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1 Andreas Maurer Deliberation und Bargaining im Konvent - Die Funktionen der Phasenbildung 1. Ein neues Verhandlungsmodell auf Probe Der zum 28. Februar 2002 einberufene Brüsseler Konvent zur Zukunft der Europäischen Union diente der Ausarbeitung einer verfassungsähnlichen Grundlage der europäischen Integration – zur Neubegründung ihrer primärrechtlichen Fundamente, zur Effektivierung und Demokratisierung ihrer Institutionen und zur vereinfachten, bürgerInnennahen Offenlegung der in den letzten 50 Jahren inkrementalistisch entwickelten Strukturen. Die dem Vertrag von Nizza angehängte Erklärung Nr. 23 zur Reform der Europäischen Union suggerierte noch ein relativ begrenztes Mandat; aber bereits die an den Konvent gestellten Fragen des Europäischen Rates von Laeken 1 machten deutlich, daß es um mehr gehen sollte als um die einfache Anpassung der bestehenden EG/EU-Regelwerke an eine auf 25 Staaten und mehr anwachsenden EU, von der in immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebens staatsanaloges Handeln erwartet wird. Neben den für sich genommen bereits gewaltigen Einzelaufträgen diente die Erprobung eines neuen Beratungs-, Verhandlungs- und Entscheidungsmodus als wichtiges Ziel der Konventsarbeit. 2 Erwartet wurde, dass aus dem argumentativen Bemühen aller Beteiligten um kollektiv akzeptierbare Problem- oder Konfliktlösungen ein vom Konsens getragener Diskurs entstünde, der den Verlauf und das Ergebnis des Konvents einer breiteren Öffentlichkeit zuführen und diese für sich gewinnen könnte als dies bei den vorausgegangenen Regierungskonferenzen der Fall war. Selbst wenn am Ende des Beratungsprozesses kein Konsens über alle im Konventsmandat von Laeken gestellten Einzelfragen erreicht worden wäre, hätte dieser am Konsens orientierte Beratungs- und Entscheidungsprozeß zu Lerneffekten bei den unmittelbar mit dem Thema befassten Akteuren geführt, die das Verhandlungs- und Bargainingmodell der klassischen Regierungskonferenz in Maastricht, Amsterdam und Nizza nicht erreichte. Der ‚deliberative Kommunikationsprozess’ 3 des Konvents sollte so zu einer offen eingestandenen und öffentlich nachvollziehbaren Bereicherung des Argumentationshaushaltes seiner unmittelbar Beteiligten und seiner Beobachter führen, 1 Vgl. Europäischer Rat, Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Laeken, 14./15. Dezember 2001, Anlage I: Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union. 2 Vgl. hierzu: Liebert, Ulrike: „Verfassungsexperiment: Die Konventsdebatte zur Zukunft Europas“, in: Liebert, Ulrike/Falke, Josef/Packham, Kathrin/Allnoch, Daniel (Hrsg.): Verfassungsexperiment. Europa auf dem Weg zur transnationalen Demokratie? Münster: LIT 2003, S. 1-14; Badura, Peter: „Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform“, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.): Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents. Verfassungsrechtliche Grundstrukturen und wirtschaftsverfassungsrechtliches Konzept, Baden- Baden: Nomos 2004, S. 439-449; Beach, Derek: Toward a new method of constitutional bargaining. The role and the impact in the IGC and convention method treaty reform. London: The Federal Trust 2003. www.fedtrust.co.uk/Media/Beach.pdf 3 Vgl. Schmalz-Bruns, Rainer: „Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regieren jenseits des Nationalstaats“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 6 (1999) Nr. 2, S. 204 ff.

Deliberation und Bargaining im Konvent - Die … · Wessels, Wolfgang/Maurer, Andreas/Mittag, Jürgen (Hrsg.): Fifteen into One? The European Union and its Member States, Manchester/New

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Andreas Maurer Deliberation und Bargaining im Konvent - Die Funktionen der Phasenbildung 1. Ein neues Verhandlungsmodell auf Probe Der zum 28. Februar 2002 einberufene Brüsseler Konvent zur Zukunft der Europäischen Union diente der Ausarbeitung einer verfassungsähnlichen Grundlage der europäischen Integration – zur Neubegründung ihrer primärrechtlichen Fundamente, zur Effektivierung und Demokratisierung ihrer Institutionen und zur vereinfachten, bürgerInnennahen Offenlegung der in den letzten 50 Jahren inkrementalistisch entwickelten Strukturen. Die dem Vertrag von Nizza angehängte Erklärung Nr. 23 zur Reform der Europäischen Union suggerierte noch ein relativ begrenztes Mandat; aber bereits die an den Konvent gestellten Fragen des Europäischen Rates von Laeken1 machten deutlich, daß es um mehr gehen sollte als um die einfache Anpassung der bestehenden EG/EU-Regelwerke an eine auf 25 Staaten und mehr anwachsenden EU, von der in immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebens staatsanaloges Handeln erwartet wird. Neben den für sich genommen bereits gewaltigen Einzelaufträgen diente die Erprobung eines neuen Beratungs-, Verhandlungs- und Entscheidungsmodus als wichtiges Ziel der Konventsarbeit.2 Erwartet wurde, dass aus dem argumentativen Bemühen aller Beteiligten um kollektiv akzeptierbare Problem- oder Konfliktlösungen ein vom Konsens getragener Diskurs entstünde, der den Verlauf und das Ergebnis des Konvents einer breiteren Öffentlichkeit zuführen und diese für sich gewinnen könnte als dies bei den vorausgegangenen Regierungskonferenzen der Fall war. Selbst wenn am Ende des Beratungsprozesses kein Konsens über alle im Konventsmandat von Laeken gestellten Einzelfragen erreicht worden wäre, hätte dieser am Konsens orientierte Beratungs- und Entscheidungsprozeß zu Lerneffekten bei den unmittelbar mit dem Thema befassten Akteuren geführt, die das Verhandlungs- und Bargainingmodell der klassischen Regierungskonferenz in Maastricht, Amsterdam und Nizza nicht erreichte. Der ‚deliberative Kommunikationsprozess’3 des Konvents sollte so zu einer offen eingestandenen und öffentlich nachvollziehbaren Bereicherung des Argumentationshaushaltes seiner unmittelbar Beteiligten und seiner Beobachter führen, 1 Vgl. Europäischer Rat, Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Laeken, 14./15. Dezember 2001, Anlage I: Erklärung

von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union. 2 Vgl. hierzu: Liebert, Ulrike: „Verfassungsexperiment: Die Konventsdebatte zur Zukunft Europas“, in: Liebert,

Ulrike/Falke, Josef/Packham, Kathrin/Allnoch, Daniel (Hrsg.): Verfassungsexperiment. Europa auf dem Weg zur transnationalen Demokratie? Münster: LIT 2003, S. 1-14; Badura, Peter: „Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform“, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.): Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents. Verfassungsrechtliche Grundstrukturen und wirtschaftsverfassungsrechtliches Konzept, Baden-Baden: Nomos 2004, S. 439-449; Beach, Derek: Toward a new method of constitutional bargaining. The role and the impact in the IGC and convention method treaty reform. London: The Federal Trust 2003. www.fedtrust.co.uk/Media/Beach.pdf

3 Vgl. Schmalz-Bruns, Rainer: „Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regieren jenseits des Nationalstaats“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 6 (1999) Nr. 2, S. 204 ff.

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zu einer reflexiven Überprüfung und möglicherweise sogar zu einer Transformation der Akteursüberzeugungen und ihrer Präferenzen. Das über den Verfassungsvertragstext hinausgehende, Idealprodukt des Konvents läßt sich damit wie folgt skizzieren:

• das Erreichen eines höheren Maßes an Verständnis und Respekt für kontroverse Positionen,

• die Schaffung eines höheren Rationalitätsniveaus innerhalb der den Konventsprozeß begleitenden, nationalen Diskussionslandschaften und

• eine höhere Legitimität des letztendlich zu vereinbarenden Ergebnisses. Im Anschluß an diese Parameter des deliberativen Verhandlungsprozesses ist von der Hypothese auszugehen, dass der Konvent als Verfahren dann erfolgreich war, wenn es ihm gelang, die traditionellen zwischenstaatlichen Verhandlungsblockaden zu durchbrechen und damit einen wirklichen Mehrwert gegenüber den vergangenen Regierungskonferenzen zu erbringen. Tatsächlich wurde die Arbeit des Konvents nicht nur an seinen substantiellen Ergebnissen gemessen. Gerade die Mitglieder des Konvents hatten sich bereits seit Beginn der Beratungen daran gemacht, den Notenschlüssel für ihre Leistung selbst zu definieren: Sinnvoll sei der Konvent, so der Tenor aus dem Kreise seiner Mitglieder, weil seine Beratungsmethoden öffentlich zugänglicher und daher demokratischer, konsensualer und rationaler seien als die Regierungskonferenzen. Angesprochen waren damit die wichtigsten Voraussetzungen deliberativer Demokratie, für die sich die folgenden drei normative Parameter ermitteln lassen:4

• Erstens galten alle Beteiligten als mandatsfrei und ungebunden. Ihre einzige, gemeinsame Verpflichtung bestand in der Bereitschaft, an der Erreichung eines für alle tragbaren Ergebnisses mitzuwirken.

• Zweitens herrschte zwischen den Teilnehmenden Einverständnis über ihre gegenseitige Gleichheit; jedes Mitglied hat zu jedem Zeitpunkt des Diskussions- und Verhandlungsprozesses gleichwertige Beratungskapazitäten.

• Drittens ruhte der deliberative Prozess auf der Logik überzeugender Argumentation und Argumente; die Teilnehmer drohten nicht mit dem Gewicht des von ihnen repräsentierten Gemeinwesens oder mit dem einfachen, nicht weiter begründeten Verweis auf die Nichtdurchsetzbarkeit einer Position in ihrem Staat, Parlament oder gegenüber ihrer nationalen Öffentlichkeit. Das einzige Instrument zur Überzeugung anderer sollte das bessere, von den anderen als überzeugender weil zur Problemlösung als angemessener erkannte Argument werden. Der Prozess zielte letztlich auf die Erreichung eines rational motivierten Konsenses ab.5

Das Potential für eine Durchbrechung der klassischen Bargaining-Prozesse6 führte im Konventsverlauf zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die wesentlichen 4 Vgl. Maurer, Andreas: „Less Bargaining – More Deliberation: The Convention Method for Enhancing EU

Democracy“ in: Internationale Politik und Gesellschaft, Nr. 1/2003, S. 167-190. 5 Vgl. Cohen, Joshua: „Deliberation and Democratic Legitimacy”, in: Bohman, Jamses/Rehg, William (Hrsg.):

Deliberative Democracy. Essays on Reason and Politics (Hrsg.): Deliberative Democracy, MIT Press, Cambridge 1999, S. 74.

6 Vgl. Elster, Jon: Arguing and Bargaining in the Federal Convention and the Assemblée Constituante, Center for the Study of Constitutionalism in Eastern Europe, Working Paper No. 4, Chicago 1991 (http://www.geocities.com/hmelberg/elster/AR91AAB.HTM).

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Bedingungsfaktoren für die Ergebnisse des Konvents sind hierbei einerseits in den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der einzelnen Phasen der Konventsarbeit zu vermuten. Kern dieses Beitrages ist eine Analyse der Partizipationsmuster der Konventsmitglieder in den unterschiedlichen Phasen des Konvents: der „Anhörungsphase/Phase d’Écoute“ im Plenum, der durch Arbeitsgruppen gekennzeichneten „Arbeitsphase/Phase d’Étude“ und der abschließenden Redaktions- bzw. „Reflexisonsphase/Phase de Réflexion“ zur Ausarbeitung des Verfassungsvertrages. Es geht dabei um die Identifikation derjenigen Faktoren, die sich auf bestimmte, im Konventsverlauf beobachtete Kommunikations- und Interaktionsmodi ausgewirkt haben. Der Beitrag geht daher der Frage nach, in welchen Phasen und Themenfeldern der Konvent relativ erfolgreich war und in welchen Phasen, zu welchen Themen und warum er hier keine über die vergangenen Regierungskonferenzen hinausgehenden Erfolge erzielen konnte. Dieser Analyse liegt eine Auswertung aller von den Regierungs-, Parlaments- und anderen Vertretern in die Verfassungsarbeiten des Konvents eingebrachten individuellen, bi- und multilateralen schriftlichen Beiträge zu den Verfassungsarbeiten zugrunde – insgesamt nicht weniger als 2333 Eingaben. 2. Der Konvent als Verfahrensvariante im Prozess der Vertragsrevisionen Die Frage, warum mit der Einsetzung des Konvents zur Zukunft Europas auf ein neues Gremium zur Ausarbeitung einer grundlegenden Vertragsrevision zurückgegriffen wurde, erklärt sich vor allem aus den Erfahrungen mit der Methode der Regierungskonferenz. War diese in einer Gemeinschaft aus sechs Staaten – mit einem relativ hohen Maß an Grundkonsens über Ziele, Werte und Aufgaben der Integration - noch praktikabel, stieß sie in einer Union aus fünfzehn Staaten zunehmend an ihre Grenzen. Diese Grenze spiegelt sich eindrucksvoll in der ständigen Vertagung der institutionellen Reformen in Maastricht, Amsterdam und Nizza.7 Verantwortlich hierfür sind vor allem die zwei zentralen Charakteristika der Methode der Regierungskonferenz: Zum einen kommen in Regierungskonferenzen nur die Vertreter der nationalen Regierungen zusammen, die sowohl nach ihrem Selbstverständnis als auch nach ihrem verfassungsmäßigen Auftrag vor allem ihren jeweiligen nationalen Interessen verpflichtet sind. Zum anderen werden die Entscheidungen einstimmig und auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners gefällt.8 Beides zusammen führt zu einer Verhandlungslogik, in der die verschiedenen Regierungsvertreter versuchen, ihre jeweiligen – im Vorfeld bereits festgelegten – Präferenzen zu maximieren. Diese Methode gilt als einer der Hauptgründe für die Probleme der vergangenen Regierungskonferenzen.9 Anders: Das Problem der

7 Vgl. Jopp, Mathias/Lippert, Barbara/Schneider, Heinrich (Hrsg.): Das Vertragswerk von Nizza und die Zukunft

der Europäischen Union, Bonn 2001. 8 Vgl. Art. 48 EU-Vertrag. 9 Zur Verhandlungslogik der bisherigen Regierungskonferenzen vgl. Beach, Derek: „Negotiating the Amsterdam

Treaty. When Theory meets Reality“, in: Laursen, Finn (Hrsg.): The Amsterdam Treaty. National Preference Formation, Interstate Bargaining and Outcome, Odense: Odense University Press 2002, S. 593-638; Maurer, Andreas/Wessels, Wolfgang: “The European Union matters: structuring self-made offers and demands”, in: Wessels, Wolfgang/Maurer, Andreas/Mittag, Jürgen (Hrsg.): Fifteen into One? The European Union and its Member States, Manchester/New York: Manchester University Press 2003, S. 29-65.

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Regierungskonferenz als Methode der Vertragsrevision lag sowohl in den Spielregeln (Einstimmigkeit) als auch in den Spielern (ausschließlich nationale Regierungen). Von dieser Defizitanalyse ausgehend waren zwei denkbare Optionen für eine Reform der Vertragsänderungsverfahren möglich: Erstens die Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips und zweitens die Öffnung des Revisionsprozesses für zusätzliche Beteiligte, um die ausschließlich an nationalen Interessen orientierte Verhandlungslogik zu durchbrechen. Die erste Option schied unter Praktikabilitätserwägungen aus, weil die bestehenden Verträge nur ihre einstimmige Änderung zulassen - eine solche Neuregelung erfordert ihrerseits eine vorherige einstimmige Änderung der Verträge. Letztlich konzentrierte sich die Diskussion daher zunehmend auf die zweite Option, die Inklusion neuer Akteure in den Prozess der Vertragsrevision. Erleichert wurde dieser Öffnungs- und Einbindungsprozeß durch den parallel zur Regierungskonferenz von Nizza durchgeführten Grundrechtekonvent, der mit der Ausarbeitung der Grundrechtecharta ein vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung positives integrationspolitisches Signal gesetzt hatte. Die Staats- und Regierungschefs griffen zur Vorbereitung der nächsten Vertragsrevision auf das Konventsverfahren zurück, weil sie in der Regierungskonferenz von Nizza scheiterten und die nationalen Parlamente gemeinsam mit dem Europäischen Parlament mehrfach, vehement und öffentlich für die Konventsmethode warben. Den Höhepunkt stellte hierbei die gemeinsame Erklärung der beiden Parlamentsebenen im Rahmen der Stockholmer COSAC vom 22. Mai 2001 dar.12 Ein wesentliches Teilergebnis des Vertrags von Nizza war die „Erklärung über die Zukunft der Europäischen Union“, nach der bereits im Dezember 2001 auf dem Europäischen Rat von Laeken/Brüssel das Vorgehen und die konkreten Verfahren zur Vorbereitung einer Regierungskonferenz im Jahre 2004 vereinbart werden sollten. Der hiermit eingeleitete ‚Post-Nizza-Prozess’ umfasste vier Kernthemen: Die Frage der Kompetenzordnung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, die Neuordnung und Vereinfachung der Verträge, der Status der in Nizza verabschiedeten Grundrechtecharta und die Rolle der nationalen Parlamente in der EU. Darüber hinaus wurde nicht ausgeschlossen, dass die festgelegten Stimmengewichte und Parlamentssitze erneut als Tagesordnungspunkt des Post-Nizza-Prozesses vorgeschlagen würden.13 Die Konventsmethode konnte ohne vorherige Vertragsänderung eingeführt werden. Denn es handelte sich nicht um eine Ersetzung der Regierungskonferenz, sondern schlicht um deren methodische Ergänzung. Der Konvent konnte und sollte aus sich heraus keine verbindlichen Entscheidungen treffen. Seine Ergebnisse bedurften der Bestätigung durch eine Regierungskonferenz sowie der Ratifikation gemäß den jeweiligen nationalen Verfassungsbestimmungen.14 Gleichwohl wurde der

10 Vgl. Europäischer Rat von Köln, 3./4. Juni 1999: Schlußfolgerungen des Vorsitzes. Anhang IV: Beschluss des

Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union (http://www.europa.eu.int/council/off/conclu/june99/annexe_de.htm).

11 Vgl. Europäischer Rat von Tampere, 16. Oktober 1999: Schlußfolgerungen des Vorsitzes: Zusammensetzung und Arbeitsweisen des Gremiums zur Ausarbeitung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte.

12 Vgl. Conference des Organes Specialisées en Affaires Communautaires (COSAC): Contribution from the XXIV COSAC in Stockholm to the European Council, Stockholm, 22 May 2001.

13 Zu den ursprünglichen Erwartungen an diese neue Methode vgl. Maurer, Andreas: „Die Methode des Konvents – ein Modell deliberativer Demokratie?“, in: Integration 26 (2003) Nr. 2, S. 130-140, Wessels, Wolfgang: „Der Konvent. Modelle für eine innovative Integrationsmethode“, in: Integration 25 (2002) Nr. 2, S. 83-98.

14 Vgl. Göler, Daniel/Marhold, Hartmut: „Die Konventsmethode“, in: Integration 26 (2003) Nr. 4, S. 318.

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Entscheidungsprozess durch das Vorschalten eines Konvents für Akteure bzw. Repräsentanten anderer Institutionen und Gruppen geöffnet, womit sich die bereits im Grundrechtekonvent begründete Hoffnung verband, die alte Verhandlungslogik des Aufeinanderpralls nationaler Interessenfixierungen umgehen zu können.15 3. Die Akteursgruppen im Verfassungskonvent In Analogie zum Grundrechtekonvent folgte die Zusammensetzung des Verfassungskonvents weder der auf Regierungskonferenzen üblichen „one-state-one-vote“-Arithmetik noch einer wie auch immer gearteten Gewichtung der Staaten. Unabhängig von der Größe, dem wirtschaftlichen Gewicht oder der strategischen Bedeutung eines Staates entsendeten alle Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten der EU je einen Vertreter der Staats- oder Regierungschefs sowie je zwei Vertreter ihrer nationalen Parlamente. Allerdings verschob der Europäische Rat von Laeken die Gewichte zwischen den fünf Gruppen institutioneller Vertreter – nationale Parlamente, Europaabgeordnete, Vertreter der Kommission, Vertreter der Staats- und Regierungschefs und Beobachter anderer EU-Institutionen – noch vor Beginn der Konventsberatungen deutlich zugunsten der Regierungen. Denn erstens ernannten die Staats- und Regierungschefs in Laeken zusätzlich zur Grundzahl der Konventsmitglieder nicht nur einen Präsidenten, sondern noch zwei Vizepräsidenten. Und zweitens wurde ein zwölfköpfiges Präsidium bestimmt und so zusammengesetzt, dass der Konvent nur noch eine Minderheit von vier Parlamentariern benennen konnte - zwei nationale, zwei aus dem Europäischen Parlament - ihnen gegenüber saßen seit März 2002 der Präsident, die Vizepräsidenten, die beiden Kommissionsvertreter und schließlich noch drei weitere Vertreter von Staats- und Regierungschefs aus denjenigen Hauptstädten, die während der Arbeitsdauer die Ratspräsidentschaft innehatten. Zu den insgesamt sechsundsechzig rede- und abstimmungsberechtigten Personen addierten sich nach der gleichen Formel Vertreter der Beitrittsländer - also je ein Vertreter der Staats- und Regierungschefs und zwei nationale Abgeordnete. Vor allem das ‚Ausgangsgewicht’ der Europaabgeordneten im Konvent verringerte sich dadurch deutlich. Die seitens des Europäischen Rates von Laeken autorisierte Möglichkeit des Konvents, auf seiner ersten Sitzung sein Präsidium zu benennen und eine Geschäftsordnung anzunehmen, stellte sich angesichts dieser Vorklärungen als irreführende Beschönigung der Konventsautonomie dar. Die Staats- und Regierungschefs der EU kamen schließlich überein, den Vertretern der Kandidatenländer ein volles Mitwirkungsrecht am Konvent zu verleihen. Ob sie im Präsidium mitwirken sollten, ließ das Laekener Mandat offen. Auf der zweiten Plenarsitzung des Konvents am 22. März 2002 setzten sich die parlamentarischen Vertreter des Konvents mit ihrer Forderung durch, daß die Beitrittsstaaten durch einen Vertreter der nationalen Parlamente als Gast in die Arbeit des Präsidiums einbezogen werden sollte. Der slowenische Christdemokrat und frühere Außenminister Alojz Peterle, der von der EVP-Gruppe vorgeschlagen wurde, setzte sich hierbei in einer Kampfabstimmung gegen seinen litauischen liberalen Kollegen durch. Das Stimmrecht konnten die Mitglieder der Beitrittsländer nur beschränkt ausüben, insbesondere dann,

15 Vgl. Maurer, Andreas: „Die Methode des Konvents – ein Modell deliberativer Demokratie?“, in: Integration 26

(2003) Nr. 2, S. 130-140; Reh, Christine/Wessels, Wolfgang: „Towards an Innovative Mode of Treaty Reform? Three Sets of Expectations for the Convention“, in: Collegium 24 (2002) Nr. 2, S. 24 ff.; Göler, Daniel: Die neue europäische Verfassungsdebatte. Entwicklungsstand und Optionen für den Konvent, Bonn 2002, S. 85-90.

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wenn ihre Stimme die Herausbildung eventueller Mehrheiten unter den alten Mitgliedsländern gefährdet hätte - so die kryptische Formulierung des Mandats. Ein uneingeschränktes Stimmrecht hätten die Beitrittsländer erst dann genossen, wenn sie während der Konventsarbeitsphase ihren Beitrittsvertrag unterzeichnet hätten. Da der Konvent zu keinem Zeitpunkt auf der Grundlage eines bestimmten Mehrheitsmodus arbeitete, stellte sich die Frage des beschränkten Stimmrechts der Beitrittsländer praktisch nicht. Ähnlich wie die stellvertretenden Mitglieder der EU-15-Staaten und des Europäischen Parlaments waren die Vertreter der Beitrittsländer im Status den stimmberechtigten Vollmitgliedern praktisch gleichgestellt. Für die Verhandlungslogik des Konvents hatte die Zusammensetzung verschiedene Auswirkungen. In erster Linie hervorzuheben ist die zeitweise Unterwanderung des Außenvertretungsmonopols der Regierungen und die damit einhergehende Verkomplizierung der Rollenprofile und Identitätsmuster ihrer Vertreter. Zur Aushandlung eines internationalen Vertrages sprach nicht mehr jeder Staat mit einer Stimme. Denn aufgrund der konkreten Repräsentationsformel waren aus jedem Land sowohl Regierungs- als auch Oppositionsvertreter direkt am Konventsprozess beteiligt. Für den Konvent war somit ausgeschlossen, daß Delegierte eines Staates jederzeit mit bereits im Vorfeld festgelegten nationalen Positionen auftraten. Verstand sich die Mehrzahl der Regierungsvertreter im Rahmen der Regierungskonferenz als unmittelbare Vertreter ihrer jeweiligen Regierungspolitik, so repräsentierten die Konventsmitglieder nationale und parteipolitische Identitäten sowie - aufgrund der Zugehörigkeit zu der sie entsendenden Institution - verschiedene Institutionenrprofile und hieraus abgeleitete Interessen. Das Sozialisationsgepäck der Konventsmitglieder bestand somit aus mehreren Schichten. Im Vergleich zur Regierungskonferenz waren die resultierenden Loyalitätsüberlappungen16 ein das Konventsverfahren begünstigender Faktor, da die Akteure seltener mit vorab festgefügten, eindeutigen und unverrückbaren Präferenzen auftraten.

3.1. Die Interaktionsstile der Konventsmitglieder In den Entscheidungsprozess des Konvent wurden neue Akteure eingebunden. Vertreter der Kommission, der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments sowie die Kategorie der persönlichen, nicht zwangsläufig ministerialen Beauftragten der Staats- und Regierungschefs brachten aufgrund ihres unterschiedlichen institutionellen Hintergrundes neue Momente in den Beratungsprozess. Die größere Heterogenität der Gesamtgruppe erschwerte den Durchgang traditioneller, allein auf nationale Positionen fixierter Verhandlungsprozesse zumindest so lange, wie die neuen Akteure den Diskussionsprozess aktiv mitgestalteten.

3.2. Die Gruppe der persönlichen Vertreter der Regierungschefs

16 Vgl. hierzu: Risse, Thomas: „An Emerging European Identity? What We Know, And How To Make Sense Of

It“, in: PolitikWissen.De, Nr. 3/2004, http://www.politikwissen.de/expertenforum/exp_risse304.html; Lindberg, Leon N.: The Political Dynamics of European Economic Integration, Stanford, Ca. 1963; sowie Wiesenthal, Helmut: Unsicherheit und multiple Self-Identität. Eine Spekulation über die Voraussetzungen strategischen Handelns, Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Discussion Papier 2/1990.

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Das Gros der Mitglieder des Konvents verhandelte frei. Abgesehen von einer seit Dezember 2002 zunehmenden Anzahl an gemeinsamen Initiativen aus dem Kreise der politischen Parteifamilien, bei denen die Vertreter des Europäischen Parlaments über wesentliches redaktionelles Gewicht verfügten, ließen sich bis Anfang 2003 keine signifikanten Versuche zur ‚nationalen‘ Einhegung der Konventsmitglieder identifizieren. Allerdings stellten sich die bi- und multilateral vorgetragenen Beiträge der Vertreter der Regierungschefs als starker, offensichtlich auch bewusst einkalkulierter Hemmschuh der Mandatsfreiheit der von ihnen benannten persönlichen Vertreter dar. Abbildung 1: Einzelkämpfer und Multilateralisten bei den Vertretern der Staats- und Regierungschefs der EU-15 (Vollmitglieder), N = 2333 Konventsbeiträge

35,00

30,02

20,01

14,56

6,50

2,48

0,44

0,00

10,00

20,00

30,00

40,00

50,00Hain (UK)

Farnleitner (A)

De Villepin (F)

Lopes (P)

Fischer (D)

Roche (IRL)

Dastis (E)

Christophersen (DK)Hjelm-Wallen (S)

Fini (I)

Papandreou (GR)

Tiilikainen (SF)

Michel (B)

Santer (Lux)

De Vries (NL)

Je höher der jeweils errechnete Wert, desto größer ist der Anteil der bi- und multilateralen Beiträge und Änderungsanträge im Konvent. Der Mittelwert beträgt 583 Punkte

Gerade die deutsch-französischen Initiativen, die im Januar 2003 in dem gemeinsamen Vorschlag zur institutionellen Reform mündeten, begrenzten die relative Handlungsfreiheit der beiden im Konvent arbeitenden Außenminister enorm – ihre akut notwendige Präsenz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen machte es ihnen zudem nicht leichter, schriftliche Beiträge im Plenum des Konvents zu erläutern. Bekanntlich hatten sich sowohl Joschka Fischer als auch Dominique de Villepin zu Fragen der Reform des Ratssystems sowie zum Aufbau einer doppelköpfigen Regierungsstruktur im Verhältnis Rat/Europäischer Rat versus Kommission in anderer Weise als Gerhard Schröder und Jacques Chirac geäußert. Nachdem das Tandem Fischer/de Villepin jedoch den Botengang in den Konvent übernommen hatte, konnten beide ihre eigenen Ideen nur noch in den Grenzen der von den ‚Chefs‘ autorisierten gemeinsamen Vorschläge zur Reform der GASP/ESVP, der Innen- und Justizpolitik, der Ordnungspolitik und der institutionellen Reform äußern. Dies schränkte die Handlungsfreiheit ein und machte die Außenminister im Konvent zu direkt den Staats- und Regierungschefs unterstellten Vor- und Wegbereitern der anschließenden Regierungskonferenz.

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Relativiert wurde diese Schranke teilweise über die Praxis der Vorlage von Änderungsanträgen, die die Minister zu den Präsidiumsentwürfen für die einzelnen Verfassungsvertragsartikel unterbreiteten. Zwar galt: Je direkter der Konvent auf die Formulierung eines politisch verbindlichen Enddokuments zulief, desto stärker waren die Außenminister an die Relevanzkriterien und substantiellen Vorschläge gebunden, die sie im Namen ihrer Staats- und Regierungschefs vorgelegt hatten. Andererseits konnten die Minister in ihren Änderungsanträgen eigene Markierungen setzen, wobei aber auch hier die Grenzen der Autonomie durch die für den Konvent eingerichteten Beratungs- und Koordinationsgremien in den Haupstädten gesetzt wurden. Erst die Plenarsitzung am 20./21. Januar 2003 war der Diskussion über institutionelle Fragen gewidmet. Die Aussprache wurde hierbei geprägt durch den deutsch-französischen Beitrag zur institutionellen Architektur der EU vom 15. Januar 2003. Im Konventsplenum stießen die meisten Elemente des deutsch-französischen Vorschlags auf Zustimmung. Die Kritik konzentrierte sich auf die vorgeschlagene Doppelspitze aus dem auf bis zu fünf Jahren gewählten Vorsitzenden des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission – etwa drei Viertel der Redner äußerte sich explizit gegen diesen Vorschlag. Zustimmung fand er nur bei den Vertretern der fünf großen Mitgliedstaaten sowie Polens, Dänemarks und Schwedens. Beiträge wie die Serie der deutsch-französischen Briefe stießen innerhalb und außerhalb des Konvents auf mehr Aufmerksamkeit als beispielsweise der ‚einfache‘ Beitrag eines Vertreters des finnischen Parlaments. Hieraus aber den generellen Schluss zu ziehen, dass Konventsbeiträge aus dem breiteren Umfeld der Staats- und Regierungschefs mehr substantielles Gewicht hatten als andere, wäre falsch. Der Anlass der Debatte mag zwar vom Versuch der Lageridentifizierung geprägt gewesen sein; die Debatte selbst war es nicht. Der Chirac-de Villepin/Schröder-Fischer-Beitrag war insofern ein willkommener Katalysator für eine längst auf den Korridoren des Konvents und in der Medienöffentlichkeit angestoßene Debatte. Letztlich waren die im deutsch-französischen Jubiläumstaumel geborenen Lösungsvorschläge für die EU-25 allseits bekannt; mit fühlbarer Spannung erwartet wurde vor daher allem, in welcher Art und Weise sich die Außenminister der beiden Länder von den Positionen ihrer Chefs distanzieren würden.

3.3. Die Vertreter der nationalen Parlamente Bei den Vertretern der nationalen Parlamente ist zunächst festzustellen, dass diese nicht ausschließlich den Regierungsparteien angehörten. Hierdurch konnte eine größere Meinungsbreite in den Beratungsprozess einfließen. Für die Vertreter der nationalen Parlamente war ihre Handlungsautonomie ein zweischneidiges Schwert: Einerseits konnten sie sich innerhalb des Konvents relativ ungebunden bewegen. Andererseits waren sie in viel stärkerem Maße als die Regierungsvertreter auf die Erschließung externer Fachexpertise angewiesen, sei es aus dem Kreise ‚ihrer‘ Parlamente – wobei dann Begehrlichkeiten seitens der Parlamentsausschüsse, Facharbeitskreise und parlamentarischen EU-Konventsgremien geweckt wurden – oder aber aus der Gruppe der Regierungsvertreter ‚ihrer‘ Länder – wobei dann die Gefahr bestand, daß sie sich als Resonanzkörper der jeweiligen Staats- und Regierungschefs instrumentalisieren ließen.

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Abbildung 2: Einzelkämpfer und Multilateralisten bei den Vertretern der nationalen Parlamente der EU-15 (Vollmitglieder), N = 2333 Konventsbeiträge

0,89

1,83

2,32

3,44

16,56

21,50

22,16

23,6338,00

40,90

48,11

101,50

972,50

1385,50

915,00

0,00

300,00

600,00

900,00

1200,00

1500,00Lequiller (F-NP)

Bruton (IRL-NP)

Meyer (D-NP)

Einem (A-NP)

Kiljunen (SF-NP)

Stuart (UK-NP)

Helminger (LUX-NP)

Van der Linden (NL-NP)Follini (I-NP)

Avgerinos (GR-NP)

Skaarup (DK-NP)

Lekberg (S-NP)

Costa (P-NP)

De Gucht (B-NP)

Borrel (E-NP) Je höher der jeweils errechnete Wert, desto größer ist der Anteil der bi- und multilateralen Beiträge und Änderungsanträge im Konvent. Der Mittelwert beträgt 239,59 Punkte

Mit Beginn der dritten Konventsphase im Winter 2002/2003 – der vertieften Diskussion des Verfassungsentwurfs auf der Grundlage von Artikelentwürfen des Präsidiums und diesbezüglichen Änderungsanträgen der Konventsmitglieder – orientierte sich allerdings ein immer größeres Segment der nationalen Abgeordneten an Änderungsvorschlägen, die seitens der Vertreter des Europäischen Parlaments entworfen und dann als Gruppenanträge an das Präsidium weitergeleitet wurden. Der Mechanismus führte zwar zum Verlust an Handlungsautonomie; andererseits verlieh er den Beiträgen der Unterzeichnenden weitaus mehr Gewicht als im Falle der Vorlage unilateraler Änderungsanträge.

3.4. Die Vertreter des Europäischen Parlaments Die Konventsdelegation des Europäischen Parlaments verstand sich – stärker als die der nationalen Parlamentarier – als geschlossene Vertreterin der sie entsendenden Institution, was sich insbesondere an einer ganzen Reihe gemeinsamer Initiativen sowie daran ablesen lässt, dass das Europäische Parlament insgesamt starken Anteil an der Konventsarbeit nahm und verschiedene Initiativen über seine Konventsdelegation in die Beratungen einbrachte. Im Verhältnis zum Konventsplenum agierte die große Mehrheit der Vertreter des Europäischen Parlaments als kollektiver Ideen- und Stichwortgeber, dessen als Plenarentschließungen verabschiedete Beiträge für den Konvent – zur

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Rechtspersönlichkeit der EU17, zur Rolle der nationalen Parlamente in der EU18, zur Kompetenzordnung19 sowie zur Hierarchie der Normen20 – als maßgebliche Referenzwerte für die diesbezüglichen Arbeiten in den Konventsarbeitsgruppen sowie in den Plenarsitzungen herangezogen wurden. Selbst die in der Öffentlichkeit unmittelbar mit dem Konvent verknüpften Impulse der Staats- und Regierungschefs wurden in manchen Themenfeldern seltener ‚zitiert‘ als die Entschließungen des Parlaments. Faktisch erweiterte sich somit der Kreis der am Konvent beteiligten Europaabgeordneten um dessen Konstitutionellen Ausschuss: Jedenfalls genossen die Beiträge aus dem Parlament eine vergleichbar große Autorität wie diejenigen aus dem Konventspräsidium und dessen Sekretariat. Der relative Autoritätsgewinn der Europaabgeordneten gründete dabei auch in strukturellen Vorteilen ihrer Mitgliedschaft im Konvent: Die Europaabgeordneten konnten ständig auf eine mit personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattete Institution vor Ort zurückgreifen. Zweitens waren die Europaabgeordneten an die Mechanismen eines Verhandlungsgremiums gewöhnt, in dem Entscheidungen häufig auf der gemeinsamen Suche nach Problemlösungen auf parteipolitischer, interfraktioneller und gremienspezifischer Basis beruhten. Die Europaabgeordneten stellten somit die einzige Konventskohorte, die auch außerhalb des Konvents über fest institutionalisierte und funktionierende Arbeitsstrukturen zur Vorbereitung der Konventssitzungen verfügte. Innerhalb des Europäischen Parlaments bildeten die Gruppenanträge aus den Fraktionen der SPE, der EVP und der EDD einen deutlichen Schwerpunkt. Die Mitglieder der nationalen Parlamente verhielten sich dagegen unterschiedlich. Vor allem nationale Abgeordnete aus den Benelux-Staaten, Schweden, Litauen, Lettland, der Slowakei und Malta schlossen sich häufig den Änderungsanträgen ihrer Regierungsvertreter an. Die Parlamentsvertreter Portugals und Estlands gaben dagegen jeweils gemeinsame Änderungsanträge ab. Zahlreiche nationale Abgeordnete unterzeichneten allerdings die Anträge der Fraktionsgruppen aus dem Europäischen Parlament. Selbst einige der Mitglieder des Präsidiums waren mit Änderungsanträgen präsent und ließen damit aus Sicht der beobachtenden Öffentlichkeit den Schluss zu, daß die Geschlossenheit des obersten Gremiums des Konvents relativ fragil ist. Der gewachsene Einfluß des Parlaments war auch davon abhängig, „daß der Konvent eine für jeden souveränen Verfassungsgebungsprozeß charakteristische Eigenständigkeit annimmt: [...] Der Konvent, und nicht die nachfolgende Regierungskonferenz, sollte die treibende Kraft der Konstitutionalisierung der Europäischen Union sein“.21 Wesentliches Moment dieser „treibenden Kraft“ war die Bereitschaft und das Engagement der Konventsteilnehmer - und hier vor allem der Vertreter aus dem EP -, ihre Beiträge, Vorschläge und später ihre Änderungsanträge zur

17 Vgl. Europäisches Parlament: Report on the legal personality of the European Union, Rapporteur: Carlos

Carnero González, A5-0409/2001, Brüssel, 21. November 2002. 18 Vgl. Europäisches Parlament: Bericht über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und den

einzelstaatlichen Parlamenten im Rahmen des europäischen Aufbauwerks, Berichterstatter: Giorgio Napolitano, A5-0023/2002, Brüssel, 23. Januar 2002.

19 Vgl. Europäisches Parlament: Report on the division of competences between the European Union and the Member States, Rapporteur: Alain Lamassoure, A5-0133/2002, Brüssel, 24. April 2002.

20 Vgl. Europäisches Parlament: Report on the typology of acts and the hierarchy of legislation in the European Union, Rapporteur: Jean-Louis Bourlanges, A5-0425/2002, Brüssel, 3. Dezember 2002; Arnauld, Andreas von: Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts. Gedanken im Prozess der Konstitutionalisierung Europas. In: Europarecht 38 (2003) 2. S. 191-216;

21 Vgl. Duff, Andrew: Der Beitrag des Europäischen Parlaments zum Konvent: Treibende Kraft für einen Konsens. In: Integration 26 (2003) 1. S. 4.

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Verfassung nicht als intellektuelle Einzelkämpfer, sondern im Konzert mit anderen Konventsmitgliedern zu formulieren und vorzustellen. In der folgenden Abbildung wird deutlich, daß nur die ohnehin der Verfassung kritisch gegenüberstehenden Europaabgeordneten Bonde (DK), Kirkhope (UK) und Muscardini (I) auf die Koalition mit anderen Abgeordneten und Regierungsvertretern verzichteten. Auf der anderen Seite erwiesen sich die Abgeordneten Brok (D), und Voggenhuber (A) als besonders aktive bzw. die Abgeordneten Hänsch (D), McAvan (UK) und Marinho (P) als eher passive, gleichwohl aber um Koalitionen bemühte Netzwerker.

Abbildung 3: Einzelkämpfer und Multilateralisten in der EP-Delegation des Konvents (Vollmitglieder), N = 2333 Konventsbeiträge

31,76

28,50

13,24

2,89

0,18

15,50

11,67 1,23

0,17

1,34

10,83

2,49

25,25

0,59

34,00

0,00

10,00

20,00

30,00

40,00Bonde

Brok

Duff

Duhamel

Hänsch

Kaufmann

Kirkhope

Lamassoure

McAvan

Maij-Weggen

Marinho

Mendez de Vigo

Muscardini

Tajani

Van Lancker

Voggenhuber

Je höher der jeweils errechnete Wert, desto größer ist der Anteil der bi- und multilateralen Beiträge und Änderungsanträge im Konvent. Der Mittelwert beträgt 16,69 Punkte

3.5. Die Vertreter der Kommission Relativ homogen war die Gruppe der Kommissionsvertreter, was zum einen an ihrer geringen Anzahl von zwei Mitgliedern lag und zum anderen daran, dass die Kommission insgesamt in der Reform- und Verfassungsdebatte geschlossen agierte. Noch stärker als die Vertreter der Mehrheit des Europäischen Parlaments verstanden sich die Kommissionsvertreter als Anwälte einer EU-Konzeption, die sich am schrittweisen Aufbau eines staatsähnlichen Gemeinwesens mit föderalen Grundzügen orientierte. Darüber hinaus richtete sich ihr Fokus vor allem auf die Frage, mit welchen gemeinschaftlichen Instrumenten, Institutionen und Verfahren die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union gesteigert werden kann, was dem Selbstverständnis der Kommission als Hüterin und Motor der Verträge entsprach. Unabhängig von allen

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parteipolitischen und nationalen Präferenzen kam hierdurch ein pointiert proeuropäisches Element in den Beratungsprozess.

3.6. Das Präsidium Eine prägende Rolle kam dem Konventspräsidium und seinem Präsidenten zu. Gestärkt durch seine Ernennung vom höchsten Gremium der Staats- und Regierungschefs und relativ engmaschig vernetzt mit den zentralen Konventsakteuren in Frankreich, machte Giscard frühzeitig keinen Hehl aus seinen eigenen Vorstellungen über das aus seiner Sicht optimale Ergebnis des Konvents. Oft unter Missachtung seiner Rolle als neutraler Mittler, andererseits aber unter Beachtung des Prinzips der grundsätzlichen Gleichheit aller Konventsmitglieder, positionierte er sich in zahlreichen Pressebeiträgen deutlich zugunsten der Gründung eines Kongresses der nationalen Parlamente und der Schaffung des Amtes eines EU-Präsidenten und stellte die außenpolitische Expertise der Kommission in Frage. Giscard übte in allen Phasen des Konvents die Funktion des Steuermanns aus, wenngleich er alle Konventsmitglieder, auch das Präsidium, häufig bis zur letzten Minute im unklaren über den von ihm bestimmten Kurs ließ. Diese Rolle wurde besonders deutlich bei den Debatten über die institutionelle Neu-ordnung der EU. Seine Vorschläge für darauf bezogene konkrete Vertragsartikel arbeitete Giscard gemeinsam mit zwei persönlichen Vertrauten und dem Chef des Konventssekretariats, Sir John Kerr, in Paris aus. Dem Konvent versprach er die Vorlage eines ersten Entwurfs für den 24. April 2003. Aber noch während das Präsidium am 22. April über Giscards Vorschläge brütete, stellte sie der Sprecher des Konvents bereits im täglichen Presse-Briefing der Öffentlichkeit vor.22 Erst nach dem öffentlichen Aufschrei der Kommission, des Europäischen Parlaments und der großen Mehrheit der Konventsmitglieder wurden Giscards Artikel im Präsidium überarbeitet und am 23. April formal in den Konvent eingespeist.23 In der folgenden Debatte rückten einige Konventsmitglieder teilweise weit von ihren ursprünglichen Überlegungen zur institutionellen Reform ab, um die als schlimmer bewerteten Anregungen Giscards zu verhindern. Der Druck, der durch seine Extremvorschläge und die Umgehung des Präsidiums entstand, förderte somit die Kompromißbereitschaft des Konventsplenums und begünstigte eine Bewegung der großen Mehrheit des Konvents in Richtung eines gemeinsam und im Konsens autorisierten Abschlußdokuments. Abgesehen von Giscards Handlungsweise muß aber auch die Grundstruktur des Präsidiums kritisch bewertet werden. Denn mit seinen insgesamt 13 Mitgliedern war es für eine effektive Entscheidungsfindung und die Erarbeitung konkreter Textentwürfe eigentlich zu groß. Dies führte dazu, daß dem Konventssekretariat eine relativ starke, kaum kontrollierbare Rolle zuwuchs. Die in dem dreizehnköpfigen Gremium erarbeiteten Kompromisse hatten einen für das Plenum vorentscheidenden Charakter. In der Endphase des Konvents mutierte das Präsidium regelrecht zu einer Art Mini-Konvent. Der im Präsidium gepflegte Beratungsstil ähnelte in dieser Phase – nicht

22 Vgl. Giscard’s Draft Institutional Proposals of 22 April 2003 (Articles 14 to 19 plus Article X), in: Peter

Norman, The Accidental Constitution. The Story of the European Convention, Brüssel: EuroComment, 2004, S. 343–349.

23 Vgl. Europäischer Konvent, Beitrag des Präsidiums: Organe – Entwurf von Artikeln für Titel IV des Teils I der Verfassung, Dok. Nr. CONV 691/03, 23.4.2003.

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zuletzt aufgrund der Unterrepräsentation der parlamentarischen Komponente – dem einer Regierungskonferenz. 4. Die Konventsphasen Der Konvent arbeitete in drei Phasen: einer „Anhörungsphase/Phase d’Écoute“ im Plenum, einer durch Arbeitsgruppen gekennzeichneten „Arbeitsphase/Phase d’Étude“ und einer abschließenden Redaktions- bzw. „Reflexisonsphase/Phase de Réflexion“ zur Ausarbeitung des Verfassungsvertrages. In der Anhörungsphase sollten nach dem Willen von Giscard keine konkreten Ergebnisse formuliert werden. Statt dessen beabsichtigte er, „dass wir allen unseren Partnern [...] kontinuierlich aufmerksam zuhören.“24 Ziel der ersten Phase war es, das gegenseitige Verständnis für die Positionen der übrigen Mitglieder zu stärken, und Klarheit darüber zu gewinnen, welche Reformprojekte der Konvent überhaupt in Angriff nehmen sollte. Der relativ unspezifische Gedankenaustausch wurde von vielen Konventsmitgliedern als langatmig und ziellos kritisiert.25 Erst in der Rückschau bewertete eine größere Anzahl die Phase d’Écoute als berechtigtes Instrument zur Förderung der Empathie und gestand ein, Vieles gelernt zu haben, was sich in der späteren Arbeit der Ausarbeitung des Verfassungsvertrags als hilfreich erwiesen hätte.26 Positiv war an dem offenen Gedankenaustausch zweierlei: Erstens konzentrierten sich die Positionspapiere weniger auf konkrete Reformprojekte und Artikelvorschläge, sondern auf allgemeine Leitlinien, entlang derer mögliche Integrationsprojekte entworfen werden könnten. Zweitens zeichneten sich die im Plenum vorgetragenen Stellungnahmen durch die gemeinsame Grundtendenz aus, sich zunächst gegenseitig über die verschiedenen – häufig noch nicht abgeschlossenen – Vorstellungen über Ziele, Werte und Prinzipien der EU-Integration zu informieren. Die Vielzahl und Heterogenität der mitwirkenden Akteure, die zeitnahe Veröffentlichung aller Beiträge, Reden und Prokolle auf den Internet-Seiten des Konvents führten zusammen mit der ungewohnten und neuartigen Verhandlungssituation27 dazu, dass sich im Konvent keine klaren Trennlinien und Koalitionen, wohl aber Schwerpunkte für die weiteren Debatten herausbildeten. Eine quantitative Auswertung der Plenarbeiträge der ersten Konventsphase ergibt, daß die Schwerpunkte der Diskussion einerseits vornehmlich bei Themen wie der Kompetenzordnung, dem Charakter und der Wünschbarkeit einer europäischen Verfassung sowie der Grundrechtecharta lagen. Über diese Fragen konnte bereits kurz nach Beginn des Konvents Einigkeit erzielt werden. Beiträge der Vertreter aus den EU-15-Mitgliedstaaten überwogen eindeutig. Ähnlich verhielt es sich bei Beiträgen von Parlamentariern – sei es aus nationalen Parlamenten oder dem EP – im Vergleich zu Beiträgen von Regierungsvertretern oder Vertretern sonstiger Institutionen. Der erste vom Präsidium entworfene Skelettentwurf eines Verfassungstextes vom 28. Oktober

24 Giscard d’Estaing, Valéry: Eröffnungsrede vor dem Konvent zur Zukunft Europas, 26. Februar 2002, Dok. Nr.

SN 1565/02, http://european-convention.eu.int/docs/speeches/3.pdf. 25 Vgl. hierzu die Plenardebatte vom 15./16. April 2002 sowie vom 23./24. Mai 2002. 26 Vgl. Teufel, Erwin: „Im europäischen Verfassungsvertragskonvent wird es allmählich ernst. Beginn der „Phase

der Erörterung“, in: Europäische Zeitung, September/Oktober 2002, S. 11; Würmeling, Joachim: „Das Ding“ – Der Europäische Konvent gewinnt an Gestalt, in: Neue Juristische Wochenschrift, 54 (2001) Nr. 41, Editorial.

27 Vgl. Zimbardo, Philip/Leippe, Michael: The Psychology of Attitude Change and Social Influence, NY: McGraw Hill, 1991, S. 31.

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2002, griff die wichtigsten Punkte der Plenardiskussion auf und übernahm konsensfähige Vorschläge. Allerdings enthielt er auch Vorschläge wie die Einrichtung eines Kongresses der Völker Europas, der von einer überwältigenden Mehrheit des Konvents ausdrücklich abgelehnt wurde. Tabelle 1: Plenarbeiträge vom 28.2. bis 28.10.200228 Autoren Themen

Gesamt EU BK NP R EP SB S KOM

Kompetenzordnung 53 23 6 19 11 13 6 3 1 Reform der EU-Politiken

GASP 30 13 5 13 5 6 2 3 1 Inneres und Justiz 13 6 3 5 4 1 1 1 1 Wirtschaft 7 2 0 1 1 2 0 2 1 Soziales, Umwelt, Gesundheit

13 6 2 5 3 4 2 1 0

Vereinfachung der Instrumente

23 9 3 7 5 5 2 3 1

Reform der Institutionen Allgemein 5 2 2 2 2 1 0 0 0 Kommission 20 11 3 12 2 5 1 0 0 EP 30 14 4 16 2 9 1 1 1 Rat 28 15 4 18 1 6 1 1 1 Nationale Parlamente 29 17 5 18 4 3 3 1 0 Verfassung 42 19 7 19 8 14 1 3 1 Grundrechtecharta 30 6 6 6 6 9 4 5 1

Quelle: Andreas Maurer / Joachim Schild (Hrsg.): Der Konvent über die Zukunft der Europäischen Union: Synopse zur EU-Konventsdebatte, Band 1 (Saskia Matl): Die Beiträge des Konvents bis zum 28.10.2002 (Plenarebene), SWP, Berlin, Oktober 2002, http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id=749, Legende: EU - Beiträge von Vertretern aus Mitgliedstaaten, BK - Beiträge von Vertretern aus Ländern der Beitrittskandidaten, NP - Vertreter der nationalen Parlamente, R - Vertreter der Regierungschefs, EP - Vertreter des EP, SB - Sammelbeiträge von Vertretern verschiedener Nationalität, evtl. auch unterschiedlicher Institutionen, S - sonstige Vertreter (AdR, WSA, UNICE etc.), KOM - Vertreter der Kommission. Während die Aussprachen in der Anhörungsphase innerhalb des gesamten Plenums erfolgten, setzte mit Beginn der Phase d’Étude ein anderer Arbeitsstil ein. Denn Kernbestandteil dieser zweiten Phase waren die insgesamt elf Arbeitsgruppen, die zu unterschiedlichen Themen eingesetzt wurden. Der wichtigste Unterschied im Vergleich zum Plenum lag in der Arbeitsatmosphäre. In einem relativ kleinen Kreis und unter geringerer Beobachtung der Öffentlichkeit und der Medien konnte die Bereitschaft erhöht werden, auf die Argumente der anderen einzugehen und sich gegebenenfalls auch überzeugen zu lassen. Neben der Größe der Arbeitsgruppen und der thematischen Segmentierung des Plenums bestand eine wesentlich Funktion der Arbeitsgruppen aber auch darin, eine thematische Rollenfokussierung der Akteure zu fördern. Anders als im Plenum wurden in den Arbeitsgruppen nicht nur neue Akteure in den Beratungsprozess eingebunden, sondern 28 Die Tatsache, daß die Gesamtzahl der Beiträge nicht mit der Summe der übrigen Angaben übereinstimmt, ist

darauf zurückzuführen, daß die Beiträge von Parlaments- und Regierungsvertretern mit der Angabe verknüpft werden müssen, ob sie aus einem EU-Mitgliedstaat oder einem der Beitrittsländer stammen. Da die meisten Beiträge mehrere Themen bearbeiten, kann durch die Summe der in der Tabelle angegebenen Beiträge zu einem bestimmten Thema nicht die Gesamtzahl der Plenarbeiträge ermittelt werden.

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auch bestimmte Akteure „ausgeschlossen“. Denn Konventsmitglieder durften nicht gleichzeitig an verschiedenen Arbeitsgruppen teilnehmen.29 Somit war auch immer nur ein Teil der nationalen Regierungen oder der Parlamente in einer Arbeitsgruppe vertreten. Durch diese Ausschlußregel wurde spätestens in der Arbeitsphase des Konvents deutlich, daß die Entscheidungsfindung nicht den Regeln des intergouvernementalen Bargaining folgen könnte. In einigen Arbeitsgruppen wurden - ausgehend von bestimmten Grundprinzipien, auf die sich alle Beteiligten eingangs verständigten - sachorientierte und teilweise sehr innovative Lösungskonzepte erarbeitet, die teilweise erheblich von den ursprünglichen Vorstellungen der Teilnehmer abwichen. Besonders deutlich zeigte sich der offene und sachorientierte Arbeitsstil an der Entwicklung des sogenannten Frühwarnmechanismus, mit dem die nationalen Parlamente stärker in den europäischen Rechtsetzungsprozeß einbezogen werden sollen.30 Während zu Beginn des Konventsarbeit die verschiedensten dazu ein-gebrachten Vorschläge diskutiert wurden, angefangen von einer dritten Parlaments-kammer über eine Doppelmitgliedschaft von Parlamentariern im Europäischen und nationalen Parlament bis hin zur Einrichtung eines Subsidiaritätsausschusses, stand am Beginn der Beratungen in den Arbeitsgruppen die Festlegung auf drei Grundprinzipien: das Ziel der Beteiligung der nationalen Parlamente am europäischen Gesetzgebungs-verfahren, die Vermeidung neuer Institutionen sowie die Forderung, daß eine verstärkte Beteiligung das Gesetzgebungsverfahren nicht verzögern solle. Auf dieser Grundlage wurde dann das innovative Verfahren des Frühwarnmechanismus entwickelt.31 Dieses Verfahren soll künftig eine sachlich breiter angelegte, gleichzeitig effizientere Mitwirkung der Parlamente an der Verabschiedung europäischen Sekundärrechts ermöglichen. Der Frühwarnmechanismus sieht konkret vor, daß die Europäische Kommission ihre Vorschläge für Rechtsakte direkt den nationalen Parlamenten zuleitet. Die Parlamente haben sechs Wochen Zeit, um begründet zu der Frage Stellung zu nehmen, ob der Vorschlag gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Die bei der Kommission abgegebenen parlamentarischen Stellungnahmen werden gewichtet und gezählt. Geben ein Drittel (bzw. ein Viertel bei Verfahren im Bereich der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie der polizeilichen Zusammenarbeit) aller berechtigten Kammern negative Stellungnahmen ab, ist die Kommission gehalten, ihren Vorschlag zu überprüfen. Sie kann ihn dann entweder zurückziehen, ändern oder mit triftiger Begründung in der ursprünglichen Fassung belassen. Im Anschluß an diese ‚erste Lesung‘ führt die Kommission den unter Umständen überarbeiteten Vorschlag dem normalen Gesetzgebungsprozeß des Europäischen Parlaments und des Rates zu. Die nationalen Parlamente verfügen nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens schließlich auch über die Möglichkeit, vor dem Europäischen Gerichtshof wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips zu klagen, wobei sie von Ihren Regierungen vertreten werden.32

29 Vgl. Europäischer Konvent: Dok. Nr. CONV, Dok. Nr. 52/02. 30 Dies gehörte zu den zentralen Reformprojekten, die in Nizza in der Erklärung zur Zukunft der Union genannt

wurden; vgl. Erklärung 23 zur Zukunft der Union. 31 Vgl. Europäischer Konvent, Arbeitsgruppe I „Subsidiaritätsprinzip“, Schlußfolgerungen, Brüssel 2002 (CONV

286/02). 32 Vgl. hierzu Maurer, Andreas/Becker, Peter: Die Europafähigkeit der nationalen Parlamente.

Herausforderungen des EU-Verfassungsvertrags für den deutschen Parlamentarismus, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2004 (S 23/04).

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Der intensiven und sachorientierten Arbeit der Konventsarbeitsgruppen geschuldet war auch die Einführung einer klaren Normenhierarchie.33 Da der Konvent keine eigenständige Arbeitsgruppe zur Reform der Institutionen und Verfahren einrichtete, boten sich die Ansatzpunkte für eine Lichtung des Dschungels aus Verfahren und zugeordneten Handlungsformen nur im Rahmen der Konventsarbeitsgruppe „Vereinfachung der Rechtssetzungsverfahren und Rechtsakte“.34 Diese Gruppe behandelte zunächst nur die systematische Qualifizierung der einzelnen Handlungsformen der EG/EU.35 Die Diskussion in der Arbeitsgruppe verlief weit weniger kontrovers, als dies bei einem derart zentralen Thema zu erwarten gewesen wäre. Im Ergebnis konnte sich die Arbeitsgruppe für alle Aspekte ihres Mandats auf einen breiten Konsens einigen. Eine Hierarchisierung der Rechtsakte sollte zu einer deutlicheren Trennung von Gesetzgebungs- und Durchführungsmaßnahmen führen. Mit einer neuen Kategorie der „delegierten Rechtsakte“ sollte es dem Gesetzgeber, also Parlament und Ministerrat möglich werden, die eher technischen Aspekte eines Rechtsakts an die Exekutive zu delegieren. Im Ergebnis schlug die Arbeitsgruppe eine Differenzierung der Rechtsakte in drei Gruppen vor: Eine erste Gruppe der Gesetzgebungsakte, die die wesentlichen Bestimmungen der einzelnen Politikbereiche regeln und generell nach dem Mitentscheidungsverfahren verabschiedet werden. Eine zweite Gruppe der delegierten Rechtsakte, die den eigentlichen Gesetzgebungsakt konkretisieren und im Regelfall durch die Kommission angenommen werden. Das Innovationspotential des Konvents spiegelte sich hierbei in dem Vorschlag, daß die Kontrolle der Ausübung dieser Befugnisse durch den Gesetzgeber, d.h. durch Rat und Parlament, gewährleistet sein sollte. Vorgeschlagen wurden hierfür eine Auflösungsklausel und ein Rückholrecht (call back-Verfahren) für das EP und den Rat.36 Als dritte Normengruppe schlugen die Konventsmitglieder Durchführungsakte vor, die die administrative Durchführung von „Gesetzgebungsakten“, von „delegierten Akten“ oder von direkt im Vertrag vorgesehenen Akten regeln sollten. Neben der Normenhierarchie nahm die Arbeitsgruppe die Reduzierung der Anzahl der Gesetzgebungsinstrumente auf maximal fünf Typen in den Blick.37 Um zu vermeiden, das die Reduzierung der Instrumente zu Lasten der Flexibilität und der Effizienz der Rechtsakte gehen könnte, schlug die Arbeitsgruppe drei rechtlich verbindliche (Gesetze, Rahmengesetze38 und Entscheidungen) und zwei ‚nur‘ politisch verbindliche (Empfehlungen und Stellungnahmen) Typen von Rechtsakten vor. Diese Handlungsformen sollten sich sowohl auf den derzeitigen Geltungsbereich des EG-Vertrages als auch auf den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in

33 Vgl. Hierzu: Europäisches Parlament: Report on the typology of acts and the hierarchy of legislation in the

European Union, Rapporteur: Jean-Louis Bourlanges, A5-0425/2002, Brüssel, 3. Dezember 2002; vgl. auch: Maurer, Andreas: „Orientierungen im Verfahrensdickicht? Die neue Normenhierarchie der Europäischen Union“, in: Integration 26 (2003) Nr. 4, S. 440-453; Arnauld, Andreas von: Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts, in: Europarecht, Nr. 2/2003, S. 191-216.

34 Vgl. zu den Entwürfen für eine EU-Verfassung: Häberle, Peter: „Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüfstand“, in: Die öffentliche Verwaltung, Nr. 11/2003, S.429-443.

35 Vgl. hierzu die Arbeitsdokumente aus der AG: http://european-convention.eu.int/dynadoc.-asp?lang=DE&-Content=WGIX.

36 Vgl. Europäischer Konvent: Schlußbericht, Dok. Nr. CONV424/02. 37 Für die fünf Instrumente des Art. 249 EGV vgl. Europäischer Konvent: Beiträge von Piris, Jean-Claude (WD

06); Sekretariat des Verfassungskonvents (WD 13). Für abweichende Vorschläge siehe Maij-Weggen, Hanja (WD18); Voggenhuber, Johannes (WD 26).

38 Zu den terminologischen Anpassungen vgl. Europäischer Konvent: Arbeitsgruppensitzung 24.10.2003, Dok. Nr. CONV372/02; Sekretariat des Verfassungskonvents (WD 13); Maij-Weggen, Hanja (WD 18).

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Strafsachen erstrecken. Dagegen sollten die Besonderheiten der Akte im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe erhalten bleiben. Schließlich schlug die Arbeitsgruppe eine Vereinfachung der Entscheidungsverfahren vor, indem das Mitentscheidungsverfahren als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ zum Regelverfahren definiert wurde.39 Auch zur Reform des Haushaltsverfahrens konnte sich die Arbeitsgruppe ein ganzes Bündel an Vereinfachungen einigen. Das bestehende Haushaltsverfahren (Art. 268-271 EGV) sollte hierbei ersetzt werden durch ein vereinfachtes Mitentscheidungsverfahren.40 Hiermit verknüpft waren weitere, teils erheblich in das bestehende Machtgefüge der EU eingreifende, Vertragsänderungen: Die Aufhebung der Unterscheidung von obligatorischen und nicht-obligatorischen Ausgaben, eine klare Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Rat und EP, indem die Führungsrolle über die Einnahmen beim Rat verbleiben, und das Parlament abschließend über die Ausgaben entscheiden sollte, sowie die Schaffung einer neuen Rechtsgrundlage für die mittelfristige Finanzplanung. In den meisten anderen Arbeitsgruppen konnten ebenfalls weitgehende Erfolge erzielt werden,41 wobei die Überwindung der Säulenstruktur, die Einführung einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit, die Übernahme des Mitentscheidungsverfahrens als Standardverfahren der Gesetzgebung sowie die Zusammenführung der Aufgaben von Außenkommissar und Hohem Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die verbindliche Einbeziehung der Grundrechtecharta in den Europäischen Verfassungsvertrag zu nennen sind. Diese Ergebnisse können als umso weitreichender angesehen werden, als viele dieser Problembereiche bereits auf vergangenen Regierungskonferenzen behandelt wurden, ohne dass eine zufriedenstellende Lösung erzielt werden konnte. Mit Beginn der Vorlage der ersten Artikelentwürfe durch das Präsidium begann schließlich die dritte Phase der Konventsarbeit, die Redaktionsphase bzw. „Phase de Réflexion“, in der die zuvor erzielten Konsensergebnisse in konkrete Artikel gefasst und die bis dahin im Konvent noch nicht thematisierten Fragen der institutionellen Reform angegangen wurden. Nationale Trennlinien, die in den vorangegangenen Beratungen kaum eine Rolle gespielt hatten, nahmen nun mehr und mehr Einfluss auf die konkreten Beratungen. Darüber hinaus untermauerten nun auch die Regierungsvertreter ihre zentrale Rolle. Der Wandel in der Kommunikation und des Beratungsstils zeigte sich vor allem auch daran, dass die Regierungen nun verstärkt außerhalb des Konvents Koalitionen bildeten, die in verschiedene bi- und multilaterale Initiativen für den Konvent mündeten.42 Für die Konventsarbeit war diese Vorgehensweise insoweit problematisch, als diese von Außen in den Konvent hineingetragenen Initiativen dazu führten, dass die jeweiligen Regierungsvertreter im Konvent praktisch keinen Verhandlungsspielraum mehr hatten. Der in den ersten beiden Konventsphase vorherrschende, relativ offene und diskursive Arbeitsstil des Konvents wurde hierdurch implizit in Frage gestellt. Gleichzeitig offenbarten diese bi- und multilateralen

39 Vgl. Europäischer Konvent: Schlußbericht, Dok. Nr. CONV 424/02; Sekretariat des Verfassungskonvents (WD

13); Muscardini, Cristiana (WD 17); Maij-Weggen, Hanja (WD 18); Roche, Dick (WD 25). 40 Vgl. Europäischer Konvent: Schlußbericht, Dok. Nr. CONV 424/02. 41 Eine Ausnahme bildete die Arbeitsgruppe Ordnungspolitik. 42 Vgl. die deutsch-französische Gemeinschaftsinitiative zur institutionellen Reform (CONV 489/03), den

entsprechenden spanisch-britischen Entwurf (CONV 591/03), das Memorandum der Benelux-Staaten (CONV 457/02) sowie die Initiative mehrerer kleiner Staaten, die als Antwort auf die beiden ersten zu verstehen ist (CONV 646/03).

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Initiativen aber auch, dass erstens die Staats- und Regierungschefs bzw. ihre Vertreter im Konvent eine Schlüsselstellung einnahmen, daß zweitens der konsensorientierte Arbeitsstil des Konvents schrittweise einer mit Regierungskonferenzen vergleichbaren Verhandlungskette wich und daß sich der Konvent drittens immer stärker entlang nationaler Achsen orientierte. Die Mutation des Konvents in eine „Vorregierungskonferenz“ wurde besonders deutlich an den Auseinandersetzungen um einen hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates, um die Reform der Entscheidungsverfahren im Ministerrat und um die Reform der Kommission. In diesen Fällen kam es zum offenen Konflikt zwischen kleinen und großen Ländern.43 Die wachsende, medial breit inszenierte, Dominanz der Regierungsvertreter schränkte automatisch die Rolle der „neuen Konventsmitspieler“ ein. 5. Erklärungsfaktoren

5.1. Akteurswandel Während der gut 17-monatigen Tagungszeit des Konvents rückten insgesamt 55 Mitglieder in den Konvent nach. Insbesondere in der Kohorte der Regierungsvertreter sind deutliche strukturelle Veränderungen erkennbar. Denn die Anzahl der Regierungsvertreter im Ministerrang nahm gegen Ende des Konvents deutlich zu, während gleichzeitig die Anzahl der von den Regierungschefs ernannten, nichtministerialen Experten um gut ein Drittel zurückging. Die „neuen“ Regierungsvertreter hatten die ersten beiden Konventsphasen nur als auswärtige Beobachter wahrnehmen können. Die Sozialisationsfunktion der Arbeitsgruppen schied somit für Fischer, de Villepin und Co. aus. Deutlich werden die Veränderungen in der Zusammensetzung und ihre Folgen für den Konventsverlauf, wenn man die Rolle der nationalen Staats- und Regierungschefs in die Analyse einbezieht. Denn mit Beginn der institutionellen Reformdebatte im November 2002 schalteten sich diese verstärkt in die konkrete Arbeit ein. Besonders deutlich zeigt sich dies an den verschiedenen bi- und multilateralen Regierungsinitiativen, die außerhalb des Konvents erarbeitet und dann über die betreffenden Regierungsvertreter in den Konvent eingebracht wurden. Gerade in entscheidenden Fragen wie der künftigen Gestalt der Kommission oder beim Streit um einen Präsidenten des Europäischen Rates bildeten diese Regierungsinitiativen die zentralen Eckpunkte der Diskussion, so dass sich – je nach Standpunkt – die eigentliche Debatte aus dem Konvent hinausverlagerte oder aber die Regierungschefs zu „Quasi-Konventsmitgliedern“ mutierten, die die Debatte mehr und mehr beeinflussten.

5.2. Einzelkämpfer und Koalitionsbildungen Der Konvent und sein unmittelbares Umfeld favorisierten die Zielvorgabe eines einzigen finalen Konsenstextes, der die Delegierten zur Einigung zwingen sollte. Das nicht näher definierte Konsensprinzip war als Entscheidungsmodus wichtig, weil es die

43 Vgl. Middel, Andreas: Die „sieben Zwerge” der EU fühlen sich übergangen. Gipfel der kleinen Länder soll

Warnung sein, in: Die Welt, vom 25. März 2003; Two EU Presidents Proposal Rejected, in: Irish Examiner vom 21. Januar 2003; Kein hauptamtlicher EU-Präsident. Kleinere EU-Staaten dagegen, in: Handelsblatt vom 3. April 2003.

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Durchführung kontroverser Abstimmungen vermeidbar machte. Anders als beim Charta-Konvent ließ sich beim Verfassungskonvent angesichts der größeren Teilnehmerzahl, des von den Regierungen oktroyierten Präsidiums und des weit kontroverseren Gegenstands allerdings nur schwer vorstellen, daß der Konvent dem Präsidium die Freiheiten zur ‚Feststellung eines Konsenses‘ verleihen würde. Insbesondere die Kohorte der Parlamentarier fürchtete, daß die Präsidentschaft an ihnen vorbei mit einer von oben dirigierten Konsensstrategie die entscheidende Rolle bei der Konzeption des Konventsberichts spielen wolle. Andererseits war aber nicht zu beobachten, daß einzelne Mitglieder aus dem Kollektiv der Konsenssucher auszuscheren versuchten. Viel hing damit vom Präsidium und dessen Sekretariat ab, die Verlauf der Beratungen über die Verfassungsartikel versuchten, die Originalität des Konvents und seinen Mehrwert gegenüber der Regierungskonferenz substantiell zu untermauern.

Das deliberative Element im ‚Konvent‘ hatte sich somit bis zur Debatte über den Verfassungsvertragstext im Frühjahr 2003 als relativ erfolgreiches, weil von der breiten Mehrheit der Mitglieder akzeptiertes Verfahren für einen breiten und weitgehend transparenten Dialog über die künftige europäische Verfassungsordnung erwiesen. Alle Mitglieder konnten wesentliche Wegmarkierungen in einigen Teilaspekten der künftigen Verfassung festlegen. Die Beratungen in den Arbeitsgruppen waren „vertragsartikel“- und ergebnisorientiert und ähnelten weitestgehend den Arbeiten parlamentarischer Fachausschüsse. Während im zweiten Halbjahr 2002 im Plenum weiter ein offener Austausch über Teilelemente des Verfassungsvertrages zu beobachten war, strukturierten sich auch erste stabilere Interessenskoalitionen der Europäischen Parteien sowie - mit Blick auf zentralen Machtfragen in den Institutionen der EU - flexible Koalitionen der Vertreter der Staats- und Regierungschefs. Festzuhalten ist hierbei dreierlei: 1. Im Vergleich zu ihren Kollegen der EU-15 war die Zahl der alleine oder aber in

Gruppen autorisierten Beiträge der Vertreter der Staats- und Regierungschefs der mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten stark unterdurchschnittlich. Die einzige Ausnahme bilden die polnische Vertreterin Hübner bei der Zahl der unilateral abgegebenen Änderungsanträge und der slowenische Vertreter Rupel bei der Zahl der bi- und multilateral abgegebenen Änderungsanträge.

2. Im Vergleich zu ihren Kollegen der EU-15 fiel die Zahl der alleine abgegebenen Änderungsanträge der polnischen und tschechischen Vertreter der nationalen Parlamente der Beitrittsländer deutlich überdurchschnittlich aus. Ebenfalls im Vergleich zur EU-15 überdurchschnittlich war die Zahl der bi- und multilateral abgegebenen Änderungsanträge der Parlamentarier Ungarns und Lettlands, wobei sich der ungarische Vertreter auch durch eine überdurchschnittlich hohe Zahl multilateraler Beiträge auszeichnete.

3. Bei genauerer Analyse der Beiträge und Änderungsanträge fällt auf, daß es sich bei den multilateral gekennzeichneten Dokumenten ausschließlich um solche handelt, bei denen die Initiative von Vertretern des Europäischen Parlaments und hierbei wiederum von den Koordinatoren der parteipolitischen Konventsgruppen ausging.

Tabelle 2: Beiträge und Änderungsanträge zum Konvent

Änderungsanträge Beiträge

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Beiträge Regierungen

Unilateral Bi-/Multilateral Unilateral Bi-/Multilateral Mittelwert EU-15 Regierungen 65,84 87,80 1,38 10,4Mittelwert Europäisches Parlament

45,20 89,56 3,95 7,12

Änderungsanträge Beiträge

Parlamente

Unilateral Bi-/Multilateral Unilateral Bi-/Multilateral Mittelwert EU-15 Parlamente 14,23 91,80 1,44 6,15Mittelwert Europäisches Parlament

45,20 89,56 3,95 7,12

Eigene Zusammenstellung auf der Basis der Homepage des Konvents: http://european-convention.eu.int/search.asp?lang=DE

5.3. Alte und neue Mitgliedsstaaten Hinsichtlich der Frage der Partizipationsmuster der Repräsentanten der Beitrittsländer lassen sich aus den oben dargestellten Beobachtungen mehrere Schlüsse ziehen: Erstens hingen sich vor allem die Vertreter der Parlamente aus Mittel- und Osteuropa an Initiativen der jeweiligen Parteifamilien des Europäischen Parlaments an, ohne selbst den Versuch zu unternehmen, aktives Agenda-Setting für die Thematisierung ihrer Anliegen zu betreiben. Das Agenda-Taking der Beitrittskandidaten reflektierte damit den Versuch der betroffenen Konventsmitglieder, als Beobachter wenigstens passiv an der Reform der EU-Verträge mitzuwirken. Angesichts der parallel zum Konvent laufenden Endphase der Beitrittsverhandlungen waren die personellen Beratungsressourcen der Beitrittsländer weitestgehend aufgezehrt. Die Unterstützung ihrer Konventsmitglieder konnte somit nur unter starken Einschränkungen gewährleistet werden. Zweitens stellten sich die unilateral abgegebenen Änderungsanträge der Vertreter der Regierungen aus den Beitrittsstaaten in fast 60% aller Fälle dar, die um Sonderthemen wie "Minderheitenrechte", "Nachbarschafts-/Ostpolitik" oder "Gottesbezug in der Verfassung" kreisten. Diese Themen spielten im Konvent nur eine untergeordnete Rolle. Das vor allem die Konventsmitglieder Polens und Ungarns auf der Herausgabe von Positionspapieren zu diesen Themen beharrten, hatte in allererster Linie innenpolitisch motivierte Ursachen. Drittens ist beim Blick auf die inhaltlichen Schwerpunkte der Beiträge und Änderungsanträge der „Benelux“- und der „Visegrad“-Gruppe zwar eine gewisse Konvergenz ihrer EU-Reformpositionen auszumachen. Die Gruppen äußerten sich alle zugunsten der Stärkung des Europäischen Parlaments im Bereich der EU-Gesetzgebung, der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens als "Standardverfahren" für die Gesetzgebung, die Ausweitung der Anwendungsfelder für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen, die Beibehaltung des exklusiven Initiativrechts der Kommission, die Schaffung des Amtes eines Europäischen Außenministers, sowie gegen die Schaffung eines Kongresses der Parlamente. Diese geteilten Positionen

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stellen sich jedoch nicht als exklusive Koalitionen der „Benelux“- oder der „Visegrad“-Gruppe, sondern nur als Teil einer breiteren Koalition der kleineren und mittleren Staaten der künftigen EU-25 dar, in der die Vertreter der „Benelux“-Staaten sowie Irland und Dänemark die Initiative ergriffen. Diese breite Koalition der kleineren und mittleren Staaten stellte sich bewußt gemeinsam gegen Konventsvorschläge zur Vereinfachung der Entscheidungsmechanismen zum Eintritt in die verstärkte Zusammenarbeit, da hierin ein „Türöffner“ in eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten gesehen wurde. Besonders deutlich kam diese Abwehrhaltung in gemeinsamen Positionspapieren zum Ausdruck, die sich kritisch zum Verfahren der „strukturierten Zusammenarbeit“ in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik äußerten. Eine zweites Feld der weitgehenden Konvergenz in den Positionen der kleineren Staaten im Konvent war im Bereich der europäischen Innen- und Justizpolitik auszumachen. Da sie alle mit Problemen des Schutzes der EU-Außengrenzen und den damit einhergehenden Politiken zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, des Drogen- und Menschenhandels konfrontiert sind, unterstützen die Vertreter der „Benelux“- und der „Visegrad“-Gruppe ihre jeweils einzeln abgegebenen Stellungnahmen zur Reform der betroffenen Verfassungsvertragsartikel. Gefordert - und letztlich auch durchgesetzt - wurde die weitgehende Vergemeinschaftung der Innen- und Justizpolitik sowie die Einführung des Mehrheitsprinzips für Entscheidungen des Rates in den betroffenen Bereichen.44 Divergente Positionen zwischen den beiden Gruppen der kleineren und mittleren Staaten waren in zwei Reformfeldern auszumachen: Erstens im Bereich der GASP/ESVP; hier kontrastierten die Positionen der Unterstützer einer EU-zentrierten Außen- und Sicherheitspolitik um die „Benelux“-Gruppe (gemeinsam mit Deutschland, und Frankreich) gegen die Gruppe der Atlantiker um Polen und Ungarn. Und zweitens innerhalb der Gruppe der „Visegrad“-Staaten in denjenigen Reformfeldern, in denen die relative Größe der Staaten Konflikte zwischen allen Konventsmitgliedern auslöste. Am deutlichsten kam die Spaltung der „Visegrad“-Gruppe in der Frage zur Schaffung eines ständigen, gewählten Vorsitzes für den Europäischen Rat zum Vorschein. Während die polnische Vertreterin den deutsch-französischen Vorschlag zugunsten eines EU-Ratspräsidenten unterstützte, lehnten die Vertreter Tschechiens, Ungarns und der Slowakischen Republik die damit einhergehende Schwächung des Prinzips der rotierenden Ratspräsidentschaften ab und forderten dagegen - gemeinsam mit einer Gruppe kleinerer Staaten aus den EU-15-Staaten - die Einführung eines Systems von Gruppen- bzw. Teampräsidentschaften für alle Formationen des Rates. Ähnlich divergente Haltungen waren auch in der Frage der Wahl des Kommissionspräsidenten festzustellen. Polen lehnte die Wahl durch das Europäische Parlament ab, die Vertreter Tschechiens und der Slowakischen Republik äußerten sich dagegen betont positiv. Während sich die Regierungsvertreterin Polens auch in anderen institutionellen Fragen bewußt an Positionen Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und Spaniens „anhängte“, unterstützten die kleineren Staaten der „Visegrad“-Gruppe gemeinsam mit den Vertretern der baltischen Staaten und Sloweniens die Positionen aus dem Kreise der kleineren EU-15-Staaten, wobei innerhalb dieser Konstellation eine deutliche Bevorzugung von Beiträgen Österreichs festzustellen war.45 44 Vgl. Michalski, Anna/Heisse, Matthias: European Convention on the Future of Europe: An Analysis of the

Official Positions of the EU Member States, Future Member States and Candidate States. Clingedael Working Paper, Apríl 2003, http://www.clingendael.nl/cli/publ/occ.pdf/michalski_2003_05_20.pdf.

45 Vgl: Král, David: Profile of the Visegrád Countries in the Future of Europe Debate, Working paper, EUROPEUM Institute for European Policy, Prag, September 2003, http://www.europeum.org/EN-/Analyses/Visegrad_in_Convention.pdf.

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Viertens fällt auf, daß sich die Vertreterin Polens in den ersten beiden Phasen des Konvents nicht an der regierungsseitigen Koalition zwischen den Vertretern Spaniens und Großbritanniens gegen Teilaspekte der institutionellen Reform beteiligte. Die als multilateral gekennzeichneten Beiträge Hübners wurden bis Oktober 2002 in einer Koalition mit den Regierungsvertretern Deutschlands, Großbritanniens, Irlands und Frankreichs unterzeichnet und befaßten sich mit der Frage der verbesserten Ordnung der Kompetenzen im EU-Vertrag. Erst die multilateralen Beiträge Hübners nach Oktober 2002 wurden dann in einer Koalition mit Vertretern Großbritanniens, Schwedens, der Slowakischen Republik, Irlands, Spaniens und Estlands gegen die Einführung des qualifizierten Mehrheitsprinzips in der Besteuerungspolitik der EU (Artikel III-59 und III-60 im Entwurf des EU-Verfassungsvertrags) und gegen die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (mit Finnland und Österreich), sowie auf Initiative Spaniens mit Vertretern Irlands, Dänemarks, Österreichs, Litauens, Zyperns, Schwedens, Großbritanniens und der Slowakischen Republik gegen die Reform der institutionellen Regeln aus dem Vertrag von Nizza verfaßt.46

46 Vgl. Beitrag der Vertreter der Staats- und Regierungschefs mehrerer Staaten:"Eine Verfassung der Union für

alle:Ein erfolgreicher Abschluss des Konvents" 28/05/2003 CONV 766/03.

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6. Ausblick: Schlussfolgerungen für künftige Vertragsreformen Mit dem Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa58 hat der Konvent beachtliche Ergebnisse erzielt. Die Einführung einer klaren und überschaubaren Normenhierarchie und einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit, die Inkorporation der Grundrechtecharta in den Vertrag, die Stärkung des Europäischen Parlaments in seinen Gesetzgebungs- und seinen Haushaltsrechten sowie die institutionelle Einbindung der nationalen Parlamente in den europäischen Rechtsetzungsprozess stellen substantielle

47 Vgl. Europäischer Rat, Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Thessaloniki, 20. Juni 2003, Ziffer 4. 48 Vgl. Ebenda., Ziffer 4. 49 Vgl. für die Teile I und II der Verfassung: Europäischer Konvent: Entwurf eines Vertrags über die Verfassung

für Europa, Dok. Nr. CONV 820/1/03/Rev 1 vom 27. Juni 2003, sowie für die Teile III und IV der Verfassung: Europäischer Konvent: Entwurf der Verfassung, Band II, Dok. Nr. CONV 848/03 vom 9. Juli 2003.

50 Vgl. Europäischer Konvent: Beitrag der Vertreter der Staats- und Regierungschefs mehrerer Staaten: „Eine Verfassung der Union für alle: Ein erfolgreicher Abschluß des Konvents“, Dok. Nr. CONV 766/03 vom 28. Mai 2003, Vgl. hierzu auch: Europäischer Konvent: Beitrag der Mitglieder des Konvents Herrn Michael Attalides, Herrn Peter Balazs, Herrn Henning Christophersen, Herrn Hannes Farnleitner, Frau Lena Hjelm-Wallén, Frau Danuta Hübner, Frau Sandra Kalniete, Herrn Jan Kohout, Herrn Ivan Korcok, Frau Maglena Kuneva, Herrn Ernani Lopes, Herrn Rytis Martikonis, Herrn Lennart Meri, Herrn Dick Roche, Herrn Dimitri Rupel, Herrn Peter Serracino-Inglott und Frau Teija Tiilikainen: „Reform der Organe: Grundsätze und Voraussetzungen“, Dok. Nr. CONV 646/03 vom 28. März 2003.

51 Vgl. Europäischer Konvent: Deutsch-französischer Beitrag für den Europäischen Konvent zum institutionellen Aufbau der Union - Beitrag, der von den Mitgliedern des Konvents Herrn Dominique de Villepin und Herrn Joschka Fischer übermittelt wurde, Dok. Nr. CONV 489/03 vom 16. Januar 2003.

52 Vgl. Stellungnahme Belgiens: Policy document ‚The European Convention‘ http://www.-diplomatie.be/en/policy/policynotedetail.asp?TEXTID=2011, Stellungnahme Deutschlands: Regierungserklärung des Bundesministers des Auwärtigen, Joschka Fischer, in: Bulletin der Bundesregierung, Nr. 54-1 vom 26.06.03, Stellungnahme Tschechiens: Non-paper on the reform of EU institutions Contribution by the Representative of the Czech Government to the Convention, by Mr. Jan Kohout, 30.92003, Stellungnahme Österreichs: Regierungskonferenz 2003, Österreichische Grundsatzpositionen, Wien, 30.9.2003, Stellungnahme Großbritanniens: A Constitutional Treaty for the EU - The British Approach to the European Union Intergovernmental Conference 2003 (September 2003), http://www.fco.gov.uk-/Files/kfile/FoE_IGC_-Paper_cm5934_sm,0.pdf, Stellungnahme Finnlands: Government report to Parliament on the outcome of the work of the European Convention and on the preparation for the Intergovernmental Conference, http://www.valtioneuvosto.fi/vn/liston-/base.lsp?r=41554&k=en&old=754, Gemeinsame Position Ungarns, Finnlands, Sloweniens, Tschechiens, Maltas, Österreichs und Litauens: Brief der Premierminister und des Bundeskanzlers an den Vorsitzenden des Europäischen Rates, 2.10.2003, Position Spaniens und Polens: Spain and Poland to reopen voting debate, http://www.euobserver.com/-index.phtml?sid=9&aid=11715,

53 Vgl. „Das politische Feilschen um Europas Verfassung beginnt“, in: Die Presse, 3.10.2003, S. 6. 54 Vgl. „Fischer tries to put out political fires over Europe“ in: Financial Times vom 4.12. 2003. S. 2. 55 Vgl. „Commission criticises state of Constitution talks“ in: EU Observer vom 6.11. 2003. 56 Vgl. „MEPs fight back on Constitution“ in: EU Observer vom3.12.2003. 57 Im Vorgriff auf die Erweiterung der EU um Finnland, Norwegen, Schweden und Österreich faßte der Rat auf

einer informellen Tagung der EU-Außenminister am 29.3.1994 im griechischen Ioannina einen Beschluß zur Frage der Mehrheitsentscheidungen. Nach dem Beitrittsverzicht Norwegens wurde der Beschluß an die EU-15 angepaßt. Der Kompromiß sah folgendes vor: Signalisieren Ratsmitglieder, die über 23 (frühere Sperrminorität) bzw. 26 (neue Sperrminorität nach dem Beitritt) Stimmen verfügen, daß sie eine Mehrheitsentscheidung des Rates ablehnen, wird der Rat alles daran setzen, um innerhalb einer angemessenen Frist zu einer zufriedenstellenden Lösung zu gelangen, die mit mindestens 65 von 87 Stimmen gebilligt werden kann. Auf spanischen Druck wurde der Kompromiß im Vertrag von Amsterdam explizit als Sollbestimmung aufgenommen. Nach dem Vertrag von Nizza wurden die Bestimmungen des Kompromisses von Ioannina gegenstandslos. Sie treten nun aber mit den Schwellenwerten des Verfassungsvertrages wieder in Kraft.

58 Eine detaillierte Analyse der Konventsergebnisse findet sich im Sonderband der Zeitschrift Integration zum Verfassungskonvent: Integration 26 (2003) Nr. 4 und in Liebert/Falke/Packham/Allnoch 2003, ebenda, sowie in Schwarze 2004, ebenda. Eine sehr gute Darstellung liefert auch der Doppelaufsatz von Oppermann, Thomas: „Eine Verfassung für die Europäische Union: Der Entwurf des Europäischen Konvents. Teil I“ in: Deutsches Verwaltungsblatt 18/2003, S. 1165-1175; Teil II in: Deutsches Verwaltungsblatt 19/2003, S. 1234-1245; sowie: Busek, Erhard/Hummer, Waldemar (Hrsg.): Der Europäische Konvent und sein Ergebnis. Eine europäische Verfassung. Ausgewählte Rechtsfragen samt Dokumentation, Wien: Böhlau 2004; Kleger, Heinz (Hrsg.): Der Konvent als Labor. Texte und Dokumente zum europäischen Verfassungsprozeß, Münster: LIT 2004.

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Fortschritte des EU-Reformprozesses dar. Die hiermit verknüpften Fragen waren seit der Maastrichter Regierungskonferenz auf der Reformagenda; vieles spricht daher dafür, daß der Ertrag des Verfassungsvertrages in diesen Bereichen mit der neuen Methode des Konventsverfahrens in Verbindung gebracht werden kann. Insbesondere die Zusammensetzung und die Auffächerung der Konventsarbeiten in verschiedene Arbeitsphasen erklären, wie ein Wandel des Verhandlungsstils weg von den traditionellen Bargaining-Prozessen hin zu einem eher sach- und konsensorientierten Beratungsstil möglich war. Die besten Voraussetzungen hierfür waren insbesondere in der zweiten Arbeitsphase gegeben. In der letzten Redaktionsphase wurde der sach- und konsensorientierte Beratungsstil des Konvents dagegen weitgehend relativiert. Ursächlich hierfür war erstens die zunehmende Verdichtung der verbleibenden Reformfragen auf nicht in den Arbeitsgruppen behandelte, institutionelle Machtfragen, und zweitens die zunehmende Aktivierung nationaler Regierungsressourcen und Vetopotentiale gegenüber dem Konvent. Diese für die Endphase charakteristische Entwicklung weg von der konsensualen Methode des Konvents und hin zum klassischen Muster der Koppelgeschäfte und des „Bargaining“ der Regierungskonferenz war letztlich unvermeidbar, weil institutionelle Reformen zwangsläufig eine Veränderung der Machtbalance zwischen den EU-Organen und zwischen den Staaten mit sich bringen. Diese können nur durch Gremien autorisiert werden, die hierzu verfassungsmäßig berechtigt sind. Die Entwicklung vom Konvent zur Regierungskonferenz steht damit im Einklang mit der Tradition des europäischen Integrationsprozesses. Erst im Bargaining der Regierungskonferenzen kommt die intergouvernementale Komponente der „Union der Staaten“ zum Ausdruck. Erst der Modus der Regierungskonferenz ermöglichte die Aktivierung von entscheidungs- und kompromissfördernden Koalitionen, die im Konvent zwar latent - auf den Fluren und in seinem medial inszenierten Umfeld - vorhanden waren, aber aufgrund des Konsensprinzips und der Eigendynamik der Arbeitsgruppen nicht zum Tragen kamen. Das Verdienst des auf die Überzeugungskraft der Argumente setzenden Konvents hat also vor allem darin gelegen, die Pfade und Konsenskorridore für die abschließenden Aushandlungsprozesse der Regierungskonferenz weitgehend vorgezeichnet und eingegrenzt zu haben. Radikale Rückschritte hat es im zurückliegenden Vertragsmarathon der Regierungskonferenz nicht gegeben. Allerdings wurden die vom Konvent vorgeschlagenen Reformen zum Entscheidungsverfahren im Ministerrat der EU, zu den Anwendungsfeldern für Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und zur Zusammensetzung der Kommission stark revidiert. Alle drei Reformfelder stellen zentrale Baustellen des Integrationsprozesses dar, in denen Macht- und Interessenkonflikte zwischen den Staaten deutlich zum Vorschein treten. Die Häutungen, die die Konventsvorschläge in diesen Bereichen durchlaufen haben, zeigen somit auch die Grenzen der Konventsmethode auf: Machtfragen sind nicht durch einen mandatsfreien, inhalts- und zieloffenen Diskurs zu lösen, sondern bedürfen eines zentralen Verhandlungs- und Entscheidungsgremiums, das aufgrund seiner Zusammensetzung und der Autorität seiner Akteure legitimiert ist, Souveränitätstransfers und Änderungen in der Machtbalance der EU zu vereinbaren. In diesen Fragen führt kein Weg am Gipfel der Staats- und Regierungschefs sowie am Entscheidungsmodus der Einstimmigkeit vorbei.

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Anders: Das Konventsverfahren eignete sich als besonders reformförderndes Verfahren für diejenigen Reformbaustellen, in denen die unmittelbar von der jeweiligen Materie Betroffenen eine spezifische Form der Selbstregulierung ihrer Geschäftsgrundlagen fanden. Weniger erfolgreich war das Konventsverfahren dagegen in denjenigen Feldern, in denen die Dominanz der mitgliedstaatlichen Regierungen als „Herren der Verträge“ besonders deutlich zum Tragen kommt – in den institutionellen Machtfragen, in denen offenbar bislang kein Weg am Modus der Regierungskonferenz vorbeiführt. Für eine Wiederholung des Konventsmodells bieten sich in naher Zukunft die folgenden Reformbaustellen an: Erstens die Reform und Aktualisierung der Kompetenzordnung der EU, weil sich Ziele, Aufgaben und hieraus abgeleitete Zuständigkeitsanforderungen an die EU und ihre Mitgliedstaaten in Abhängigkeit vom internationalen Umfeld sowie aufgrund der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten ändern. Zweitens die Vereinfachung des institutionellen und verfahrensrelevanten Rechtssystems der EU, weil die vom Konvent vereinbarte Normenhierarchie zwar einen großen, aber nur ersten Schritt hin zu einer klareren, für alle Anwender des Europarechts nachvollziehbaren Ordnung des abgeleiteten Europarechts liefert. Drittens eine grundlegende Reform und eventuelle Integration des EURATOM-Vertrages in den Korpus des EU-Vertrages, weil dies Anlass wäre für eine längst überfällige Debatte über die außen- und EU-innenpolitischen Ziele, Zielkonflikte und die rechtliche Normierung der Nuklear-, Energie-, Umwelt-, Verbraucherschutz- und Klimapolitik. Ergebnis einer solchen Reform könnte ein Nachhaltigkeitsvertrag der EU sein, der den EURATOM-Vertrag als eigenständiges Primärrecht ablöst, oder aber die Vollintegration des – im Konvent auf die internationalen Umfeldbedingungen des 21. Jahrhunderts angepassten - EURATOM-Vertrages in den Verfassungsvertrag. Nicht zuletzt wäre schließlich auch die Frage des Modus zur Inkraftsetzung von Vertragsrevisionen in einem offenen und den Akteurskreis der Parlamente einschließenden Konventsprozeß zu diskutieren. Anknüpfen könnte man hierbei an die gegenwärtig laufende Debatte über europaweit koordinierte und durchzuführende Ratifikationsverfahren. Das Konventsmandat sollte sich dabei auf zwei Fragen konzentrieren: Erstens die Frage, ob der Vertrag oder Teile des Vertrages auch dann in Kraft treten sollten, wenn nicht alle Staaten den Vertrag ratifiziert haben. Hiermit verbunden wäre die Frage nach der Mindestanzahl der Staaten, die erforderlich ist, um Vertragsrevisionen in Kraft treten zu lassen, sowie die Frage der Folgen einer „variablen“ Inkraftsetzung und damit auch eines geteilten Besitzstands im EU-Primärrecht. Zweitens wäre die Frage zu behandeln, ob europaweite Referenden zur Inkraftsetzung des Vertrages möglich werden sollten. Da diese Inkraftsetzungmethode eine Relativierung nationaler Referendumsbestimmungen induzieren könnte, wäre vor allem die Frage der aus dem nationalen Verfassungsrecht abgeleiteten Rahmenbedingungen für die Durchführung eines pan-europäischen Referendums zu klären. Literaturverzeichnis Arnauld, Andreas von: „Normenhierarchien innerhalb des primären

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