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Demenz- Diagnostik und Versorgung bei türkischen Migranten in Deutschland Beiträge des internationalen Expertengespräches vom 18. bis 20. Januar 2008 in Ingolstadt Dr. Winfried Teschauer und Dipl.-Psych. Fatma Sürer (Hrsg.) Das Projekt wurde gefördert durch die Mit Unterstützung durch die Pfizer Pharma GmbH

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Demenz-

Diagnostik und Versorgung bei türkischen Migranten in Deutschland

Beiträge des internationalen Expertengespräches vom 18. bis 20. Januar 2008 in Ingolstadt

Dr. Winfried Teschauer und Dipl.-Psych. Fatma Sürer (Hrsg.)

Das Projekt wurde gefördert durch die

Mit Unterstützung durch die Pfizer Pharma GmbH

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Demenz-Diagnostik und Versorgung bei türkischen Migranten in Deutschland

Mathilde Greil

Grußwort

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr darüber, dass Sie heute zu uns in das Zentrum der Ingenium-Stiftung Ingolstadt gekommen sind.

Vielleicht darf ich Ihnen kurz die Entstehung dieses Zentrums erläutern:

Wie in vielen anderen Fällen, bin auch ich erst einige Jahre nach dem Beginn der Demenzerkrankung meines Mannes zum ersten Mal be-wusst mit dem Krankheitsbild in Berührung gekommen. Im nachhinein betrachtet begann die Demenz wohl im Jahr 1996.

Die Diagnose fand erst sehr viel später statt und der Erstkontakt zu einer Selbsthilfegruppe - und zwar der in der Gedächtnisambulanz des Klinikums in Ingolstadt - erfolgte erst im Jahr 2001. Dieses Muster der Verdrängung von Tatsachen im Zusammenhang mit der Erkrankung eines Angehörigen kennen Sie sicherlich alle aus Ihren Sprechstunden.

Ich will Ihnen nicht weiter von der Krankheitsgeschichte meines Man-nes berichten. Was aber aufgrund dieser Situation entstanden ist, das sehen Sie heute hier im Zentrum der Ingenium-Stiftung verwirklicht:

Auf die Gründung der Alzheimer Gesellschaft Ingolstadt e. V. im Okto-ber 2001 folgte dann die Idee, ein Zentrum in Ingolstadt zu installieren, das sich dem Thema Demenz in weit größerem Umfang widmet.

Die Gründung einer Stiftung war als Voraussetzung für die Umsetzung dieser Idee der erste Schritt, das Einbringen dieses etwa 3.500 qm großen Grundstücks in die Stiftung die Grundlage für die Finanzierung unserer Idee. 2005 war es so weit, wir konnten die Fertigstellung des Bauwerks feiern.

Im Zentrum befinden sich die Beratungsstelle der Alzheimer Gesell-schaft Ingolstadt e. V., zwei Selbsthilfegruppen für pflegende Angehöri-ge und gleichzeitig zwei Betreuungsgruppen für an Demenz Erkrankte.

Die Selbsthilfegruppen werden jeweils von einer ehemals pflegenden Angehörigen als Gesprächsleiterin betreut, die Betreuungsgruppen

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von einer Sozialpädagogin und vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, die vorher eine Schulung mit dem Umfang von 40 Unterrichts-einheiten durchlaufen haben müssen.

Ebenso führen wir Schulungskurse für pflegende Angehörige durch und organisieren eine Vortragsreihe im Zentrum, die sich auf das The-ma Demenz bezieht.

Wir versuchen, z.B. Ärzte, Apotheker, Arzthelferinnen, Erzieherinnen, Lehrkräfte, Polizisten und andere Berufsgruppen mit dem Thema De-menz vertraut zu machen, indem wir sowohl Schulungen für diese Per-sonen durchführen als auch sehr viel Öffentlichkeitsarbeit machen.

Wir vermitteln über die Alzheimer Gesellschaft ehrenamtlich Tätige zur Hilfe vor Ort, damit die pflegenden Angehörigen stundenweise Entlas-tung annehmen lernen.

Weiterhin sind im Zentrum der Ingenium-Stiftung eine Tagespflege und ein Wohnheim für Demenzkranke untergebracht. Eine Gedächtnisam-bulanz ist angeschlossen durch den Betreiber des Wohnheimes, der in Ingolstadt auch eine private psychiatrische Klinik unterhält. Auch Kurz-zeitpflege können wir anbieten, um dadurch Angehörige auch einmal länger entlasten zu können.

Der Bauherr dieses Zentrums ist die Ingenium-Stiftung, eine Stiftung für Menschen mit Demenzerkrankung. Dieses Zentrum erfreut sich zuneh-mender Beliebtheit, denn es hat sich herumgesprochen, dass wir ein ganz besonderes Konzept im Umgang mit Demenzkranken entwickelt haben, das mit einer besonderen, durch die Stiftung entwickelten Architektur verbunden ist. Hierfür haben wir sogar einen Architektur-preis gewonnen.

Die Stiftung hat sich nach Fertigstellung dieses Zentrums zur Aufgabe gemacht, vor allem wissenschaftlich zu arbeiten und zwar im nichtme-dizinischen Bereich. Auch steht sie für neue Projekte, Konzeptentwick-lung, Qualitätsmanagement, Öffentlichkeitsarbeit sowie für Aus- und Fortbildungen zur Verfügung.

Wir sind also Ansprechpartner für jedes Stadium von Demenzerkran-kung, sowohl für die pflegenden Angehörigen als auch für die De-menzkranken selber, für Pflegepersonal, Heimleiter usw. Wir haben es geschafft, eine gute teilstationäre und stationäre Einrichtung zu instal-lieren, die nach unserem Konzept arbeitet - und das kommt an!

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Wir sehen dies an der großen Zahl der Besuchergruppen, die sich für unser Zentrum interessieren. Dies werten wir als Anerkennung unserer Ideen, die wir hier verwirklichen konnten.

Wir, d. h. die Alzheimer Gesellschaft Ingolstadt e. V., die Ingenium-Stif-tung und letztendlich auch der Betreiber des Danuvius Hauses, haben ein Zentrum geschaffen, das sich sehen lassen kann!

Meine Damen und Herren, die Ingenium-Stiftung steht für innovative Strategien im Bereich der Demenzversorgung - und die kultursensible adäquate Versorgung von Personen mit Migrationshintergrund ist eine solche. Sie werden sich heute und in den nächsten beiden Tagen als Spezialisten in diesem Bereich mit einer Bestandsaufnahme und der Erarbeitung von Antworten auf drängende Frage beschäftigen.

Wir freuen uns, Sie als Gastgeber dieser wichtigen Veranstaltung heute ganz herzlich hier begrüßen zu dürfen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und auch neue Erkenntnisse im Bereich der „Demenz-Diagnostik und Versorgung türkischer Migranten in Deutschland“!

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Referenten und Teilnehmer des Symposiums

Mathilde Greil Vorsitzende der Alzheimer Gesellschaft Ingolstadt e.V. und Vorsitzende des Vorstandes der Ingenium-Stiftung, Ingolstadt

Dipl.-Psych. Fatma Sürer Neuropsychologin; Bezirkskrankenhaus Augsburg; Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) e. V., Arbeitskreis „Fremdsprachige Diagnostik“, Augsburg

Prof. Dr. Adrian Danek Oberarzt Neurologische Klinik, Leiter Arbeitsgruppe Kognitive Neurologie, Klinikum der Universität München – Großhadern, München

Dr. Winfried Teschauer Neurobiologe, Wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer der Ingenium-Stiftung, Ingolstadt

Prof. Dr. Murat Emre Universität Istanbul, Medizinische Fakultät Neurologische Abteilung, Leiter des Zentrums für Verhaltensneurologie und Bewegungsstörungen, Mitbegründer und Präsident der türkischen Alzheimer Gesellschaft, Istanbul

Uwe Brucker Fachgebietsleiter Pflegerische Versorgung beim Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS), Essen

Dr. Murat Ozankan Oberarzt in der neuropsychiatrischen Ambulanz, Rheinische Kliniken Langenfeld, Langenfeld

Dipl.-Psych. Reinhard Streibel-Gloth Referatsleiter, Referat Migration / Ambulante Dienste / Gesundheitswesen, Fachstelle für an Demenz erkrankte MigrantInnen und deren Angehörige ; Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Westliches Westfalen e. V., Dortmund

Prof. Dr. Joseph Kessler Uniklinik Köln, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Leiter der Neuropsychologischen Abteilung, Köln

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Dipl.-Psych. Wolfgang Kringler Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) e. V., Arbeitskreis „Diagnostik und Therapie bei Älteren“

Heike von Lützau-Hohlbein Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V., Selbsthilfe Demenz

Dr. Johannes Johannsen Dr. med., Diplom-Physiker, Chefarzt der Abteilung Gerontopsychiatrie und –psychotherapie, Rheinische Kliniken Köln

Dr. phil. Christina Knels (Protokoll) Klinische Linguistin, Arbeitsgruppe Kognitive Neurologie, Klinikum der Universität München – Großhadern, München

Veronika Schneider (Betreuung) Cand. Dipl.-Pflegewirtin (FH), Exam. Altenpflegerin, Assistentin der Geschäftsführung und Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Ingenium-Stiftung, Ingolstadt

Vanessa Teschauer (Betreuung), Ehrenamtliche Helferin, Ingolstadt

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Inhalt

Demenz-Diagnostik und Versorgung bei türkischen Migranten in Deutschland – Grußwort zum Expertengespräch1 Mathilde Greil .......................................................................................... 1

Referenten und Teilnehmer des Symposiums ....................................... 5

Inhalt ........................................................................................................ 7

Einführung9 Fatma Sürer ............................................................................................. 9

Demenzielle Syndrome: Diagnostik und Therapie11 Adrian Danek ......................................................................................... 11

Nicht-medikamentöse Therapien bei Demenzerkrankungen15 Winfried Teschauer ................................................................................ 15

Diagnostik und Versorgung von demenziellen Erkrankungen in der Türkei19 Murat Emre ............................................................................................ 19

Die Demenzproblematik aus Sicht der BARMER23 Peter Parketny ........................................................................................ 23

Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) in der Pflegeversicherung25 Uwe Brucker .......................................................................................... 25

Bedürfnisangepasste Behandlung älterer Migrantinnen und Migranten - Interkulturelle Öffnung der psychiatrischen Regelversorgung43 Murat Ozankan ...................................................................................... 43

Unterstützungsbedarf für demenziell erkrankte Migrantinnen und Migranten und deren Angehörige – Gründung eines Demenz-Servicezentrums für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte53 Reinhard Streibel-Gloth ......................................................................... 53

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Was geht gerade noch? Kognitives Screening bei älteren türkischen Migranten63 Josef Kessler, Murat Ozankan, Ö. Onur ................................................ 63

Neuropsychologische Untersuchungsmöglichkeiten türkischer Patienten in Deutschland bei Demenzverdacht67 Wolfgang Kringler .................................................................................. 67

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Einführung

Fatma Sürer

Die erste Generation der sogenannten „Gastarbeiter“, die seit den sechziger Jahren nach Deutschland kamen, ist heute größtenteils be-rentet. Mit zunehmendem Alter besteht auch für sie das Risiko an einer Demenz zu erkranken. Die Defizite bei der psychiatrischen Versorgung älterer Migranten werden inzwischen zwar deutlicher wahrgenommen, aber trotz des steigenden Bedarfs gibt es tatsächlich sehr wenige spezielle Angebote für diese Zielgruppe. Forschung und Lehre sowie die für die Versorgung zuständigen Instanzen hatten diese Zielgruppe bislang nicht im Blick.

Ziel dieses Symposiums war es, die Fragestellungen zur Demenzdia-gnostik und –versorgung bei türkischen Migranten in Deutschland zu orten, zu systematisieren und bereits bestehende Lösungsansätze zu-sammenzutragen, die als tragfähige Basis für die Zukunft dienen kön-nen. Im Lauf der Jahre haben sich Standards für Therapie- und Versor-gungsformen bei Demenzerkrankungen herausgebildet, die jedoch nur auf deutschsprachige Betroffene anwendbar sind. Der Schwerpunkt dieser Tagung lag aus verschiedenen Gründen bei türkischstämmigen Migranten. Zum einen gibt es aufgrund der sprachlichen Isolation Schwierigkeiten bei der Diagnostik mit standardisierten sprachassozi-ierten Testverfahren. Zum anderen gibt es noch keine Anpassung von Hilfestrukturen bei der Therapie und der kultursensiblen Versorgung. Die türkischsprechenden Migranten stellen den größten Anteil der po-tenziell betroffenen Menschen mit Migrationshintergrund dar. Ende 2003 lebten 1,88 Millionen Türken in Deutschland (25,6 % aller Auslän-der). Fast 100.000 Türken waren jeweils 60 bis 65 Jahre alt bzw. über 65 Jahre. Für 2010 wird mit einer Steigerung um 30 % auf 132.000 ge-rechnet.

Die Inanspruchnahme von Hilfen und Angeboten durch türkische De-menzkranke und ihre Angehörigen ist relativ gering. Gründe dafür sind hauptsächlich Informationsdefizite, fehlende Kenntnisse darüber, wie man diese Hilfen nutzen kann, Schwellenangst bei Kontakten mit Insti-tutionen und Behörden sowie Sprachbarrieren. In Kulturkreisen wie der Türkei findet die Versorgung von Alten und Kranken nach wie vor in der Familie statt. Die Demenzerkrankung wird kaum über den Fami-

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lienkreis hinaus thematisiert. Vergesslichkeit wird dort immer noch als natürliche Alterserscheinung und nicht als Krankheit verstanden. Scham spielt darüber hinaus eine große Rolle.

Demenzerkrankungen werden in Spezialeinrichtungen durch spezielle Testverfahren erkannt. Durch diese sogenannten psychometrischen Tests werden bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten des Patienten erfasst, so dass nicht nur auf das Vorliegen einer Demenzerkrankung geschlossen werden kann, sondern auch eine genaue Einteilung nach Krankheitsbild und Stadium möglich ist. Die am häufigsten angewand-ten Testverfahren sind jedoch u. a. vom Bildungsgrad und dem kultu-rellen Umfeld der Patienten abhängig.

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Demenzielle Syndrome: Diagnostik und Therapie

Adrian Danek

Demenz, ein klinisches Syndrom

Die Feststellung einer Demenz als erworbene Beeinträchtigung des Gedächtnisses in Kombination mit dem Abbau weiterer Hirnleistungen und der daraus resultierenden Alltagsbeeinträchtigung ist eine klini-sche Diagnose. Zentral ist die Untersuchung höherer Hirnleistungen, dazu die allgemeine und neurologische Untersuchung nach einer ein-gehenden Anamnese-Erhebung (insbesondere der Bezugspersonen) mit gezielten Fragen nach Schwierigkeiten im Alltag (z.B. Umgang mit Geld, Autofahren, Kochen, Bedienung von Haushaltsgeräten, Körper-pflege).

Die obligate Gedächtnisstörung äußert sich beim Lernen neuer Inhalte und durch das Vergessen von früher Gewusstem. Zur Untersuchung des Lernvermögens kann man Wortlisten vorgeben ("Apfel – Tisch – Pfennig") und später abfragen. Das Altgedächtnis prüft man über Le-bensgeschichte, Schulwissen oder Wissensgebiete wie Politik und Sport. Apraktische Fehler treten in der Routine-Untersuchung beson-ders während rascher Wechselbewegungen der Hände auf. Zur Prü-fung auf räumlich-konstruktive Störungen gut geeignet ist der „Uhren-test“, bei dem Ziffern und die Zeigerstellung „10 nach 11“ in einen vor-gegebenen Kreis einzuzeichnen sind. Was spezielle kognitive Tests angeht, fehlt Konsens über Notwendigkeit, Art oder Anzahl. Der nicht völlig befriedigende „Mini-Mental-Status-Test“ (MMST) ist der de-facto-Standard und auch in den ausführlicheren Verfahren SIDAM [6] und CERAD [5] enthalten. Viel versprechend erscheint das Montreal Cog-nitive Assessment (www.mocatest.org) [3].

Differenzialdiagnostik

Nach Feststellung des Demenz-Syndroms steht die Suche nach be-handelbaren Ursachen im Vordergrund. Da die Symptom-Konstellation ätiologisch vielfältig ist, müssen zahlreiche Erkrankungsursachen be-rücksichtigt werden. Als minimaler Standard der Zusatzdiagnostik ist ein Schichtbildverfahren des Gehirns (mindestens CCT) und eine Blut-abnahme zu fordern. Umfassendere Untersuchungsprotokolle, beson-

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ders bildgebende Verfahren einschließlich Nuklearmedizin, helfen in der Ursachenbestimmung vaskulärer Demenzen und in der Differenzie-rung der verschiedenen primär degenerativen Demenzen [1]. Hier gibt es Fortschritte durch neue PET-Spürsubstanzen, durch die Einlage-rungen wie Amyloid spezifisch dargestellt werden können [4].

Bei der Alzheimer-Krankheit handelt es sich klinisch um eine Aus-schlussdiagnose, wo psychiatrische Erkrankungen, insbesondere aber sekundäre Demenz-Syndrome durch Zusatzdiagnostik unwahrschein-lich gemacht sein müssen. Die Annahme einer Alzheimer-Demenz wird gestützt durch einen schleichenden, nicht plötzlichen Beginn nach 40 (meist nach 65) und durch kontinuierliche Progression der klinischen Befunde und der Hirnatrophie. Diagnostischer Standard ist der neuro-pathologische Nachweis von Amyloid-haltigen Plaques und Neurofibril-lenbündeln [2]. Mit der postmortalen Diagnose stimmen etwa 80% der klinischen Befunde überein, weshalb eine neuropathologische Über-prüfung angestrebt werden sollte. Technisch und finanziell ist dies durch die Etablierung von Brain-Bank-Zentren unproblematisch (www.brain-net.net, 24-Stunden-Rufbereitschaft: 089/7095-4910).

Als Ursache der Alzheimer-Krankheit gilt eine neurodegenerative Kas-kade, die vom Amyloid-Vorläufer-Protein (APP) ausgeht und über die

unphysiologische Spaltung zu -Amyloid (A ) zur Bildung der neuro-toxischen Plaques führt. Die heute empfohlene Therapie basiert auf dem angenommenen zentralen cholinergen Defizit durch Untergang von Neuronen im Nucleus basalis Meynert. Cholinesterase-Hemmer wie Donepezil, Rivastigmin und Galantamin führen zu einer Besserung oder Stabilisierung und sind im frühen Krankheitsstadium die Therapie der ersten Wahl. Für mittelschwere bis schwere Alzheimer-Stadien ist der Glutamat-Antagonist Memantin zugelassen.

Ausblick

Wenn bei einem Demenzkranken die Suche nach einer behebbaren Ursache ohne Ergebnis bleibt, hält man heute oft auch die ärztlich-diagnostische Tätigkeit für abgeschlossen. Die Frage der Differen-zierung innerhalb der primär neurodegenerativen Demenzen wird als diagnostische Herausforderung kaum angenommen, obwohl bei deren verschiedenen Formen unterschiedliche Proteine abgelagert werden

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und künftig die Therapie darauf angelegt sein wird, das jeweilige pathogene Agens zu identifizieren und auszuschalten.

In Zukunft wird - mit zunehmender Grundlagenkenntnis - daher die Er-kennung des jeweiligen Typs einer neurodegenerativen Demenz ein dringliches Anliegen sein. Eine besondere Rolle werden hier biologi-sche Marker in Serum und Liquor (wie beispielsweise phosphoryliertes Tau) spielen, ebenso auch nuklearmedizinische Verfahren zur direkten Darstellung abnormer Protein-Ablagerungen beim Lebenden.

Allerdings endet auch schon heute die ärztliche Verantwortung nicht mit dem Ende der Diagnostik zum Ausschluss sekundärer Demenz-Formen. Im weiteren Verlauf geht es um die Sicherstellung der verfüg-baren Pharmakotherapie und, stetig zunehmend, um die sozial-medizi-nische Unterstützung, die auch "schwierige" Themen wie Fahrtüchtig-keit, Betreuung, Patientenverfügung und Hirnspende ansprechen muss.

Literatur

1. Danek A, Berg D, Dichgans M, Gerwig M: Demenz. In: Brandt Th, Dichgans J, Diener HC (Hrsg.): Therapie und Verlauf neurologischer Krankheiten. Kohlhammer, Stuttgart (2007) 321-340.

2. Kretzschmar HA, Neumann M: Die neuropathologische Diagnostik neurodegenerativer und demenzieller Krankheiten. Pathologe 21 (2000) 364-374.

3. Nasreddine ZS, Phillips NA, Bedirian V, Charbonneau S, Whitehead V, Collin I, Cummings JL, Chertkow H: The Montreal Cognitive Assessment, MoCA: a brief screening tool for mild cognitive impairment. J Am Geriatr. Soc. 53 (2005) 695-699.

4. Nordberg A: Amyloid plaque imaging in vivo: current achievement and future prospects. Eur. J Nucl. Med Mol. Imaging 35 Suppl 1 (2008) S46-S50.

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5. Thalmann B, Monsch AU, Bernasconi F, Berres M, Schneitter M, Ermini-Fuenfschilling D, Spiegel R, Staehelin HB: Die CERAD Neuropsychologische Testbatterie. Ein gemeinsames minimales Instrumentarium zur Demenzabklärung. Memory Clinic, Geriatrische Universitätsklinik, Hebelstrasse 10, CH-4031 Basel. www. memoryclinic. ch/tests/tests.php

6. Zaudig M, Mittelhammer J, Hiller W: SIDAM - Strukturiertes Interview für die Diagnose der Demenz vom Alzheimer Typ, der Multiinfarkt-Demenz und Demenzen anderer Ätiologie nach DSM-III-R und ICD-10. Logomed-Verlag Fabian Höpker, München, 1990.

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Nicht-medikamentöse Therapien bei Demenzerkrankungen

Winfried Teschauer

Nicht-medikamentöse Therapien und soziokulturelles Umfeld

Nach erfolgter Diagnose einer Demenzerkrankung stehen vor allem zwei grundlegende Behandlungspfade für die Betroffenen zur Verfü-gung: Dies sind die pharmakologischen Interventionen mit Antidemen-tiva und anderen Präparaten sowie die nicht-medikamentösen Thera-pien.

In beiden Fällen spielen kulturelle Einflüsse eine erhebliche Rolle bei der Erreichung der Therapieziele. Allerdings sind die nicht-medikamen-tösen Therapien in noch viel stärkerem Ausmaß kultursensibel zu be-trachten und anzuwenden als die pharmakologischen.

Wie jede andere Therapieform haben dabei die Psychotherapien das Ziel, eine Erkrankung zu heilen oder zumindest deren Symptome zu lin-dern. Die Psychotherapien bilden ein weites Feld der Interaktion zwi-schen Therapeuten und Patienten, die in der Regel irgendeine Form der verbalen oder nonverbalen Kommunikation zum Inhalt haben.

Bei den Demenzerkrankungen sind dabei drei wesentliche Therapiefel-der festzustellen: Die Erhaltung von kognitiven Fähigkeiten, von all-tagspraktischen und von sozialen Kompetenzen. Dem physischen Wohlbefinden geht die Erreichung eines möglichst großen psychi-schen Wohlbefindens auf dem Wege der Reduktion neuropsychiatri-scher Störungen voraus. Ein grundlegender Fehler wäre es dabei, die Interventionen auf den gerontopsychiatrisch veränderten Patienten ein-zuengen. Vielmehr sind auch die Angehörigen und nicht-professionelle (und ggf. auch professionelle) Pflegepersonen durch entsprechende e-dukative Verfahren mit einzubeziehen. Gerade diese Umsetzung des demenzgerechten Umfeldes im Sinne einer Milieutherapie im weiteren Sinne bedarf aber wiederum einer intensiven Einbeziehung des sozio-kulturellen Umfeldes.

Dabei müssen die Erkrankten ebenso wie deren Umfeld mit den Aus-wirkungen der Demenzerkrankung zurechtkommen. Eine besondere Herausforderung stellt dabei für Menschen mit Migrationshintergrund die Regression im Bereich der abrufbaren Gedächtnisinhalte dar [1].

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Die Diskrepanz zwischen der realen Umwelt und der imaginären Realität ist hier besonders groß, da neben der bei Demenzerkrankun-gen „normalen“ Verschiebung der Wahrnehmungen auf dem Zeitstrahl auch das völlig unterschiedliche Lebensumfeld und die fremde Spra-che zu verarbeiten sind.

Beispiele nicht-medikamentöser Interventionen

Als ein Beispiel für eine nicht-medikamentöse Intervention sollen bio-graphieorientierte Beschäftigungen herangezogen werden. Im klassi-schen Umfeld können solche Beschäftigungen z.B. im Kuchenbacken, Sahneschlagen oder in der Beschäftigung mit Haustieren bestehen. Die erfolgreiche Durchführung solcher Tätigkeiten ist bereits für deutschstämmige Bewohner von verschiedenen Faktoren wie der Em-pathie und dem Informations- bzw. Ausbildungsstand der Pflegeper-sonen sowie dem strukturellen Umfeld bzw. - in Einrichtungen der Al-tenpflege - von deren konzeptionellen und architektonischen Randbe-dingungen abhängig, selbst wenn es sich nur um kleine Tätigkeiten handelt wie das Ausspülen einer Tasse nach dem Kaffeetrinken.

Bei demenzkranken Menschen mit Migrationshintergrund setzt dies voraus, dass im Bereich der häuslichen Pflege die versorgenden Per-sonen mit den gerontopsychiatrischen Veränderungen vertraut ge-macht wurden und adäquat darauf reagieren können. Formelle Hilfe-systeme wie z.B. Kurse für Angehörige von Demenzkranken greifen in diesen Fällen kaum, weil kein muttersprachliches Angebot existiert, oder weil dieses – falls existent - nicht angenommen wird. Bei Einrich-tungen der Altenpflege entsteht die Frage, inwieweit die Möglichkeit existiert, auf einzelne Ethnien, die auch sehr unterschiedlichen Kultur-räumen angehören können, einzugehen. Der Ruf nach der kultursensi-blen Pflege [2,3] ist dabei mehr als berechtigt, erfordert aber auch sehr umfangreiche Adaptationen der Tätigkeiten. Alle oben als Beispiel ge-nannten Tätigkeiten wären z.B. für Migrantinnen und Migranten aus dem türkischen Umfeld völlig untypisch und nicht zielführend, und das obwohl vordergründig die religiösen Unterschiede noch gar nicht zum Tragen kommen.

Weitere Beispiele von Tätigkeiten, die mit großem Erfolg in der Tages-gestaltung Demenzkranker eingesetzt werden, sind Körperpflege (z.B. Friseurtermin bei Damen), Musiktherapie und biografieorientierte Be-

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schäftigung mit Musik oder motorische Aktivierung, Kunsttherapie oder angeleitete künstlerische Beschäftigung usw.

In allen genannten Fällen ist jedoch sofort offensichtlich, dass der Aspekt einer fremden Kultur ein völlig anderes Vorgehen erfordert oder die Anwendung der entsprechenden Methoden vollständig verhindert.

Die genannten Möglichkeiten illustrieren exemplarisch die Adaptations-probleme aller nicht-medikamentösen Therapien für andere Kulturkrei-se. Die fremde Muttersprache ist dabei als Hindernis vordergründig im Bereich der verbalen Kommunikation anzutreffen, be- oder verhindert aber auch eine Reihe anderer Therapien bzw. Interventionen wie die Erfassung biografischer Inhalte, die Verfahren der Validation, sofern diese auf Sprachinhalte aufsetzen, psychologische Verfahren wie die Selbsterhaltungstherapie [4] und die darin eingeschlossenen explora-tiven Gespräche mit den Patienten u.v.m.

Zu den sich daraus ergebenden Konsequenzen gibt es verschiedene Lösungsansätze, die jedoch aus den Blickwinkeln beider Kulturkreise zu betrachten sind. Wichtig ist vor allem ein umfassender Ansatz mit muttersprachlichen Angeboten in Beratung und Therapie, der jedoch auch die spezifischen Kommunikationswege und Verhaltensmuster der türkischen Migrantinnen und Migranten berücksichtigt [5], um die po-tenziellen Klienten mit den Angeboten zu erreichen.

1. Buijssen, Huub: Demenz und Alzheimer verstehen: Erleben - Hilfe - Pflege: ein praktischer Ratgeber Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2008.

2. Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege, Charta für eine kultursensible Altenpflege ein Beitrag zur Interkulturellen Öffnung Dokumentation der Fachpolitischen Tagung 21. November 2000 Berlin, Bundesministerium für Arbeit und Soziales

3. Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege / Kuratorium Deutsche Altershilfe Für eine kultursensible Altenpflege, Eine Handreichung Köln, 2002.

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4. Romero, Barbara: Rehabilitative Ansätze bei Alzheimer-Krankheit: Die Selbsterhaltungstherapie In: Frommelt, P., Grötzbach, H (Hrsg.) (1999): Neurorehabilitation: Grundlagen, Praxis, Dokumentation. Blackwell Wiss. Verlag, Berlin, Wien, S. 531 – 540, 1990.

5. Sürer, F und Danek, A.: Demenz – Versorgung der in Deutschland lebenden Türken. In Demenz – eine Herausforderung für das 21. Jahrhundert 100 Jahre Alzheimer-Krankheit, Referate auf dem 22. Internationalen Kongress von Alzheimer´s Disease International, Tagungsreihe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Band 6, 2007.

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Diagnostik und Versorgung von demenziellen Erkrankungen in der Türkei

Murat Emre

Diagnostik I

Nicht anders, internationaler Standard

Häufig beim Neurologen, seltener beim Psychiater

Wenige hochspezialisierte, multidisziplinäre “Gedächtnis-Sprechstunden” in Istanbul, Izmir, Ankara

Hausarzt-System noch nicht etabliert

Kein etabliertes Überweisungssystem, die meisten Patienten kommen von alleine

Diagnostik II

Zunehmendes Bewusstsein und steigende Kenntnisse der Alzheimer-Erkrankung in der Bevölkerung dank des türkischen Alzheimer Vereins (AV)

Zunehmende Anzahl von Patienten in frühen Phasen

Häufig falsche Interpretationen der Symptome (normaler Altersprozess etc.)

Diagnostik III

Häufigstes Screening-Instrument: MMSE -> validierte türkische Version, für Gebildete und Anal-phabeten verfügbar

Validierte türkische Versionen von internationalen neuropsychologischen Standardtests und -skalen verfügbar

Zunehmendes Interesse und steigende Anzahl von Neuropsychologen

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Diagnostischer Prozess

Standard

Zuerst Diagnose des Demenz-Syndrom, dann DD

Fremdanamnese, neuropsychologische und klinische Untersuchung

Routine-Labor, bildgebendes Verfahren bei allen Patienten

Diagnostischer Prozess: Beispiel IMF Neurologie I

Selbst- oder Arztüberweisungen

Sprechstunde einmal in der Woche

Erste Untersuchung bei einem spezialisierten Neurologen oder Assistenten

Vorstellung von allen neuen Fällen in einer wöchentlichen Abteilungssitzung (Neurologen, Psychiater, NP, Geriater)

Diskussion und Planung des weiteren Vorgehens

Diagnostischer Prozess: Beispiel IMF Neurologie II

Falls indiziert, Untersuchung bei einem Neuropsychologen

Falls notwendig, Konsilien bei Psychiatern oder Geriatern

Routine screening: Labor, MRI/CT

EEG, EP, CSF nicht routinemäßig

Falls indiziert, SPECT, Genetik, Biopsie

Betreuung nach der Diagnostik in der Abteilung oder privat beim Neurologen

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Logistik

ca. 90% der Population versichert

CT und MRI Maschinen (fast) überall verfügbar, wenig bis keine Wartezeiten

Alle AD-Medikamente vom Staat bzw. der Versicherung voll bezahlt, wenn vom Neurologen oder Psychiater verschrieben

Keine strikte Kontrolle für Krankheitsphasen

Versorgung I

Mehrzahl der Patienten werden zu Hause mit privaten Pflegehilfen versorgt

Für viele ist die Lösung „Pflegeheim“ immer noch unvorstellbar

Professionelle Pflege zu Hause vom Staat nicht bezahlt -> neue Regelung derzeit in Arbeit

Sozialdienste kaum verbreitet

Versorgung II

Wenige Tagesheime, organisiert vom Alzheimer Verein (AV)

Staatliche Pflegeheime praktisch nicht existend

Staatliche und städtische Altersheime für “gesunde” Alte, AD-Patienten werden dort in der Regel nicht akzeptiert

Anzahl der Altersheime ungenügend

Versorgung III

Zunehmend mehr private Pflegeheime und private Hauspflege-Dienste

Kosten für viele Familien schwierig zu decken (500-1500 Euro/Monat) -> Pflegeheim-Kosten vom Staat nicht bezahlt

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Alzheimer Verein und -Stiftung der Türkei I

Alzheimer Verein (AV) seit 1997, Alzheimer Stiftung (AS) seit 2000

AV mit neun Niederlassungen

Viele Aktivitäten: Radio- u. Fernsehprogramme, Zeitungsinterviews, Veranstaltungen für die Bevölkerung in vielen Städten

Alzheimer Verein und -Stiftung der Türkei II

Informations-Broschüren, Bücher für Angehörige

Selbsthilfegruppen für Angehörige in einigen Städten

Alle zwei Wochen Organisation des “Alzheimer-Café” in Istanbul

Öffentliche Veranstaltungen und Aktionen, Benefiz-Veranstaltungen, Golfturniere

Alzheimer Verein und -Stiftung der Türkei III

Ein Pflegeheim in Istanbul, zwei Tagesheime (Eskisehir und Mersin)

Kostenlose Dosierungsschachteln

Personen-Ortungssystem mit Hilfe von Satelliten neu eingeführt

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Die Demenzproblematik aus Sicht der BARMER

Peter Parketny

„Demenziell Erkrankte besser versorgen“

Vielfach wird Alter als ein schicksalhaftes Geschehen interpretiert, in das der Mensch nicht gestaltend eingreifen kann. Diese Interpretation ist falsch.

Medizinische Diagnosen allein reichen nicht aus, um den körperlichen Zustand älterer Menschen zu beschreiben. Es sind auch die Auswir-kungen dieser Krankheiten auf die Selbstständigkeit und das Selbsthil-fepotenzial der alten Menschen zu berücksichtigen. Von großer Bedeu-tung für die Therapie und Rehabilitation ist die Frage, inwieweit die Er-krankungen zu funktionellen Einbußen führen. Deren Überwindung oder Linderung bildet das zentrale Ziel der geriatrischen Rehabilitation, wobei festgestellt werden kann, dass bei vielen älteren Menschen ein hohes Rehabilitationspotenzial gegeben ist.

In Bezug auf die persönliche Entwicklung sind auch die großen indivi-duellen Unterschiede im Alter zu nennen. Für diese Unterschiede ist u.a. die Lebensführung des Menschen in den verschiedenen Phasen des Lebenslaufs verantwortlich zu machen; damit ist auch die große Bedeutung der Prävention für die Aufrechterhaltung der Gesundheit im Alter angesprochen. Aus diesem Grunde ist auch die Forderung ge-rechtfertigt, dass die Aufklärung über Alter(n) und dessen Einflussfak-toren möglichst früh - z.B. schon im Schulunterricht – erfolgt, damit sich die Menschen ihrer eigenen Verantwortung für das individuelle Al-tern bewusst werden (Kruse, 1999).

Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheits-wesen weist in einem seiner letzten Gutachten darauf hin, dass bei den über 60-Jährigen eine Vielzahl von Ansätzen der Prävention besteht. Prävention bedeutet dabei nicht nur, eine Krankheit zu verhüten. “Prä-vention für und im Alter” sollte vielmehr den gesamten Alterungspro-zess mit seinen funktionellen Einschränkungen und dem drohenden oder tatsächlichen Verlust an körperlicher und mentaler Fitness be-rücksichtigen.

Die hohen Präventionspotenziale werden in der Öffentlichkeit, von den ärztlichen und pflegerischen Berufen und der Politik bislang erheblich

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unterschätzt. Dies steht im Gegensatz zu den Erwartungen an die Prä-vention, die gar nicht hoch genug sein können, blickt man auf die aktuelle Debatte zur Prävention. Unser gesundheitspolitisches Ziel muss es sein,

die Zahl der behinderungsfreien Lebensjahre zu verlängern sowie

den vorzeitigen Tod zu vermeiden.

Die Vorlage des Präventionsgesetzes darf daher mit Spannung erwar-tet werden.

Demenzerkrankungen werden aufgrund der demographischen Ent-wicklung zu einem der zentralen Probleme unseres Gesundheitssys-tems. Mit der stetig steigenden Lebenserwartung und der Zunahme älterer Menschen wird sich die Zahl der Demenzkranken von heute rund einer Million bis zum Jahre 2040 mehr als verdoppeln (Bickel 2001:111). Dabei ist die Mehrzahl der Demenzkranken des Jahres 2040 bereits heute geboren. Das heißt, wenn wir heute über die künftige Versorgung von Demenzkranken diskutieren, sprechen wir – ich will es nicht hoffen - über unsere eigene Versorgung. Zu dieser menschlichen Tragödie kommen immense Kosten auf die Kranken- und Pflegeversicherung zu.

Gleichwohl mehren sich die Hinweise, dass sich körperliche Aktivität und Fitness positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit alter Menschen auswirken und einen Beitrag zur Demenzprävention leisten. Die BARMER verfügt über zahlreiche präventive Angebote, die in unseren Geschäftsstellen abrufbar sind. Darüber hinaus wird gesundheitsför-derndes Verhalten durch das Bonusprogramm aktiv pluspunkten be-lohnt. Mehr dazu unter www.barmer.de

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Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) in der Pflegeversicherung

Uwe Brucker

Die Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI sollte auch die Einschränkung bzw. Behinderung in existenziellen Dimensio-nen des Lebens berücksichtigen. Dazu zählen insbesondere die Ge-währleistung von fundamentalen Rechten wie Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe von pflegebedürftigen Frauen und Männern (Aichele/Schneider 2006).

Als besonders vulnerabel hinsichtlich dieser Rechte gelten dabei Men-schen, die gekennzeichnet sind durch

niedriges finanzielles Einkommen/Vermögen

niedriges Bildungsniveau (nicht nur, aber auch Sprache)

mangelhaftes soziales Primärnetzwerk

gesundheitsprägende Arbeitsbiographie

kulturell anders konotiertes Krankheitserleben

ohne „passendes“ Hilfe- und Unterstützungssystem

Inwiefern Menschen mit Migrationserfahrung von derzeitig gültigen Be-gutachtungsverfahren angemessen erfasst werden und damit ihr Hilfe-bedarf auch entsprechend leistungsrechtlich Berücksichtigung findet, soll anhand der Kritik am aktuellen Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI und dem damit korrelierenden Einstufungsverfahren beurteilt wer-den.

Seit Beginn der Pflegeversicherung wird kritisiert, dass der dort unter § 14 SGB XI gewählte Pflegebedürftigkeitsbegriff dem spezifischen Hilfe-bedarf von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, insbe-sondere mit Demenzerkrankung, nicht angemessen gerecht wird. Be-sonders deutlich wird diese Problematik durch die jetzt schon hohe Zahl der in Deutschland an Demenz leidenden Menschen. Bereits heu-te gibt es über eine Million Demenzkranke. Demenzerkrankungen sind alterskorreliert, d.h. sie nehmen mit steigendem Alter zu. In der Alters-gruppe der 70- bis 74-Jährigen sind rund vier Prozent von dieser Krankheit betroffen, bei den 90-Jährigen und Älteren ist es bereits

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jede/jeder Dritte.1 Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Menschen mit mittelschwerer und schwerer Demenz bis zum Jahre 2050 auf über zwei Millionen ansteigen wird.

Unter der Überschrift „Begriff der Pflegebedürftigkeit“ wird in § 14 SGB XI der leistungsberechtigte Personenkreis beschrieben. Demnach ist pflegebedürftig, wer wegen einer körperlichen, geistigen oder seeli-schen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmä-ßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder hö-herem Maße der Hilfe bedarf. Die „gewöhnlichen und regelmäßig wie-derkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens“ werden im Absatz 4 abschließend genannt. Diese sozialgesetzgeberische Definition ent-spricht nicht den wissenschaftlichen Beschreibungen von Pflegebe-dürftigkeit. Dort wird von Pflegebedürftigkeit als einer deskriptiven Grö-ße gesprochen, in die Einschränkungen eines Menschen, seine Poten-ziale und Ressourcen des sozialen Umfeldes mit einfließen. Der Pfle-gebedarf hingegen beschreibt die pflegerische Interventionsebene, nämlich Handlungen, Maßnahmen und Leistungen der Pflege, die für die Bewältigung der Pflegeprobleme erforderlich sind. Der Pflegebe-darf orientiert sich an den Kontextfaktoren, Pflegezielen und den gege-benen Ressourcen. 2

Durch die Festlegungen im Pflegeversicherungsgesetz, werden nur eine begrenzte Anzahl von Aktivitäten als Verrichtungen und somit als pflegerischer Hilfebedarf anerkannt. Es muss zudem Hilfebedarf bei ei-ner Mindestanzahl dieser Verrichtungen gegeben sein. Darüber hinaus erfolgen weitere Vorgaben zu Frequenz und Dauer (mindestens sechs Monate), Tageszeit der Erbringung usw. Dabei wird nicht, wie es die Überschrift von § 14 SGB XI verspricht, der Begriff von Pflegebedürftig-keit definiert, sondern es werden Aussagen zur sozialversicherungs-rechtlichen Leistung gemacht, also zum Pflegebedarf, der sich in einer von drei Pflegestufen niederschlägt. Die gutachterlich erhobenen Grundlagen zur leistungsberechtigenden Pflegestufe ziehen je nach gewählter Versorgungsform eine unterschiedliche Höhe der Leistung

1 H. Bickel: Stand der Epidemiologie. In: J. F. Hallauer, A. Kurz: Weißbuch Demenz. Stuttgart 2002 S. 10ff

2 M. Halek: Wie misst man die Pflegebedürftigkeit? Schluertersche Hannover 2003 S. 32ff

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nach sich: Wählt die Person mit Pflegestufe II die Geldleistung, erhält sie aus der Pflegeversicherung 410 Euro im Monat, wählt sie die am-bulante Sachleistung erhält sie 921 Euro, ist stationäre Versorgung er-forderlich, erhält der Versicherte 1.279 Euro im Monat. Identische Pfle-gebedürftigkeit hat somit bei ein und derselben Person unterschiedli-che Leistungen aus der Pflegeversicherung zur Folge. Diese unter-schiedlichen Leistungen für dieselbe Pflegestufe sind kein Ergebnis des Begutachtungsverfahrens. Die umfassende gutachterliche Ermitt-lung des individuellen Hilfebedarfs ohne unmittelbaren Leistungsbezug zum Kostenträger könnte ein Schritt in mehr Bedarfsgerechtigkeit sein und könnte Indikatoren liefern für eine individuell angemessene Versor-gung.

Das reduzierte Verständnis von Pflegebedürftigkeit in § 14 SGB XI hat normsetzende Auswirkungen auf die professionelle Leistungserbrin-gung und Versorgung. Denn professionelle Pflege wie auch Pflege in der Familie fokussieren neben körperlichen Aspekten des täglichen Le-bens auch die psychischen, seelischen und sozialen.

Psychosoziale und kognitive Funktionsbeeinträchtigungen und die da-raus entstehenden Hilfebedarfe bleiben bei der SGB XI geprägten ver-kürzten Beschreibung von Pflegebedürftigkeit unberücksichtigt. So gibt es mittlerweile Angebote von Pflegeplanungs- und Dokumentations-herstellern, deren Produkte ausschließlich auf der Basis der im SGB XI genannten Verrichtungen des täglichen Lebens zulassen, die Pflege zu planen und dokumentieren. Pflegeunternehmen, die sich für den Ein-satz solcher Pflegeplanungsinstrumente entscheiden, verlangen von ihren pflegenden Mitarbeitern, nur noch die Pflege zu erbringen, die nach dem reduktionistischen Verständnis des SGB XI von der Pflege-versicherung bei der Pflegestufenfindung Berücksichtigung findet.

Damit steht das Tor zur pflegerischen Mangelversorgung offen.3

Zwar benennt das SGB XI in § 14 Abs.1 und 2 als Grund für Pflegebe-dürftigkeit ausdrücklich „geistige und seelische Krankheiten und Be-hinderungen“ als Ursache für Pflegebedürftigkeit. Jedoch werden als

3 U. Brucker: Pflegebedürftig mit Demenz und das SGB XI. In: C. Petzold et al.: Ethik und Recht; Band 7 der von der Robert-Bosch-Stiftung herausgegebenen Schriftenreihe: Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz.. Hans Huber Bern 2007

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die spezifischen Hilfebedarfe nur die rein somatisch geprägten Verrich-tungen des täglichen Lebens gelistet. Die spezifische Pflegebedürf-tigkeit von Menschen mit Einschränkungen in ihrer Alltagskompetenz findet legaldefinitorisch keine Berücksichtigung. Die nachfolgend auf-gezählten typischen Hilfe- und Unterstützungsbedarfe bei Menschen mit Demenz stellen keine Kriterien für Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI dar:

gezielt kommunizieren

Beziehung aufnehmen, aufrechterhalten und beenden

mit Problemen und Realitäten des Alltags umgehen

am sozialen Leben teilhaben

den Tagesablauf strukturieren

sich orientieren und informieren

persönlichen Besitz verwalten

wohnen

seine Rechte wahren, seine Pflichten erfüllen

die eigene Sicherheit sicherstellen

mit Schmerzen und Angst umgehen.

Unberücksichtigt bleiben bei der Pflegestufenbestimmung weiterhin die spezifischen pflegerischen Aspekte der Prävention und der auf-wändigen und sensiblen Begleitung im Sterbeprozess.

Der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist im Sozialrecht nicht nur anders in-haltlich ausgestaltet, sondern er hat auch eine andere Bedeutung als im pflegewissenschaftlichen Diskurs. Er dient im pflegefachlichen Ver-ständnis als theoretische Grundlage dafür, die von der zu pflegenden Person die nicht mehr selbstständig und ohne Fremdhilfe durchführba-ren Aktivitäten als Beeinträchtigungen systematisch zu erfassen, um daraus den Hilfebedarf abzuleiten und konkrete pflegerische Maßnah-men zu planen. Im sozialrechtlichen Kontext ist er die Zugangsformel zu den Sozialleistungen. Im Bereich der Pflegeversicherung dient der Pflegebedürftigkeitsbegriff der §§ 14 ff. SGB XI dazu, die knappen Transfermittel dieses Teilleistungsgesetzes gerichtsfest so zu verteilen, dass eine rechtsstaatliche Kontrolle möglich ist.

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Die Erfahrung von zwölf Jahren Pflegeversicherung zeigt: Menschen mit Demenz und andere Personen mit psychiatrisch bzw. hirnorga-nisch bedingter erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz gelangen regelmäßig (erst) dann in den Genuss von Pflegeversicherungsleistun-gen, wenn ihre Erkrankung so weit fortgeschritten ist, dass sie einen Hilfebedarf in den vom § 14 SGB XI abschließend aufgezählten Verrich-tungen des täglichen Lebens haben. Der spezifische Hilfebedarf die-ses Personenkreises wird vom Pflegebedürftigkeitsbegriff des Pflege-versicherungsgesetzes nicht erfasst. Oder anders formuliert: Für die in ihrer Anzahl am schnellsten wachsenden Gruppe der Pflege-, Hilfe- und Unterstützungsbedürftigen wird die pflegeversicherungsrechtliche Versorgungslücke immer größer.

Die Pflegeversicherung ist ein in mehrfacher Stufung auf Teilleistung basierender wie auch darauf abzielender Sozialversicherungszweig.4

Diskurs im Bundespflegeausschuss 2002

Bereits 2002 hat eine Arbeitsgruppe des Bundespflegeausschusses eine Erweiterung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorgeschlagen, die zwar vom Plenum des Bundespflegeausschusses nicht konsentiert wurde, seitdem jedoch die Diskussion um den Pflegebedürftigkeitsbe-griff beeinflusst. Nicht nur aus rechtssystematischen Gründen sollte künftig für alle Sicherungssysteme ein einheitlicher Pflegebegriff gelten. Trennt man in Zukunft die Frage nach gutachterlich vorzunehmenden Feststellung des Grades der Hilfe- Unterstützungs- und Pflegebedürf-tigkeit von der erst danach zu prüfenden Frage nach der Kostenzu-ständigkeit, so ließen sich daraus in mehrfacher Hinsicht Synergiege-winne erzielen: die Verwaltungsvereinfachung und Kostenminimierung bestünde darin, dass nur noch ein gutachterlicher Fachdienst beim Klienten die Hilfe- und Pflegebedürftigkeit feststellt - dafür aber umfas-send. Zudem wäre der Betroffene, weil ihn nur noch ein Gutachter be-sucht, weniger belastet. Der hauptsächliche Gewinn eines so struktu-rierten Vorgehens bestünde darin, dass es - ein entsprechendes Erhe-bungsinstrument vorausgesetzt - die Möglichkeit bietet, wissenschaft-lich evaluierte und praxisbewährte Assessmentverfahren darauf auf-bauen können, um wirksame Unterstützung einleiten zu können. Die im

4 a.a.O.

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Begutachtungsverfahren erhobenen Klientendaten wären somit Basisdaten - sowohl für die jeweiligen Kostenträger wie auch für die Planung der konkreten Hilfe- und Pflegeleistungen durch professionelle Dienstleister. Die damit erstmals vorliegende gemeinsame Datenbasis böte auch ganz andere Möglichkeiten der Leistungsverzahnung und professionellen Vernetzung über die bisherigen segmentierten Leis-tungsgrenzen der bestehenden Sozialleistungen hinaus. Case- und Caremanagement könnten darauf aufbauen.

Die Arbeitsgruppe II des Bundespflegeausschusses hat im Jahre 2002 vorgeschlagen, „für alle Leistungsträger einen umfassenden Pflegebe-griff zu schaffen, um damit ggf. die bisherige aufgespaltene Zuord-nung von Pflegebedarfen zu bestimmten Kostenträgern zu überwin-den.“ Konsequenz dessen wäre, dass allen Sicherungssystemen ein umfassender Pflegebegriff zugrunde gelegt und erst in einem weiteren Schritt eine Zuordnung der Leistungszuständigkeiten - auf die einzel-nen Kostenträger oder ggf. die Eigenverantwortung bezogen - auf die jeweiligen Hilfebedarfe vorgenommen wird.

Der Begriff der Pflegebedürftigkeit orientiert sich in Analogie zum SGB IX an den Defiziten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Men-schen wären demnach pflegebedürftig, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrschein-lichkeit länger als sechs Monate von dem typischen Zustand abwie-chen, ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft daher beeinträchtigt ist und sie auf Dauer der Hilfe und Pflege bedürfen.

Die Beeinträchtigungen und der daraus resultierende Hilfebedarf wird anhand der Bereiche

Verrichtungen des täglichen Lebens aus den Gebieten der Körperpflege, Mobilität, Ernährung und hauswirtschaftlichen Versorgung

Aktivierungs-, Beaufsichtigungs- und Betreuungsaufwand* (sowohl bezogen auf die Verrichtungen des täglichen Lebens als auch außerhalb der Verrichtungen)

Bedarf an behandlungspflegerischen Maßnahmen

Fähigkeit zu kommunizieren und Bedarf an sozialer Betreuung

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festgestellt. (*Durch diesen Bereich soll insbesondere der Hilfebedarf gerontopsychiatrisch veränderter Menschen einbezogen werden.)

Darüber hinaus bedarf der Vorrang der Rehabilitation vor Pflege und der Grundgedanke der Prävention von Pflegebedürftigkeit einer stärke-ren Verankerung. Insbesondere die Prüfung von Möglichkeiten der Re-habilitation ist stärker im Verfahren der Feststellung von Pflegebedürf-tigkeit zu verankern.

Eine Erweiterung des Pflegebegriffs erzeugt die Notwendigkeit, ein neues Begutachtungsinstrumentarium zur Feststellung von Pflegebe-dürftigkeit zu schaffen. Im Rahmen des zukünftigen Begutachtungsver-fahrens ist ein umfassender Status der Beeinträchtigungen über alle oben genannten Bereiche zu erheben.

In das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit ist systema-tisch die Prüfung der Möglichkeiten der Rehabilitation zu integrieren. Zu diesem Zweck ist bei allen festgestellten Beeinträchtigungen zu prüfen, ob eine Veränderung oder Kompensation durch rehabilitative Maß-nahmen möglich ist. Die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs erfolgt anhand der Kriterien der Krankenversicherung und damit anhand einer zusammenfassenden Wertung von Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabi-litationsfähigkeit und Rehabilitationsprognose auf der Grundlage eines realistischen Rehabilitationsziels. Bei Feststellung eines Rehabilitations-bedarfs wird eine Rehabilitationsmaßnahme eingeleitet, und die ent-sprechende Beeinträchtigung ist bei der Feststellung der Pflegebedürf-tigkeit noch nicht pflegestufenrelevant. Nach Beendigung der Rehabili-tationsmaßnahme ist in einer weiteren Begutachtung (spätestens nach sechs Monaten) zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen kompensiert wur-den. Ist dies nicht der Fall, wird die Beeinträchtigung bei der Bemes-sung des Grades der Pflegebedürftigkeit einbezogen...“.

Der Begriff der Pflegebedürftigkeit wird damit inhaltlich gegenüber den Festlegungen des SGB XI deutlich erweitert. Der aktuell gültige Pflege-bedürftigkeitsbegriff umfasst fast ausschließlich Aktivitäten innerhalb des jeweiligen Wohnumfelds; gesellschaftliche Teilhabe wird dabei –wenn überhaupt- nur auf die Aktivitäten in den eigenen vier Wände re-duziert.

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Notwendigkeit eines neuen Begutachtungsinstruments

Bereits im Plenum des Bundespflegeausschusses von 2002 stand die Mehrheit der Mitglieder dem Status quo von Pflegebedürftigkeitsbegriff und bestehendem Begutachtungsverfahren kritisch gegenüber. In manchen Fachkreisen werden die bekannten Unzulänglichkeiten5 des aktuellen Begutachtungsverfahrens geleugnet, um daran auch in Zu-kunft festzuhalten zu können. Die menschlich zwar verständliche Furcht vor Veränderungen des Gewohnten und das Festhalten am Suboptimalen bedeutet jedoch auch ein Arrangement mit der Unzu-länglichkeit, mit Folgen für die Betroffenen und nicht näher beleuchte-ten Kosten für das gesamte System. Im Gegensatz dazu setzen Wirt-schaftszweige außerhalb der Sozialwirtschaft auf die Überzeugungs-kraft wissenschaftlich fundierter Argumente; Innovationsbremser ver-hindern lernende Organisationen und gefährden dort unmittelbar die Unternehmensexistenz. Auch Pflege wird sich in Zukunft ein von schli-chten Behauptungen und offenkundigen Interessen geprägtes, nicht weiter wissenschaftlich argumentiertes Beharrungsvermögen kaum leisten können, da in anderen Ländern mit vergleichbaren Ausgangs-lagen bereits rational nachvollziehbare Entscheidungen getroffen werden6. Die Entscheidungsträger für die Grundlagen pflegerischen Handelns sind in Deutschland in den Anbieter- wie Kostenträgerver-bänden verortet, deren politisch zugelassene Partikularinteressen und mangelnde pflegefachliche wie wissenschaftliche Ausrichtung sinn-volle Veränderungen bislang blockieren.

Eine Abkehr davon verspricht das Vorgehen des BMG im Jahr 2006 in dem man nicht nur einen Beirat damit betraut hat, den aktuellen sozial-rechtlichen Begriff der Pflegebedürftigkeit zu überprüfen und eine Em-pfehlung zu dessen Neufassung zu erarbeiten, sondern auch die Spit-zenverbände der Pflegekassen veranlasst hat, eine wissenschaftliche Studie zu initiieren, die letztlich in der Erarbeitung und Evaluation eines Projektes mündete mit dem Titel „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eine neuen bundesweit einheit-

5 vgl. S. Bartholomeyczik et.al: Evaluation der Orientierungswerte für die Pflegezeitbemessung. Bonn 1999

6 vgl. dazu das Vorgehen der spanischen Regierung zur Schaffung einer zentralstaatlichen Pflegeversicherung

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lichen und reliablen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI.“ Diesem „offiziellen“ Tätigwer-den vorausgegangen waren Vorarbeiten einer Arbeitsgruppe der MDK-Gemeinschaft, die sich auf Initiative des MDS bereits länger als drei Jahre mit der Thematik beschäftigt hatte und deren Zwischenergebnis-se in das genannte Projekt Eingang gefunden haben.7 Es bleibt abzu-warten, welches politische Schicksal das im März 2008 dem Auftrag-geber vorgelegte vorläufige Ergebnis nehmen wird.

Zur Kritik am bestehenden Begutachtungsverfahren

Zurück zum bestehenden Begutachtungsverfahren: Maßstab bei der Ermittlung einer Pflegestufe nach dem SGB XI sind im derzeit in An-wendung befindlichen Begutachtungsverfahren folgende Kriterien:

Der Hilfebedarf in den Verrichtungen des täglichen Lebens von § 14 Abs. 4 SGB XI,

die Dauer der jeweiligen Verrichtung,

die Häufigkeiten dieser Verrichtungen (mindestens einmal täglicher Hilfebedarf bei wenigstens zwei dieser Verrichtungen aus den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität; zusätzlich mehrfach in der Woche hauswirtschaftliche Hilfe)

die Verteilung dieser Verrichtungen über 24 Stunden

die voraussichtliche Dauer von Pflegebedürftigkeit (mind. sechs Monate)

die Verwendung von sog. Zeitorientierungswerten

Die Ermittlung einer Pflegestufe dient als Entscheidungsgrundlage für die Verteilung von Pflegegeld oder geldwerter Sachleistung. Die dafür im SGB XI benannten Kriterien sind gewollte Filter zur Ausgabenbe-grenzung einer nur auf Teilleistung angelegten Sozialversicherung.

7 K.Wingenfeld; A. Büscher: Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftig-keitsbegriffs und eines Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI – Vorphase- als Download (zuletzt am 01.04.2008) unter: http://www.vdak.de/vertragspartner/Pflegeversicherung/Modellprogramm/Publikationen/publikation_5/index.htm

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Nach dem politischen Willen des Gesetzgebers soll diese Summe aus der Pflegeversicherung nur eine Teilleistung, ein Zuschuss zu einer pflegefachlich erst noch zu ermittelnden Gesamtleistung sein. Diese pflegerische „Gesamtleistung“ wird im SGB XI weder beschrieben noch von der Pflegestufenermittlung erfasst; sie bleibt ein abstraktes, ideelles Konstrukt. Das Begutachtungsverfahren hat die Allokation von Teilleistungen aus dem SGB XI zum Zweck. Das ist etwas grundsätz-lich anderes als eine umfassende, weil „ganzheitlich“ den Hilfebedarf und die Ressourcen des zu Pflegenden erfassende praktische /profes-sionelle Pflegeplanung. Die Verrichtungen des SGB XI und das Gut-achten des MDK liefern dafür lediglich punktuelle Anhaltspunkte. Eine individuelle, auch das Lebensumfeld und andere Kontextfaktoren des Betroffenen mit einbeziehende, pflegerische Gesamterhebung dessen, was der Pflegebedürftige braucht und will, kann die bisherige Be-gutachtung nicht liefern. Solange keine am Individuum zu messende ressourcenorientierte Einschätzung des Betroffenen selbst in die Be-gutachtung Eingang findet, solange familiäre und andere Netzwerkpo-tenziale ausgeblendet werden, können keine Aussagen getroffen wer-den zu bedarfsgerechten Versorgungspfaden. Es ist nicht auszu-schließen, dass dieses System je nachdem einer Fehl-, Unter- und auch Überversorgung Raum gibt. „Professionelle“ Pflege jedenfalls, die ausschließlich nach Kriterien des Pflegebedürftigkeitsbegriffs des § 14 SGB XI erbracht wird, hätte vielfach eine Mangelversorgung zur Konsequenz.

Kritik an den sogenannten „Zeitorientierungswerten“

Die Weichenstellungen in der Pflegestufenerhebung erfolgen anhand der gutachterlichen Wertung der Häufigkeiten und Verteilungen der je-weiligen Hilfebedarfe. Diese sind vom Gutachter individuell zu ermit-teln. Als Bewertungsmaßstab dafür geben ihm die Begutachtungs-richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen in der Fassung vom 11.05.2006 sog. Zeitorientierungswerte an die Hand. Diese Zeitorientie-rungswerte sind relevant für die Hilfeform „vollständige Übernahme“, bemessen also die Zeit für bestimmte Handlungen („Unterverrichtun-gen“ genannt), die vom Pflegenden vollständig übernommen werden. Der Gutachter bewegt sich in einem schwer aufzulösenden Span-nungsfeld von Anforderungen an seine Tätigkeit: Er soll einerseits den

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Hilfebedarf in den Verrichtungen des täglichen Lebens individuell ermitteln, andererseits dienen ihm dazu als Bemessungsgrundlage die in den Begutachtungsrichtlinien festgelegten Zeitorientierungswerte als Maßstab. Der Gutachter orientiert sich dadurch weniger an der indivi-duellen Situation des Pflegebedürftigen als an den vorgegebenen Zeit-korridoren. Die in den Begutachtungsrichtlinien ausdrücklich vorgese-hene individuelle Erhebung des zeitlichen Bedarfs verlangt vom Gut-achter gleichzeitig eine ausführliche Begründung. In der gutachterli-chen Praxis besteht folgender Konflikt: entweder der Gutachter glaubt den Angaben der Pflegeperson (z. B. der pflegenden Ehefrau oder Mutter), wie oft am Tag sie An- und Ausziehen oder Waschen über-nimmt und wie lange sie dafür braucht. Diese Einschätzung der Pflege-personen liegen vielfach über den Werten der sog. Zeitorientierungs-werten. Oder aber der Gutachter hält sich an Richtwerte der von ihm anzuerkennenden Häufigkeiten z. B. seiner Vorgesetzten bzw. an die Zeitkorridore der Begutachtungsrichtlinien. Weder für die Fragen, wie oft am Tag jemand Hilfe beim Toilettengang braucht (Häufigkeiten) noch für die Dauer der einzelnen Handlungen geschweige denn für die Verteilung der Hilfebedarfe über den Tag und die Nacht (Frequenz) existieren wissenschaftlich abgesicherte Maßstäbe oder Untersuchun-gen. Das war auch bei Einführung dieser Zeitorientierungswerte im Jahre 1997 bekannt. Deshalb hatte das für die Pflegeversicherung zuständige Bundesministerium zwei wissenschaftliche Konsortien (ein pflegewissenschaftliches und das REFA-Institut in Darmstadt) beauf-tragt, diese Orientierungswerte für die Zeitbemessung wissenschaftlich zu evaluieren. Nach der Untersuchung zu den Pflegezeit-Orientorien-tierungswerten von Bartholomeyczik sind die Zeitorientierungswerte kein geeignetes Maß, um zu einer differenzierten und wissenschaftli-chen Kriterien genügenden Beurteilung von Pflegebedürftigkeit zu ge-langen. Hinzu kommt: Der Beginn einer Verrichtung, deren Unterbre-chung, die Wiederaufnahme und ihre Beendigung sind ungeklärte und deshalb latent streitbefrachtete Größen, die sich auch zeitlich nicht exakt erfassen lassen. Abgrenzungsprobleme ergeben sich zusätzlich dadurch, dass sich mehrere Handlungen auch überlagern können. Hinzu kommen die Häufigkeiten und Verteilung der Verrichtungen über Tag und Nacht.

Auch die Annahme, dass vollständige Übernahmen als Hilfeformen un-abhängig von dem Grad der Beeinträchtigung der Pflegebedürftigen

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ungefähr gleich lang dauern, wird von Batholomeyczik widerlegt mit den Nachweis, dass diese bei allgemein stärkerer Pflegebedürftigkeit länger dauern als bei geringerer. Sie folgert daraus, dass die Dauer von Pflegehandlungen eher fallbezogen und nicht handlungsteilbezo-gen wahrzunehmen ist.8

Das bisherige Instrument der Zeitwertsystematik hat auch einen me-thodischen Mangel. Tatsächlich erforderliche Zeiten, nämlich wie viele Minuten für das Duschen für den 85-jährigen Herrn Müller von seiner 83-jährigen Ehefrau real an Pflegezeit benötigt werden, kann vom Gut-achter kaum individuell ermittelt werden; auch weil er dies unabhängig von der Pflegeperson der Frau Müller machen soll. Die ermittelten Zeit-werte entsprechen nämlich keineswegs den Pflegeleistungen, die von den Angehörigen selbst erbracht werden, noch wird der Zeitaufwand einer professionell Pflegenden erfasst. Der Gutachter muss den not-wendigen Hilfebedarf ermitteln - erbracht durch die Fiktion einer durch-schnittlichen Laienpflegekraft.

Bei der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit in einem Pflegeheim, in dem professionell gepflegt wird, setzt sich die Anforderung an den Gutachter fort, mit fiktiven Annahmen sein Bild einer realen Situation zugrunde zu legen: er muss von einer Fiktion der virtuellen häuslichen Wohnsituation ausgehen: Erste Etage / Kein Aufzug / nicht ebenerdig erreichbar; zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad; Zwei-Personen-Haushalt; Keine "behindertengerechte Ausstattung" / Zentralheizung / Standard-küche / Kochnische mit Elektroherd bzw. Gasherd / Standard-WC / Bad / Waschmaschine. Hinzu kommt: Die im Pflegeheim arbeitenden beruflich Pflegenden muss der Gutachter ausblenden und ersetzen durch die Konstruktion einer durchschnittlichen Laienpflegekraft.

Die reale Pflegestufe ist das Ergebnis aus einer Aneinanderreihung von Fiktionen. Der Gutachter ist durch seine normativen Handlungsvorga-ben (BriLi) gehalten, eine eigene Konstruktion der pflegerischen Wirk-lichkeit zu entwerfen, die den tatsächlichen Pflegeaufwand kaum ab-bilden kann. Dabei legt die Aufwandsbeschreibung in Form von Pfle-geminuten jedem Betrachter nahe, dass der MDK exakt die Pflegewirk-

8 Forschungsbericht „Evaluation der Orientierungswerte für die Pflegezeitbemessung“ Frankfurt 1999 S. 93

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lichkeit abbildet. Dabei wird lediglich eine Scheingenauigkeit erzeugt, wie der Verweis auf die fiktiven Situationen deutlich machen soll.

Die Zeitdauer für eine Pflegehandlung, die Frequenz (Häufigkeit) der pflegerischen Handlungen am Tag, die Verteilung der Handlungen über den Tag und die Nacht, die Imagination einer durchschnittlichen Laienpflegekraft sowie die virtuell vom Gutachter zu ermittelnde Wohn-situation führen zu einer Einschätzung der Pflegebedürftigkeit, die stark von der individuellen Einschätzung des Gutachters und weniger von der individuellen Pflegesituation geprägt sind.

Es gibt die Meinung, die besagt, dass Zeitwerte sich gut nachvollzie-hen lassen. Wenn es sich um real gemessene und tatsächlich auch messbare Zeitwerte handelt, ist diese Aussage richtig; es handelt sich aber hier um Konstrukte von Zeitwerten, die mit realen Zeitaufwänden oder auch wissenschaftlich belastbaren Zeitpauschalen nichts zu tun haben.

Ein weiterer Aspekt der Kritik am bestehenden Verfahren sind die Erfahrungen aus der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit, wenn es zu streitbehafteten Diskussionen zwischen Versicherten, MDK und Pflegekassen kommt: Streit gibt es immer nur über die Häufigkeiten und die Zeitbemessung, also über die Fragen des Wie oft und Wie lan-ge. Die Erfassung des qualitativen Hilfebedarfs in den jeweils in Frage stehenden Verrichtungen des täglichen Lebens gelingt hingegen gut. Ob nämlich jemand im Bereich Waschen Unterstützung oder vollstän-dige Übernahme durch eine Pflegeperson bedarf, ist für den Versicher-ten und seine Angehörigen regelmäßig nachvollziehbar und ist höchst selten Gegenstand von Auseinandersetzungen.

Schlussfolgerungen

Ausgehend von dieser Kritik am bestehenden Verfahren, geht es darum, dem Reformgesetzgeber Handlungsalternativen aufzuzeigen, die einerseits den Teilleistungscharakter der Pflegeversicherung be-rücksichtigen und zum anderen für die Pflegenden handhabbare Da-ten für die professionelle Pflegeplanung liefern.

Zunächst ist de lege ferenda die Forderung aufzustellen, dass im Sta-dium der individuellen Begutachtung von Pflegebedürftigkeit eine strik-te Trennung erfolgt zwischen der Erhebung von Pflegebedürftigkeit

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und der leistungsrechtlichen Zuordnung des daraus abzuleitenden Pflegebedarfs. Die leistungsrechtliche Zuordnung der gewollten und erforderlichen Leistungen zu den jeweils in Frage kommenden Kosten-trägern steht am Ende des Entscheidungsprozesses und darf für die Begutachtung keine Rolle spielen. Mit dieser grundsätzlichen Abkehr vom bisherigen Verfahren wären die Ergebnisse aus der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit auch zwingend verwertbar für andere Sozial-leistungsträger zu machen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage zu diskutieren sein, inwiefern es sinnvoll ist, künftig noch unter-schiedliche Definitionen von Pflegebedürftigkeit in den verschiedenen Sozialleistungsgesetzen zu formulieren. Eine Vereinheitlichung hätte einen allgemein gültigen Maßstab für Pflegebedürftigkeit zur Folge. Es ist eine heute schon kaum vernünftig kommunizierbare Frage, warum ein und dieselbe Person unterschiedliche Pflegebedürftigkeit aufwei-sen kann, je nach Sichtweise des zuständigen Sozialleistungsträgers (SGB XI; V; IX; XII). Diese Fragmentierung des Pflegebedürftigkeitsbe-griffs führt auch zu einer Fragmentierung der zu erbringenden Leistun-gen und zu vermeidbaren Schnittstellenproblem in der Versorgung Pflegebedürftiger. Die Folgen dieser künstlichen Trennung sind nicht nur Qualitätsprobleme an den Schnittstellen, sondern daraus resultie-ren auch Erhöhung von Kosten und vermeidbarer bürokratischer Auf-wand.

Bei der Ausgestaltung eines auf einem vollständigen Pflegebedürftig-keitsbegriffs basierenden Begutachtungsverfahrens können unter-schiedliche Wege beschritten werden, die hier nur grob skizziert und diskutiert werden können.

Gutachten auf der Basis von Pflegediagnosen?

Sowohl die praktische Pflege als auch die Begutachtung von Pflege-bedürftigkeit bedürfen zur Einschätzung pflegerischer Phänomene einer umfassenden und gezielten Informationssammlung. Pflegediag-nosen sind die Bündelung und Verdichtung dieser gewonnenen Infor-mationen zu einer präzisen Beurteilung pflegerisch relevanter Aspekte des Gesundheitszustands und des Gesundheitsverhaltens. Pflegedia-gnosen fassen zusammengehörige und miteinander in Beziehung stehende Einzelinformationen auf einer abstrakten Ebene zusammen. Probleme und Ressourcen werden auf diese Weise kategorisiert und in einer konzentrierten Kurzform beschrieben und kommuniziert. Entspre-chend den Schwerpunkten der den Pflegediagnosen vorgeschalteten

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Befunderhebung (Assessment) sollen auch in einem ersten Schritt des Pflegeprozesses umfassende Informationen über eine Person syste-matisch zusammengetragen werden. Hierzu gehören die Beschreibun-gen von Auswirkungen des Gesundheitszustandes und Gesundheits-verhaltens auf das Alltagsleben und das Wohlbefinden sowie auf Prob-leme, Fähigkeiten Funktionsstörungen, Bedürfnisse usw. Erfasst wer-den auch körperliche, psychologische, soziale und kulturelle Einfluss-faktoren auf diese Bereiche sowie Auswirkungen auf Dritte, wie z. B. Angehörige.

Das Assessment umfasst Beobachtungen und Einschätzungen von außen und das subjektive Erleben und die Selbsteinschätzung des Pa-tienten sowie von Dritten, wie z. B. den Angehörigen. Dazu zählt auch die Frage, was für die Patienten selbst ein Problem ist.9 Eine Pflegedia-gnose ist eine klinische Beurteilung über die Reaktionen eines Individu-ums, einer Familie oder einer Gemeinschaft auf aktuelle oder poten-zielle Gesundheitsprobleme/Lebensprozesse. Pflegediagnosen bilden die Grundlage zur Auswahl von Pflegeinterventionen zur Erreichung von Ergebnissen, für die Pflegende verantwortlich sind.10 Die Arbeit mit den von der nordamerikanischen Pflegediagnosenvereinigung (NAN-DA) erarbeiteten und fortlaufend weiterentwickelten Pflegediagnosen ist international etabliert; so sind sie für die professionell Pflegenden in der Schweiz und in Österreich obligatorisch.

Als Vorteile der Anwendung von Pflegediagnosen gelten die Verein-heitlichung einer pflegerischen Fachsprache, die systematische Erfas-sung von Pflegephänomenen und die Begründung von Pflegeinterven-tionen.

Bei der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit sind umfassende Infor-mationen über die Auswirkungen des Gesundheitszustandes und Ge-sundheitsverhaltens auf das Alltagsleben und das Wohlbefinden des Betroffenen und über Probleme, Fähigkeiten, Funktionsstörungen, Be-dürfnisse usw. festzuhalten. Mit erhoben werden dabei auch körper-liche, psychologische, soziale und kulturelle Einflussfaktoren auf diese

9 nach D. Sauter, C. Abderhalden, I. Needham. S. Wolff: Lehrbuch Psychiatrische Pflege. Hans Huber, Bern 2004 S. 368

10 NANDA International: NANDA-Pflegediagnosen. Definition und Klassifikation 2005-2006. Hans Huber Bern 2005 S. 335

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Bereiche sowie Auswirkungen auf Dritte. Aus unterschiedlichen Grün-den kann das Instrument zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit selbst nicht die Pflegediagnosen liefern, muss aber über die von ihm gelieferten Informationen anschlussfähig auch für die Arbeit mit Pflege-diagnosen sein. Das Instrument kann nicht mehr sein als eine erste Einschätzung in Form eines Screenings für den weitergehenden Pfle-geprozess. Zudem ist die Pflegediagnostik in Deutschland bislang wenig verbreitet; in der Altenpflegeausbildung wird dieses Thema weder vertiefend und noch praxisorientiert unterrichtet mit der Folge, dass die Pflegepraxis im Umgang mit Pflegediagnosen nicht vertraut ist. Des Weiteren ist die Pflegediagnostik auch relativ zeitaufwändig; ei-ne Begutachtung wäre mit der regelhaften Anwendung von Pflegedia-gnosen nur zur Findung einer Pflegestufe zeitlich überfordert. Die darauf basierende fachgerechte Planung der einzuleitenden Pflege-maßnahmen liegt auch bei Einführung eines erweiterten Pflegebedürf-tigkeitsbegriffs in der Verantwortung der leistungserbringenden Pflege-einrichtung und nicht beim MDK.

Das Begutachtungsinstrument liefert verlässliche Basisinformationen, die für eine Pflege- und Hilfeplanung der Vertiefung durch anerkannte Assessments und Einschätzungsinstrumenten in der professionellen Pflege bedürfen.

Elemente eines neuen Verfahrens

Das inzwischen vorgelegte neue Begutachtungsinstrument11 versteht Pflege als personelle Hilfe für die Person bei der Befriedigung grundle-gender menschlicher Bedürfnisse. Das Instrument berücksichtigt so-wohl körperliche Beeinträchtigungen als auch kognitive/psychische Einbußen und Verhaltensauffälligkeiten, die einen spezifischen Unter-stützungsbedarf nach sich ziehen und/oder für die alltägliche Durch-führung von Pflege ein erhebliches Erschwernis darstellen können. Ausdrücklich einbezogen wird auch die Teilnahme an sozialen, kultu-rellen und weiteren außerhäuslichen Aktivitäten.

11 K. Wingenfeld, A. Büscher, B. Gansweid: Das neue Begutachtungsassessment zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Bielfeld, Münster, Siegburg 2008

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Die ressourcenorientierte Ausrichtung dieses Verfahrens zielt auf die Förderung der Unabhängigkeit der Person ab. Damit werden auch die Grundgedanken der Pflegeversicherung aufgegriffen, wonach die Selbstbestimmung der Betroffenen und Erlangung bzw. Erhaltung von deren körperlichen, geistigen und seelischen Kräften handlungsleitend für Pflege sein sollen. Personelle Hilfe soll in erster Linie zur Förderung der persönlichen Unabhängigkeit zum Einsatz kommen.

Abhängigkeit der Person von anderen Menschen

Maßstab für die Bemessung von Pflegebedürftigkeit ist die Abhängig-keit der Person von anderen Menschen aufgrund ihrer Beeinträchtigun-gen bzw. die Beeinträchtigung der Selbstständigkeit. Das Ausmaß der notwendigen personellen Hilfe ergibt sich aus den Aktivitäts- und Teil-habebeeinträchtigungen, die als Folge der Gesamtheit der Schädigun-gen der Körperfunktionen und –strukturen, einschließlich der psychisch /kognitiven Funktion bestehen.

Vom Gutachter werden künftig zu prüfen sein (vorausgesetzt dieses In-strument findet die politische Zustimmung) die Fähigkeiten der Person, wesentliche Aktivitäten aus dem jeweiligen Lebensbereich selbststän-dig durchführen beziehungsweise steuern zu können.

Im Mittelpunkt der Beurteilung stehen Aktivitäten, die für die Alltagsbe-wältigung in notwendigen Lebensbereichen für jeden Menschen rele-vant sind.

Es wird der Grad der Beeinträchtigung der Person (bzw. ihrer Selbst-ständigkeit) bei der Ausführung der Aktivität bewertet unter der Annah-me, dass die Person diese ausführen möchte. Es ist unerheblich, ob und welche (Pflege-)Leistungen tatsächlich durchgeführt werden.

Das Verfahren selbst regelt nicht die leistungsrechtlichen Grenzen zur Pflegeversicherung, sondern stellt eine umfassende Erhebung dar, die als Grundlage für Berechnungen zu neuen Leistungsgrenzen dienen kann. Auf der Basis des neuen Begutachtungsverfahrens kann die Ver-teilung der Pflegestufen und deren Verknüpfung mit Leistungen nach SGB XI festgelegt werden.

Auf der Basis eines erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Abhängigkeitsmessung von Fremdhilfe soll in modular aufgebauter Weise eine objektive, nachvollziehbare und wiederholbare Abbildung

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der Pflegesituation, der Ressourcen und Probleme der Person erfol-gen, die auch die bisher nicht einbezogenen Menschen mit Demenz mit ihrem spezifischen Hilfebedarf bei der Begutachtung berücksich-tigt. Hierzu gehören insbesondere die Bereiche „allgemeine Beaufsich-tigung und Betreuung“, Beziehungsaufnahme /Kommunikation und Teilhabe. Darüber hinaus werden die Aspekte der Rehabiltitation und der Kinderbegutachtung in die gutachterliche Bewertung einbezogen.

Mit einem derart gestalteten Begutachtungsinstrument lassen sich auch Grade der Selbstständigkeit bei Menschen mit Migrationserfah-rung besser abbilden als bisher. Die Frage der kultursensiblen Infor-mationserhebung wird im Bereich der Schulung der Gutachter anzu-siedeln sein.

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Bedürfnisangepasste Behandlung älterer Migran-tinnen und Migranten - Interkulturelle Öffnung der psychiatrischen Regelversorgung

Murat Ozankan

Werden die bereits eingebürgerten Migranten und Spätaussiedler da-zugerechnet, leben in Deutschland über 15 Millionen Menschen mit einem Migrationshintergrund. Davon stammen ca. drei Millionen ur-sprünglich aus der Türkei und etwa vier Millionen Spätaussiedler aus osteuropäischen Ländern.

Seit inzwischen 50 Jahren gehören diese »Menschen mit Migrations-hintergrund « auch zum Alltag der medizinischen Versorgung. Obwohl die Migration in der heutigen Gesellschaft einen dauerhaften und zu-nehmenden Prozess darstellt und nie abgeschlossen sein wird, ist die Integration der Migranten in das bestehende Gesundheitssystem nach wie vor defizitär.

Wer sich in der Praxis der Gesundheit von Migranten widmet, steht oft vor unbekannten, möglicherweise befremdlichen, in jedem Fall vor Ver-änderungsprozessen als Herausforderung. Diese Herausforderung ha-ben wir in der Migrantenambulanz der RK Langenfeld im März 2004 begonnen und befinden uns mit unserer personellen Situation und un-seren Konzepten in einem Veränderungsprozess. Wenn ich heute den „Ist-Zustand“ unserer interkulturellen Praxis zeige, geht es mir nicht darum, richtiges oder falsches Vorgehen zu deklarieren. Mir ist klar, dass es niemals einen vollkommen einheitlichen Blick bzw. eine alleinige Antwort auf die praktische Umsetzung von interkultureller Kompetenz in der Arbeit geben kann.

Stressfaktoren bei Migranten

Die oft massiven und länger dauernden Stressbelastungen von Mi-granten sind auf sehr unterschiedliche, oft interagierende bzw. kumu-lierende Faktoren zurückzuführen, die nicht selten bereits vor dem Mi-grationsakt anfangen:

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Aufenthalts- und arbeitsrechtliche Belastungen:

Die Ankunftsphase im Gastland ist besonders für Flüchtlinge mit einer hohen existenziellen Verunsicherung verbunden. Oft sind Krankheiten bei der Ankunft bereits chronisch geworden, weil die medizinische Ver-sorgung in den Herkunftsländern schlecht war. Ca. 40 % der Asylsu-chenden leiden an behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belas-tungsstörungen (PTSD).

Viele Migranten leiden unter uneingestandenen familiären Konflikten. Hintergrund bildet oft die eigene Migrationsgeschichte in der Familie: Mehrjährige Trennung der Kinder von den Eltern beim sog. »Pendeln in der Kindheit“: mit häufigem Wechsel der Bezugspersonen, mit zwi-schenzeitlichem Zurückbleiben in der Türkei und daraus resultierende Belastung in der Eltern-Kind-Beziehung. Probleme bei der Erziehung der Kinder, fehlende Möglichkeiten der Begleitung bei der Beschulung, Schwierigkeiten beim Transfer kultureller Werte zwischen der Her-kunfts- und Aufnahmekultur, Erziehungsprobleme mit negativen Folgen wie Drogenkonsum oder Delinquenz können schuldhaft verarbeitet werden.

Bei der Heiratsmigration haben junge Frauen häufig in einer kulturell fremden Umgebung ohne Schutz der in der Türkei zurückgebliebenen Primärfamilie einen schweren Stand, z.B. der Schwiegermutter gegen-über. Männer als Heiratsmigranten können bei fehlender kultureller Kompetenz für die deutschen Verhältnisse die Übernahme der traditio-nellen Führungsrolle meist nicht leisten. Die Ablehnung eines ge-wünschten Ehepartners durch die Familie, Schwierigkeiten geschie-dener oder verwitweter Frauen, aber auch die Trennung von den Eltern oder Tod der Eltern in Abwesenheit der Migranten gehören zu den familiären Belastungen.

Darüber hinaus kommen folgende Faktoren hinzu:

Kommunikationsschwierigkeiten

wenig planbare Zukunftsperspektiven „nächstes Jahr zurück“

schlechtere Qualifikation in Schule und Beruf

ungünstige Wohn- und Arbeitsbedingungen

Arbeitslosigkeit, geringe Anteilnahme am Arbeitsleben, Armut

schlechtere gesundheitliche Versorgung

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Für die Beurteilung der psychosozialen Stressoren sind eine genaue Anamnese des Migrationsprozesses, Schwierigkeiten bei der Anpas-sung an die neue Gesellschaft wie auch ursprünglicher Hoffnungen in Verbindung mit der Migration außerordentlich wichtig. Die migrations-spezifischen Stressoren werden meistens unterschätzt.

Theoretisch haben Migranten, die in der gesetzlichen Krankenversiche-rung versichert sind, dieselben Rechte wie die Deutschen. De facto trifft dies jedoch nicht zu. Mit sehr wenigen Ausnahmen zeigen natio-nale und internationale Untersuchungen eine - zum Teil erhebliche – niedrigere Inanspruchnahme psychiatrischer Einrichtungen durch Migranten im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung. Durch ihre oft unzureichenden Deutschkenntnisse, Angst vor Stigmatisierung, Scham und Diskriminierungserfahrungen, Defizite in der Gesundheitsaufklä-rung sowie die fehlenden Kenntnisse über die Funktionsweise des deutschen Gesundheitssystems kann ihre Stellung zumindest als er-schwert, eher als benachteiligt bezeichnet werden.

Zahlreiche Hinweise bestätigen, dass es bei dieser Klientel zu einer Überversorgung bezüglich ambulanter Arztbesuche und Facharztkon-takte wie auch apparativer Diagnostik und medikamentöser Behand-lung kommt. Damit werden Gelder unproduktiv in falsche Maßnahmen investiert. Bei Migranten und ihren Behandlern kommt es nicht selten zu Fehlinterpretationen von Krankheitsdarstellungen und –bewertun-gen, die sich aus soziokulturell differierenden Kontexten ergeben. Auf Seiten der „Versorger“ erschwert eine meist biomedizinisch, somatisch ausgerichtete, einseitige Krankheitsbehandlung die Situation. Gleich-zeitig sind psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungsan-gebote nur unterdurchschnittlich genutzt, und Überweisungen aus dem Bereich der somatischen Medizin in die Psychiatrie oder psycho-soziale Versorgung erfolgen – wenn überhaupt – zu spät bei bereits bestehender Chronifizierung. Was für die psychiatrische Versorgung festgestellt wurde, gilt grundsätzlich auch für die psychotherapeutische Behandlung. Ambulante Psychotherapie mit Dolmetschereinsatz ist trotz aller damit verbundenen Probleme eine Hilfe, wird aber von den Krankenkassen nicht finanziert. Somit sind Menschen mit geringen Kenntnissen der deutschen Sprache von der psychotherapeutischen Versorgung nahezu ausgeschlossen.

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Bedürfnisangepasste Behandlung in der Migrantenambulanz der Rheinischen Kliniken Langenfeld

Unser Angebot zur Überwindung von Zugangsbarrieren des öffentli-chen Gesundheitsdienstes hat März 2004 begonnen und bisher einen recht erfolgreichen Verlauf genommen. Es geht um die Erweiterung in der interkulturellen Öffnung durch die Einstellung von Fachpersonal mit direkten oder indirekten Migrationserfahrungen, die sowohl die Kultur, die Systeme und Sprache von Deutschland als auch ihres Herkunfts-landes kennen und die erlebt haben, was es für die eigene Identität, Entwicklung und Lebensplanung bedeutet, in einer Gesellschaft als Mi-granten zu leben.

Die interkulturelle Öffnung stellt einen Prozess dar, der eine finanzielle und politische Grundlage braucht. Für das Fortbestehen der Migran-tenambulanz über die Modellphase hinaus war von Beginn an die Vor-aussetzung zu erfüllen, dass sich das Projekt finanziell selbstständig trägt. Der Träger hat den günstigen Zeitpunkt im politischen Willen zur deutschen Einwanderungspolitik genutzt, um die ihm bekannte geringe Inanspruchnahme der psychiatrischen Hilfsangebote durch Patienten/-innen mit Migrationshintergrund anzugehen. Obwohl im Jahr 2002 im Versorgungsgebiet der insgesamt neun Rheinischen Kliniken der Anteil der Migranten/-innen an der Gesamtbevölkerung etwa 11 bis 13% war, entsprach ihr Anteil an den stationären Aufnahmen nur 3,9 %. Frauen waren sogar nur mit 3% vertreten. Besonders in Tageskliniken (Anteil 2,4 %) und in den Psychotherapiestationen (Anteil 2,1%) sind Migran-ten/-innen unterrepräsentiert, einen höheren Anteil finden wir nur im forensischen Bereich mit knapp 10%.

Unsere Zielgruppe in der Migrantenambulanz

Unser Behandlungsangebot richtet sich vorrangig an Türkisch und seit April 2007 an Russisch sprechende Patienten. Andere Nationalitäten bilden kein Ausschlusskriterium, etwa 5% kommen aus anderen Län-dern wie Marokko, Iran, Polen, Griechenland, ehem. Jugoslawien.

Ein wichtiger Schwerpunkt der Migrantenambulanz ist die Behandlung der Altersdepressionen und beginnende Demenzen. Gesundheitliche

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Beeinträchtigungen setzen bei Migranten aufgrund von Belastungen in ihrer Biographie und Lebensbedingungen häufig früher ein als bei den „deutschen Alten“.

Die Familie, die nun in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt hat, führt bei den meisten älteren Migranten zum Verzicht einer Rückkehr in die Herkunftsländer. Es ist eher mit einer verstärkten Pendelmigration als mit einer dauerhaften Rückkehr zu rechnen, und dies ist auch häufig zu beobachten. Die Studie „Private Hilfenetze“ von Schubert belegt, dass das Klischee, die Migranten hätten große Familien und seien unterei-nander sehr hilfsbereit und sorgten selbstverständlich für ihre Angehö-rigen, nicht mehr uneingeschränkt gültig ist (Schubert, 1990). Bei den Angeboten kultursensibler Altenhilfe und Altenpflege sind in den letzten Jahren in einigen Bundesländern Fortschritte zu verzeichnen, die zum Teil strukturbildenden Charakter haben. Allerdings kann bisher noch nicht von einer umfassenden und systematischen kultursensiblen Ver-sorgungslage ausgegangen werden.

Die Migrantenambulanz der Rheinischen Kliniken Langenfeld arbeitet als Spezialambulanz auf eine Integration hin, d. h. durch Vermittlungen innerhalb der Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesen bildet die Migrantenambulanz eine Brücke im Netzwerk der Versorgungsinsti-tutionen und schließt damit eine Bedarfslücke, indem sie für eine spe-zielle Zielgruppe den Zugang ins Versorgungssystem öffnet. Diese Auf-gabe nehmen wir insbesondere auch in der Behandlung der psychisch erkrankten älteren Migranten wahr. Der Mangel an Sprachkenntnissen ist bei ihnen größtenteils trotz des langen Aufenthaltes in der BRD auf-rechterhalten.

Behandlungsangebote der Migrantenambulanz

Psychiatrische Behandlung inkl. Diagnostik und Pharmakothe-rapie unter Einbeziehung der Angehörigen und der Betreuer in den komplementären Diensten stellt unsere wichtigste Aufga-be dar. Die Diagnostikphase umfasst meist die ersten fünf Sitzungen à 40 Minuten, bei der biographische, fremdanam-nestische Aspekte und der bisherige Behandlungsverlauf erhoben werden. Hierbei fällt uns auf, dass insbesondere wahnhafte Depressionen als Psychosen verkannt wurden.

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Kurz zur Pharmakotherapie: Bei ambulanten Erstgesprächen, zu dem die Patienten/-innen ihre Medikamente mitbringen sollten, waren sehr hohe Angaben bezüglich des Medikamentenkonsums festzustellen. Die Anzahl der mitgebrachten Schachteln gab Hinweise auf häufige Wechsel der Präparate wie auch auf eine schlechte Compliance be-züglich der Medikation. Nicht selten waren die Medikamentenver-packungen kaum angerührt worden oder die Medikation wurde bereits nach einmaliger Einnahme von den Patienten wegen »Unverträglich-keit« ohne Rücksprache mit den Behandlern abgesetzt. Es war auch wahrscheinlich, dass den Patienten mehrere behandelnde Ärzte ohne Wissen voneinander Medikamente verordnet hatten.

Beratung und Informationsgespräche finden oft in externen Institutionen wie Arbeiterwohlfahrt, Moscheevereinen statt und stellen einen wichtigen Aspekt unserer aufsuchenden Arbeit dar.

Bei Krisenintervention in akuten Notlagen erfolgten bisher ca. 60 stationäre Krankenhauseinweisungen, keine davon gegen den Willen der Patienten.

ambulante Arbeitstherapie in Zusammenarbeit mit der Abt. für Ergotherapie

Beratungstätigkeit zugunsten der Stationen, der Tagesklinik und Suchtambulanz der Rheinischen Kliniken Langenfeld sowie externer Institutionen, die sich interkulturell öffnen möchten.

Interkulturelle Supervision: Einmal monatlich steht allen thera-peutischen Mitarbeitern der Klinik die Teilnahme an einer "Su-pervisions-Werkstatt" offen. Diese Maßnahmen wurden eingeleitet, um die allgemeinfachliche Kompetenz aller Mitarbeiter der Rheinischen Kliniken Langenfeld in Bezug auf Migration-spezifische Themenstellungen zu sensibilisieren.

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Voraussetzungen für die Behandlung

Hier kommt die Niederschwelligkeit am Deutlichsten zum Ausdruck. Beim telefonischen Erstkontakt spielen die muttersprachlichen Kennt-nisse der Mitarbeiter eine wesentliche Rolle.

Die Terminvereinbarung in der Migrantenambulanz erfolgt auf Nachfrage von Patienten, Hausärzten, Angehörigen oder Betreuern (aus Köln, Bonn, Duisburg, Gelsenkirchen, Krefeld)

Die Überweisung der Patienten erfolgt durch Hausärzte und andere Fachärzte

Die Abrechnung erfolgt mit den gesetzlichen Krankenkassen über Fallpauschale pro Quartal; Abrechnung der psychothera-peutischen Behandlung über Krankenschein.

Mitarbeiter der Migrantenambulanz

Derzeit wird die muttersprachliche bzw. interkulturelle Kompetenz von insgesamt sieben türkisch- und russischsprachigen Mitarbeitern ver-treten.

Kooperationspartner der Migrantenambulanz

Wie bereits dargestellt, bewegen wir uns in unserer Arbeit in Netzwer-ken. Unsere fachübergreifenden Kooperationspartner, mit denen wir in regelmäßig in „face to face“-Kontakt stehen, sind u.a.:

Niedergelassene türkisch- und russischsprachige Ärzte ver-schiedener Fachrichtungen.

Gesundheitszentrum für MigrantInnen Köln

Arbeitskreis türkischsprachiger Psychotherapeuten (www.aktpt.de), ein unabhängiger Zusammenschluss von Psychotherapeuten unterschiedlicher Berufsgruppen.

Die Deutsch-Türkische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychothe-rapie und Psychosoziale Gesundheit e.V.

Sozialpsychiatrische Zentren – Familienberatung

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Informations- und Kontaktstelle für die Arbeit mit Älteren Mi-granten (IKoM)

Arbeiterwohlfahrt – Internationale Beratungs- und Betreuungs-zentren für MigrantInnen

Caritasverband - Internationaler Sozialdienst Therapiezentrum für Folteropfer

Psychosoziales Zentrum für ausländische Flüchtlinge.

Berufliches Therapiezentrum Köln

Kipkel e.V.: Präventionsprojekt für Kinder psychisch kranker Eltern

Früherkennungs- und Therapiezentrum für schizophrene Erkrankungen

Inanspruchnahme der Migrantenambulanz

Mit dem bestehenden Angebot konnte eine deutliche Reduzierung der Schwellenangst erreicht werden: Bis September 2007 wurden in der Migrantenambulanz der Rheinischen Kliniken Langenfeld ca. 4.000 Pa-tienten mit Migrationshintergrund behandelt. Der Anteil an Neuzugän-gen pro Quartal ist sehr hoch (46%). Hierunter sind auch die Patienten zusammengefasst, welche im Erstgespräch keine Behandlung, aber eine Versorgung mit ärztlichen Attesten zur Vorlage bei Behörden wün-schen, was wir ablehnen. Ebenso welche, die bereits nach einem Be-ratungsgespräch in die komplementären Einrichtungen weitervermittelt werden.

Genutzt wird unser ambulantes Angebot vor allem von Frauen. Tür-kisch sprechende Patientinnen machten etwa zwei Drittel der Klientel der Migrantenambulanz aus (bei den russischsprachigen Patientinnen sogar 3/4). Dies ist insoweit bemerkenswert, als im stationären Kontext zu etwa 3/4 türkischsprachige Patienten behandelt werden. Ein mögli-cher Grund hierfür könnte sein, dass Migrantinnen aufgrund familiärer Verpflichtungen bzw. Erwartungen es sich meist nicht leisten können, sich für einen längeren Zeitraum vom familiären Umfeld zu entfernen.

Die Migrantenambulanz versorgt Patienten ambulant weit über die Sek-torgrenze unserer Klinik hinaus. Diese Patienten sind durch ihre

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sprachliche Situation anders mit den Behandlern verbunden als dies der Fall wäre, wenn sie ausreichend Deutsch sprechen könnten. Viele unserer Patienten suchen uns auf, weil sie keine ausreichende sprach-liche Verständigungsmöglichkeiten bei den niedergelassenen Kollegen finden. Einigen ist es sehr wichtig, sich in ihrem kulturellen Kontext leicht vermitteln zu können und nicht auf vermeintliche Ablehnung oder Unverständnis zu stoßen.

Tabelle 1: Diagnosenübersicht

Diagnosen (n=500) Fallzahlen

F00-F09 Organische einschl. symptomatischer psychischer Störungen

62

F10-F19 Psychische- und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

23

F20-F29 Schizophrenie, schizotype - und wahnhafte Störungen

78

F30-F39 Affektive Störungen 105

F40-F49 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

201

F50 Essstörungen 4

F60-F69 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

14

F70 Intelligenzminderung 13

Das diagnostische Spektrum erstreckt sich über Anpassungsstörun-gen vorwiegend depressiver Prägung, über akute und chronische Psy-chosen auch zu Patienten mit Erkrankungen aus dem Gerontopsychia-trischen- und Suchtbereich. Diese Aufgabe nehmen wir insbesondere auch in der Behandlung der psychisch erkrankten älteren Migranten wahr.

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Unsere Entwicklungsperspektiven

Personelle Erweiterung des ambulanten Angebots durch ver-schiedene Berufsgruppen wie Ärzte, Psychologen, Sozialar-beiter mit unterschiedlicher kultureller und sprachlicher Zuge-hörigkeit. Allen voran steht unser Bedarf an sozialarbeiterischer Fachpräsenz.

Erweiterung der Ambulanz durch sowohl ein stationäres als auch ein tagesklinisches Angebot für Patienten mit Migrations-hintergrund.

In der Planung ist derzeit das Modell einer „integrierten Station“, die für jeweils eine kleinere Gruppe von Migranten auch muttersprachliche spezifische Angebote hat.

Kooperation der Migrantenambulanz mit externen Leistungser-bringern (Konsiliarärztliche Tätigkeit)

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Unterstützungsbedarf für demenziell erkrankte Migrantinnen und Migranten und deren Angehörige – Gründung eines Demenz-Servicezentrums für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte

R. Streibel-Gloth

Demenziell erkrankte Migrantinnen und Migranten sind eine bislang bundesweit vernachlässigte Gruppe, die bisher nicht im Fokus der De-menzforschung, der Pflege und Unterstützung leistenden Institutionen und der Gesundheitspolitik stand. Dazu kommt, dass auch bei den Mi-grantinnen und Migranten selbst Demenz als Krankheit weitgehend un-bekannt ist.

Im Land NRW wird seit Februar 2002 zunächst mit Mitteln der Stiftung Wohlfahrtspflege, zurzeit mit Mitteln des Ministeriums für Generationen, Frauen, Familie und Integration die Arbeit des Projekts „Demenz und Migration“ der Arbeiterwohlfahrt unterstützt.

Im Rahmen dieser Projektarbeit wurde eine Anlauf-, Clearing-, Informa-tions- und Vermittlungsstelle in Gelsenkirchen aufgebaut. Der Wir-kungsgrad des Projekts geht dabei weit über Gelsenkirchen hinaus.

Für demenziell erkrankte Menschen mit Zuwanderungsgeschichte so-wie deren Angehörige ergibt sich aus den nachfolgend aufgeführten Begründungszusammenhängen ein besonderer, ergänzender Unter-stützungsbedarf.

1. Zahlenmäßiger Umfang:

Die Alzheimer-Gesellschaft sagt zum zahlenmäßigen Umfang demen-zieller Erkrankungen generell:

„An einer Demenz leiden in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen – mit steigender Tendenz. Der Grund: Das Risiko steigt mit dem Alter. So leidet im Alter zwischen 65 und 69 Jahren jeder Zwanzigste an einer Demenz, aber zwischen 80 und 90 ist schon fast jeder Dritte betroffen. Weil in unserer Gesellschaft der Anteil älterer Mitbürger zunehmen

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wird, erwartet man auch eine Zunahme an Demenzkranken. So rech-nen Experten für das Jahr 2030 mit 2,5 Millionen Betroffenen.“

In ähnlicher Weise äußert sich die CDU-Fraktion im Landtag NRW in ihrer Anfrage vom 12.02.2004:

“Demenz ist eine typische Erkrankung des Alters. Die Zahl der Demenz -Erkrankungen ist dementsprechend stark angestiegen. In Deutsch-land leben gegenwärtig 1,2 Millionen Demenzkranke; zwei Drittel von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Vermutlich ist die Dunkelziffer erheblich höher, da die Erkrankung oft als natürlicher Al-terungsprozess missdeutet und daher ohne entsprechende Diagnose hingenommen wird. Jedes Jahr kommen ca. 200.000 neue demenzi-elle Erkrankungen hinzu, wobei allein 135.000 auf die Alzheimer-Krank-heit entfallen. Ebenso viele Menschen sterben jährlich an den Folgen der Krankheit. Zwischen Diagnose der Krankheit bis zum Tod der Be-troffenen vergehen in der Regel sieben Jahre. In den stationären Ein-richtungen beträgt der Anteil der Bewohner mit einer demenziellen Er-krankung bereits jetzt weit über 50 Prozent.

Für das Jahr 2050 werden mehr als zwei Millionen Krankheitsfälle er-wartet, sofern keine nachhaltigen Fortschritte in Forschung und Prä-vention gelingen. Diese Entwicklung wird zu einer Reihe von neuen, bisher ungelösten Problemen im Bereich der pflegerischen und ge-sundheitlichen Versorgung führen. Schon jetzt stellt das Ausmaß der Demenzerkrankungen eine große Herausforderung für Gesellschaft, Medizin, Pflegebereich und Politik dar.“

Diese Aussagen gelten in gleicher Form auch für die Gruppe der hier lebenden und älter werdenden Migrantinnen und Migranten: Sie sind in gleicher Weise betroffen und gefährdet. Verschärfend kommt für diese Gruppe hinzu, dass die Sozialforschung bei der Gruppe älter werden-der Migrantinnen und Migranten generell davon ausgeht (und dies be-legt hat), dass Alterungsprozesse aufgrund der Migrationsbiografie und aufgrund der Lebenssituation insbesondere der ersten Generation der damaligen „Gastarbeiter“ früher einsetzen: Während man bei älter werdenden Deutschen von einsetzenden Alterungsprozessen im Alter von 60 bis 65 Jahren ausgeht, wird bei der Gruppe der Migrantinnen und Migranten von einsetzenden Alterungsprozessen im Alter ab 55 Jahren ausgegangen.

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Das heißt, dass auch Prozesse demenzieller Erkrankungen früher ein-setzen können.

Erste Erfahrungen des Projekts „Demenz und Migration“ deuten in diese Richtung: Die „jüngste“ betreute Person war zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme zur Beratungsstelle gerade 54 Jahre alt.

Die Demenzforschung hat sich bisher nicht in breiter Weise des Themas angenommen. So gibt auch die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Robert-Koch-Institut, „Heft 28 – Altersdemenz“ aus dem Jahr 2006 keinen Hinweis auf Daten und Fakten zu dieser besonderen Zielgruppe. Gleiches gilt für eine Veröffentlichung der Beauftragten der Bundesre-gierung für Migration, Flüchtlinge und Integration „Gesundheit und In-tegration – Ein Handbuch für Modelle guter Praxis, 2006“: Auch hier fand der bundesweite Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesund-heit offenbar keine Veranlassung, das Thema Demenz und Migration aufzugreifen. Auch die Expertise des Deutschen Zentrums für Altersfragen „Ältere Migranten in Deutschland – Befunde zur soziodemografischen, sozio-ökonomischen und psychosozialen Lage …“ (2005) im Auftrag des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gibt keine Hinweise zur Situation der hier infrage stehenden Menschen.

Allerdings wird hier hinsichtlich der gesundheitlichen Situation ausge-führt, „ein genereller Unterschied im Gesundheitszustand zwischen Ausländern und Mehrheitsgesellschaft ist nicht zu belegen“, was die Hypothese unterstreicht, dass Migrantinnen und Migranten in gleicher Weise wie Menschen ohne Migrationshintergrund von demenziellen Er-krankungen betroffen sind bzw. sein können.

Insofern verfügen wir über keine validen Daten hinsichtlich der alters-spezifischen Prävalenz oder zur Inzidenz der Demenz bei der Gruppe der Migranten.

2. Besonderer Unterstützungsbedarf

Bei der Zielgruppe der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ergibt sich gegenüber der Gruppe der deutschen demenziell Erkrankten unter folgenden Aspekten ein besonderer Unterstützungsbedarf:

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2.1 Sprachliche und lebensweltliche Aspekte:

Ein Phänomen der Demenz ist der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses und die Beschränkung des Erinnerungsvermögens auf Begebenheiten aus der Kindheit und der Jugend des Menschen.

In dieser Zeit spielte die deutsche Sprache bei den Menschen mit Zu-wanderungsgeschichte i.d.R. keine Rolle, sie lebten in der Türkei, im damaligen Jugoslawien, in Polen, in den Staaten der damaligen Sow-jetunion, um nur die Länder zu nennen, aus denen die meisten dieser Menschen stammen. An die deutsche Sprache, selbst wenn sie sie im Laufe ihres späteren Lebens gut erlernt haben, können sich also diese Menschen nicht erinnern; sie können demzufolge nicht in Deutsch kommunizieren und so nicht angesprochen werden.

Das bedeutet, es bedarf muttersprachlicher Fach- oder Betreuungs-kräfte, die sich in der jeweiligen Muttersprache mit den erkrankten Menschen beschäftigen und austauschen können.

Gleiches gilt für lebensweltliche Aspekte hinsichtlich der Raumgestal-tung, der Arbeit mit Düften und Gerüchen, des Einsatzes von Musik oder Beschäftigungsmaterialien: Auch diese müssen kulturell an die je-weilige Herkunft der Menschen, ihre Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend angepasst sein, um einen Zugang zu diesen Menschen er-reichen zu können.

Das Projekt Demenz und Migration hat mit den so genannten Erinne-rungskarten mit Sprichwörtern in türkischer, russischer und polnischer Sprache sowie mit einer Musik-CD mit türkischen Volksliedern dazu erste Beispiele vorgelegt.

2.2 Kulturell angepasste Informations- und Aufklärungsmaterialien:

Die hierzulande gängigen Informations- und Aufklärungsmaterialien zum Thema Demenz liegen i.d.R. in deutscher Sprache vor und gehen von hiesigen Lebensverhältnissen aus.

Insofern passen sie nicht zur Lebenssituation der Menschen mit Zu-wanderungsgeschichte und müssen sowohl sprachlich als auch in-haltlich kulturell angepasst werden. Da - wie schon oben ausgeführt -bei der Zielgruppe Demenz als Krankheit weitgehend unbekannt ist, sind diese Materialien umso bedeutsamer.

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Auch hierzu hat das Projekt „Demenz und Migration“ erste Beispiele vorgelegt.

Neben der Information und Aufklärung für Betroffene und Interessierte bedarf es in gleicher Weise auch der Aufklärung von Institutionen in den Strukturen des Gesundheitswesens. Auch hier wird in aller Regel das Problem nicht gekannt oder nicht rechtzeitig erkannt und demzu-folge auch nicht entsprechend behandelt.

Zahlreiche Gespräche der Fachstelle der AWO mit Ärzten, Kranken-häusern, in örtlichen Arbeitsgemeinschaften und Demenzinitiativen be-legen dies.

2.3 Kulturell angepasste Pflege und Versorgung

Die Pflege und Versorgung demenzkranker Menschen ist für Angehöri-ge und Fachpersonal eine hohe Herausforderung. Im bereits zitierten Antrag der Fraktion der CDU im Landtag NRW (2004) wird ausgeführt „Demenzkranke sind keine homogene Gruppe mit gleichartigen Be-dürfnissen. Deshalb müssen die Hilfsangebote auf den je nach Art und Verlauf der Erkrankung unterschiedlichen Betreuungsbedarf abge-stimmt werden. …..Grundsätzlich sollten die Hilfe- und Versorgungs-leistungen für Demenzkranke möglichst wohnortnah zur Verfügung ge-stellt werden, um die Kontinuität in den Lebensumständen des einzel-nen Betroffenen soweit wie möglich zu erhalten.“ Für die Gruppe von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gilt dies in gleicher Weise. Dem unterschiedlichen Betreuungsbedarf ist demzufolge in kulturell angepasster Weise im Sinne von transkultureller Pflege Rechnung zu tragen. Die zahlreichen nicht-medikamentösen Interventionsstrategien, die sich positiv auf die Krankheitsbewältigung, das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Betroffenen sowie ihrer Betreuungspersonen aus-wirken können, sind ohne interkulturelle Kompetenz des Fachperso-nals und der infrage kommenden Institutionen nicht umzusetzen.

2.4 Besondere Formen der Tabuisierung:

Die Erkrankung eines Angehörigen an Demenz ist bei allen Betroffenen mit hohen Tabus belegt: Man redet nicht gern darüber, schämt sich teilweise ob dieser schweren und unheilbaren Erkrankung und ent-

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wickelt Schuldgefühle. Dies gilt in ähnlicher Weise für Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Bei Menschen mit Zuwande-rungsgeschichte kommen allerdings erschwerende Faktoren hinzu, die das Dilemma vergrößern:

Islamische Gelehrte und Hocas verbreiten oftmals aus eigener Unwis-senheit die Information, Demenz sei eine ansteckende Krankheit, sie sei vererblich und die Menschen, die daran erkranken, seien von Allah gestraft, weil man nicht in Würde, Anstand und Glaube gelebt habe. Dies trägt zusätzlich dazu bei, dass erkrankte Menschen zu Hause „versteckt“ werden, Familien nicht offen mit der Erkrankung umgehen können und demzufolge sich auch sehr schwer tun, Rat und Hilfe zu suchen oder anzunehmen.

Besondere Bedeutung kommt auch dem mit der demenziellen Erkran-kung einhergehenden Rollenverlust als Vater und Familienoberhaupt oder als Ernährer bzw. als Mutter und Ehefrau mit erheblichen Proble-men im familiären Zusammenleben zu.

Zurate gezogene Ärzte erkennen oftmals die Erkrankung nicht korrekt (siehe Diagnostikverfahren 2.5.), diagnostizieren oder beraten falsch, was zu zusätzlichen Verunsicherungen in den Familien führt.

Erfahrungen des Projekts „Demenz & Migration“ ergaben in diesem Zusammenhang, dass es in einem Extremfall allein ein halbes Jahr Un-terstützungs- und Beratungsarbeit dauerte, bis die bereitwillige Tochter einer Familie den „gesunden“ Vater davon überzeugen konnte, für die erkrankte Mutter Rat und Hilfe in Anspruch zu nehmen.

2.5 Demenzdiagnostikverfahren bei Migrantinnen und Migranten

Während auch generell Defizite in der Früherkennung und Diagnostik von Demenzerkrankungen zu konstatieren sind, gilt dies in besonderer Weise für Menschen mit Migrationshintergrund:

In der Arbeit des Projekts Demenz & Migration ergaben sich immer wieder Anfragen von Ärzten und Kliniken, oft genutzte Diagnosever-fahren in die türkische Sprache zu übersetzen, weil man erkannt hatte, dass man ohne dies mit den gängigen Verfahren nicht weiter kam.

In der Folge haben wir uns in enger Zusammenarbeit mit einer tür-kisch-stämmigen Diplom-Psychologin mit der Übertragbarkeit von

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Diagnose- und Screeningverfahren auseinander gesetzt und eine qualifizierte Stellungnahme zum Thema herausgegeben (Positionen zu Demenzdiagnostikverfahren bei Migrantinnen und Migranten, AWO BV Westliches Westfalen e.V., 2006).

Fazit ist, dass nach unserem Dafürhalten auf grund der Sprachlastig-keit aller Testverfahren und den angenommen normierten Bildungsvor-aussetzungen der zu testenden Menschen nahezu alle Testbatterien und Kurztests bei der Anwendung auf die Gruppe türkischer Patienten hinfällig werden. Die Sprachfähigkeit der türkischen Patienten, ihr Al-phabetisierungsgrad und ihr meist niedriges Bildungsniveau sind häu-fig Ursache hierfür. Das Hinzuziehen von Dolmetschern, meist Fami-lienangehörige, bedeutet eine große Gefahr von Fehlinterpretationen und Fehldiagnosen.

Die Normstichprobe der gängigen Testverfahren unterscheidet sich zu-dem fundamental von der Gruppe der türkischen Migrantinnen und Mi-granten der ersten Generation. Damit ist festzuhalten, dass die vorlie-genden Testverfahren zur Diagnostik nicht anwendbar sind.

Eine kultur- und bildungsspezifische Anpassung der Testverfahren an die unterschiedlichen Migrantengruppen und eine Modifizierung sind dringend notwendig, um eine Normierung und damit Auswertbarkeit zu erreichen.

Eine reine Übersetzung von Testverfahren ist daher nicht sinnvoll und unterstützenswert.

Hier sind weitere Entwicklungen notwendig, die vom Demenzservice-Zentrum für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte unterstützt wer-den können.

2.6 Fehlende Versorgungsketten

Während „deutsche“ Familien im Idealfall auf tragfähige Versorgungs-strukturen, zum Beispiel bestehend aus ambulanten Pflegediensten, Tagespflegeeinrichtungen, niedrigschwelligen Betreuungsangeboten, entlastenden Angeboten für pflegende Angehörige bis hin zu stationä-ren Angeboten zurückgreifen können, gilt dies für betroffene Familien mit Zuwanderungsgeschichte so nicht.

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Die häusliche Versorgung ist nicht nur nicht attraktiv, sondern Versor-gungsketten - wie oben beschrieben - sind selbst im Ansatz bisher nicht gegeben.

Es bedarf also des Aufbaus von kulturell angepassten Versorgungs-formen, wobei insbesondere familienentlastende Angebote, Maßnah-men zur Motivation und zur Unterstützung bürgerschaftlichen Engage-ments und Materialien zur Information und Aufklärung im Vordergrund des Interesses stehen sollten.

2.7 Produktentwicklungen

Produkte und Materialien zu den vorgenannten Themen lagen in der Vergangenheit für bzw. über die Zielgruppe nicht vor. Das Projekt „De-menz & Migration“ hat hier eine Reihe erster Beispiele vorgelegt, die in der Anlage aufgelistet sind.

Hier besteht weiterer Bedarf, diese Produktentwicklung fortzuführen: Zum Beispiel gibt es u. a. immer Anfragen, ein kulturspezifisch ange-passtes Memory-Spiel zu entwickeln.

Auch die Übertragung von Ratgebern, Wegweisern und Ähnlichem mehr steht in diesem Zusammenhang auf der Agenda.

3. Aktuelle Situation

Aus den vorgenannten Gründen und Argumentationszusammenhän-gen ergibt sich für die Situation in NRW ein ergänzender Bedarf zur ad-äquaten Versorgung demenziell erkrankter Menschen mit Zuwande-rungsgeschichte. Die Landesinitiative Demenz-Service NRW greift in bislang einzigartiger Weise das Thema Demenz auf; die zehn Demenz-Servicezentren in NRW bilden eine hervorragende Grundlage für die Unterstützung und Versorgung demenziell erkrankter Menschen und deren Angehöriger. Das Dialogzentrum Demenz untermauert dies mit wissenschaftlichem Fachverstand und der Förderung des Dialogs und Transfers zwischen Forschung und Praxis.

Mit der Koordinierung durch das Kuratorium Deutsche Altershilfe hat eine bundesweit anerkannte Stelle diese Aufgabe übernommen.

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Seit Dezember 2007 ist das Projekt Demenz & Migration in die Landes-initiative Demenzservice NRW einbezogen. Aus dem früheren Modell-projekt wurde ein so genanntes „Demenz-Servicezentrum für Men-schen mit Zuwanderungsgeschichte“, in dem die Fachkompetenz, das Know-how und die ersten gewonnenen und erprobten Verfahren und Erfahrungen des Projekts Demenz & Migration mit der Fachstelle in Gelsenkirchen einbezogen werden und die Angebotspalette im Land in richtiger und notwendiger Weise ergänzt wird.

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Was geht gerade noch? Kognitives Screening bei älteren türkischen Migranten

J. Kessler, M. Ozankan, Ö. Onur

Von den in den sechziger Jahren im Zuge des Abwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland gekommenen türkischen Mi-granten haben viele schon das Rentenalter erreicht. Es ist zu vermuten, wenn auch nicht belegt, dass die bekannten altersabhängigen Präva-lenz- und Inzidenzraten von Demenzen auch auf diese Migrationsgrup-pe zutreffen und dass die primär degenerativen Demenzen, die vasku-lären und die sekundären Demenzen einem ähnlichen Verteilungsmus-ter folgen wie bei der deutschen Bevölkerung. Die unterschiedliche zu-grunde liegende Pathologie dieser verschiedenen Demenzformen führt zumindest bis zu einer mittleren Krankheitsausprägung zu neuro-psychologischen Prägnanztypen, die beim Fortschreiten der Erkran-kung wieder ihre Konturen verlieren. Eine Bildgebung wie PET und 18-FDG kann viele diagnostische und differenzialdiagnostische Hinweise liefern, es ist in der Regel jedoch nicht verfügbar oder zu teuer. Weiter-hin werden Patienten mit leichten Demenzausprägungen oder mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen bei einer Routineinspektion der Bildgebung in der Regel nicht erkannt.

Kognitive Screeningverfahren können in der Demenzdiagnostik sehr hilfreich sein. Nach einer Arbeit von Gifford und Cummings (1999) er-höht sich die Wahrscheinlichkeit eine Demenz zu erkennen von 25 % auf 80 %. Nur im deutschsprachigen Raum gibt es bis dato kein publi-ziertes und verfügbares Instrument für ältere türkische Migranten. Zu-dem sind einige Besonderheiten zu beachten.

Ältere türkische Migranten

sind oft funktionelle Analphabeten

weisen eine geringe Bildung auf

haben nur geringe Deutschkentnisse

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Es gibt

familiär kulturabhängige Faktoren

eine möglicherweise geänderte Krankheitswahrnehmung und -zuschreibung

Beim Krankheitsverständnis bei älteren türkischen Migranten ist Ver-schiedenes zu beachten.

Häufig gibt es magische und religiöse Krankheitsvorstellungen, wie z.B. der böse Blick, Besessenheit von Geistern, Einfluss von Zauber, Schicksalhaftigkeit. Oder es gibt naturgebundene Krankheitsvorstellun-gen wie der Einfluss von Witterungen und der Natur.

Häufig vertreten sind auch mechanische Krankheitsvorstellungen, wie z.B. Verrutschen oder Lageveränderung der Organe.

Hinzu kommt das Problem mit dem Dolmetscher. Vasquez und Javier (1991) fanden fünf Fehlerquellen, die im Kontext dieser Interaktion ent-stehen können: Auslassungen, Ergänzungen, unzulässige Verdichtun-gen, Ersetzen von Aussagen und Rollentausch.

Die verfügbaren ADLs (activities of daily living) werden den Lebensge-wohnheiten älterer türkischer Migranten nicht gerecht. Es besteht drin-gender Bedarf zu einer Neukonstruktion. Die Anwendung des Mini-Mental-Status-Tests, das wohl am weitesten verbreitete Screeningver-fahren, ist aus verschiedenen Gründen sehr problematisch. Er ist sehr sprachlastig (Lesen, Schreiben, Rechnen), die Zahlen werden umge-kehrt ausgesprochen und die Kenntnisse über die Aufteilung in die ein-zelnen Bundesländer können nicht vorausgesetzt werden.

Mit dem TRAKUKLA – Transkulturelles Assessment mentaler Leistun-gen – wurde ein kognitives Screeninginstrument für ältere türkische Mi-granten entwickelt. Bis jetzt liegen 90 Datensätze vor, die zu einer Item-analyse verwendet wurden. Der Test ist weitgehend sprachfrei und be-steht bislang aus sieben Untertests, die folgende Domänen erfassen:

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Domänen Umsetzung

1. Visuelle Aufmerksamkeit und figurales Kurzzeitgedächtnis Wiedererkennen (Rekognition mit unmittelbarem Abruf)

Figuren-Rekogni-tionstest Uhren-Zuordnungs-aufgabe

2. Prüfung des figuralen Kurz- und Langzeitgedächtnisses (direkter und verzögerter Abruf)

Paar-Assoziations-lernen I & II

3. Überprüfung der Arbeitsgedächtnis-kapazität (Merkfähigkeit) bei steigender Anzahl von Farbe-Figur-Paaren

Farbe- Figur-Test

4. Teilaspekt des induktiven (schluss-folgernden) Denkens und semantischen Gedächtnisses (Wissen über Fakten und Kategorien)

Zuordnungsaufgabe (Konzeptlernen)

5. Exekutive Funktionen des Arbeitsge-dächtnisses Aufmerksamkeit und Inhibition, Ablauf-organisation, Planen, Überwachen, Aktualisieren und Speichern (vgl. Smith & Jonides, 1999)

Labyrinth-Test

6. Konzentration und geteilte Aufmerksamkeit

(Speed-Komponente)

Symboltest

Zu jedem Subtest gibt es einfache Probeitems, die gelöst werden müs-sen, bevor mit dem eigentlichen Subtest begonnen werden kann. Dies gewährleistet, dass auch bei geringem Sprachverständnis die Instruk-tionen verstanden werden. Als nächster Schritt sollen zur Bestimmung der Spezifität und Sensitivität demenzkranke Türken untersucht werden und die Subtests später auch bei anderen Migrantengruppen erprobt werden.

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Neuropsychologische Untersuchungsmöglich-keiten türkischer Patienten in Deutschland bei Demenzverdacht

Wolfgang Kringler

Kognitive Störungen sind zentrale Symptome demenzieller Erkrankun-gen. Insofern kommt der neuropsychologischen Untersuchung im Rahmen der Demenzdiagnostik eine zentrale Bedeutung zu. Hierbei gibt es wesentliche diagnostische Fragestellungen: Verdachtsdiagno-se, Differenzialdiagnose, Verlaufsuntersuchung. Neben den kognitiven Symptomen können auch nicht-kognitive Symptome vorliegen [1].

Aktuell sind keine fremdsprachlichen Testverfahren bei den großen Testverlagen in Deutschland erhältlich. Anfragen von Kollegen konnten im deutschsprachigen Diskussionsforum (http://de.groups.yahoo.com/ group/neuropsychologie) nur zu einem Bruchteil befriedigend beant-wortet werden. Da der Bedarf in der klinischen Praxis für fremdsprachi-ge Testverfahren offensichtlich wurde, führte dies u.a. zur Gründung des Arbeitskreises „Fremdsprachige Diagnostik“ der Gesellschaft für Neuropsychologie.

Eine Übersicht der „Testverfahren zur Erfassung der kognitiven Leis-tung“ findet sich z.B. in Ivemeyer & Zerfaß [2]. Viele der im Rahmen der Demenzdiagnostik verwendeten neuropsychologischen Untersu-chungsverfahren sind bisher jedoch nur innerhalb eines begrenzten Al-tersbereichs genormt. Zudem können je nach Schweregrad der De-menz zeitlich oder inhaltlich anspruchsvollere Verfahren nicht vollstän-dig durchgeführt werden. Bei Migranten mit eingeschränktem deut-schem Sprachverständnis scheiden bei komplexen Aufgabeninstrukti-onen viele Testverfahren mit verbalem Anspruch aus. Eine ausreichen-de Testfairness scheint hierbei nicht gegeben zu sein.

Zudem sind viele ältere Menschen mit Migrationshintergrund in der Re-gel multimorbid, haben oftmals einen schlechteren allgemeinen Ge-sundheitszustand sowie ein geringeres Bildungsniveau [3]. Auch in an-deren nicht-neurologischen Fachbereichen der Gesundheitsversor-gung, wie z.B. Zahnarzt, Augenarzt, HNO, Orthopäde und Hausarzt fällt mitunter auf: „Irgendetwas stimmt da nicht“. Eine Leitlinie für Haus-ärzte zur Demenzdiagnostik ist auf dem Weg:

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(http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/II/053-021-m.htm). Jedoch sind auch hierbei Menschen mit Migrationshintergrund noch nicht berücksichtigt.

Das Spektrum möglicher klinischer Untersuchungsverfahren umfasst sowohl Screenings als auch ausführliche neuropsychologische Unter-suchungen. Hier ist im Einzelfall zwischen den jeweiligen Vor- und Nachteilen der Verfahren sorgfältig abzuwägen [4]. Das Konsensuspa-pier der deutschsprachigen Memorykliniken [5] schlägt als akzeptable Minimallösung für den ersten diagnostischen Schritt entweder Dem-Tect, MMST und Uhrentest oder die CERAD-Plus vor. Während des Vortrags wurde auf eine Diskussion vom Vormittag Bezug genommen über den zeitlichen Umfang einer neuropsychologischen Untersu-chung. Natürlich kann bei Bedarf die Testung einen ganzen Tag bean-spruchen [6]. Diese Forderung macht jedoch pauschal keinen Sinn.

Insbesondere besteht ein hoher Bedarf an zu entwickelnden oder zu modifizierenden quantitativen als auch qualitativen Testverfahren, die die besondere sprachliche Situation beispielsweise türkischer Patien-ten ausreichend berücksichtigen. Methodisch gesehen gibt es hierbei keinen Grund, von den sonst in der neuropsychologischen Diagnostik üblichen Verfahren abzuweichen [7, S. 431]. Bis zur Entwicklung von geeigneten fremdsprachigen Testverfahren zur Demenzdiagnostik könnte z.B. auf nonverbale Tests ausgewichen werden. Hierbei sind jedoch noch Fragen zur Testoperationalisierung zu bedenken. Als eine Auswahl möglicher Testverfahren wurden der Turm von London in der 3-Kugel-Version, die Standardisierte Link’sche Probe mit Möglichkeit zur Verhaltensbeobachtung, der Fragmentierte Bildertest, Auszüge aus dem Rivermead Behavioural Memory Test, das Cookie-Theft-Picture sowie der Visual Association Test vorgestellt. Wesentlich ist hierbei die Berücksichtigung der Kernsymptomatik von Gedächtnisdefiziten sowie der Einschränkungen des schlussfolgernden Denkens. Professor Danek wies in diesem Zusammenhang ergänzend auf internationale Projekte hin (MoCA sowie DMS48).

Einige deutschsprachige Testverfahren wurden inzwischen ganz oder teilweise übersetzt, jedoch bisher nicht oder nicht ausreichend nor-miert. Nach den Richtlinien für die Übersetzung fremdsprachlicher Messinstrumente [8] sind bei Übersetzungen von Testverfahren folgen-de Aspekte zu berücksichtigen: bilinguale Stichprobe, Rücküberset-

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zung durch bilinguale Experten, Drittvariable. Auf mögliche kulturelle Missverständnisse im Sprachgebrauch wurde hingewiesen, wie z.B. „meine Leber fällt“ [9]. Somit ist z.B. ein gängiger Depressionsfragebo-gen (Geriatrische Depressionsskala) als Selbstbeurteilungsinstrument bei der Differenzialdiagnostik nicht einfach zu übersetzen bzw. dann auch in der Praxis anzuwenden. Daher sollten die entsprechenden Themenbereiche für zu er- oder bearbeitende Testverfahren und ihre praktische Bedeutung in Anbetracht der begrenzten personellen Res-sourcen sorgfältig abgewogen werden. Wohl nur so lassen sich in naher Zukunft qualifizierte neuropsychologische Aussagen insbeson-dere im Rahmen der Früherkennung von Demenzen bei Migranten ge-winnen.

Auf dem Gebiet der Prävention und Früherkennung sowie der neuro-psychologischen Therapie bei Demenz wird noch viel zu tun sein. Auf-klärung in verständlicher Form für die breite Öffentlichkeit ist dringend notwendig, wie Kayhan, C. und Koautoren [10] bei einem Vergleich von deutschen und türkischen Patienten nach einem ischämischen Schlaganfall zeigten. Bei gleicher Behandlung nach dem Schlaganfall waren es vor allem die Faktoren für den Zeitraum vor der medizini-schen Akutbehandlung, die zu unterschiedlichem Outcome führten. Wolf und Weber [11] beziffern die Dauer zwischen retrospektivem Be-ginn und Erstdiagnose einer Demenz zwischen 1,25 und 11 Jahren und führen dies bei Angehörigen auf die Einflussfaktoren von Aufklä-rung, familiärer Rolle und Leidensdruck zurück.

Für die Neuropsychologie wird in der Zukunft wesentlich sein, über die reine Testanwendung hinaus eine integrierende Wertung sowohl der Testergebnisse als auch der Verhaltensbeobachtung sowie der Daten aus Eigen- und Fremdanamnese vorzunehmen und in geeigneter Form anderen Gruppen aus dem Gesundheitsbereich mitzuteilen. Für den Austausch mit den Patienten und den Angehörigen sollte der Un-tersucher unbedingt über kulturelle Gepflogenheiten, Wertvorstellun-gen, aber auch Tabus informiert sein.

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Literatur:

1. Vorstand der GNP, Arbeitskreise der GNP, wissenschaftlicher Beirat der GNP, Gauggel, S., & Sturm, W. (2005). Leitlinien der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) für neuropsychologische Diagnostik und Therapie. Zeitschrift für Neuropsychologie, 16(4), 175-199.

2. Ivemeyer, D., & Zerfaß, R. (2005). Demenztests in der Praxis. Ein Wegweiser (2 ed.). München: Urban & Fischer bei Elsevier

3. Gesundheitsamt Bremen. (2004). Ältere Migrantinnen und Migran-ten in Bremen. Lebenssituation, potenzielle Versorgungsbedarfe und gesundheitspolitische Perspektiven. Bremen: Sozialmedizinischer Dienst für Erwachsene. URL: http://www.loegd.de/1pdf_dokumente/2_gesundheitspolitik_ gesundheitsmanagement/sammlung-kgberichte/zentraler-berichtsserver/bremen/bremen_migranten.pdf.

4. Bodner, T., Jenner, C., & Marsteiner, J. (2002). Neuropsychologie in der Demenzdiagnostik. Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, 15(4), 169-177.

5. Diehl, J., Staehelin, H., Wiltfang, J., Hampel, H., Calabrese, P., Monsch, A., et al. (2003). Erkennung und Behandlung der Demenz in den deutschsprachigen Memory-Kliniken: Empfehlungen für die Praxis. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 36(3), 189-196

6. Lang, C. J. G. (2005). Neuropsychologische Profildiagnostik. Ein Argument zur Überwindung eines Minimalstandards. Fortschritte Neurologie Psychiatrie, 73, 565-567

7. Poeck, K., & Hartje, W. (2006). Demenz. In W. Hartje & K. Poeck (Eds.), Klinische Neuropsychologie (6 ed., pp. 423-434). Stuttgart: Thieme

8. Schmitt, M., & Eid, M. (2007). Richtlinien für die Übersetzung fremdsprachlicher Messinstrumente. Diagnostica, 53(1), 1-2

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9. Yildirim-Fahlbusch, Y. (2003). Kulturelle Missverständnisse. Deutsches Ärzteblatt, 100(18), C928-C930.

10. Kayhan, C., Daffertshofer, M., Mielke, O., Hennerici, M., & Schwarz, S. (2007). Vergleich deutscher und türkischer Patienten mit ischämischem Schlaganfall. Risikofaktoren, Befunde bei Aufnahme, poststationäre Therapie und soziale Konsequenzen. Der Nervenarzt, 78(2), 188-192

11. Wolf, R., & Weber, S. (1998). Einflussfaktoren für eine verzögerte Erstdiagnose bei Demenz-erkrankungen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 31, 209-221.

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Impressum:

Demenz-

Diagnostik und Versorgung bei türkischen Migranten in Deutschland

Beiträge des internationalen Expertengespräches vom 18. bis 20. Januar 2008 in Ingolstadt

Dr. Winfried Teschauer und Dipl.-Psych. Fatma Sürer (Hrsg.)

1. Auflage 100 Stück, Oktober 2008

Druck: Lithoscript GmbH, Ingolstadt

Sämtliche Angaben und Darstellungen in diesem Buch entsprechen dem aktuellen Stand des Wissens und sind bestmöglich aufbereitet. Der Verlag und die Autoren können jedoch trotzdem keine Haftung für Schäden übernehmen, die in Zusammenhang mit Inhalten dieses Buches entstehen.

© Ingenium-Stiftung Ingolstadt 2008

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Korrespondenzadresse

Dr. Winfried Teschauer, Ingenium-Stiftung Ingolstadt, Blücherstraße 39, 85051 Ingolsatdt

[email protected]

www.ingenium-stiftung.de

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