16
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Band 71 Demokratie ohne Dogma Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit Von Theodor Geiger Vierte Auflage durchgesehen und herausgegeben von Manfred Rehbinder Duncker & Humblot · Berlin

Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 71

Demokratie ohne DogmaDie Gesellschaft zwischen Pathos

und Nüchternheit

Von

Theodor Geiger

Vierte Auflage

durchgesehen und herausgegeben vonManfred Rehbinder

Duncker & Humblot · Berlin

Page 2: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

THEODOR GEIGER

Demokratie ohne Dogma

Page 3: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder

Band 71

Page 4: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv
Page 5: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv
Page 6: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Demokratie ohne Dogma Die Gesellschaft zwischen Pathos

und Nüchternheit

Von

Theodor Geiger

Vierte Auflage

durchgesehen und herausgegeben von

Manfred Rehbinder

Duncker & Humblot . Berlin

Page 7: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Von diesem Buch sind bisher erschienen: Die 1. Auflage mit dem Titel: Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit im Verlag Munksgaard, Kopenhagen 1960; die 2. Auflage mit dem Titel: Demokratie ohne Dogma im Verlag Szczesny, München 1963 und die 3. Auflage mit demselben Titel im Verlag Arno Press, New York 1975.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Geiger, Theodor: Demokratie ohne Dogma: Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit / von Theodor Geiger. - 4. Aufl. / durchges. und hrsg. von Manfred Rehbinder. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991

(Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd.71) ISBN 3-428-07191-3

NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Fremddatenübernahme und Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61

Printed in Germany ISSN 0720-7514

ISBN 3-428-07191-3

Page 8: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Vouloir nous brule, et pouvoir nous detruit; mais SA VOIR laisse notre faible organisation dans un perp6tuel etat de calme .

. . . j'ai place ma vie, non dans le coeur qui se brise, non dans les sens qui s'emoussent mais dans le cerveau qui ne s'use pas et qui survit atout.

"Die Begierde verbrennt uns. Macht richtet uns zugrunde, Wissen jedoch überwindet unsere Schwäche und macht uns gleichmütig .

. .. Ich habe mein Leben nicht auf das Herz gestellt, das sich erschöpft, nicht auf die Sinne, die stumpf werden, sondern auf den Verstand, der sich nicht abnützt und der alles überdauert."

HONORE DE BALZAC: "Das Chagrinleder"

Page 9: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv
Page 10: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Offener Brief an den Leser

Lieber Unbekannter I

Die Absimt des Bumes, das im mit einigem Zögern in Ihre Hand lege, ist ni mt wissensmaftlim, sondern politism. Das heißt, in meinem eigenen Urteil: ohne Ansprum auf objektive Wahrheits-geltung. Damit sage im nimt, daß die folgenden Seiten nur mit Postulaten bedruckt und also für Sie unverbindlim seien. In diesem Falle wäre es unverfroren, Ihnen den Zeitaufwand des Lesens zuzu-muten. Meine politismen und also für Sie unverbindlichen Mei-nungen stützen sim auf theoretisme und also aum für Sie ver-bindlime Einsimten. Das erste Bum ist Soziologie, das zweite ist Wertphilosophie und Erkenntnistheorie. Das ist Wissensmaft und der Diskussion mit samlichen Gründen, logismen Folgerungen zugänglim. Das dritte Bum enthält die praktism-politismen Sätze, zu denen die in den beiden vorangehenden entwickelte Theorie und die Er-fahrung des Lebens mim geführt haben. Der Smluß vom ersten und zweiten Buch auf das dritte ist nimt denknotwendig. Sie können ihn unbesmadet Ihres logismen Gewissens ablehnen. Nur die eine Bitte habe ich: lehnen Sie ihn nicht ab, ohne ihn wohl erwogen zu haben. Dieses dritte Bum - nein, smon viele Feststellungen der ersten beiden - werden psymisme Widerstände bei Ihnen wecken, vielleimt Ärgernis erregen. Darauf bin im gefaßt, da im mir

Page 11: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

8 Offener Brief an den Leser

wohl bewußt bin, hier Ansimten zu äußern, die gewohnten Vor-stellungen zuwiderlaufen, von eingefahrenen Gedankenspuren abweimen. Aber smreibt man eigentlim Bümer, um dem Leser in erbaulicher Form Dinge zu sagen, mit denen er innig über-einstimmt, weil er smon selber so ge da mt hat - oder um zum Besmreiten neuer Gedankenbahnen anzuregen? Wenn im einen Verfasser nennen soll, bei dem Sie zum Teil ähnlime Gedanken finden können, so ist es Bertrand Russell in seinen jüngsten Arbeiten. Ohne mim auf seine Autorität berufen zu wollen, darf im sagen, daß im mich in seiner Nachbarschaft wohl und sicher fühle. Sollten Sie, verehrter Leser, frühere Smriften von mir kennen, werden Sie unsmwer finden, daß idl von manmem meiner ein-stigen Standpunkte abgefallen bin. Smmieden Sie daraus keine Argumente gegen meine heutigen! Zwismen damals und heute liegt viel Weltgesmimte, aus der im gelernt und Erfahrungen gesmöpft habe, liegt aber aum eine theoretisme Entwicklung, die mir rückblickend folgerimtig ersmeint. In den semzehn Jah-ren, die seit dem Ersmeinen meiner letzten auf Deutsch ersmie-nenen Smriften vergangen sind, habe im mim viel und von vielen Seiten mit Fragen der Ideologie, der Propaganda, der Wertphilosophie, der Soziologie der Erkenntnis besmäftigt. Das Endergebnis sind die hier vorzutragenden, unorthodoxen An-smauungen. Indem im heute gegen öffentlim approbierte Glau-benssätze Aufruhr stifte, bekenne, bereue und büße im zugleim die Sünden meiner eigenen Vergangenheit. Vielleimt, lieber Leser, werden Sie hinter vieler Smärfe, man-mem hart und kalt klingenden Worte ahnen, daß es mir darum geht, die Sache des Mensmen zu führen, des ewig getretenen, gequälten, geschändeten. Ist es nicht endlim an der Zeit, ihn aus der Knechtschaft der Ismen und Systeme zu befreien und - leben zu lassen?

Aarhus, Februar 1950. Theodor Geiger

Page 12: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Inhalt

EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS •••••••••••••••••••••••••••••••••.•••• 11

Prolog: AUFRUHR. DER GEFÜHLE •••••••••••••.••••••••••••••••••••••• 37

Erstes Buch: DIE GESELLSCHAFI'LICHE WIRKLICHKEIT

§ 1 Die Massengesellschaft der Neuzeit. Verfall oder folgerich-tige Entwicklung? ............................................. 59

§ 2 Die gesellige Lebenswelt des Menschen der Ge~enwart. Ein selbst-soziographischer Versuch ............................ 99

1. Zwei Aspekte der Vergesellschaftung................. 99

n. Verfahren der Selbstbeobachtung...................... 107

m. Zahlenmäßige Ergebnisse ............................... 109

IV. Kommentar zu den Tabellen........................... 110

V. Soziologische Analyse und Würdigung............... 119

VI. Wo bleibt das anonyme Massendasein? ............... 129

Zweites Buch: GEFÜHLSGEMEINSCHAFT AUF IRRWEGEN

§ 3 Societas hominis sapientis .... .................... ........... 137

§ 4 Die Legende von der Volksgemeinschaft. Massengesell-schaften sind nicht durch sympathetische Gemeinschafts-gefühle zusammengehalten.................................. 159

§ 5 Nationalgefühl und Klassenbewußtsein. Pathetische Kol-lektivgefühle sind gegnerisch gespannt.................... 172

§ 6 Des Kaisers Bart. Wertgemeinschaft und Wertverwirrung 198

Page 13: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

10 Inhalt

Drittes Buch: DIE NÜCHTERNE GESEUSCHAFT

§ 7 Die Bande der Großgesellschaft. Ordnung und intellek-tuelle Zucht ................................................... 231

§ 8 VolJendung der unterbrochenen Aufklärung .............. 260

I. Erste und zweite Phase der Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . 260

II. Ideologiekritik - die dritte Phase..................... 272

III. Gesellschaft ohne Metaphysik ................ ......... 285

IV. Praktischer Wertnihilismus ............................ 304

V. Gesellschaft ohne Propaganda ......................... 312

VI. Die Flucht vor der Aufklärung ......................... 325

§ 9 Die Schicksalsstunde der Demokratie ...................... 344

I. Von der bürgerlichen zur Massendemokratie ........ 346

II. Erweiterung der Staatsaufgaben ....................... 355

III. Es wird immer schwieriger. Bescheid zu wissen .... 35.7

Epll.OG .................•............•..... ....................•••.... 379

ANJ..mRKUNGEN ••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••• •••••••••• 383

NAlvfENREGISTER •••••••••••••••••••.••.••••••.••..•••.•.•.••••••••.•• 389

SACHREGISTER ••••••••••••••••.• ;.................................... 391

Page 14: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Einleitung des Herausgebers

Am 9. November 1991, dem 100. Geburtstag von Theodor Geiger (1891-1952)1, wird seines Lebenswerkes mit einem Symposium ge-dacht werden, das an seiner letzten Wirkungsstätte in Deutschland stattfindet, an der Technischen Universität Braunschweig. Von dort ist Geiger im Jahre 1933 nach Dänemark emigriert, und dort hat der heutige Inhaber seines Lehrstuhls, Prof. Dr. Siegfried Bachmann, im Fachbereich Erziehungswissenschaften seit vielen Jahren ein Theo-dor Geiger-Archiv aufgebaut 2. Aus Anlaß dieser Gedenkveranstal-tung in Braunschweig soll auch Geigers »politisches Vermächt-nis« 3 erneut zugänglich gemacht werden, das im Jahre 1950 keinen Verleger fand und daher erstmals im Jahre 1960 posthum in Däne-mark unter dem Titel »Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchtern-heit« 4 erschien. Die wenig später folgende Ausgabe des Verlages von Gerhard Szczesny, des Begründers der Humanistischen Union, Mün-chen 1963 5, ist seit langem vergriffen. Sie stellte dem Werk als aussa-gekräftigen Haupttitel die Bezeichnung »Demokratie ohne Dogma« voran. Unter diesem Titel ist das Werk unter Soziologen und Politolo-gen bekannt. Die Neuausgabe in der vorliegenden Schriftenreihe, die sich mehrheitlich an Juristen wendet, möchte auf das Staatstheo-retische am Anliegen von Geiger aufmerksam machen. Sein Grundge-danke ist nämlich, daß die Staatsform der Demokratie langfristig nur lebensfahig ist, wenn es gelingt, den Durchschnittsmenschen durch Erziehung auf ein toleranzgeprägtes intellektuelles Niveau zu heben,

1 Über Leben und Bedeutung von Geiger siehe meine Einleitung zu Th. Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. A. 1987, S. VII-XX (Bd. 65 der vorliegenden Schriftenreihe).

2 Siehe näher S. Bachmann: Leben und Werk des Soziolog~n Prof. Dr. Theodor Geiger. Mitteilungen der Technischen Universität Carolo-Wilhel-mina zu Braunschweig XV 3/4 (1980). S. 56-61.

3 So Hans Tietgens in seiner Besprechung der Neuausgabe von 1963 in Neue Politische Literatur 9 (1964). Sp. 9-24 (17).

, Acta Jutlantica(Publications of the University of Aarhus) XXXII. 1. Verlag Ejnar Munksgaard. Kopenhagen 1960.

5 Davon gab es einen Nachdruck im Verlag Arno Press. New York 1975.

Page 15: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

12 Einleitung des Herausgebers

das seiner gegenwärtigen komplexen Gesellschaftsform angepaßt ist und das Geiger intellektuellen Humanismus nennt. Geiger war sich wohl bewußt, daß dieses sein Anliegen bei vielen auf »psychische Widerstände« stoßen würde. Sein »offener Brief an den Leser« bringt dies deutlich zum Ausdruck. Bevor jedoch darauf eingegangen wer-den kann, wie sich insoweit die Situation heute, 40 Jahre nach der Kritstehung des Werkes, darstellt, sei sein Gedankengang auf das für die Einordnung und Bewertung des Werkes unbedingt Notwendige zusammengefaßt.

1. Ausgangspunkt: neoromantische Kulturkritik und Gefühlskult des Nationalsozialismus

Anknüpfend an eine Welle romantisch-pessimistischer Kulturkritik, wie sie in den Werken von Oswald Spengler (Untergang des Abend-landes) und Wilhelm Röpke (Gesellschaftskrisis der Gegenwart) gip-felte, war es dem Nationalsozialismus leicht, sich durch Kampf gegen den Intellektualismus als Welterneuerer zu empfehlen. War doch jene kulturphilosophische Weltuntergangsstimmung Ausdruck von Zivilisationsangst und Lebensimpotenz (S. 39), eine Flucht vor der Kompliziertheit der Welt. Rationalität, die geistige Grundlage der modernen Gesellschaft, wurde als unmenschlich abgelehnt und als Alternative zum unpersönlich-institutionellen Charakter der moder-nen Großgesellschaft die Gemeinschaft empfohlen. In der Forderung nach der seelischen Unmittelbarkeit des Gemeinschaftslebens, ge-eint durch eine gemeinsame Metaphysik (S. 38), die dem Orientie-rungslosen Halt und Sicherheit gibt, zeigt sich das »innere Versagen des Menschen gegenüber der vom 19. Jahrhundert geschaffenen in-dustriellen und demokratischen Massengesellschaft« (S. 44). Der vom Nationalsozialismus propagierte und inszenierte Gefühlskult, die Ersetzung des demokratischen Mehrheitsprinzips durch die cha-rismatische Führerpersönlichkeit, sprach die Masse weltfremder Träumer und Utopisten an, die den Gegensätzen einer abstrakten, unübersehbar großen und komplizierten Massengesellschaft nicht

Page 16: Demokratie ohne Dogma · lp vdjhq gd lp plfk jo vhlqhu 1dfkeduvfkdiw zrko xqg vlfkhu i koh ... odqghv xqg :lokhop 5|snh *hvhoovfkdiwvnulvlv ghu *hjhqzduw jls ihowh zdu hv ghp 1dwlrqdovr]ldolvpxv

Einleitung des Herausgebers 13

gewachsen war. Da jener verstandes feindliche Gefühlskult uns in die Katastrophe des 2. Weltkrieges geführt hat, will Geiger als Sozio-loge wertfrei (S. 69) prüfen, ob die ihm zugrunde liegende neoroman-tische Gesellschaftskritik durch die sozialen Tatsachen der Gegen-wartsgesellschaft gerechtfertigt ist. Sodann möchte er als politisch Denkender und Handelnder aus seinen Erkenntnissen Folgerungen ziehen und Lösungsvorschläge anbieten. Wegen dieses letzteren An-liegens kennzeichnet er den dri tten Teil seines Buches - seinem Wissenschaftsverständnis entsprechend - als unwissenschaftlich, nämlich politisch (S. 7).

2. Empirisch-analytische Untersuchung der Gegen wartsgesellsch aft

Eine empirisch-analytische Untersuchung der Gegenwartsgesell-schaft ergibt zwei Kennzeichen: Die Rationalisierung des Daseins und die Freisetzung der Persönlichkeit. Rationalisierung des Daseins bedeutet Vordringen rationaler Problemlösungen. Die beiden Grund-problerne jeder Gesellschaft, nämlich Organisation des menschli-chen Zusammenlebens und Deckung des Güterbedarfs, werden zu-nehmend anhand eines rationalen Zweck-Mittel-Kalküls gelöst. Nur Rationalität (Effizienzdenken aufgrund wissenschaftlicher Erkennt-nis) kann ein gedeihliches Zusammenleben und eine ausreichende Güterversorgung in Sozialgebilden garantieren, die unter den Sach-zwängen eines immensen Bevölkerungswachstums und einer räum-lichen Vergrößerung stehen. Die Rationalisierung mittels technischer und organisatorischer Mittel hat breitesten Bevölkerungsschichten einen bisher unerreichten Lebensstandard gebracht. Doch ist dieser von weitgehender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Arbeitstei-lung, von Veranstaltlichung, Großorganisation, Spezialisierung, Zen-tralisierung usw. abhängig, d. h. von den Kennzeichen der modernen Großgesellschaft. Freisetzung der Persönlichkeit als Kennzeichen der Gegenwartsge-sellschaft bezeichnet die mit der Renaissance einsetzende Entfaltung des Individuums. Sie führte zum Umbau der hierarchisch-korporati-