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20 FAlTER 1 9/1 P 0 LI TI SC H ES 8 -U C H Der Aufstieg Asiens und die neue Weltunordnung Der Wiener Journalist Thomas Seifert richtet seinen Blick nach Asien und sieht hier di,e größte Veränderungsmacht im 21. Jahrhundert REZENSION: RAIMUND LÖW W -ir erleben derzeit einen merkwür- digen Widerspruch: Die heftigsten Dramen spielen sich in der europäisclren Nachbarschaft ab, und der russische Revan- chismus und die Bürgerkriege in der arabi- schen Welt verängstigen Europa. Aber die nachhaltigsten globalen Veränderungen un- serer Zeit kommen vom anderen Teil des Globus, aus Asien. Thomas Seifert, der weltgewandte Au- · ßenpolitik- Redakteur der Wiener Zeitung, zeichnet in einem großen Bogen die his- torischen Zusammenhänge. China hat als Wirtschaftsmacht zu Amerika und Europa aufgeschlossen. Das Wachstum in Indien bringt einen weiteren Giganten des Kon- tinents auf die Überholspur. Die ökono- mischen Fakten sind unbestritten. Seifert glaubt, dass die ökonomische Verschiebung auch die Weltpolitik auf den Kopf stellt. Eine pazifische Epoche löst das atlantische Zeitalter ab, in dem die USA und zuvor das Vereinigte Königreich die Welt regiert haben, lautet seine These. Wie eine Reihe anderer Autoren schließt er aus dem Auf- stieg Chinas etwas vorschnell auf den Nie- dergang des amerikanischen Imperiums. Was stimmt: Nie zuvor in der Mensch- heitsgeschichte haben sich die Lebensver- hältnisse von so vielen Menschen in so kur- zer Zeit derart radikal verändert, wie dank der Einführung der Marktwirtschaft durch Deng Xiaoping vor 30 Jahren. Hunderte Millionen konnten sich aus bitterster Ar- mut befreien. Xi Jingping, der starke Mann Chinas, will aber keine Weltrevolution. Pe- king pocht nur darauf, als zweite Weltmacht nach den USA akzeptiert zu werden. Seifert geht bis zum Opiumkrieg 1840 zurück, mit dem Großbritannien die Qing- Kaiser zu westlichem Rauschgift verführ- te und die Öffnung des Landes erzwang - dem Beginn der westlichen Herrschaft über Asien. Und endet mit den jüngsten Protes- ten von Occupy Centrat gegen den Finanz- kapitalismus, dem Symbol für den Legiti- mitätsverlust des westlichen Modells seit der Krise 2008. Von Niall Ferguson bis zu Thomas Piketty, von Frank Schirrmacher bis zu Francis Fukuyama verarbeitet Seifert die Vordenker dieser globalen Entwicklung. Treffend geißelt er die Mutlosigkeit der Eu- ropäer, die es nicht schaffen, sich mit ihren sozialen und ökologischen Standards in die Auseinandersetzung um den Weg der Glo- balisierung einzuschalten. Das nationalisti- sche Brüssel-Bashing in Europa kritisiert er als Rückzug aus einer wirkungsvollen Mit- bestimmung in der Welt von morgen. Ein Buch im Buch stellen Seiferts Reportagen und Interviews in Peking und Mumbai, Seoul und Shanghai dar. Wir lernen die Welt der wenigen Punks in Peking kennen und lesen von den revolutionären Auswir- kungen billiger Handys für das Sexleben indischer Mittelstandsteenager. Wohin sich das inteniationale System entwickelt, wenn der Aufstieg Asiens anhält? Seifert spricht von einer "Ara der neuen Weltunordnung". Die Supermacht USA ist paralysiert und verliert an Einfluss. Zweifelsohne. Aber mit vielen anderen Autoren unterschätzt Sei- fert die Fähigkeit Amerikas zur Selbst1tor- rektur, die es den USA in der Vergangen- heit immer wieder ermöglicht hat, Nieder- lagen zu verkraften. Militärisch bleiben die USA die einzige global agierende Weltmacht. Die amerika- nische Soft Power reicht dank Handys und Internet bis in die Dörfer der unterentwi- ckeltsten Regionen des Globus. Innovati- on kommt aus Kaliförnien, nicht aus den Wirtschaftssonderzonen Chinas. Eine "neue Weltmacht" wird "Asi- en" auch aus einem anderen Grund nicht werden: Zu groß sind die Gegensätze inner- halb des Kontinents. Die multikulturelle Su- permacht Amerika mit ihrer Medienfreiheit, der lebendigen Zivilgesellschaft und der Tra- dition des demokratischen Wechsels ist ein unverändert attraktiver Gegenpol dazu. "Die pazifische Epoche" bietet ein will- kommenes Korrektiv zum Tunnelblick so mancher Europadiskussionen. Den Beweis für den bevorstehenden Wechsel zur Vor- herrschaft Asiens in der Welt liefert das Buch.aber nicht. "f Thomas S.lfert DIE PAZIFISCHE EPOCHE Thomas Seifert: Die Pazifische Epoche. Wie Europagegen die neue Weltmacht Asien bestehen kann. Deuticke, 302 s., 22,60 Raimundlöw ist ORF-Korrespondent in China und schreibt regelmäßig die Außenpolitik-Kolumne des Falter Die besprochenen Bücher können Sie über Ihre Buchhand- lung, aber auch über unsere Website erwerben, die alle je im Falter erschienenen Rezensionen bringt www.falter.at/ rezensionen j s s I l I b d n d \1 a S 1 t I H A

Der Aufstieg Asiens und die neue Weltunordnung

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Rezension: "Die Pazifische Epoche" im Falter 19/15 -- Der Wiener Journalist Thomas Seifert richtet seinen Blick nachAsien und sieht hier di,e größte Veränderungsmacht im 21. Jahrhundert

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  • 20 FAlTER 1 9/1 P 0 LI TI SC H ES 8 -U C H

    Der Aufstieg Asiens und die neue Weltunordnung Der Wiener Journalist Thomas Seifert richtet seinen Blick nach Asien und sieht hier di,e grte Vernderungsmacht im 21. Jahrhundert

    REZENSION:

    RAIMUND LW

    W -ir erleben derzeit einen merkwr-digen Widerspruch: Die heftigsten Dramen spielen sich in der europisclren Nachbarschaft ab, und der russische Revan-chismus und die Brgerkriege in der arabi-schen Welt verngstigen Europa. Aber die nachhaltigsten globalen Vernderungen un-serer Zeit kommen vom anderen Teil des Globus, aus Asien.

    Thomas Seifert, der weltgewandte Au- enpolitik-Redakteur der Wiener Zeitung, zeichnet in einem groen Bogen die his-torischen Zusammenhnge. China hat als Wirtschaftsmacht zu Amerika und Europa aufgeschlossen. Das Wachstum in Indien bringt einen weiteren Giganten des Kon-tinents auf die berholspur. Die kono-mischen Fakten sind unbestritten. Seifert glaubt, dass die konomische Verschiebung auch die Weltpolitik auf den Kopf stellt.

    Eine pazifische Epoche lst das atlantische Zeitalter ab, in dem die USA und zuvor das Vereinigte Knigreich die Welt regiert haben, lautet seine These. Wie eine Reihe anderer Autoren schliet er aus dem Auf-stieg Chinas etwas vorschnell auf den Nie-dergang des amerikanischen Imperiums.

    Was stimmt: Nie zuvor in der Mensch-heitsgeschichte haben sich die Lebensver-hltnisse von so vielen Menschen in so kur-zer Zeit derart radikal verndert, wie dank der Einfhrung der Marktwirtschaft durch Deng Xiaoping vor 30 Jahren. Hunderte Millionen konnten sich aus bitterster Ar-mut befreien. Xi Jingping, der starke Mann Chinas, will aber keine Weltrevolution. Pe-king pocht nur darauf, als zweite Weltmacht nach den USA akzeptiert zu werden.

    Seifert geht bis zum Opiumkrieg 1840 zurck, mit dem Grobritannien die Qing-Kaiser zu westlichem Rauschgift verfhr-te und die ffnung des Landes erzwang -dem Beginn der westlichen Herrschaft ber Asien. Und endet mit den jngsten Protes-ten von Occupy Centrat gegen den Finanz-kapitalismus, dem Symbol fr den Legiti-mittsverlust des westlichen Modells seit

    der Krise 2008. Von Niall Ferguson bis zu Thomas Piketty, von Frank Schirrmacher bis zu Francis Fukuyama verarbeitet Seifert die Vordenker dieser globalen Entwicklung. Treffend geielt er die Mutlosigkeit der Eu-roper, die es nicht schaffen, sich mit ihren sozialen und kologischen Standards in die Auseinandersetzung um den Weg der Glo-balisierung einzuschalten. Das nationalisti-sche Brssel-Bashing in Europa kritisiert er als Rckzug aus einer wirkungsvollen Mit-bestimmung in der Welt von morgen.

    Ein Buch im Buch stellen Seiferts Reportagen und Interviews in Peking und Mumbai, Seoul und Shanghai dar. Wir lernen die Welt der wenigen Punks in Peking kennen und lesen von den revolutionren Auswir-kungen billiger Handys fr das Sexleben indischer Mittelstandsteenager. Wohin sich das inteniationale System entwickelt, wenn der Aufstieg Asiens anhlt? Seifert spricht von einer "Ara der neuen Weltunordnung". Die Supermacht USA ist paralysiert und verliert an Einfluss. Zweifelsohne. Aber mit vielen anderen Autoren unterschtzt Sei-fert die Fhigkeit Amerikas zur Selbst1tor-rektur, die es den USA in der Vergangen-heit immer wieder ermglicht hat, Nieder-lagen zu verkraften.

    Militrisch bleiben die USA die einzige global agierende Weltmacht. Die amerika-nische Soft Power reicht dank Handys und Internet bis in die Drfer der unterentwi-ckeltsten Regionen des Globus. Innovati-on kommt aus Kalifrnien, nicht aus den Wirtschaftssonderzonen Chinas.

    Eine "neue Weltmacht" wird "Asi-en" auch aus einem anderen Grund nicht werden: Zu gro sind die Gegenstze inner-halb des Kontinents. Die multikulturelle Su-permacht Amerika mit ihrer Medienfreiheit, der lebendigen Zivilgesellschaft und der Tra-dition des demokratischen Wechsels ist ein unverndert attraktiver Gegenpol dazu.

    "Die pazifische Epoche" bietet ein will-kommenes Korrektiv zum Tunnelblick so mancher Europadiskussionen. Den Beweis fr den bevorstehenden Wechsel zur Vor-herrschaft Asiens in der Welt liefert das Buch .aber nicht. "f

    Thomas S.lfert

    DIE PAZIFISCHE EPOCHE

    Thomas Seifert: Die Pazifische Epoche. Wie Europagegen die neue Weltmacht Asien bestehen kann. Deuticke, 302 s., 22,60

    Raimundlw ist ORF-Korrespondent in China und schreibt regelmig die Auenpolitik-Kolumne des Falter

    Die besprochenen Bcher knnen Sie ber Ihre Buchhand-lung, aber auch ber unsere Website erwerben, die alle je im Falter erschienenen Rezensionen bringt www.falter.at/ rezensionen

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