-nem Umfang berücksichtigen.

226

17. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Wenn ein breites Spektrum von Beteiligten ein-bezogen und deren Wertvorstellungen und Inte-ressen bereits im frühesten Stadium der Beurtei-lung und der Entscheidung für technische undsoziale Optionen zur Abdeckung menschlicherBedürfnisse berücksichtigt wird, so bietet dieszwei entscheidende Vorteile. Zum einen be-kommt die Politik mehr Informationen an dieHand und zum anderen kann diese Vorgehens-weise das Vertrauen der Öffentlichkeit stärken, sodass die Gesellschaft in der Lage ist, Risiken zukontrollieren, ohne dadurch die Innovation zu er-sticken oder die Wissenschaft in Frage zu stellen.

Die Kontroversen der jüngsten Zeit über neueTechnologien wie genetisch veränderte Organis-men oder die Entsorgung von Bohrplattformenhaben viel mit Wertvorstellungen der Allgemein-heit und mit wissenschaftlichen Unsicherheitenzu tun, wohingegen Wertvorstellungen zuvor nureine geringe Rolle spielten und vor der Einlei-tung von Maßnahmen zur Risikominderung ein-deutige wissenschaftliche Beweise gefordert wur-den. Die offene Anerkennung dieses verändertenKontexts für solche Kontroversen ist ein ersterSchritt zu ihrer besseren Lenkung.

Allerdings wird die Einbeziehung unterschiedli-cher sozialpolitischer Perspektiven in die behörd-liche Beurteilung nicht die Politik alleine betref-fen – sie kann auch eine bessere Wissenschaftherbeiführen.

Eine die Vereinfachung verfolgende Wissenschaftund lineare Kausalität beispielsweise mögen zwarsinnvolle Ansätze sein, doch ihre Anwendbarkeitist beschränkt. Für die Dynamik komplexer undgelegentlich chaotischer Systeme, die durch Re-gelkreise, Synergien, Schwellenwerte und Fragenvon Gleichgewicht versus Instabilität gekenn-zeichnet und durch wechselseitige Kausalzusam-menhänge mit verschiedenen Faktoren verknüpftsind, eignen sie sich wenig. Eine derart komplexeRealität verlangt nach einer besseren Wissen-schaft im Zeichen von mehr Demut und wenigerÜberheblichkeit, die bei ihrer Schwerpunktset-zung das „Bekannte“ gleichberechtigt neben das„Unbekannte“ stellt.

Wenn man sowohl wissenschaftliche Unsicher-heiten (unter Einbeziehung der Unkenntnis) alsauch die Dringlichkeit der Risikominderung in Si-tuationen, in denen viel auf dem Spiel steht, zur

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Quelle: EUA

➔ TABELLE 17.1. UNSICHERHEIT UND VORSORGE — VERSUCH DER KLARSTELLUNG DER BEGRIFFE

Situation Wissensstand Beispiele für Maßnahmen

Risiko

Auswirkungen „bekannt“, Wahrscheinlichkeit„bekannt“ z. B. Asbest als Ursache fürAtemwegserkrankungen, Lungenkrebs undMesotheliome, 1965—heute

Prävention: Maßnahmen zur Verringerung bekannter Gefahren z.B.Beseitigung der Belastung durch Asbeststaub

Unsicherheit

Auswirkungen „bekannt“, Wahrscheinlichkeit „un-bekannt“ z. B. Antibiotika im Tierfutter und damitzusammenhängende Antibiotikaresistenz beimMenschen, 1969—heute

Vorsorgende Prävention: Maßnahmen zur Verringerung potenzieller Risiken z. B.Verringerung/Beseitigung der Belastung von Menschendurch Antibiotika im Tierfutter

Unkenntnis

Auswirkungen „unbekannt“ und daherWahrscheinlichkeit ebenfalls „unbekannt“ z. B. die „überraschenden“ Zusammenhänge zwischenFluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) und dem Ab-bau der Ozonschicht vor 1974, zwischen Asbest undMesotheliomen vor 1959

Vorsorge: Maßnahmen zur Früherkennung und Verminderung derAuswirkungen von „Überraschungen“ z. B. Nutzung derEigenschaften von chemischen Stoffen wie Persistenz oderBioakkumulation als „Warnsignale“ für potenzielleSchäden, Nutzung möglichst breit gefächerterInformationsquellen einschließlich Langzeitbeobachtung,Förderung von stabilen, vielfältigen und anpassungsfähigenTechnologien und Vorkehrungen in der Gesellschaft, umderen Bedürfnisse abdecken zu können, wobei weniger„Technologiemonopole“ wie Asbest und FCKW gesetzt wird

Kenntnis nimmt, so muss man sich folgerichtigauch darüber einigen, welche Nachweise fürschädliche Auswirkungen als ausreichend fürdie Einleitung von Maßnahmen gelten können.Diese „Nachweisstufen“ können eine Bandbreitevon dem von der Europäischen Kommission inihrer Mitteilung über die Anwendbarkeit desVorsorgeprinzips angesprochenen „berechtigtenGrund für die Besorgnis“ bis hin zu „völligaußer Zweifel stehend“, wie es im Strafrechtheißt, reichen. Die Entscheidung darüber, wel-che Nachweisstufe in einer bestimmten Situati-on anzuwenden ist, kann Höhe, Art und Vertei-lung der Kosten eines Irrtums drastisch verän-dern. Es handelt sich hier um eine wichtige po-litische Entscheidung mit tiefgreifenden ethi-schen Auswirkungen. Welche Nachweisstufe fürwelche Problemstellung die richtige ist, hängtvon Umfang und Art des möglichen Schadens,den behaupteten Vorteilen, den verfügbarenAlternativen und den potenziellen Folgekosteneines Irrtums in beiden Richtungen, d. h. vonTätigwerden oder Nichttätigwerden im Kontextvon Unsicherheit, Unkenntnis und hohem Risi-ko, ab. Diese Art der öffentlichen Entschei-dungsfindung ist durchaus nicht unbekannt:Militärische Geheimdienste wenden in Fällender Unsicherheit und hoher Risiken, in denendie Kosten eines Irrtums katastrophale Ausmaßeannehmen können, bereits seit langem ähnlicheVorsorgekonzepte an.

17.1. Späte Lehren aus frühen Warnungen

Die Fallstudien in diesem Bericht belegen undverdeutlichen, wie notwendig die zwölf „spätenLehren“ sind, die aus den hier betrachteten ein-hundert Jahren Geschichte abgeleitet wurden.

1. Unkenntnis, Unsicherheit und Risiken bei derBeurteilung von Technologien und bei derSchaffung des Gemeinwohls erkennen und ih-nen entgegentreten.

2. Langfristige Umwelt- und Gesundheitsüberwa-chung sowie Forschung aufgrund von Früh-warnungen durchführen.

3. Schwachpunkte und Lücken in der Wissen-schaft erkennen und reduzieren.

4. Interdisziplinäre Hindernisse für die Lernent-wicklung erkennen und beseitigen.

5. Sicherstellen, dass die realen Bedingungen beider Beurteilung durch Behörden angemessenberücksichtigt werden.

6. Die angeführten Begründungen und Vorzügesystematisch prüfen und gegenüber potenziel-len Risiken abwägen.

7. Eine Anzahl alternativer Möglichkeiten zurBefriedigung von Bedürfnissen neben der zubeurteilenden Option bewerten und stabilere,vielfältigere und anpassungsfähigere Techno-logien fördern, so dass die Kosten unangeneh-mer Überraschungen minimiert und die Vor-teile von Innovationen maximiert werden.

8. Sicherstellen, dass bei der Beurteilung dasWissen von „Laien“ sowie lokal verfügbaresWissen neben dem Fachwissen von Sachver-ständigen herangezogen wird.

9. Die Werte und Ansichten unterschiedlichersozialer Gruppen vollständig berücksichtigen.

10. Die Unabhängigkeit von Behörden gegenüberInteressengruppen bewahren und gleichzeitigein umfassendes Konzept zur Sammlung vonInformationen und Meinungen verfolgen.

11. Institutionelle Hindernisse für die Lernent-wicklung und Handlungsmöglichkeiten erken-nen und beseitigen.

12. Vermeiden, dass eine „Paralyse durch Analy-se“ entsteht, und stattdessen so handeln, dasspotenzielle Risiken gesenkt werden, wenn einbegründeter Anlass zur Besorgnis besteht.

Bei den meisten dieser Lehren geht es um dieVerbesserung von Qualität, Verfügbarkeit, An-wendung und Verarbeitung von Informationenin der Gestaltung von Umwelt- und Gesundheits-politik. Doch kann keine dieser Lehren für sichgenommen das Dilemma beseitigen, das besteht,wenn bei einer Beschlussfassung die Situation un-gewiss ist und gleichzeitig viel auf dem Spielsteht. Weder können diese Lehren die Unsicher-heit beseitigen, noch können durch ihre Anwen-dung die Folgen von Unkenntnis vermieden wer-den. Zumindest jedoch verbessern sie die Aus-sichten dafür, dass teure Auswirkungen im Vor-feld eingeschätzt werden können, dass ein besse-rer Ausgleich zwischen den Vor- und Nachteilentechnologischer Innovation erfolgt und dass dieKosten, die durch unangenehme Überraschun-

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gen verursacht werden, minimiert werden kön-nen. Zudem kann die Anwendung des Vorsorge-prinzips über die Verringerung der gesundheitli-chen und ökologischen Folgen hinaus, indem An-reize für mehr Innovation durch technologischeVielfalt und Flexibilität und bessere Wissenschaftgeschaffen werden, noch weiterreichende Vortei-le bewirken.

Die „späten Lehren“ können auch zu einem bes-seren Ausgleich zwischen an Verhältnismäßig-keit und an Vorsorge orientierten Politiken bei-tragen, denn festzuhalten ist, dass übertriebene

Vorsorge ebenfalls teuer zu stehen kommenkann, wenn dabei Gelegenheiten für Innovatio-nen verpasst und wissenschaftliche Untersuchun-gen versäumt werden.

Die zentrale Schlussfolgerung dieses Berichts lau-tet, dass die sehr schwierige Aufgabe, Innovationzu maximieren und gleichzeitig Risiken für dieBevölkerung und die Umwelt zu minimieren, dieletztlich Gegenstand des politischen Diskurses ist,künftig besser bewältigt werden könnte, wenndie zwölf „späten Lehren“ aus der Vorgeschichteder untersuchten Risiken beherzigt würden.

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Jim W. BridgesDean for International StrategyVice Chancellor’s OfficesUniversity of SurreyGuildford GU2 5XHVereinigtes KönigreichTel: (44) (0)1483 873802E-Mail: [email protected]

Jim Bridges hat seit 1979 einen Lehrstuhl für To-xikologie und Umweltschutz an der University ofSurrey inne. Seit 1997 ist er Mitglied des Wissen-schaftlichen Lenkungsausschusses der EU undseit 2001 Vorsitzender des Veterinary ResiduesCommittee des Vereinigten Königreichs. Zuvorgehörte er dem Wissenschaftlichen Futtermittel-ausschuss der EU (1991–97) und dem VeterinaryProducts Committee des Vereinigten Königreichs(1982–97) an. Er war als wissenschaftlicher Bera-ter der Europäischen Union (Anhörung bei derWelthandelsorganisation (WTO) in Genf) zurRechtmäßigkeit des Verbots der Verwendung vonHormonen als Wachstumsförderer in der EU tä-tig und ist Autor/Koautor von über 300 For-schungspapieren und Prüfberichten.

Olga BridgesEuropean Institute of Health and Medical Sci-encesUniversity of SurreyGuildford GU2 5XHVereinigtes KönigreichTel: (44) (0)1483 873802E-Mail: [email protected]

Dr. Olga Bridges ist Dozentin für Umwelthygieneund öffentliche Gesundheit an der University ofSurrey. Ihre Forschungsschwerpunkte sind dieAuswirkungen von chemischen Substanzen aufdie Umwelt und die Ernährung, die Wahrneh-mung von Umweltrisiken durch die Öffentlichkeitund die Anwendung von HACCP (Hazard Analysis

Critical Control Point). Sie wirkte an einer Reiheöffentlicher Untersuchungen mit und betreute injüngster Zeit die Ausbildungsprogramme für Um-weltschutzbeauftragte im Ausland.

Lars-Erik Edqvist Swedish National Veterinary InstituteUlls vag 2A-CBox 7073750 07 UppsalaSchwedenTel: (46) 018 67 40 00E-Mail: [email protected]

Professor Lars-Erik Edqvist DVM, Ph.D., ist Gene-raldirektor des Schwedischen Veterinärinstituts(SVA) in Uppsala. Der Fachbereich Antibiotika desSVA betreibt seit vielen Jahren intensive For-schungsarbeit und tritt für eine zurückhaltendeAnwendung von antimikrobiell wirksamen Sub-stanzen in der Tiermedizin ein. Die schwedischeRegierung ernannte Prof. Edqvist 1995 zum Vor-sitzenden der Kommission zur Untersuchung an-timikrobieller Futtermittel-Zusatzstoffe. Die Kom-mission hatte den Auftrag, Informationen überden Einsatz von antimikrobiell wirksamen Sub-stanzen als Futtermittel-Zusatzstoffe zu sammelnund auszuwerten. Diese Untersuchungen standenmit der befristeten Ausnahmeregelung vom Ge-meinschaftsrecht beim Beitritt Schwedens zur EUim Zusammenhang. 1997 beendete die Kommis-sion ihre Aufgabe.

Joe Farman European Ozone Research Coordinating UnitCambridge Vereinigtes KönigreichE-Mail: [email protected]

Dr. J. C. Farman, CBE und Träger der Polar Me-dal, ist derzeit als Berater der Stelle zur Koordi-nierung der europäischen Forschung über Ozon(European Ozone Research Coordinating Unit) inCambridge tätig und gehört auch dem wissen-schaftlichen Beirat zur Forschung über das strato-sphärische Ozon der Europäischen Kommissionan. Von 1956 bis 1990 führte er für die BritishAntarctic Survey Vermessungsarbeiten durch.

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AUTORENBIOGRAFIEN12

12 Die in den einzelnen Kapiteln geäußerten Ansichtengeben die Meinung der Autoren wieder, sie entspre-chen nicht zwangsläufig dem Standpunkt derInstitutionen, für die diese Autoren arbeiten.

Von der UNEP wird er als eines von weltweit 500Ehrenmitgliedern geführt, er erhielt den UNEPGlobal Ozone Award, die Umweltmedaille der Ge-sellschaft der Chemischen Industrie und dieCharles-Chree-Medaille des Institute of Physics.Dem Corpus Christi College, Cambridge, gehörter als Ehrenmitglied an.

David GeeInformation Needs Analysis and Scientific LiaisonEuropäische UmweltagenturKongens Nytorv 61050 Kopenhagen KDänemarkTel: (45) 33 36 71 42E-Mail: [email protected]

David Gee, studierter Wirtschafts- und Politikwis-senschaftler, engagiert sich seit 1974 für Gewerk-schaften und Nichregierungsorganisationen (erist ehemaliger Direktor der Organisation Friendsof the Earth für England, Wales und Nordirland)an der Schnittstelle von Wissenschaft, Wirtschaft,Produktion und Politik im Bereich Arbeitsmedi-zin und Umweltschutz. Seit 1995 ist er bei der Eu-ropäischen Umweltagentur im Bereich „Emer-ging Issues“ für neue Entwicklungen und in derwissenschaftlichen Verbindungsstelle tätig.

Michael GilbertsonInternational Joint Commission100 Ouellette Avenue, 8th FloorWindsor Ontario N9A 6T3KanadaTel: (1) 519 257 6706E-Mail: [email protected]

Dr. Michael Gilbertson arbeitet seit 1969 für diekanadische Bundesregierung. Zum damaligenZeitpunkt initiierte er Forschungsarbeiten überden Ausbruch von Reproduktions- und Entwick-lungsstörungen bei den fischfressenden Vögelnan den unteren Großen Seen. Seit 1975 ist er ander Schnittstelle zwischen forensischer Umwelt-wissenschaft und behördlichen Maßnahmen tä-tig. Sein besonderes Interesse gilt den sozialenProzessen, die an der Umstellung von der Anwen-dung unangemessener Technologien, die nurdurch Kausalnachweise für Schäden kontrolliertwerden können, auf angemessene Technologienauf der Grundlage umweltverträglicher Prinzi-pien beteiligt sind.

Morris Greenberg74 End RoadLondon NW11 7SYVereinigtes KönigreichTel: (44) (0)20 8458 2376E-Mail: [email protected]

Dr. Morris Greenberg war vor seiner Pensionie-rung als staatlicher Gewerbearzt (Medical In-spector of Factories), Health and Safety Executivedes Vereinigten Königreichs tätig und gehörteder Dienststelle für Umwelttoxikologie des briti-schen Gesundheitsministeriums an. Er wirktebeim Aufbau des ersten Asbest-Mesotheliom-Re-gisters im Vereinigten Königreich mit und istSachverständiger für die medizinischen Aspekteeingeatmeter Faserstoffe.

Poul Harremoës Department of Environment and ResourcesTechnical University of DenmarkE-Mail: [email protected]

Poul Harremoës ist seit 1972 Inhaber eines vollenLehrstuhls für Umweltwissenschaften und Tech-nik an der Dänischen Technischen Hochschule.Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten befassteer sich unter anderem mit den Themenbereichenkommunale Abwässer, Wasserverschmutzungund -reinigung sowie Umweltmanagement. Er istMitglied des wissenschaftlichen Beirats der Euro-päischen Umweltagentur und ehemaliger Präsi-dent der International Water Association. SeineArbeiten haben ihm unter anderem den Wasser-preis der Stadt Stockholm (1992) und den Heine-ken-Preis für Umweltwissenschaft (2000) eingetra-gen. Er hat fünf Fachbücher und rund 350 weite-re Publikationen veröffentlicht (siehe www.er.dtu.dk).

Dolores Ibarreta IPTS – Institut für Prospektive Technologische Stu-dien (Gemeinsame Forschungsstelle) Europäische KommissionEdificio Expo-WTCC/ Inca Garcilaso, s/nE-41092 SevillaSpanienTel: (34) 95 448 84 45E-Mail: [email protected]

Dr. Dolores Ibarreta promovierte an der Universi-dad Complutense in Madrid in Biologie mit dem

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Fachgebiet Genetik. Forschungsarbeiten führtensie an das Centro de Investigaciones Biologicas(CIB-CSIC) in Madrid und an das Medical Centerder Georgetown University in den USA. Derzeit istsie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am IPTS(Gemeinsame Forschungsstelle, Europäische Kom-mission) tätig. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegtauf der Risikoabschätzung von endokrinen Modu-latoren (insbesondere DES) und speziell auf hor-monaktiven Substanzen in der Ernährung.

Peter InfanteHealth Standards ProgramsOccupational Safety and Health AdministrationUS Department of LaborWashington DCVereinigte StaatenE-Mail: [email protected]

In den vergangenen 25 Jahren befasste sich Dr.Peter F. Infante, D.D.S., Dr.P.H., im Auftrag desUS-Arbeitsministeriums mit der Bewertung undRegulierung von bei der Arbeit vorkommendentoxischen Substanzen. Er verfasste über 100 wis-senschaftliche Veröffentlichungen. Am Fachbe-reich Epidemiologie der University of Michiganpromovierte er über öffentliche Gesundheit, under ist Mitglied des American College of Epidemio-logy. Im Rahmen seiner Tätigkeit gehörte Dr. In-fante zahlreichen Gremien und Beiräten des Na-tional Cancer Institute, des Cancer Panel des Prä-sidenten, des Office of Technology Assessmentdes US-Kongresses und der Nationalen Akademieder Wissenschaften der USA an. In jüngster Zeitwar er als sachverständiger Berater der Welthan-delsorganisation an den Beratungen über dasVerbot von asbesthaltigen Produkten in den Mit-gliedstaaten der Europäischen Union beteiligt.

Paul JohnstonGreenpeace Research Laboratories Department ofBiological Sciences University of ExeterExeter EX4 4PSVereinigtes KönigreichE-Mail: [email protected]

Der Gewässertoxikologe Dr. Paul Johnston war1987 Mitbegründer der Greenpeace-Forschungs-laboratorien, als deren leitender wissenschaftli-cher Experte er weiterhin fungiert. Er kann aufmehr als 15 Jahre Forschungserfahrung auf demGebiet der Meeresverschmutzung zurückblicken.

Jane Keys 22 Brook EndPotton, BedfordshireSG19 2QSVereinigtes KönigreichTel: +44 (0)1767 261834E-Mail: [email protected]

Jane Keys ist freie Forschungsmitarbeiterin. SeitEnde der 80er Jahre untersucht sie Umwelt-fragen im Auftrag von Industrie, Umweltor-ganisationen und der Europäischen Umwelt-agentur. Zu ihren jüngsten Tätigkeiten zählt imAuftrag der britischen Forstkommission undanderer Stellen die Ermittlung realisierbarerund nachhaltiger wirtschaftlicher Aktivitätenzur Finanzierung und Unterstützung von natur-nahen alten Waldbeständen und von Straßen-bäumen in städtischen Bereichen im Vereinig-ten Königreich.

Janna G. Koppe Emeritus Professor of NeonatologyUniversity of AmsterdamHollandstraat 63634 AT LoenerslootNiederlandeTel: (31) 294 291589E-Mail: [email protected]

Nach Abschluss des Medizinstudiums in Amster-dam promovierte Dr. Koppe ebenfalls an der Uni-versität Amsterdam in Pädiatrie und Neonatolo-gie. 1969 erhielt sie eine Assistenzprofessur inNeonatologie, 1986 eine Vollprofessur. Von 1977bis zum Eintritt in den Ruhestand 1998 war sieLeiterin des Fachbereichs Neonatologie. IhrenBeitrag zu dieser Veröffentlichung verfasste sie inihrer Funktion als Professor Emeritus für Neona-tologie der Universität Amsterdam und Vorsitzen-de der Gesellschaft Ecobaby. 1985 nahm sie ihrebis heute fortdauernden Studien der Auswirkun-gen von Dioxinen und PCB auf ungeborene undneugeborene Kinder auf.

Barrie LambertSt Bartholomew’s and the Royal London Schoolof MedicineCharterhouse SquareLondon EC1M 6BQVereinigtes KönigreichTel: (44) (0)1273 471973E-Mail: [email protected]

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Dr. Barrie Lambert ist selbständiger Strahlenbio-loge. Seit über 30 Jahren ist er in Forschung undLehre auf diesem Gebiet tätig, sein besonderesInteresse richtet sich auf die komparativen Lang-zeitrisiken von Strahlungsbelastungen. Er berätUmweltorganisationen, die Nuklearindustrie unddie britische Regierung.

William J. LangstonPlymouth Marine Laboratory Citadel HillPlymouth PL1 2PBVereinigtes Königreich

Dr. Bill Langston forscht als Wissenschaftler amPlymouth Marine Laboratory und befasst sich seitAnfang der 80er Jahre mit Studien über Verhal-ten und Auswirkungen von Tributylzinn in derMeeresumwelt.

Malcolm MacGarvinmodus vivendiBallantruan, GlenlivetBallindalloch AB37 9AQSchottlandTel: (44) (0)1807 590396E-Mail: [email protected]

Dr. Malcolm MacGarvin ist Doktor der Ökologie.Seit Mitte der 80er Jahre arbeitet er als Beraterfür Umweltfragen für die Industrie, Umweltorga-nisationen, die Europäische Kommission und dieEuropäische Umweltagentur. Außer mit dem Vor-sorgeprinzip setzt er sich in seinen jüngsten Ar-beiten mit der Eutrophierung der Meere und derMeeresfischerei auseinander.

Erik Millstone SPRU – Science and Technology Policy ResearchUniversity of SussexBrighton BN1 9RFVereinigtes KönigreichTel: (44) (0)1273 877380E-Mail: [email protected]

Professor Erik Millstone lehrte zunächst Physikund Philosophie. Seit 1974 erforscht er Ursachen,Folgen und Regulierung von technologischenVeränderungen in der Nahrungsmittelindustrie.Seit 1988 untersucht er zudem für von der Euro-päischen Kommission finanzierte Projekte die Zu-sammenhänge zwischen Wissenschaft und Poli-tik in der Auseinandersetzung mit BSE.

Knud Børge PedersenDanish Veterinary Laboratory 27 BülowsvejDK-1790 Kopenhagen VDänemarkTel: (45) 35 30 01 23E-Mail: [email protected]

Dr. Knud Børge Pedersen DVM, Ph.D., DVSc., istseit 1985 Direktor des Dänischen Tiermedizini-schen Labors (DVL) und seit Oktober 2000 Direk-tor des Dänischen Veterinärinstituts für Virusfor-schung. Seine Doktorarbeit verfasste er über in-fektiöse Keratoconjunctivitis bei Rindern und erist Autor/Koautor zahlreicher wissenschaftlicherBeiträge über Mikrobiologie und Infektionspatho-logie. In den letzten Jahren wurden am DVL For-schungsgruppen zu antimikrobiellen Wider-standsmechanismen und Epidemiologie, insbe-sondere in Bezug auf antimikrobielle Wachs-tumsförderer, eingerichtet. Dr. Pedersen regte dieAufstellung von Verfahrensrichtlinien für denEinsatz von Antibiotika in der Veterinärmedizinund von Leitlinien für den sachgemäßen Um-gang mit antimikrobiell wirksamen Substanzenin der Veterinärmedizin an.

David SantilloGreenpeace Research Laboratories Department ofBiological Sciences University of ExeterExeter EX4 4PSVereinigtes KönigreichE-Mail: [email protected]

Der Meeres- und Süßwasserbiologe Dr. David San-tillo ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiterder Greenpeace-Forschungslaboratorien. Er ver-tritt Greenpeace International bei zahlreichen in-ternationalen Konferenzen über den Schutz derMeeresumwelt.

Arne SembNorwegian Institute for Air Research (NILU)P.O. Box 100N-2027 Kjeller NorwegenTel: +47 63 89 80 00E-Mail: [email protected]

Dr. Arne Semb ist Doktor der Chemie der Univer-sität Oslo. Seit 1971 befasst er sich am NILU mitverschiedenen Problemfeldern der Luftver-

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schmutzung. Seine wichtigsten Arbeiten sind dieBeteiligung am OECD-Programm zur Erfor-schung des großräumigen Transports von Luft-schadstoffen 1972–77, die Mitwirkung am nor-wegischen SNSF-Projekt zum sauren Regen unddessen Auswirkungen auf Wälder und Fischbe-stände 1972–80 und am EMEP-Programm zur Be-obachtung und Bewertung des großräumigenTransports von Luftschadstoffen in Europa von1977 bis heute.

Andrew StirlingSPRU – Science and Technology Policy ResearchUniversity of SussexBrighton BN1 9RFVereinigtes KönigreichTel: +44 (0)1273 877118E-Mail: [email protected]

Dr. Andrew Stirling ist leitender Dozent an derSPRU. In seinen Forschungsarbeiten und Publi-kationen setzt er sich mit einem breiten The-menspektrum im Bereich Technikfolgenabschät-zung, Umweltbeurteilung und Risikoanalyse aus-einander. Darüber hinaus ist er für eine Vielzahlakademischer Institutionen, Bürgerinitiativen,wirtschaftlicher und staatlicher Organisationentätig und war Mitglied verschiedener Beratungs-gremien.

Shanna H. Swan Research ProfessorUniversity of Missouri, ColumbiaDepartment of Family and Community MedicineMedical Sciences Building MA306LColumbia MO 65212Vereinigte StaatenTel: +1 573 884 4534E-Mail: [email protected]

Professor Shanna H. Swan, Ph.D., ist Epidemiolo-gin und Statistikerin. Sie untersucht die repro-duktiven Risiken von DES, anderen Hormonenund Umweltbelastungen. Derzeit hat sie eine For-schungsprofessur an der University of Missouri,Columbia, USA, inne, von 1981 bis 1998 leitetesie die Fachabteilung Reproduktive Epidemiolo-gie der kalifornischen Gesundheitsbehörde. In ih-ren Arbeiten im Bereich öffentliche Gesundheit,insbesondere in Bezug auf die Risiken für das un-geborene Kind, verfolgt sie seit jeher einen vor-sorgenden Ansatz.

Patrick van ZwanenbergSPRU – Science and Technology Policy ResearchUniversity of SussexBrighton BN1 9RFUnited KingdomTel: +44 (0)1273 877141E-Mail: [email protected]

Dr. Paddy van Zwanenberg war bis zu seiner Pro-motion in Wissenschafts- und Technologiepolitikals Dozent für Umweltwissenschaften tätig. In sei-ner Forschungsarbeit setzt er sich vor allem mitFragen von Wissenschaft und politischer Führungauseinander, wobei die Rolle wissenschaftlichenFachwissens in der Politik der öffentlichen Gesund-heit und der Umweltpolitik einen besonderenSchwerpunkt bildet. Er wirkte an zwei von der Eu-ropäischen Kommission finanzierten Projektenüber die Zusammenhänge zwischen Wissenschaftund Politik in der Auseinandersetzung mit BSE mit.

Sofia Guedes VazIntegrated Assessment and ReportingEuropäische UmweltagenturKongens Nytorv 61050 Kopenhagen KDänemarkTel: +45 33 36 72 02E-Mail: [email protected]

Die Umwelttechnikerin Sofia Guedes Vaz ist seit1997 bei der Europäischen Umweltagentur be-schäftigt. Ihre Fachgebiete sind Daten, Berichter-stattung, Zielsetzungen und neu entstehendeUmweltfragen. Sie hat am Imperial College einenMSc-Abschluss in Umwelttechnologie erworbenund war vor ihrem Eintritt in die EUA als Um-weltberaterin tätig.

Martin Krayer von KraussPh.D.-Student Department of Environment and ResourcesTechnical University of DenmarkE-Mail: [email protected]

Martin Krayer von Krauss studierte am Royal Mili-tary College of Canada Business Engineering undwar als Projektingenieur an der Untersuchung öl-verschmutzter Standorte beteiligt. An der Däni-schen Technischen Hochschule erwarb er einenMSc-Abschluss in Umwelttechnik. In seiner Dok-torarbeit befasst er sich mit der Ungewissheitund deren Implikationen für die Umwelttechnik.

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Brian WynneCentre for the Study of Environmental Change Institute for Environment, Philosophy and PublicPolicyFurness CollegeLancaster UniversityLancaster LA1 4YGVereinigtes KönigreichTel: +44 (0)1524 592653E-Mail: [email protected]

Brian Wynne ist Professor für WissenschaftlicheStudien am Institut für Umwelt, Philosophie undPolitik. Von 1995 bis 2000 gehörte er dem Ver-waltungsrat und dem wissenschaftlichen Beiratder Europäischen Umweltagentur an. Sein Werkumfasst umfangreiche Forschungsarbeiten undPublikationen über Risiken, Umweltfragen undwissenschaftliche Studien sowie zum öffentlichenVerständnis von Wissenschaft und Risiko.

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SPÄTE LEHRENAUS FRÜHEN WARNUNGEN:

DAS VORSORGEPRINZIP 1896—2000SPÄT

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Kontakt:UmweltbundesamtPostfach 33 00 2214191 BerlinTelefax: (030) 8903 2285Internet: www.umweltbundesamt.deE-mail: [email protected] auf Recyclingpapier aus 100 % Altpapier

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