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Leitung von Verfahren mit einer grossen Anzahl von geschädigten Personen I. Vorbemerkungen 1. Einleitung 2. Fiktive Strafanzeige als Musterfall 3. Polizeiliche Geschädigteneinvernahme ohne Teilnahmerechte des Beschuldigten/Verteidigers? 4. Die Teilnahmeerklärung der Privatklägerschaft 5. Zustellungen ins Ausland 6. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Beweiserhebungen II. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Einvernahmen 1. Vorladungen 2. Mögliche Einschränkungen der Teilnahmerechte der Privatklägerschaft an Einvernahmen 3. Vorgehensweise in der Praxis 4. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Hafteinvernahmen III. Einvernahme von Privatklägern bei Massendelikten 1. Befragungsformulare an Privatkläger (Art. 145 StPO) 2. Gruppenbildung bei Befragung von geschädigten Personen 3. Befragung per Telefon und Videobefragung IV. Zeitpunkt und Umfang des Akteneinsichtsrechts der Privatkläger V. Abgekürztes Verfahren 1. Nicht-Zustimmung eines oder mehrerer Privatkläger(s) 2. Teilnahmerechte der Privatkläger bei Vergleichsverhandlungen im abgekürzten Verfahren Seite 1

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Leitung von Verfahren mit einer grossen Anzahl von geschädigten Personen

I. Vorbemerkungen1. Einleitung

2. Fiktive Strafanzeige als Musterfall

3. Polizeiliche Geschädigteneinvernahme ohne Teilnahmerechte des Beschuldigten/Verteidigers?

4. Die Teilnahmeerklärung der Privatklägerschaft

5. Zustellungen ins Ausland

6. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Beweiserhebungen

II. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Einvernahmen1. Vorladungen

2. Mögliche Einschränkungen der Teilnahmerechte der Privatklägerschaft an Einvernahmen

3. Vorgehensweise in der Praxis

4. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Hafteinvernahmen

III. Einvernahme von Privatklägern bei Massendelikten1. Befragungsformulare an Privatkläger (Art. 145 StPO)

2. Gruppenbildung bei Befragung von geschädigten Personen

3. Befragung per Telefon und Videobefragung

IV. Zeitpunkt und Umfang des Akteneinsichtsrechts der Privatkläger

V. Abgekürztes Verfahren1. Nicht-Zustimmung eines oder mehrerer Privatkläger(s)

2. Teilnahmerechte der Privatkläger bei Vergleichsverhandlungen im abgekürzten

Verfahren

Seite 1

Sehr geehrte Damen und Herren

I. Vorbemerkung

1. Einleitung

Ich freue mich sehr, dass Sie nach den beiden informativen Referaten von heute Morgen

bereit sind, den Ausführungen eines Praktikers zum Thema „Leitung von Verfahren mit einer

grossen Anzahl von geschädigten Personen“ zu folgen. In den Untersuchungen der von mir

geleiteten Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich, die auf die Durchführung von

umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren spezialisiert ist, sind häufig viele Geschädigte

involviert, so dass meine Amtsstelle mit diesen Problemfeldern konfrontiert wird.

Im Zuge der gründlichen Befassung mit dem Thema wurde mir klar, dass viele in diesem

Zusammenhang interessierende Fragen trotz oder gerade wegen der in der

Strafprozessordnung vorzufindenden Regelungsdichte heute noch unklar sind.

In der kommenden halben Stunde werde ich versuchen, Ihnen diesbezüglich einige

Praktikerlösungen im Umgang mit dieser nicht einfachen Materie zu präsentieren.

Als Vertreter der Strafverfolger halte ich mich hierbei an die Prämisse, dass als oberstes

Gebot die effiziente Förderung der Untersuchung sowie Ermittlung des Sachverhaltes im

Vordergrund stehen sollte. Bis zum Vorliegen einer anderslautenden Rechtsprechung bin ich

hierbei als Praktiker bereit, rechtlich vertretbare Wege in pragmatischer und kreativer Weise

zu beschreiten, ohne mich ständig als eigenes Kassationsgericht zu verstehen.

2. Fiktive Strafanzeige als Musterfall

Um möglichst rasch in medias res zu kommen, präsentiere ich Ihnen zunächst eine fiktive

Strafanzeige (Beilage), aus der die Probleme für die Strafverfolger mit Blick auf die

Geschädigten bzw. Privatklägerschaft leicht erkennbar sind.

Der Sachverhalt interessiert hier eigentlich nicht näher. Aber Sie sehen die Problematik: wohl

mehrere Beschuldigte, über 500 potentielle Geschädigte, 300 sich konstituierende

Privatkläger, wovon 150 mit Wohnsitz im Ausland, Geltendmachung von

Akteneinsichtsbegehren und Teilnahmerechten an Beweiserhebungen, teilweise

Verweigerung der Privatklägerschaft zur Zustimmung zum abgekürzten Verfahren gemäss

Art. 358 StPO. Wie gehen wir in der Praxis mit solchen Situationen um?

Seite 2

Diese Konstellation - nennen wir es Massendelikt - ist nicht etwa fiktiv, wie die kürzlich

ergangene Berichterstattung über den grössten je untersuchten Schwyzer Betrugsfall zeigt,

nämlich der Devisenhandel der Firma Ipco Investment AG1 mit 650 geschädigten Anlegern

mit einem Deliktsbetrag von CHF 125 Mio. Typische Fälle in der Praxis, in denen eine

Vielzahl von Geschädigten anzutreffen ist, sind somit Anlagebetrugsfälle, aber z.B. auch

Churningverfahren (Kommissionsreiterei) sowie Veruntreuungskonstellationen, in denen

Gelder für Anlagen gepoolt werden. Weiter zu denken ist auch an gewerbsmässigen

Diebstahl und - bezogen auf die Pfändungsgläubiger - an Konkursdelikte.

In derartigen Verfahren mit einer grossen Anzahl geschädigter Personen liessen sich viele

Fragen aufwerfen und diskutieren. Die mir zur Verfügung stehende Zeit ist aber nicht

ausreichend, um sich sämtlicher Problemstellungen anzunehmen, weshalb ich mich auf

folgende Kernthemen beschränken möchte: (1) Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen, (2)

Akteneinsichtsrechte und (3) abgekürztes Verfahren.

3. Polizeiliche Geschädigteneinvernahme ohne Teilnahmerechte des Beschuldigten/ Verteidigers?

Liegt aufgrund einer Strafanzeige oder gestützt auf die Erkenntnisse aus einem polizeilichen

Ermittlungsverfahren ein hinreichender Tatverdacht vor, erlässt die Staatsanwaltschaft zur

Eröffnung des Vorverfahrens eine Eröffnungsverfügung (Art. 309 StPO). Diese

Eröffnungsverfügung definiert die beschuldigte Person und die Straftat, die ihr zur Last

gelegt wird.

Zurückkommend auf unsere fiktive Strafanzeige sind somit im Zeitpunkt der

Anzeigeerstattung zunächst zwei Geschädigte bekannt. Im Zuge der Ermittlungen ist die

Staatsanwaltschaft aufgrund der Auswertung der sichergestellten Akten indessen auf weitere

500 Geschädigte gestossen, bei welchen ein ähnliches Täterverhalten vermutet wird.

Bekanntlich sind für die Staatsanwaltschaft nach eröffneter Untersuchung lediglich

parteiöffentlich durchgeführte Einvernahmen zulässig (Art. 147 Abs. 1 StPO), was im Sinne

von Art. 312 Abs. 2 StPO auch auf delegierte Einvernahmen zutrifft, welche die Polizei im

Auftrag der Staatsanwaltschaft durchführt. Mit Blick auf unseren Musterfall stellt sich in der

Startphase bereits eine erste heikle Frage, nämlich ob angesichts dieser gesetzlichen

Modalitäten strafprozessual überhaupt noch die Möglichkeit besteht, die (potentiell)

geschädigten Anleger vorerst nicht parteiöffentlich - d.h. ohne Anwesenheit der

Beschuldigten und deren Verteidiger - einzuvernehmen, was unter Effizienzaspekten

1 Der Landbote, 24.04.2013, Seite 36

Seite 3

natürlich wünschenswert wäre. In Bezug auf unser Massendelikt würde dies organisatorisch

zu einer starken Vereinfachung des Untersuchungsverfahrens und als Nebeneffekt wohl

auch zu einer Reduktion der Verteidigeraufwendungen führen. Viel wichtiger ist jedoch, dass

dieses Vorgehen einen wichtigen Erkenntnisgewinn der Staatsanwaltschaft vor

Durchführung der später stattfindenden parteiöffentlichen Beweiseinvernahmen von Zeugen

bzw. Auskunftspersonen für den Fall der sich konstituierten Privatklägerschaft (Art. 178 lit. a

StPO) zur Folge hätte. Aufgrund einer vorausgehenden polizeilichen Befragung liesse sich

hierdurch nämlich die Qualität einer späteren beweistauglichen Einvernahme abschätzen,

wobei aufgrund dieser Einvernahmen überdies die parteiöffentlich einzuvernehmenden

Zeugen bzw. Auskunftspersonen gezielt triagiert werden könnten.

Gestützt auf Art. 306 Abs. 2 lit. b StPO befragt die Polizei geschädigte Personen. Erfolgt eine

Strafanzeige direkt bei der Polizei, wird diese nach wie vor standardmässig den

Anzeigeerstatter bzw. eben den Geschädigten als polizeiliche Auskunftsperson i.S. von Art.

179 StPO einvernehmen und hernach den Rapport mit dieser nicht parteiöffentlich erfolgten

Geschädigtenbefragung an die Staatsanwaltschaft weiterleiten, die hernach mit diesen

Grundlagen die Verdachtsprüfung vornehmen kann.

Ausgerechnet bei komplexen Geschädigtenfällen, die häufig durch direkt an die

Staatsanwaltschaft gerichtete Strafanzeigen von Anwaltskanzleien ausgelöst werden,

müsste jedoch bei der Prüfung des hinreichenden Anfangstatverdachts bei enger Auslegung

von Art. 309 Abs. 1 StPO auf die wichtige Grundlage einer vorausgehenden polizeilichen

Geschädigtenbefragung paradoxerweise verzichtet werden.

Unter Schutzaspekten würde dies durchaus auch den Interessen des Beschuldigten

widersprechen, da sich Anwaltsanzeigen in Bezug auf den Beschuldigten naturgemäss auf

belastende Momente konzentrieren und entlastende Gesichtspunkte ausblenden. Kann dies

der Absicht des Gesetzgebers entsprechen?

Vor diesem Hintergrund ist es unseres Erachtens opportun den Standpunkt einzunehmen,

dass eine eingehende Geschädigtenbefragung eine unabdingbare Grundlage für die

Verdachtsprüfung darstellen muss, die nicht durch eine von Anwälten verfasste Strafanzeige

ersetzt werden kann. Die Anwaltschaft ist nämlich bei der Formulierung der Strafanzeige den

Interessen der Mandantschaft verpflichtet, wogegen die polizeiliche Einvernahme auf

Wahrheitsfindung ausgerichtet ist. Durch eine der Untersuchungseröffnung vorausgehende

Einvernahme werden zudem die Erinnerungen des Geschädigten zeitnah fixiert, wobei

zudem im Falle einer Inhaftierung des Beschuldigten die Geschädigtenbefragung zur

Quantifizierung des dringenden Tatverdachts herangezogen werden kann. Wenn immer

nachvollziehbar begründbar ist, weshalb eine solche Befragung erforderlich ist, sollte

Seite 4

unseres Erachtens daher auch bei direkt bei der Staatsanwaltschaft eingehenden

Strafanzeigen der Spielraum von Art. 309 Abs. 2 StPO genutzt werden, indem die Polizei -

vor Untersuchungseröffnung - zur genauen Prüfung des Tatverdachtes durch einen

Vorermittlungsauftrag zur Durchführung einer nicht parteiöffentlichen Einvernahme des

Geschädigten als polizeiliche Auskunftsperson beauftragt wird. Somit ist auch im Musterfall

in Bezug auf die beiden Anzeigeerstatter vorerst zu prüfen, ob die Polizei eine nicht

parteiöffentliche Befragung vorzunehmen hat (Art. 309 Abs. 2 StPO), die unseres Erachtens

jedoch ohne Anwesenheit des Rechtsvertreters des Geschädigten stattfinden sollte.

Unseres Erachtens sind nicht parteiöffentliche Geschädigteneinvernahmen auch im Ausland

in Form des polizeilichen Amtshilfeweges möglich d.h. ohne Rechtshilfeersuchen, sofern mit

dem betroffenen Staat ein Staatsvertrag besteht, welcher polizeiliche Amtshilfemassnahmen

vorsieht.

Nach Vornahme dieser Ermittlungshandlung folgen im Musterfall Bankeditionen,

Hausdurchsuchungen und wohl auch Festnahmen, was bezogen auf den die beiden

Anzeigeerstatter betreffenden Sachverhalt dann zur Eröffnung der Untersuchung führt (Art.

309 Abs. 1 lit. b StPO). Im Zuge dieser Abklärungen stossen wir im Musterfall auf weitere

Kundendossiers, die zur Vermutung führen, dass eine weitere grosse Zahl von Kunden

geschädigt worden sein könnte. Bei einer Triagierung dieser Dossiers stellen wir fest, dass

von sämtlichen Kunden 500 Anleger in der bereits beanzeigten Weise ihre Mittel verloren

haben könnten, so dass diese als potentielle Geschädigte in Frage kommen.

Bei dieser Konstellation ist es unseres Erachtens wiederum vertretbar, mit Bezug auf den

Tatverdacht zur Erlangung der erforderlichen Informationen auch diese Kunden zunächst

durch die Polizei nicht parteiöffentlich befragen zu lassen2 oder von diesen alternativ einen

schriftlichen Bericht einzufordern (Art. 145 StPO) bzw. mittels Rundbrief mit der Einräumung

zur Abgabe einer Stellungnahme zu orientieren.3 Nachdem schliesslich feststeht, welche

Kunden effektiv geschädigt wurden, sind hernach die Beschuldigten darüber zu informieren,

dies z.B. in einer Einvernahme.

4. Die Teilnahmeerklärung der Privatklägerschaft (Mutation von der geschädigten Person zum Privatkläger)

Als geschädigte Person gilt nach Art. 115 StPO diejenige Person, die durch die Straftat in

ihren Rechten unmittelbar verletzt worden ist. Vor der Konstituierung als Privatklägerschaft

kommt der geschädigten Person die Stellung einer „anderen Verfahrensbeteiligten“ zu (Art. 2 Gleiche Richtung: Ulrich Weder „Die Teilnahmerechte in der delegierten Einvernahme einer Auskunftsperson“, Aufsatz im forumpoenale 4/2012, v.a. S. 2333 Niklaus Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 108 Abs. 1 StPO, N 4, Zürich/St. Gallen 2009

Seite 5

105 Abs. 1 StPO). Als Privatklägerschaft gilt die Person, welche durch die Straftat in ihren

Rechten unmittelbar verletzt worden ist und ausdrücklich erklärt, sich am Strafverfahren als

Straf- oder Zivilkläger zu beteiligen (Art. 118 Abs. 1 StPO, Art. 119 Abs. 2 StPO). Mit der

Abgabe der Willenserklärung wird sie gemäss Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO zur Partei im

Strafverfahren. Damit ändert sich die prozessuale Stellung der geschädigten Person, und sie

wird vom passiven zum aktiven Teilnehmer im Vorverfahren. Der Privatklägerschaft stehen

grundsätzliche alle Parteirechte offen.

Im Falle der Konstituierung als Privatkläger werden der geschädigten Person diverse Rechte

eingeräumt, die z.B. in Art. 107 StPO (Rechtliches Gehör) festgehalten sind. Um im

Musterfall den Geschädigten die Ausübung ihrer prozessualen Rechte gewährleisten zu

können, sind diese vorerst über die eröffnete Untersuchung in Kenntnis zu setzen.

Die Teilnahmeerklärung der Privatklägerschaft muss gegenüber der

Strafverfolgungsbehörde spätestens bis zum Abschluss des Vorverfahrens abgegeben

werden (Art. 118 Abs. 3 StPO). Hat die geschädigte Person von sich aus keine Erklärung

abgegeben, so weist sie die Staatsanwaltschaft nach Eröffnung des Vorverfahrens auf diese

Möglichkeit hin (Art. 118 Abs. 4 StPO). In der Praxis stellt die Staatsanwaltschaft den

geschädigten Personen das Formularset „Ihre Rechte im Strafverfahren/Geltendmachung

von Rechten als Privatklägerschaft“ zu.

Mit diesem Formular können die geschädigten Personen erklären, ob sie sich am Verfahren

als Privatkläger beteiligen und Parteirechte ausüben möchten, ob sie im Verfahren als

Strafkläger mitwirken wollen, und ob sie an Einvernahmen teilzunehmen wünschen.

Gleichzeitig bietet sich den Privatklägern mittels dieses Formulars die Möglichkeit, ihre

finanziellen Ansprüche zu beziffern und im Falle eines ausländischen Wohnsitzes ein

Zustellungsdomizil in der Schweiz zu bezeichnen.

Nach dem Versand dieses Formularsets verfügen wir über die folgenden

Reaktionsmöglichkeiten der Geschädigten:

- Konstituierung als Privatklägerschaft: Strafkläger und/oder Zivilkläger

- Verzicht auf Privatklägerschaft (Art. 120 StPO)

- Ausbleiben einer Antwort oder Retournierung eines unvollständig ausgefüllten

Formulars.

Mit Blick auf den Musterfall ist festzuhalten, dass diejenigen geschädigten Personen, die auf

eine Beteiligung als Privatklägerschaft verzichten, die Staatsanwaltschaft in Bezug auf die

Einräumung von Teilnahmerechten und Akteneinsichtsrechten grundsätzlich vor keine

praktischen Probleme stellen. Diesfalls wäre unseres Erachtens sogar eine

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Opportunitätseinstellung möglich. Allerdings kann die geschädigte Person ihre Erklärung

bezüglich Konstitution als Privatkläger bis zum Abschluss des Vorverfahrens abgeben (Art.

118 Abs. 3 StPO). In Ergänzung der Formulierung von Art. 318 Abs. 1 StPO wird daher in

der Praxis das Formular „Bevorstehender Abschluss der Untersuchung“ auch der

geschädigten Person, die nicht auf Konstituierung verzichtet hat, zugestellt (Art. 105 Abs. 2

StPO). Dies bedeutet, dass nicht verzichtenden Geschädigten ihre Parteirechte auf ihr

Begehren hin einzuräumen sind;4 weitere Mitteilungspflichten wie z.B. die Bekanntgabe von

Vorladungsterminen, bestehen für die Staatsanwaltschaft indessen nicht.

Mögliche Besonderheit beim Massendelikt:

Das vorgenannte Formular eröffnet eine weitere Möglichkeit, bei der Bearbeitung unseres

fiktiven Falls Erleichterung zu erlangen, indem

die geschädigten Personen auf ein Anwesenheitsrecht bei Einvernahmen verzichten

können

dieses hinsichtlich sich im Ausland aufhaltenden Personen angepasst wird:

Bezeichnung von Zustelldomizil in der Schweiz (Art. 87 Abs. 2 StPO)

Hinweis auf möglicherweise rechtshilfeweise zu erfolgende Beweiserhebungen

Hinweis auf mögliche Zustellungen im kantonalen Amtsblatt unter Nennung der

Website, sofern keine direkten Zustellungen ans Ausland gemacht werden müssen

und kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet wurde

Verzicht des Hinweises auf Einreichen von Beweismitteln, um sich nicht dem

Vorwurf von verbotenen Auslandermittlungen auszusetzen.5

5. Zustellungen ins Ausland

Grosse Wirtschaftsstrafverfahren haben in der Praxis regelmässig einen internationalen

Bezug. Damit geht einher, dass - wie im Musterfall - eine grosse Anzahl geschädigter

Personen ihren Wohnsitz im Ausland hat. Aus diesem Grund sind die geschädigten

Personen mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthalt oder Sitz im Ausland gestützt auf Art. 87

Abs. 2, 1. Halbsatz StPO i.V.m. Art. 115 StPO, aufzufordern, ein Zustellungsdomizil in der

Schweiz zu bezeichnen. Im Falle, dass die geschädigte Person kein Zustellungsdomizil in

der Schweiz bezeichnet hat und ein Staatsvertrag besteht, welcher die direkte Zustellung

erlaubt, erfolgt die Zustellung an das ausländische Domizil (Art. 87 Abs. 2 StPO). Andernfalls

erfolgt die Mitteilung durch öffentliche Bekanntmachung (Art. 88 Abs. 1 Bst. c StPO). Im Falle

4 Niklaus Schmid, Handbuch StPO, N 692, Zürich/St. Gallen 20095 Ev. modifizierte Formulierung: freiwillige Einreichung von Beweismitteln

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von direkten Zustellungen ins Ausland darf z. B. jedoch bei Vorladungen keine Androhung

von Zwangsmassnahmen erfolgen.

Die Aufforderung zur Bezeichnung eines Zustellungsdomizils erfolgt regelmässig zusammen

mit dem bereits erwähnten Formular an die geschädigten Personen, mit welchem auch die

Zivilansprüche etc. anzumelden sind. Das Schadenersatzformular kann unseres Erachtens

direkt an den Geschädigten im Ausland zugestellt werden.

Ob hingegen die Mitteilung des Verfahrensabschlusses gemäss Art. 318 StPO auf direktem

Weg an die geschädigten Personen ins Ausland zugestellt werden kann, hängt davon ab, ob

man hierbei das Element des Entscheids des bevorstehenden Verfahrensabschlusses in den

Vordergrund stellt, oder ob man diese als Beweiserhebung betrachtet, da die geschädigten

Personen gleichzeitig aufgefordert werden, innert angesetzter Frist allfällige Beweisanträge

einzureichen. Unseres Erachtens ist die Mitteilung gemäss Art. 318 StPO als Einladung zur

Stellung möglicher Beweisanträge zu erachten und nicht als Beweiserhebung im Ausland.

Sollte man hingegen bei der Mitteilung des Verfahrensabschlusses im Sinne von Art. 318

StPO) der Ansicht sein, es handle sich um eine Beweiserhebung und eine direkte Zustellung

sei folglich nicht zulässig, ergibt sich aus der Auslegung von Art. 87 Abs. 2 StPO6 die

Möglichkeit einer öffentlichen Bekanntmachung, sofern ein Schweizer Zustellungsdomizil

nicht genannt wurde.

6. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Beweiserhebungen

Art. 147 StPO räumt den Parteien, damit auch der Privatklägerschaft, ein Recht auf

Anwesenheit bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft ein. Die Privatklägerschaft

hat grundsätzlich Anspruch auf unmittelbare Anwesenheit. Sie darf sich in dem Raum

befinden, in dem die Beweiserhebung stattfindet. Dieses Anwesenheitsrecht ist nicht auf

Einvernahmen beschränkt, sondern auch bei anderen Beweiserhebungen zu

berücksichtigen. Allerdings beschränken sich die Rechte der Privatklägerschaft auf die

Beweiserhebungen, die diejenige Straftat betreffen, durch die die Privatklägerschaft in ihren

Rechten unmittelbar verletzt worden ist.

Konstituiert sich die Privatklägerschaft erst im Verlaufe des Vorverfahrens nach bereits

erfolgten Beweiserhebungen, findet keine Rückwirkung der Teilnahmerechte statt.7

Verpasste Beweiserhebungen sind grundsätzlich nicht zu wiederholen. Jedoch verleiht der

6 Art. 87 Abs. 2 StPO lautet: Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen

7 Stefan Christen, Zum Anwesenheitsrecht der Privatklägerschaft im schweizerischen Strafprozessrecht (in ZStrR Band 129 – 2011, S. 468)

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Anspruch auf rechtliches Gehör der Privatklägerschaft das Recht, sich zu den erhobenen

Beweisen zu äussern und ergänzende Anträge zu stellen.

In der Praxis geht das Anwesenheits- und Fragerecht der Privatklägerschaft im Sinne von

Art. 147 StPO in Verfahren mit einer Vielzahl von Geschädigten selbstredend mit diversen

organisatorischen Schwierigkeiten einher.

Wie hat die Staatsanwaltschaft im Musterfall mit den 300 Privatklägern umzugehen? Dies

vor der Prämisse, dass die Strafprozessordnung keine Möglichkeit vorsieht, die

Teilnahmerechte in einem solchen Fall einzuschränken. Die Privatkläger müssten schriftlich

auf ihre Rechte verzichten, ansonsten sind deren Teilnahmerechte grundsätzlich zu wahren.

Eine Verletzung der Teilnahmerechte der Privatklägerschaft kann komplexe Fragen

hinsichtlich des Verwertungsverbotes mit sich bringen, worauf ich später noch näher

eingehen möchte.

Müssen Sie alle Privatkläger befragen? Wie lösen Sie es, wenn Sie all diesen Privatklägern

ein Teilnahmerecht z. B. an der Einvernahme der Beschuldigten einräumen müssen? Findet

diese im Hallenstadion statt, was dann etwa so aussähe?

Ich möchte Ihnen nun einige dieser Problemstellungen aus Sicht eines Praktikers schildern

und gangbare Lösungsmöglichkeiten aufzeigen.

II. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Einvernahmen

1. Vorladungen

Damit die Privatklägerschaft das ihr zustehende Teilnahmerecht an Einvernahmen von

beschuldigten Personen, Auskunftspersonen und Zeugen wirksam ausüben kann, bedingt

dies eine rechtzeitige Bekanntgabe der Vorladung. Aus der Geltendmachung des

Anwesenheitsrechts lässt sich für die Privatklägerschaft jedoch keinen Anspruch auf

Verschiebung der Einvernahme ableiten (Art. 147 Abs. 2 StPO). Jedoch hat die

Verfahrensleitung auf die Abkömmlichkeiten der Parteien und ihrer Rechtsbeistände

Rücksicht zu nehmen.

Da es in der Praxis in Verfahren mit einer Vielzahl von Parteien kaum möglich sein wird, mit

jeder einzelnen Partei Terminabsprachen vorzunehmen und schliesslich einen Termin zu

finden, der allen Parteien passt, bietet sich als einzige Möglichkeit an, die Termine frühzeitig

bekannt zu geben, so dass sich die Parteien und deren Vertreter diese rechtzeitig vormerken

und sich gegebenenfalls im Falle von Unabkömmlichkeit substituieren lassen können. Eine

andere Lösung bestünde darin, dass verhinderten Parteien nahegelegt wird, auf die

Seite 9

Teilnahme schriftlich zu verzichten und diesen gleichzeitig angeboten wird, allfällige Fragen

schriftlich bei der Staatsanwaltschaft einzureichen.

Nebst terminlichen Schwierigkeiten kommen Sie nicht umhin, für Einvernahmen mit einer

Vielzahl teilnehmender Parteien geeignete Räumlichkeiten zu organisieren. Um ungefähr die

Teilnehmeranzahl sowie den damit verbundenen Raumbedarf abschätzen zu können,

besteht die Möglichkeit, auf der an die Parteien ergehenden Vorladung den Hinweis

anzubringen, aus organisatorischen Gründen werde bei einer Teilnahme eine telefonische

Rückmeldung gewünscht. In einem gewerbsmässigen Betrugsfall mit ca. 170 Geschädigten

hat ein zürcherisches Landgericht auf diese simple Rückmeldung verzichtet und in

Erwartung eines Geschädigtenansturms extra den Gemeindesaal für die Durchführung der

Hauptverhandlung gemietet – erschienen sind letztlich nicht einmal 10 Geschädigte!

2. Mögliche Einschränkungen der Teilnahmerechte der Privatklägerschaft an Einvernahmen

Da Privatkläger als Auskunftspersonen einzuvernehmen sind (Art. 178 lit. a StPO), können

diese im Sinne von Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO vorübergehend von Verhandlungen

ausgeschlossen werden, dies vornehmlich in Bezug auf zeitlich vorausgehende

Beschuldigteneinvernahmen. Bei einem derartigen Ausschluss des Privatklägers stellt sich

die Frage, ob auch der Rechtsvertreter des Privatklägers von der Teilnahme an einer

Einvernahme z.B. eines Beschuldigten ausgeschlossen werden kann. Aus dem

Mandatsverhältnis ist der Vertreter des Privatklägers verpflichtet, seinem Mandanten

Rechenschaft abzulegen resp. ihn über die Erkenntnisse aus der Befragung zu informieren.

Ist der Privatkläger vor seiner Erstbefragung bereits über Inhalte anderer Einvernahmen

durch seinen Rechtsvertreter informiert worden, könnte dies jedoch sein Aussageverhalten

beeinflussen, was nicht im Sinne der Wahrheitsfindung sein kann. Ein Ausschluss des

Privatklägervertreters bei Einvernahmen vor der Erstbefragung seines Mandanten muss

unseres Erachtens daher möglich sein. In der Praxis hat es sich als bewährte Lösung

erwiesen, den Privatklägervertreter vor der Erstbefragung seines Mandanten bei

anstehenden Einvernahmen anderer Personen zu kontaktieren und ihn zu fragen, ob er im

Sinne der Wahrheitsfindung, unbeeinflussten Beweisführung und damit zur Steigerung des

Beweiswertes der später erfolgenden Einvernahme seines Klienten einverstanden sei,

vorerst von Einvernahmen ausgeschlossen zu werden. Im Musterfall verschafft dies Raum,

die Beschuldigten bis zur Durchführung der eigentlichen Beweiseinvernahmen mit den

Privatklägern als Auskunftspersonen vorerst ohne die Anwesenheit der Privatkläger und

deren Vertreter einzuvernehmen.

Seite 10

Das Obergericht des Kantons Zürich hatte sich in einem Beschluss vom 10. Mai 20128 mit

einem Fall zu beschäftigen, in welchem die Staatsanwaltschaft einer Privatklägerin und

deren Rechtsvertreterin die Teilnahme an Einvernahmen der beschuldigten Personen

vorübergehend verweigerte. Dieses Gesuch um Teilnahme an sämtlichen

Beweiserhebungen stellte die Privatklägerin, nachdem sie selbst bereits einmal als

Auskunftsperson befragt worden war.

Zur Begründung der vorübergehenden Verweigerung des Teilnahmerechts führte die

Staatsanwaltschaft im Wesentlichen aus, dass bei Gutheissung des Gesuches um

Gewährung der Teilnahmerechte an sämtlichen Beweisabnahmen die konkrete Gefahr

bestünde, dass das Aussageverhalten der Privatklägerin beeinflusst werden könnte. Das

Interesse an der unbeeinflussten Beweisabnahme sei höher zu gewichten als das Interesse

der Privatklägerin, bereits vorgängig ihrer Zweitbefragung an den Einvernahmen der

beschuldigten Personen teilzunehmen. Dieses Recht werde der Privatklägerin nach

Durchführung deren Zweitbefragung gewährt.

Das Obergericht des Kantons Zürich führte unter Hinweis auf Art. 146 Abs. 4 StPO aus, dass

die Verfahrensleitung eine Person vorübergehend von der Verhandlung ausschliessen

könne, wenn eine Interessenkollision bestehe, oder wenn diese Person im Verfahren noch

als Zeuge, Auskunftsperson oder sachverständige Person einzuvernehmen sei. Bei der

Privatklägerschaft sei die Ausschlussmöglichkeit nach Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO aber sehr

restriktiv zu handhaben. Die Privatklägerschaft verfüge als Partei über das Recht, bei

Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft anwesend zu sein und einvernommenen

Personen Fragen zu stellen. Der Entscheid, allenfalls auf eine Teilnahme an den

Einvernahmen anderer Personen zu verzichten, um den Beweiswert der eigenen Aussagen

nicht zu beeinträchtigten, müsse der Privatklägerschaft - nachdem sie ein erstes Mal

einvernommen worden sei - selbst überlassen werden. Nachdem die Privatklägerin bereits

einmal befragt worden sei, lasse sich der Ausschluss von den Einvernahmen der

beschuldigten Personen nicht auf Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO stützen. Andere Gründe für

einen Ausschluss im Sinne von Art. 108 StPO würden ebenfalls nicht vorliegen, weshalb die

Privatklägerin zu Unrecht von den Einvernahmen der Beschuldigten ausgeschlossen worden

sei.

Dieser Entscheid verdeutlicht, dass nach einer Erstbefragung eines Privatklägers als

Auskunftsperson kaum Raum mehr besteht, diesem die Teilnahme an Einvernahmen der

8 Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 10. Mai 2012 (Geschäfts-Nr.: UH110244-O/U/gk), Seite 11 ff.

Seite 11

beschuldigten Personen zu verweigern, dies vorbehältlich von Ausschlussgründen, welche

sich aus Art. 108 StPO ableiten lassen.

Eine weitere Frage, welche sich in der Praxis bei einer Vielzahl von zu befragenden

Privatklägern stellt, ist folgende: Privatkläger 1 hat die staatsanwaltschaftliche Erstbefragung

bereits hinter sich. Sind ihm nun bei den zeitlich später anberaumten Einvernahmen der

Privatkläger Teilnahmerechte einzuräumen? Unseres Erachtens verfügt die

Privatklägerschaft lediglich über Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen, soweit sie selber

in der Sache unmittelbar betroffen ist. Insofern dürften bei der Befragung von anderen

Privatklägern grundsätzlich keine Teilnahmerechte bestehen. In diese Richtung weisen denn

auch die Kommentare betreffend „Zustellung der Anklage“ im Sinne von Art. 327 StPO,

indem der Privatklägerschaft grundsätzlich nur jene Punkte der Anklageschrift zu übermitteln

sind, in welchen diese Person betroffen ist. Bei weiter Gesetzesauslegung sollen den

Privatklägern somit diejenigen Anklagestellen zuzustellen sein, die den Sachverhaltskomplex

betreffen, hinsichtlich dessen Ansprüche geltend gemacht werden.9 Von diesem Grundsatz

kann abgewichen werden, wenn es sich nach der Art der Delikte gebietet (z.B.

gewerbsmässiges Vermögensdelikt) oder eine bloss teilweise Mitteilung der Anklage aus

praktischen Gründen kaum zu bewerkstelligen wäre.10 In Berücksichtigung dieser

Überlegungen kann unseres Erachtens hinsichtlich von nicht deliktsrelevanten

Sachverhalten auch kein parteiöffentliches Teilnahmerecht bestehen. Insofern ist daher ein

Teilnahmerecht der bereits einvernommenen Privatklägerschaft an den Einvernahmen von

weiteren Privatklägern zu verneinen.

3. Vorgehensweise in der Praxis

Wenn Sie sich nun aufgrund der Gesetzgebung und der dazu zitierten Rechtsprechung vor

Augen halten, dass Sie die Teilnahmerechte der Privatklägerschaft nur in wenigen Fällen

einschränken können, dann ist rasch ersichtlich, dass der Praktiker zur Wahrung aller

Parteirechte in Grossverfahren unweigerlich an seine Grenzen stossen muss. Denken Sie an

den Musterfall mit der Durchführung einer Beschuldigteneinvernahme, anlässlich welcher Sie

zumindest in der Spätphase der Beschuldigteneinvernahmen über 300 Privatklägern von

Gesetzes wegen ein Teilnahme- und Fragerecht einräumen müssen. Wollen Sie dieses

Prozedere lege artis vollziehen, stehen Sie regelmässig in einem Spannungsfeld zwischen

einerseits rascher Wahrheitsfindung, Verhinderung von Beweisverlust und

9 BSK, Stefan Heimgartner/Marcel Alexander Niggli, Art. 327 StPO, N 6, Basel 201110 Kommentar zur Schweizerischen StPO, Nathan Landshut, Art. 327 StPO, N 3, Zürich 2010

Seite 12

Beschleunigungsgebot und andererseits Gewährung von Parteirechten an sämtliche

Parteien.

Hier müssen in der Praxis und der Rechtsprechung Lösungen gefunden werden.

Wie kann das Verfahren beschleunigt und vereinfacht werden? Zunächst ist an den Fall zu

denken, dass der Privatkläger ausdrücklich auf seine Teilnahmerechte verzichtet. Weiter

bestehen unseres Erachtens Teilnahmerechte - wie erwähnt - ohnehin nur bei

Beweiserhebungen, soweit der Privatkläger selber in der Sache unmittelbar betroffen ist.

Sodann können Teilnahmerechte gestützt auf Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO eingeschränkt

werden, dies für den Fall, dass der Privatkläger noch als Auskunftsperson parteiöffentlich

einvernommen werden muss.

Es stellt sich ausserdem die Frage, ob bei Massendelikten aus praktischen Gründen und

gestützt auf Art. 5 StPO (Beschleunigungsgebot) weitere Einschränkungen von gewissen

Rechten (z.B. Anwesenheitsrecht) der Privatkläger zulässig sind, was jedoch die

Rechtsprechung erst noch wird entscheiden müssen. So schreibt Niklaus Schmid im StPO

Praxiskommentar: „Über 108 StPO und z.B. 149 ff. StPO hinausgehend sind weitere Gründe

denkbar, bei deren Vorliegen aus zwingenden, aber eher praktischen Gründen die

Gewährung des rechtlichen Gehörs an Grenzen stösst, so z.B. in Fällen mit zahlreichen

Parteien (Anlagebetrug mit Tausenden von Geschädigten). Hier sind alternative Formen des

rechtlichen Gehörs zu entwickeln, z.B. schriftliche Orientierung mit Rundbrief; bei 147 StPO

nachträgliche Öffnung der Akten mit Möglichkeit von Ergänzungsfragen.“11 Immerhin enthielt

der Vorentwurf ausdrücklich eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs aus

organisatorischen Gründen (VE Art. 159).

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft wird zugegebenermassen im Falle unüberwindbarer

praktischer Schwierigkeiten bei Durchführung von Einvernahmen meistens den Aspekten der

raschen Wahrheitsfindung, der Verhinderung von Beweisverlust und dem beschleunigten

Fortgang des Verfahrens der Vorrang gewährt. Auf diese Weise wird zweifelsohne die

mögliche Verletzung von Teilnahmerechten einzelner Privatkläger in Kauf genommen.

Ganz generell ist mit Bezug auf die Verwertung von Beweisen, welche in Verletzung der

Parteirechte der Privatklägerschaft erhoben wurden, festzuhalten, dass ein Beweis dann als

zulasten der Privatklägerschaft verwertet gilt, wenn sich die aus dem Beweis gezogenen

Schlussfolgerungen nachteilig für die Privatklägerschaft auswirken und sie deshalb mit ihrer

Straf- oder Zivilklage unterliegt. Voraussetzung ist, dass sich der Entscheid auf den

mangelhaften Beweis stützt.12 So könnte z. B. ein Privatkläger, welchem die Teilnahme und

11 Niklaus Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 108 Abs. 1 StPO, N 4, Zürich/St. Gallen 200912 Stefan Christen, Zum Anwesenheitsrecht der Privatklägerschaft im schweizerischen

Strafprozessrecht (in ZStrR Band 129 – 2011, S. 473)

Seite 13

das Recht auf Stellen von Ergänzungsfragen an der Einvernahme der beschuldigten Person

verweigert wurde, geltend machen, er hätte die entscheidenden Ergänzungsfragen der

beschuldigten Person gestellt, welche notwendig gewesen wären, um diejenige Straftat

nachzuweisen, durch welche er unmittelbar in seinen Rechten verletzt worden sei.

Die vorgängig im Falle unüberwindbarer, praktischer Schwierigkeiten erwähnte Inkaufnahme

der Verletzung von Teilnahmerechten einzelner Privatkläger ist unseres Erachtens

vertretbar, weil dem in seinen Parteirechten verletzten Privatkläger bei Abschluss des

Verfahrens einerseits ein Beweisantragsrecht zusteht, und der Privatkläger andererseits im

Falle der Einstellung des Verfahrens zur Ergreifung eines Rechtsmittels legitimiert ist, das

zur Wiederaufnahme der Untersuchung führen kann. Im Falle einer Anklage entstehen dem

in seinem Teilnahmerecht verletzten Privatkläger vorerst keine Rechtsnachteile. Erfolgt eine

Verurteilung der beschuldigten Person, kann sich die Privatklägerschaft nicht auf die

Verletzung ihrer Teilnahmerechte berufen, um eine Erhöhung des Strafmasses zu

beantragen. Als Strafklägerin kann sie nur die Verfolgung und Bestrafung verlangen (Art. 119

Abs. 2 lit. a StPO). Ein Rechtsnachteil für den betroffenen Privatkläger im Falle einer

Anklage resultierte erst, wenn in einem Sachverhaltskomplex ein Freispruch erfolgen würde,

welcher das Unterliegen mit seiner Straf- oder Zivilklage nach sich ziehen würde. Doch auch

in dieser Konstellation stünde dem Privatkläger der Rechtsmittelweg offen und eine

Einvernahme desselben im Berufungsprozess ist möglich. Kreative Kreise bezeichnen daher

das Teilnahmerecht der Privatklägerschaft an Beweisabnahmen - vor allem an

Beschuldigteneinvernahmen - lediglich als Ordnungsvorschrift.

4. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Hafteinvernahmen

Im Haftverfahren hat die Staatsanwaltschaft die festgenommene beschuldigte Person

unverzüglich zu befragen. Den Parteien wird regelmässig kein Teilnahmerecht eingeräumt,

geht es im Haftverfahren doch um eine haftspezifische Beweiserhebung, die nicht primär auf

die Klärung des zu untersuchenden Delikts ausgelegt ist. Von daher lässt sich die Meinung

vertreten, der Privatklägerschaft stehe kein Teilnahmerecht zu, weil die Hafteinvernahme

keine Beweiserhebung im Sinne von Art. 147 Abs. 1 StPO darstelle.13 Möchte man diese

Meinung nicht teilen, lässt sich der Ausschluss der Privatkläger jedoch mit der Begründung

rechtfertigen, diese sei zuerst im Sinne von Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO als Auskunftsperson

zu befragen. Im Verfahren vor Zwangsmassnahmengericht ist die Privatklägerschaft nicht

teilnahmeberechtigt, was sich aus Art. 225 Abs. 1 StPO ableiten lässt.14

13 Stefan Christen, Zum Anwesenheitsrecht der Privatklägerschaft im schweizerischen Strafprozessrecht (in ZStrR Band 129 – 2011, S. 474/475)

14 Niklaus Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 225 StPO N 2, Zürich/St. Gallen 2009

Seite 14

III. Einvernahme von Privatklägern bei Massendelikten

1. Befragungsformulare an Privatkläger

Nach Art. 145 StPO kann die Strafbehörde eine einzuvernehmende Person einladen,

anstelle einer Einvernahme einen schriftlichen Bericht abzugeben. Dieses Vorgehen drängt

sich insbesondere bei Massendelikten auf, z. B. bei Vermögensdelikten mit zahlreichen

Geschädigten und soweit unbestrittenem Tatvorgehen.15

Das Bezirksgericht Bülach hatte sich mit Urteil vom 22. November 2012 mit einem Fall

unserer Amtsstelle zu befassen, in welchem der Staatsanwalt mittels eines Schreibens bei

verschiedenen Privatklägern einen schriftlichen Bericht anforderte. Im vom Staatsanwalt

vorgelegten Formular wurde auf der letzten Seite der Wortlaut der Art. 303 ff. StGB, Falsche

Anschuldigung, Irreführung der Rechtspflege sowie Begünstigung, aufgeführt. Die

Beschuldigten und ihre Verteidiger wurden mittels eines Schreibens eingeladen, der

Staatsanwaltschaft allfällige Ergänzungsfragen für den Fragebogen mitzuteilen, wovon der

Beschuldigte Gebrauch machte. Das Bezirksgericht Bülach kam in seinem Urteil vom 22.

November 2012 zum Schluss, dass der Verwertbarkeit der Auskünfte der Privatkläger nichts

entgegenstehe.16

Zu bedenken ist, dass bei einer im Ausland wohnhaften geschädigten Person die Einladung

zur Einholung eines schriftlichen Berichts auf dem Rechtshilfeweg zu erfolgen hat, da diese

Massnahme eine Beweiserhebung darstellt, wenngleich keine Zwangsmassnahme im

weiteren Sinne.

2. Gruppenbildung bei Befragung von geschädigten Personen

In der Praxis handelt es sich bei Grossverfahren mit einer Vielzahl von Geschädigten oft um

Seriendelikte, bei denen ein einheitliches Verhaltensmuster des Beschuldigten massgeblich

ist. In solchen Fällen kann es Sinn machen, Gruppen von zu befragenden Geschädigten

oder Zeugen zu einzelnen Sachverhalten zu bilden.

Diese Praxis hat das Bundesgericht in einem Fall von Anlagebetrug für rechtmässig erachtet.

In den Erwägungen des entsprechenden Entscheids hat das Bundesgericht ausgeführt, dass

bei Seriendelikten mit einer unübersehbaren Zahl von Geschädigten, die durch gleichartige,

öffentlich erhobene falsche Angaben getäuscht worden seien, Tatbestandsmerkmale des

Betruges, namentlich das Element der arglistigen Täuschung, zunächst in allgemeiner Weise 15 Niklaus Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 145 N 4 u. 6, Zürich/St. Gallen 200916 Urteil des Bezirksgerichts Bülach vom 22. November 2012 (Geschäfts-Nr.: DG120017-C/U)

Seite 15

für alle Einzelhandlungen gemeinsam geprüft werden, soweit die Einzelfälle in tatsächlicher

Hinsicht gleichgelagert seien und sich bezüglich Opfergesichtspunkten nicht wesentlich

unterscheiden würden. Eine ausführliche fallbezogene Erörterung der einzelnen Merkmale

müsse nur in denjenigen Fällen erfolgen, die in deutlicher Weise vom Handlungsmuster

abweichen würden.17 In der Praxis der Staatsanwaltschaft III hat sich gezeigt, dass durch die

urteilenden Gerichte akzeptiert wurde, sofern 10-15% der Geschädigten/Privatkläger

dergestalt einvernommen wurden.

Möchte man verhindern, dass seitens der Verteidigung für eine solchermassen

vorzunehmende Beweisführung vor Gericht opponiert wird, kann man dieser bereits während

dem Vorverfahren die Gruppenbildung mit Bezug auf die zu einzelnen Sachverhalten zu

befragenden Personen unterbreiten und die Möglichkeit einräumen, eine Stellungnahme

abzugeben. Ist die Verteidigung nicht einverstanden, kann sie beantragen, es seien z.B.

weitere Geschädigte oder Zeugen zu befragen resp. in die gebildeten Gruppen

aufzunehmen.

3. Befragung per Telefon und Videobefragung

In einem Fall unserer Amtsstelle gelangte - dies allerdings noch nach alter (kantonaler)

Strafprozessordnung - der zuständige Staatsanwalt mit Rechtshilfeersuchen an die am

Wohnort der Auskunftspersonen zuständigen deutschen und österreichischen

Staatsanwaltschaften und beantragte, die Auskunftspersonen seien auf dem örtlich

zuständigen Polizeiposten zu empfangen, zu identifizieren und bei einer telefonischen

Befragung durch die Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich zu begleiten. Mit einer

Ausnahme gingen die ausländischen Behörden auf dieses Ansinnen ein.

Der Beschuldigte und sein Verteidiger nahmen an all diesen telefonischen Befragungen in

Gegenwart des Staatsanwaltes in Zürich teil, konnten das Telefongespräch wie der

Staatsanwalt und die Protokollführerin über den Lautsprecher mitverfolgen und die

Protokollführung in Echtzeit an einem Monitor kontrollieren. Die Verteidigung hat aber

ausdrücklich den Vorbehalt angebracht, nicht mit dieser Form der Befragung einverstanden

zu sein.

Die vom Staatsanwalt gewählte, spezielle Lösung war vor dem Hintergrund zu verstehen,

dass es sich im Rechtshilfeverfahren erfahrungsgemäss als schwierig erwiesen hat, der

Verteidigung hinreichende Mitwirkungsrechte zu verschaffen. In Deutschland und Österreich

ist das Unmittelbarkeitsprinzip im Gerichtsverfahren viel ausgeprägter als nach der

17 BGE 119 IV 284, E. 5.a; BGer 6B_466/208, Urteil v. 15. Dezember 2008, E. 3.3, m.w.H.Seite 16

zürcherischen Praxis; im Gegenzug haben in diesen Ländern die Teilnahmerechte im

Vorverfahren eine geringere Bedeutung. Deshalb bekunden die deutschen und

österreichischen Behörden oft Mühe, die aus schweizerischer Sicht bestehende

Notwendigkeit der Gewährung von Teilnahmerechten zu verstehen. Hinzu kommen die

organisatorischen Schwierigkeiten, die zusätzlichen Kosten und der Zeitverlust: Die

Verteidigung und der Beschuldigte hätten fünf Reisen nach Deutschland bzw. Österreich

unternehmen müssen. Hinzu kommt die Qualitätseinbusse: Die Befragungen wären von

Personen mit ungenügender Aktenkenntnis durchgeführt worden, die zudem aufgrund des in

Deutschland und Österreich fehlenden Arglistkriteriums beim Betrug die Bedeutung eines

Teils der Fragen und Antworten nicht ohne weiteres erfasst hätten. Solche Probleme hätten

sich zwar mindern lassen, wenn eine Vertretung der zürcherischen

Strafverfolgungsbehörden sich vor Ort begeben hätte. Doch für solche Dienstreisen war die

Bedeutung dieser Befragungen zu gering. Es waren somit durchaus schützenswerte

Interessen, die die Staatsanwaltschaft III zu dieser speziellen Lösung veranlassten.

Es ist in diesem speziellen Fall zu beachten, dass auf die praktizierte Weise die

Verteidigungsrechte nach Auffassung der Staatsanwaltschaft gewahrt wurden. Der

Beschuldigte und die Verteidigung hatten sowohl den Fragesteller wie die Protokollführung

optisch und akustisch unter Kontrolle, so dass keine Gefahr der nonverbalen Beeinflussung

der Befragten bestand. Zudem konnten sie die Aussagen der Auskunftspersonen akustisch

mitverfolgen und unmittelbar Fragen stellen. All das geht erheblich über die Mitwirkung auf

dem Korrespondenzweg hinaus.

Sowohl das Bezirksgericht Meilen wie auch das Obergericht haben in ihren Urteilen

festgehalten, dass diese per Telefon durchgeführten Befragungen nicht zulasten des

Beschuldigten verwertbar seien. Zur Begründung führte das Obergericht aus, die

zürcherische Strafprozessordnung kenne diese Art der Einvernahme nicht. Den §§ 133, 136

und 137 der zürcherischen Strafprozessordnung sei zu entnehmen, so das Obergericht

weiter, dass Zeugen grundsätzlich vor der einvernehmenden Behörde zu erscheinen hätten.

Zeugeneinvernahmen seien deshalb nur in der direkten Begegnung von Behörde und Zeuge

möglich. Das Recht des Beschuldigten auf Befragung des Belastungszeugen diene der

Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen. Der Beschuldigte müsse in der

Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu prüfen und den Beweiswert auf die Probe

und in Frage zu stellen. Das Konfrontationsrecht solle es dem Beschuldigten nicht nur

ermöglichen, den Aussageinhalt unmittelbar zu kontrollieren, sondern auch das nonverbale

Aussageverhalten des Belastungszeugen, also dessen Mimik, Gestik und dessen

Sprechverhalten, wahrzunehmen. Auch diese Umstände könnten Anlass zu

Ergänzungsfragen bieten. Die im Rahmen der telefonischen Befragung faktisch erfolgte

Seite 17

optische Abschirmung der Befragten sei unverhältnismässig und verletze das

Konfrontationsrecht und damit die Verteidigungsrechte des Beschuldigten.18

Lediglich als obiter dictum wies das Obergericht in diesem Entscheid darauf hin, dass Lehre

und Praxis auch nach neuer Strafprozessordnung die Verwertbarkeit telefonisch eingeholter

Belastungen ausschliessen würden (ZR 110 (2011) Nr. 39 mit Verweisen).19

Im Rechtshilfeverfahren genügt gemäss StPO 148 die Parteirechte auf dem

Korrespondenzweg wahrzunehmen, wobei jedoch eine telefonische Teilnahme für die

Teilnahmeberechtigten weit besser erscheint. Es ist eigentlich nicht einzusehen, weshalb

das prozessuale Legalitätsprinzip eine solche Verbesserung verhindern soll.

Jedenfalls sieht die geltende Strafprozessordnung in Art. 144 die Videobefragung explizit

vor. Somit müssten auch Einvernahmen z.B. via Skype zulässig sein, da es den Parteien

hierdurch möglich ist, die Mimik, Gestik und das Sprechverhalten des Zeugen oder der

Auskunftsperson wahrzunehmen.

IV. Akteneinsichtsrecht der Privatkläger

1. Zeitpunkt und Umfang der Akteneinsicht

Die Privatklägerschaft hat als Partei grundsätzlich das Recht, die Akten einzusehen. In der

Praxis stellt sich allerdings oft die Frage, ab wann der Privatklägerschaft die Akteneinsicht

einzuräumen ist, und ob es sich um ein umfassendes oder nur teilweises Einsichtsrecht in

die Akten handelt.

Gemäss Art. 101 StPO können die Parteien vorbehältlich Art. 108 StPO spätestens nach der

ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten

Beweise durch die Staatsanwaltschaft die Akten des Strafverfahrens einsehen. Das Recht

auf Akteneinsicht gilt somit nicht unbeschränkt zu jedem Zeitpunkt. Laut einem

unveröffentlichten Entscheid des Bundesgerichts ist Art. 101 StPO so auszulegen, dass eine

Auskunftsperson kein Recht auf Akteneinsicht hat, bevor sie selbst ein erstes Mal

einvernommen wurde.20

Fraglich ist in der Praxis regelmässig, in welchem Umfang dem Privatkläger Akteneinsicht

gewährt werden soll. Eher unbestritten dürfte sein, dass in einem Vorverfahren, in welchem

dem Beschuldigten nebst den Straftaten, von welchen der Privatkläger betroffen ist, weitere

18 Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. August 2012 (Geschäfts-Nr. SB110305), S. 18-23

19 Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. August 2012 (Geschäfts-Nr. SB110305), S. 18-23

20 Entscheid des Bundesgerichts 1B_238/2011 vom 13. September 2011

Seite 18

Delikte vorgeworfen werden, dem Privatkläger nur Einsicht in die diejenigen Akten zu

gewähren ist, welche die Straftat beschlagen, durch welche er unmittelbar in seinen Rechten

verletzt wurde. Dies analog dazu, dass sich im Fall von Beweiserhebungen die

Teilnahmerechte des Privatklägers auf diejenigen Straftaten beschränken, durch welche er

unmittelbar in seinen Rechten verletzt wurde.21

Unklarer ist, ob der Privatkläger z. B. auch Einsicht in die Personalakten des Beschuldigten

erhalten soll. Die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich für das

Vorverfahren halten dazu in Ziffer 8.2.7.2.4 fest, dass das Akteneinsichtsrecht der

Privatklägerschaft beschränkt sei. Und zwar stehe es der Privatklägerschaft nur insoweit zu,

als dies zur Durchsetzung ihrer Verfahrensrechte notwendig sei. Üblicherweise beschränke

sich das Einsichtsrecht auf die eigentlichen Untersuchungsakten. Damit seien primär die

Akten gemeint, die zum deliktsrelevanten Sachverhalt gehören würden, bei welchem sich die

geschädigte Person als Privatklägerschaft konstituiert habe. In die Akten zur beschuldigten

Person und deren allfällige Vorakten sei daher regelmässig keine Einsicht zu gewähren.

Entgegen der in den Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren

festgehaltenen Grundsatzes, wonach die Akteneinsichtsrechte der Privatklägerschaft - wie

erwähnt - beschränkt seien, hielt das Obergericht des Kantons Zürich in einem Beschluss

vom 25. Februar 2013 fest, dass der Privatkläger grundsätzlich Anspruch auf Einsicht in die

Eingaben der Verteidigung und die Personalakten des Beschuldigten habe.22

Dieser Entscheid unterstreicht, wie weit die Parteirechte der Privatklägerschaft reichen

respektive dass die Privatklägerschaft fast auf Augenhöhe mit der beschuldigten Person

steht. Gleichermassen hält auch Jean-Pierre Greter in seiner Dissertation zum Thema

„Akteneinsicht im Schweizerischen Strafverfahren“ unter Hinweis auf Niklaus Oberholzer23

fest, dass der Gesetzeswortlaut von Art. 101 Abs. 1 StPO die Akteneinsicht der

Privatklägerschaft hinsichtlich des Umfanges nicht a priori einschränke. Der

Privatklägerschaft stehe analog der beschuldigten Person ein vollumfängliches

Akteneinsichtsrecht zu. Dies im Gegensatz zu früheren Strafprozessordnungen, welche die

Akteneinsicht von Vornherein auf diejenigen Aktenstücke beschränkt hätten, an deren

Kenntnisnahme der Kläger ein schützenswertes Interesse gehabt habe oder - mit anderen

Worten ausgedrückt - in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der von ihm erhobenen

Klage gestanden hätten.24 Eine Einschränkung der Akteneinsicht der Privatklägerschaft ist

21 Stefan Christen, Zum Anwesenheitsrecht der Privatklägerschaft im schweizerischen Strafprozessrecht (in ZStrR Band 129 – 2011)

22 Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, Beschluss vom 25.02.2013 (Geschäfts-Nr. UH120347)

23 Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, N 59224 Jean-Pierre Greter, Die Akteneinsicht im Schweizerischen Strafverfahren, Seite 98

Seite 19

gemäss Greter höchstens im Einzelfall denkbar, etwa bei Einsicht in sensible

Personendaten.25

V. Abgekürztes Verfahren

1. Nicht-Zustimmung eines oder mehrerer Privatkläger(s)

Sofern ein Massendelikt durch eine Anklageschrift im abgekürzten Verfahren im Sinne von

Art. 358 ff. StPO abgeschlossen werden kann, stellt sich die Frage, ob ein Privatkläger, der

die Anklageschrift fristgerecht ablehnt, dieses ressourcensparende Verfahren zwingend zum

Fall bringen kann. Wie geht die Praxis mit der Nichtzustimmung einer Partei um? Besteht die

Möglichkeit, das abgekürzte Verfahren trotz der Regelung von Art. 360 Abs. 5 StPO

weiterzuführen?

Bei Nichtzustimmung eines Privatklägers kann unseres Erachtens das Verfahren gestützt auf

Art. 30 StPO in zwei Verfahren aufgeteilt werden, d.h. ein abgekürztes Verfahren für die

zustimmenden Privatkläger und ein ordentliches Verfahren für den oder die nicht

zustimmenden Privatkläger. Art. 360 StPO wird diesfalls somit dahingehend verstanden,

dass die Staatsanwaltschaft für die nicht zustimmende Partei - aber eben nur für diese

Partei - ein ordentliches Verfahren durchführt.

Für dieses Vorgehen wird vorausgesetzt, dass die beschuldigte Person hiermit

einverstanden ist, und dass die gemäss Art. 360 Abs. 2 StPO (ursprünglich) den Parteien

vorgeschlagene Anklage mit Urteilsvorschlag entsprechend angepasst wird. Dabei empfiehlt

es sich in einem Zwischenschritt, die notwendigen Anpassungen der (ursprünglich)

vorgeschlagenen Anklage mit Urteilsvorschlag im Änderungsmodus des Word-Programms

vorzunehmen, damit die inhaltlichen Änderungen durch das Gericht nachvollzogen werden

können. Eine erneute Zustellung der Anklageschrift an die anderen (zustimmenden)

Privatkläger ist nicht notwendig, da die vorzunehmenden Änderungen sie nicht betreffen.

In einem Fall unserer Amtsstelle mit über 20 Privatklägern hat ein Privatkläger der im

abgekürzten Verfahren ergangenen Anklageschrift nicht zugestimmt. Mit Bezug auf diesen

Privatkläger wurde mit Einverständnis des Beschuldigten das ordentliche Verfahren

durchgeführt und, nach Beendigung des abgekürzten Verfahrens, mit einem Strafbefehl

abgeschlossen. Das abgekürzte Verfahren wurde durch das Bezirksgericht Zürich beurteilt26,

welches dieses Vorgehen, d.h. Überweisung des nicht zustimmenden Privatklägers ins

ordentliche Verfahren, ohne Weiteres akzeptierte.

25 Jean-Pierre Greter, Die Akteneinsicht im Schweizerischen Strafverfahren, Seite 9826 Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 28. März 2012, Geschäfts-Nr. DG110396-L/U

Seite 20

In einem weiteren Fall unserer Amtsstelle wurde einem Beschuldigten Bestechung und

unrechtmässige Annahme von Retrozessionen zur Last gelegt. Die Untersuchung wegen der

Bestechungsvorwürfe war bereits abgeschlossen, diejenige wegen der Retrozessionen noch

nicht. Folglich wurde das Verfahren wegen unrechtmässiger Annahme von Retrozessionen

abgetrennt, um wegen der Bestechungsvorwürfe bereits Anklage erheben zu können. Nach

Anklageerhebung im September 2011 wegen Bestechung beantragte der Beschuldigte im

November 2011 hinsichtlich der Retrozessionen ein abgekürztes Verfahren. Die

Hauptverhandlung zum abgekürzten Verfahren wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung im

Zusammenhang mit den Retrozessionen fand schliesslich im Frühsommer 2012 statt27,

mehrere Monate vor der Hauptverhandlung wegen Bestechung28. Damit war der

Beschuldigte zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu den Bestechungsvorwürfen schon im

Teilkomplex betreffend die Retrozessionen rechtskräftig verurteilt.

2. Teilnahmerechte der Privatkläger bei Vergleichsverhandlungen im abgekürzten Verfahren

Die Absprache resp. der strafprozessualen Vergleich zwischen Staatsanwaltschaft und den

Parteien im abgekürzten Verfahren findet in der Strafprozessordnung keine Erwähnung.

Grundsätzlich finden bei der Durchführung eines abgekürzten Verfahrens

Abspracheverhandlungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person

statt. Die Einigung hat zwingend über den Schuldpunkt, die Strafe und die Zivilansprüche zu

erfolgen. In der Praxis stellt sich daher die Frage, ob den Privatklägern in diesen

Abspracheverhandlungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person im

abgekürzten Verfahren Teilnahmerechte einzuräumen sind. Ein derartiges Teilnahmerecht

steht der Privatklägerschaft unseres Erachtens im Rahmen der Abspracheverhandlungen

nicht zu, weil der Beschuldigte als Voraussetzung für die Durchführung des abgekürzten

Verfahrens die von der Privatklägerschaft geltend gemachten Zivilansprüche dem Grundsatz

nach anerkannt haben muss. Und mit Bezug auf das vorgeschlagene Strafmass verfügt der

Privatkläger über kein Widerspruchsrecht. Das Bundesstrafgericht führte diesbezüglich in

einem Entscheid vom 14. Oktober 201129 aus, dass die Annahme, es liege mit der Erklärung

des Privatklägers, der lediglich mit der Sanktion nicht einverstanden ist, ein gültiges

Hindernis für das abgekürzte Verfahren vor, dazu führen würde, dass das ordentliche

Verfahren durchzuführen wäre, ohne dass der Privatkläger sich dort zum Strafmass

überhaupt äussern könnte. Mithin, so das Bundesstrafgericht weiter im erwähnten Entscheid, 27 Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 4. Juli 2012, Geschäfts-Nr. DG 120133-L/U28 Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 26. November 2012, Geschäfts-Nr. DG110297-L/UD29 Entscheid des Bundesstrafgerichts vom 14. Oktober 2011 (Geschäftsnummer: SK.2011.20)

Seite 21

wäre es systemwidrig, dem Privatkläger, der sich ausschliesslich gegen das vorgeschlagene

Strafmass wendet, für die Durchführung des abgekürzten Verfahrens ein Vetorecht

einzuräumen, das ihm im ordentlichen Verfahren nicht zusteht.

Jedoch sind der Privatklägerschaft in der Schlusseinvernahme die Teilnahmerechte zu

gewähren. Das Teilnahme- und Fragerecht der Privatklägerschaft in der

Schlusseinvernahme im abgekürzten Verfahren kann in der Praxis jedoch gewisse Probleme

mit sich bringen. Dies deshalb, weil die Schlusseinvernahme selbstredend auf der zuvor

stattgefundenen Abspracheverhandlung basiert, in welcher sich die Staatsanwaltschaft und

die beschuldigte Person bereits über den Umfang und die Anzahl der anzuklagenden

Sachverhalte geeinigt haben. Macht der Privatkläger von seinem Recht zur Stellung von

Ergänzungsfragen Gebrauch und stellt Fragen zu Sachverhalten, welche nach Absprache

zwischen dem Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft nicht Gegenstand der Anklage sein

sollen, birgt dies eine gewisse Gefahr, dass der getroffene „Deal“ noch kippt. Hier stellt sich

in der Praxis die Frage, ob es im Sinne einer kreativen Lösung allenfalls rechtlich vertretbar

wäre, dem Beschuldigten die Schlussvorhalte ohne Durchführung einer Schlusseinvernahme

auf dem Korrespondenzweg zuzustellen. Dem Privatkläger würde zwar auf diese Weise das

Teilnahme- und Fragerecht an der Schlusseinvernahme genommen, allerdings erwüchse

ihm dadurch keinen Rechtsnachteil, da er die Möglichkeit besitzt, dem Anklageentwurf nicht

zuzustimmen, woraufhin das ordentliche Verfahren durchzuführen wäre.

Bei besonders komplexen und umfangreichen Verfahren könnte ein weiterer Lösungsansatz

darin bestehen, einen ausformulierten Anklageentwurf auszuarbeiten, um diesen dann im

Rahmen von (informellen) Abspracheverhandlungen mit dem Beschuldigten und der

Verteidigung „besprechen zu können“. Allfällige notwendige Anpassungen des

Anklageentwurfes im Hinblick auf das „möglichst erfolgreich“ durchzuführende abgekürzte

Verfahren könnten so noch vor der Zustellung der Anklage im abgekürzten Verfahren, die

den Parteien als Vorschlag zugestellt werden muss, vorgenommen werden.

In der Hoffnung, dass die Rechtsprechung mit Blick auf Verfahren mit vielen Geschädigten

praxistaugliche und lebensnahe Kriterien für die Gewährung von deren Teilnahmerechten

entwickeln möge, beende ich meine Ausführungen.

Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

Seite 22

Fiktive Strafanzeige

Am 5. Januar 2013 erstattete RA Dr. X. namens und im Auftrag des Geschädigten 1 direkt bei der

Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige gegen die Trading AG, gegründet im Jahr 2000 mit Sitz in Zürich,

und deren Geschäftsführer A sowie weitere verantwortliche Personen wegen Anlagebetrugs. Im April

2012 habe der Geschädigte 1 in mehreren Tranchen insgesamt CHF 1 Mio. auf ein Bankkonto

einbezahlt. Mit der Trading AG sei vereinbart worden, dass sie die Vermögensverwaltung für den

Geschädigten 1 ausübe und damit für ihn Devisenhandel betreibe. Bis anfangs Dezember 2012 habe

der Geschädigte 1 von der Trading AG immer wieder Abrechnungen erhalten, aus welchen der Erfolg

auf seiner Anlage ersichtlich gewesen sei. Am 15. Dezember 2012 habe er dann erfahren, dass über

die Trading AG der Konkurs eröffnet worden sei. Gleichentags habe er festgestellt, dass sein

Guthaben nur noch CHF 200‘000 betrage.

Wenige Tage später geht eine ähnliche Strafanzeige des Geschädigten 2 ein.

Beide Anzeigen sind mit Beilagen substantiiert.

Vorverfahren

Seite 23

Eine Vorprüfung durch die Staatsanwaltschaft ergibt, dass ein Vorverfahren zu eröffnen ist und dass

Editionen, Hausdurchsuchungen, Aktenbeizug etc. vorzunehmen und möglicherweise

Vermögenswerte zu sichern sind.

Im Verlaufe des Verfahrens werden unter anderem die Geschäftsakten erhoben. Daraus ergibt sich,

dass die Trading AG bei Konkurseröffnung das Vermögen von über 500 Kunden verwaltete.

Im weiteren Verfahren konstituieren sich über 300 Geschädigte als Privatkläger. Davon sind zehn

anwaltlich vertreten. Die Hälfte der Privatkläger hat Wohnsitz im Ausland.

Einzelne Privatkläger verlangen im Laufe des Verfahrens die Akten einzusehen und an

Beweiserhebungen teilzunehmen.

Das Vorverfahren wird gegen zwei Beschuldigte geführt. Im Laufe des Verfahrens beantragt der

Beschuldigte A das abgekürzte Verfahren. Gegen den zweiten Beschuldigten zeichnet sich eine

Verfahrenseinstellung ab. Bis auf drei Privatkläger stimmen alle dem abgekürzten Verfahren zu.

Seite 24