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Religionswissenschaft 1/21 Hausarbeit Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften Institut für Philosophie Studiengang/ Semester: Cultural Engineering Master / 4. Semester Veranstaltung: Grundlagen zum ethischen Monotheismus. Dozent: Dr. Michael Heinzmann Name: Andreas Wolf, Mat.-Nr.: 179272 Email: [email protected] Datum: 18. Februar 2012 Der Begriff der Arbeit im Judentum Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ............................................................................................................................ 2 2. Die Würde der Arbeit.......................................................................................................... 3 3. Die Grenze der Arbeit: Der Sabbat ..................................................................................... 4 4. Arbeit ist nicht gleich Arbeit............................................................................................... 6 5. Der Begriff der Arbeit im Vergleich ................................................................................. 11 6. Synopse und Schlussfolgerung ......................................................................................... 15 7. Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 19

Der Begriff der Arbeit im Judentum

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Aus einer differenztheoretischen und arbeitsphilosophischen Perspektive wird der Bedeutung des Begriffs "Arbeit" im rabbinischen Judentum nachgegangen. (Hausarbeit am Religionswissenschaftlichen Lehrstuhl Potsdam im Rahmen eines Masterstudiums. Benotet mit 1.0)

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Religionswissenschaft 1/21 Hausarbeit

Otto-von-Guericke Universität Magdeburg

Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften

Institut für Philosophie

Studiengang/ Semester: Cultural Engineering Master / 4. Semester

Veranstaltung: Grundlagen zum ethischen Monotheismus.

Dozent: Dr. Michael Heinzmann

Name: Andreas Wolf, Mat.-Nr.: 179272

Email: [email protected]

Datum: 18. Februar 2012

Der Begriff der Arbeit im Judentum

Inhaltsverzeichnis

1.   Einleitung ............................................................................................................................ 2  

2.   Die Würde der Arbeit .......................................................................................................... 3  

3.   Die Grenze der Arbeit: Der Sabbat ..................................................................................... 4  

4.   Arbeit ist nicht gleich Arbeit ............................................................................................... 6  

5.   Der Begriff der Arbeit im Vergleich ................................................................................. 11  

6.   Synopse und Schlussfolgerung ......................................................................................... 15  

7.   Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 19  

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1. Einleitung

Blickt man auf die jüdische Tradition wie sie uns insbesondere in der Tradition des Talmud

und der halachischen Praxis begegnet, so erscheint der Begriff der „Arbeit“ von eigentümli-

cher Ambivalenz. Zum einen ist das Judentum1 in seiner talmudisch überlieferten rabbini-

schen Ausprägung der Inbegriff für eine Spiritualität agrarischer Bodenständigkeit und kör-

perbetonter Lebensbejahung2. Dies wird leicht deutlich bei einem Vergleich mit der klassisch

griechischen Präferenz für die Ideenwelt über die Welt der Sinne: "Das Judentum lehrt den

Segen der Arbeit; es klingt wie ein Widerspruch gegen die griechische Geistesrichtung, wenn

einer seiner hervorragendsten Lehrer mahnt: „Liebe die Arbeit und hasse das Herrentum"

(Baeck 1985: 221). Zum anderen institutionalisiert aber gerade das Judentum wie keine zwei-

te Religion mit seiner strikten Trennung zwischen Sabbat und Werktag, zwischen sakrosank-

tem Feiertag und vulgärem Arbeitstag eine Qualifizierung und Herabstufung der Arbeit, die in

eigentümlicher Spannung zu seiner vorgenannten Bedeutung zu stehen scheint.

Im Folgenden soll ein Versuch der Annäherung an diese Spannung unternommen werden.

Heuristisch-tastende Versuche solcher Art können bekanntermaßen nur gewinnen, wenn zur

Begutachtung des Sachverhaltes eher unerwartete Lesehilfen und Bezugsgrößen genutzt wer-

den. Zu diesem Zweck sollen neben auf das Judentum referierenden Quellen insbesondere die

lebensphilosophische Erarbeitung des Handlungsbegriffs bei Hannah Arendt sowie die diffe-

renztheoretische Logik von der „Einheit der Differenz“ Betrachtung finden, wie sie typi-

scherweise bei Vertretern der Systemtheorie, zuerst aber wohl bei George Spencer-Brown zu

finden ist.

Im Wissen darum, dass sich Fragestellungen im Diskursverlauf verändern können, soll als

Ausgangspunkt die Frage gestellt werden, ob und wenn ja wie, der Begriff der Arbeit im tal-

mudisch-halachischen Judentum definiert, beschrieben oder abgegrenzt werden kann. In ei-

11 Obwohl die historische und zeitgenössische Pluralität jüdischer Lebens- und Glaubensentwürfe korrekter mit

dem Pluralbegriff der „Judentümer“ bezeichnet wäre, wird hier und im Folgenden der sprachlichen Vereinfa-

chung und umgangssprachlichen Verständlichkeit wegen der Singular genutzt. Gemeint ist durchgängig die der

klassisch rabbinischen Lesart des Talmud sowie der damit verbundenen halachischen Praxis verbundene ortho-

doxe (aber: nicht notwendig ultra-orthodoxe) Strömung des Judentums. 2 Dies zeigt sich bspw. in der rabbinischen Wertschätzung gegenüber dem Handwerk, der Ehe, der Geschlecht-

lichkeit und überhaupt aller menschlichen Alltäglichkeiten, die allesamt mit zahllosen Segenssprüchen belegt

werden konnten. Auch die talmudischen Überlieferungen von tanzenden Rabbis passt dazu. Natürlich gilt aber

gerade auch hier, dass eine so breit gefächerte Religion wie das Judentum zu allen Zeiten ein Spannungsfeld

bietet zwischen traditional-legalistischen Strömungen einerseits und emotional-charismatischen Strömungen

(z.B. dem Chassidismus) andererseits.

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nem zweiten Schritt soll gefragt werden, wie sich dieser zu dem ausdifferenzierten Arendt-

schen Begriff der „Vita activa“ verhält. Und zuletzt interessiert uns natürlich, welcher Er-

kenntnisgewinn sich aus dieser Synopse ergeben könnte. Methodisch bietet sich eine begriffs-

bestimmende Reflexion an, die bei den jüdischen Quellen – insbesondere in der Explizierung

der mit dem Sabbat verbundenen Arbeitsverbote – beginnt, die darin vermutete Ambivalenz

differenztheoretisch betrachtet und an geeigneter Stelle mit der Arendtschen „Vita activa“ in

Verbindung bringt.

Das Unterfangen versteht sich vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Renaissance des

Handlungsbegriffs3 und dem Entstehen immer neuer, insbesondere interdisziplinärer Hand-

lungswissenschaften4 als klitzekleiner Beitrag zu einer interdisziplinär orientierten Men-

schenwissenschaft5.

2. Die Würde der Arbeit

Wie schon gesagt betrachtet das Judentum die Arbeit als Segen und Privileg des Menschen.

Neben Baeck drückt das Heschel sehr klar aus: „Labor is not only the destiny of man; it is

endowed with divine dignity… Labor is a blessing, toil is the misery of man.” (2003: 18)6.

Die naheliegende Motivation liegt zum Ersten in dem Gottesgebot, die Erde „zu bebauen und

bewahren“ (Gen 2,15). Zum Zweiten liegt sie in der vom gläubigen Juden geforderten Nach-

ahmung Gottes; eines Gottes, der sich an materieller Arbeit sechs Tage lang „die Hände

schmutzig macht“ (Fackenheim 1999: 171) und sich auch danach noch als zuständig für die

Erhaltung der in Gang gesetzten Naturkreisläufe versteht7. Fackenheim bietet noch eine wei-

3 klassisch natürlich bei Max Weber, später als „Soziale Praxis“ bei Pierre Bourdieu, heute z.B. bei Michel de

Certeau, aber siehe auch Karl Hörning et. al. 4 Gedacht ist an Studiengänge wie Cultural Engineering, das in anwendungsorientierter Absicht die Brücke zwi-

schen der klassischen Handlungswissenschaft Ingenieurwesen (hier: Logistik) einerseits und verschiedenen

Komponenten aus Sozial-, Erziehungs- und Kulturwissenschaften andererseits zu bauen sucht. Der Trend zu

neuen anwendungsorientierten und bewusst interdisziplinären Studiengänge ist jedenfalls bemerkenswert. 5 Ein von Norbert Elias wie mir scheint sehr überzeugend vorgeschlagener Begriff für die Gesellschaftswissen-

schaften (engl.: Humanities), der die Botschaft der notwendigen Interdisziplinarität transportiert. Ein Trend, der

sich z.B. ganz lokal an der Otto-von-Guericke Universität in der gegenwärtigen Umbenennung der Fakultät für

Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften (FGSE) in die Fakultät für Humanwissenschaften (FHW) zeigt. 6 Es ist für unsere Fragestellung nicht notwendig, weiter auf den Unterschied zwischen Arbeit und Mühe und die

damit verbundene Diskussion der Sündenfallgeschichte einzugehen. 7 vgl. Ps 104,27-30; Sota 14a. Die Abkürzung der biblischen Bücher folgt den Loccumer Richtlinien, die Tal-

mudtraktate sind zitiert nach der gekürzten Talmudausgabe von R. Mayer, 1980, Goldmann Verlag.

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tere Erklärung für diesen – für antike Zeiten ungewöhnlich – hohen Stellenwert der Arbeit an:

Die Erlösung dieser gefallenen Welt ist möglich, menschliche Arbeit für diese – auf die mes-

sianische Hoffnung verweisende - „Reparaturarbeit“ (hebr.: „tiqqun ´olam“) aber nötig (1999:

172). Ganz im Gegensatz zu einem solch intrinsischen Wert der arbeitenden Verrichtung all-

täglicher und die Lebensgrundlage schaffender Notwendigkeiten stand die Vorliebe der grie-

chisch-römischen Kultur für die „höheren Tätigkeiten des Geistes“; körperliche Arbeit war

ihnen ein Graus (ebd.: 171). Sie galt als sklavisch und jedes Interesse an ihr als „banausen-

haft“ und wurde dementsprechend von Sklaven, Frauen oder Handwerkern verrichtet (Arendt

2008: 100f.). Für den gläubigen Juden dagegen galt eher das Gegenteil: Wenn Gott seine täti-

ge Weltbearbeitung verlangte, woher sollte dann der Raum, woher die Erlaubnis zur Muße

kommen? (Fackenheim 1999: 172f.). Die Antwort kann natürlich nur heißen: Von dem glei-

chen Gott. Dem Arbeitsgebot wird mit dem Sabbat seine Grenze gesetzt. Die verordnete Ar-

beit erfährt eine Ergänzung durch die verordnete Entspannung, wobei die letztere die erstere

weder aufhebt noch in ihrer Wertigkeit beeinträchtigt: „The Sabbath… is… an affirmation of

labor, a divine exaltation of its dignity“ (Heschel 2003: 18). Die Gleichzeitigkeit dieser zwei

Ordnungen begründet eine Leitdifferenz, die so gänzlich anders ist als die der griechischen

Kultur: „Things created in six days He considered good, the seventh day He made holy. To

Jewish piety the ultimate dichotomoy is not that of mind and matter but that of the sacred and

the profane.“ (Heschel 2003: 69, Hervorheb. im Original). Dieser Differenz wollen wir uns im

Folgenden nähern. Für die bisherige Diskussion können wir sie in einer differenztheoretischen

Notation8 wie folgt festhalten: {Wochenarbeit9 | Sabbatruhe}.

3. Die Grenze der Arbeit: Der Sabbat

Auch hier wurden die gläubigen Juden durch viele Jahrhunderte hindurch missverstanden: Ein

generell freier Tag der Siebentagewoche war in der Antike absolut außergewöhnlich (vgl.

Stemberger 2009: 30). Das stringente Arbeitsverbot des Sabbats, welches schon seit seinen

Anfängen zu einem zentralen Identitätsmarker des Judentums geworden war, bot heidnischen

Beobachtern demzufolge immer wieder Anlass, die Juden als „faul“, „arbeitsscheu“ und „iso-

lationistisch“ zu bezeichnen. Immerhin verbrachten sie ein Siebtel der Wochenzeit mit abso-

luter und gezielter Untätigkeit10. Das Bewusstsein für die gesundheitsförderlichen Effekte

8 so genutzt z.B. bei Schmidt 2003 9 Hierbei ist natürlich an einer klassische 6-Tage-Woche und nicht die moderne 5-Tage-Woche zu denken. 10 „The Sabbath is a sign of Jewish indolence, was the opinion held by Juvenal, Seneca and others.“ (Heschel

2003: 1); „In the ancient world, the Jewish practice of keeping sabbath, together with the observance of food

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regelmäßiger Ruhetage, heute ein Allgemeinplatz sowie gut erforschter Wissensbestand der

Sozialmedizin, ist natürlich eine Errungenschaft der Moderne. Für den gläubigen Juden war

denn auch der Sabbat in keiner Weise der körperlichen Regenerierung zwecks erneuten Ar-

beitseinsatzes in der kommenden Werkwoche gewidmet. Neben der Primärmotivation der

unbedingten Treue gegenüber den 613 Gottesgeboten (hebr.: Mizwot), schwingen in der tal-

mudischen Tradition der Sabbatobservanz mehrere motivations- und identitätsstiftende As-

pekte mit. Zuallererst ist der Sabbat seinem Ursprung nach die Erinnerung und die Feier der

vollendeten göttlichen Schöpfung. In Übereinstimmung mit dem Nachfolgegebot (Dtn 13,4)

und natürlich dem Sabbatgebot selber (Ex 20,8-11)11 gilt es dem Juden, den Arbeitsrhythmus

Gottes nachzuempfinden, ja mitzuvollziehen. Wir werden unten sehen, dass dabei allerdings

der Blick weniger auf die vollbrachte Wochenarbeit gerichtet ist als vielmehr auf den die

Schöpfung sowie Schöpfungskraft schenkenden Schöpfer selbst. Der Sabbat gilt aufgrund des

Zeitpunktes seiner geschichtlichen Einsetzung als verbunden mit und als Feier vom legendä-

ren Auszug aus Ägypten, der identitätsstiftenden jüdischen Narration schlechthin. Der Ruhe-

tag ist in dieser Hinsicht verbunden mit einem Gefühl des göttlichen Beschenktseins, materia-

len Versorgtseins und nationalen Freiseins, mithin also mit dem alles zentrierenden Bund des

Bundesgottes, der an die Stelle des „Frondienstes“ in Ägypten tritt12. Als Feier einer erinner-

ten Erlösung ist der Sabbat sodann zugleich die Feier der kommenden Erlösung, der freudigen

Antizipation der kommenden Welt13. Dieser „Vorgeschmack“ äußert sich dann im Genuss der

Ruhe, in der Lektüre sowie im familiären Gespräch, vor allem aber in der Besinnung „auf das

Wesentliche“, wie „die Schöpfungsordnung, den Bund, die Verheißung des Jenseits“ (Stem-

berger 2009: 31). Diese Hoffnung auf die zukünftige Erlösung und die damit verbundene

kommende Welt wird über ihre metaphorische Übersetzung in das kommende königliche

Hochzeitsfest zum emotionalen Höhepunkt der Sabbattradition. Der Sabbat – im hebräischen

ein weiblicher Begriff – wird im Bild zur königlichen (Sabbat-)Braut, der gläubige Jude14

laws which inhibited social interaction with Gentiles, led to a reputation for sloth and despising strangers.“

(Walsh and Keesmaat 2005: 53, Fn. 8) 11 Der von den Rabbis gerne diskutierte Unterschied zwischen dem „Gedenken“ (Ex 20, 8) und dem „Halten“

(Dtn 5,12) des Sabbats ist m.E. für unsere Fragestellung nicht relevant. Chill 1991: 65 zitiert dazu Maimonides,

vgl. auch das Talmudtraktat Schabbat 33b. 12 vgl. Grözinger 2009: 37f. „Dieser Tag erinnert an die Ruhe des Schöpfers von seinem Sechstagewerk“ sowie

„zugleich an die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft“ 13 vgl. Stemberger 2009:33: Der „Sabbat als Erinnerung an das Paradies und Vorgeschmack auf die kommende

Welt…“ 14 und hier ist die Patriarchalität der jüdischen Kultur nicht zu übersehen

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zum empfangenden, die Braut abholenden, freudig vor der Braut tanzenden und sie auch wie-

der hinausgeleitenden Bräutigam15. Passend zu der königlichen Metapher betont Heschel

noch einen weiteren Aspekt des Sabbat, wenn er von einer Heiligung der Zeit und dem Sabbat

als „einem Palast in der Zeit“ (2003: 3, Übersetzung AW) redet. Dazu und zu der damit ver-

bundenen Raum-Zeit-Differenz unten mehr. Hier ist noch wichtig herauszustellen, dass der

Sabbat – obwohl geschützt (und aus moderner Sicht: verkompliziert) durch eine Vielzahl von

Bestimmungen und Verboten – als ein positives Ruhekonzept (hebr.: Menuha16) und nicht nur

als die Abwesenheit von Unruhe und Geschäftigkeit verstanden sein will. Vielmehr ist Men-

uha „the essence of good life“ (Heschel 2003: 14). Damit wird auch deutlich, was die Rabbi-

nen nicht müde wurden zu betonen: Dass der Sabbat für den Menschen ist und nicht der

Mensch für den Sabbat.17 Die Essenz guten Lebens zu schmecken kann in einer der Mühsal

unterstellten Welt wohl aber kaum im Vorbeigehen geschehen. Schon gar nicht bei einem

Volk, dessen religiöse Kultur einen gewissen Absolutismus, man darf wohl auch sagen: Per-

fektionismus, nicht verleugnen kann18. Heschel findet das passende Bild, wenn er sagt: „La-

bor is a craft, but perfect rest is an art... To attain a degree of excellence in art, one must ac-

cept its discipline...“ (2003: 3). Hier also schließen sich die vielfältigen halachischen Sabbat-

ge- und -verbote an, von denen am Fokus des Arbeitsbegriffs im nächsten Schritt die Rede

sein soll.

4. Arbeit ist nicht gleich Arbeit

Jede vertiefte Betrachtung des Verhältnisses zwischen Sabbat und Arbeit muss zweifelsfrei

beim Sabbatgebot beginnen, wie es sich in voll formulierter Form zuerst beim legendären

sinaitischen Bundesschluss findet, nachdem es der Exoduserzählung gemäß im Auszugsmahl

vorenaktiert worden war. Im Nachgang zum Bundesschluss finden sich angefangen von der

Torah über die historisch-prophetischen und poetischen Tenachschriften unzählige Wiederho-

lungen und Betonungen der Bedeutung des Sabbats als zentrales Symbol für die Bundestreue

Israels19. Begrifflichkeit und Konzept des Sabbatgebotes und des damit einhergehenden Ar-

15 zur Sabbatbraut vgl. Heschel 2003: 53f. oder z.B. auch Bawa kamma 32 a/32 b 16 Ruhe (Menuha) ist im talmudischen Verständnis das am siebten Tag Erschaffene (vgl. Heschel 2003: 13). 17 Vgl. z.B. Heschel 2003: 6 oder Joma 85 b. Aus christlicher Sicht ist es hier interessant zu realisieren, dass

Jeshua von Nazareth wohl kaum der erste war, der dies lehrte. 18 Sonst wäre wohl weder die Genauigkeit im Detail noch die Radikalität der Absolutheit des Absoluten, die in

der (oftmals absolut) existenziellen Suche nach der richtigen Praxis zeigt, zu verstehen? 19 vgl. z.B. Ex 31,16f.; Neh 10,32; Jes 58,13; Hes 20,13

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beitsverbotes bleiben dabei über diese Schriftstellen hinweg unverändert. Grund genug also,

sich die zentrale Textgrundlage des Arbeitsverbotes in Exodus 20 genauer anzuschauen:

„8 Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. 9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle

deine Werke tun. 10 Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da

sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd,

dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. 11 Denn in sechs Tagen hat

der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am

siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.“ (Die Bibel nach

Martin Luther 1984, Hervorheb. AW).

Da das, „was konkret als Arbeit zu betrachten ist, die Bibel nicht [definiert]“ (Stemberger

2009: 30) wollen wir den Umweg über eine Wortstudie gehen und versuchen, aus der Bedeu-

tung der genutzten Terminologie Rückschlüsse auf die gemeinte Art von Arbeit zu finden. Da

Übersetzungen fast immer mit inhaltlichen Unschärfen einhergehen und bisweilen ganze syn-

taktische und semantische Zusammenhänge verloren gehen, lohnt ein Blick auf den von den

Talmudisten rezipierten Originaltext20 in Vers 9: ֵׁשֶׁשת יִָמים ַּתֲעבֹד ְוָעִׂשיָת ָּכל־ְמַלאְכֶּתָך sowie zentral

aus Vers 10: ֹלא־ַתֲעֶׂשה ָכל־ְמָלאָכה. Die positive Form des Arbeitsgebotes für den Werktag in

Vers 9 nutzt drei verschiedene Begrifflichkeiten für Arbeit: ַּתֲעבֹד als Verbform von „awad“

(Substantiv „Awoda“), ָָעִׂשית als Verbform von „asa“ (Substantiv „Asa“), ְמַלאְכֶּתָך als personali-

sierte Form des Substantivs „Melacha“. „Asa“ und „melacha“ werden dabei zu einem Aus-

druck „asa melacha“ im Sinne von „Arbeit tun“ verbunden. In der negativen Form des Ar-

beitsverbotes in Vers 10 wiederholt sich nur die Kompositwendung „asa melacha“21. Drei

Arbeitsbegriffe sind also an dieser Stelle zu differenzieren:

1. Awoda = Arbeit als jedes mit Arbeit verbundene Geschäft, Werk, mit der Einrich-

tung des Heiligtums verbundene Arbeiten, Dienst; Awad = Arbeiten / Bearbeiten,

Dienen / Bedienen (Gesenius 1962: 555-557)

2. Melacha = Arbeit, Werk, Geschäft, Beschäftigung, Produkt (Gesenius 1962: 425f.)

3. Ma’aseh = Tun / Arbeit, Tat / Handlung, Werk, Wirkung; / Asa = Hervorbringen

(Gesenius 1962: 448, 622ff.)

Während Awoda auf den ersten Blick ein genereller Begriff für Arbeit zu sein scheint und

Asa in den vorliegenden Stellen vorwiegend als Ergänzungsbegriff zu Melacha fungiert, hat

20 Wir beschränken die Diskussion hier auf die im Zitat des Sabbatgebots oben fettgedruckten Textpassagen. 21 Diese Formen wiederholen sich in den anderen zentralen Torahstellen, die das Sabbatgebot wiederholen: Ex

20,9: Awoda / Asa Melacha; Ex 23,12: Ma’aseh; Ex 31,15: Asa Melacha; Ex 34,21: Awoda; Ex 35,2: Asa Me-

lacha; Lev 23,3: Asa Melacha; Dtn 5,13: Awoda / Asa Melacha.

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Melacha in der halachischen Diskussion eine sehr präzise Bedeutung angenommen: Me-

lachot22 sind genau die Tätigkeiten, die am Sabbat verboten sind. Entsprechend uferlos zeigt

sich dann auch die rabbinische sowie zeitgenössisch kommentierende Literatur zur Klärung

dessen, welche konkrete Tätigkeiten wohl genau als Melacha zu fassen und damit am Sabbat

zu lassen wären – und welche nicht. Der Talmud zählt 39 (Haupt-)Kategorien23 von Tätigkei-

ten als Melachot: „Die Hauptarbeiten sind vierzig weniger eine“ (Mischna Schabbat VII, 2).

Einem Talmudkommentar zufolge sind somit „die Arbeiten, die vor allem mit der Bereitung

von Nahrung, Kleidung und Wohnung zusammenhängen,… dem Werktag vorbehalten“ (Der

Talmud 1980: 575, Fn. 438). Im Detail reichen diese von Tätigkeiten der Feld- und Küchen-

arbeit über solche der Stoff- und Lederbearbeitung bis zur Holzbehandlung, dem Tragen von

Gegenständen und dem Bau von Gebäuden bis zum Entfachen eines Feuers. Abgeleitet wurde

die Liste der definierten Melachot von den mit dem Bau der Stiftshütte assoziierten Tätigkei-

ten (Ex 31,1-11), wohl aufgrund der Nähe der gelisteten Tätigkeiten („Melachot“) zum direkt

nachfolgenden Sabbatgebot. Da die Stiftshütte von den Rabbis als Universum in Kleinformat

interpretiert wurde, wurden konsequenterweise die mit ihrem Bau assoziierten Tätigkeiten auf

alle Formen menschlicher Produktivität verallgemeinert. Wie die Rabbis an vielen Stellen

betonen verbindet alle diese als am Sabbat verboten gelisteten Tätigkeiten ein gemeinsames

Prinzip: Sie sind alles schöpferisch kreative Tätigkeiten – unbeachtet z.B. des Ausmaßes da-

mit verbundener körperlicher Anstrengung. Eine Melacha beinhaltet also „eine Handlung, die

ein produktives und schöpferisches Werk ist, oder die Umwandlung eines Gegenstandes in

eine andere Form“ (Chill 1991: 63)24. Hier sind zwei Aspekte bedeutsam: Zum einen wird

Melacha als schöpferische Tätigkeit zu einem Sinnbild für die Ebenbildlichkeit des Menschen

mit dem Gott, der in seinem Schöpfungshandeln selbst Melachot ausführt (Gen 2,2). Zum

anderen wird von den Rabbis eine interessante Handlungsdynamik noch hinter dem Prinzip

schöpferischen Handelns gesehen: die Form- bzw. Zustandswandlung von Gegenständen oder

Räumen: „we abstain primarily from any activity that aims at remaking or reshaping the

things of space.“ (Heschel 2003: 19). In Hinsicht auf den Aspekt der Gottesebenbildlichkeit

wird der Sabbat verstanden als Verzicht auf das menschliche Privileg, Herrschaft über die

22 Pluralform von Melacha 23 ...und „hunderte untergeordnete Klassen“, die von diesen abgeleitet werden (Chill 1991: 63). Diese Feinheit ist

für uns hier ebenso wenig von Bedeutung wie die Unterscheidung zwischen halachischer und rabbinischer Auto-

rität bei der Definition einer Melacha. 24 Auch wenn Tätigkeiten wie Feuer Entfachen oder Lasten tragen in unserem modernen Sprachgebrauch nicht

als „kreativ“ bezeichnet würden.

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Erde auszuüben mittels intelligenter Eingriffe in die Natur sowie mittels zielgerichteter Her-

stellung von Produkten im Allgemeinen und Werkzeugen im Speziellen; Werkzeuge, die wie-

derum kultivierende25 Eingriffe in die natürlich vorgefundene Umwelt erlauben: Die gottge-

gebene Fähigkeit zur Melacha, zur kreativen Tätigkeit, zur kultivierenden Welt-machung wird

damit zur den Menschen auszeichnenden Gottähnlichkeit, das Sabbatgebot somit zur rituellen

Erneuerung der Unterordnung des Beschenkten unter den Schenker: Das Privileg „to tamper

with God’s world, to change the state of physical things“ (Heschel 2003: 22), bzw. „ to

conquer nature is suspended (Heschel 2003: 19)“ beziehungsweise wird im Sinne einer Pro-

klamation des einen alles erhaltenden Daueraktivschöpfers freiwillig ausgesetzt: „Hashem has

given man the intelligence and creativity skills to gain mastery over Creation six days a week.

By not using these abilities one day a week, we proclaim Hashem as the source of all power

and the Force which continously renews creation.“ (Chait 1992: 9). Die Wortverwandtschaft

von „Melacha“ zum Wortfeld „melech“ (König), „malach“ (Bote), „malachut“ (Botschaft)

zeugt von der gleichen adelnden Abstammung. Konsequent übersetzt Baader das wiederholte

Sabbatgebot: „Sechs Tage wird Auftrag getätigt, aber in dem siebten Tag wird euch Heili-

ges...“ (DaBhaR Übersetzung, Ex 35,2, Hervorheb. AW). Nur als göttlicher Auftrag kann

schöpfungsmanipulierendes, formänderndes, weltschaffendes Handeln hier stimmig konzi-

piert werden26. Entfällt der Auftrag, entfällt auch das Mandat – und mit ihm der dem Mandat

innewohnende Segen. Der Schenker steht über dem Geschenk – und das in aller Konsequenz:

selbst schreiben darf man am Sabbat nicht – nicht einmal Torah (vgl. Stemberger 2009: 31).

Neben dem Mandat zur „Melacha“ als Ausübung gottähnlicher Schöpfungskraft ist dem Men-

schen - in Anlehnung an die oben am Sabbatgebot vorgenommene Begriffsdifferenzierung –

noch ein weiteres Mandat gegeben: das der „Awoda“, des Dienens, Bedienens und Erhaltens,

ursprünglich des „Bebauens des Gartens“ (Gen 2,15) bzw. der „Adamah“ (Gen 2,5). Die Ab-

25 „Kultivieren“ bzw. „Kultur“ ist hier in einem archaischen Sinn der durchaus zuerst agrarischen Manipulation

von Natur durch Menschenhand zu verstehen. Vgl. dazu Nünning: „Bereits die Herkunft des Wortes "Kultur",

das vom lateinischen "colere" (pflegen, urbar machen) bzw. "cultura" und "cultus" (Landbau, Anbau, Bebauung,

Pflege und Veredlung von Ackerboden) abgeleitet ist, also aus der Landwirtschaft stammt, verweist auf einen

zentralen Aspekt sämtlicher Kulturbegriffe: Sie bezeichnen das "vom Menschen Gemachte" bzw. "gestaltend

Hervorgebrachte" – im Gegensatz zu dem, was nicht vom Menschen geschaffen, sondern von Natur aus vorhan-

den ist.“ (Nünning 2009: 2). 26 Dass solches Handeln einer aktiven, bewussten Absicht bedarf, hat der – man darf wohl ohne Übertreibung

sagen – komplizierten rabbinischen Definition von Melacha den Aspekt „bewusst und mit voller Absicht“ (Chill

1991: 64) hinzugefügt. Auf diese und andere Feinheiten der Definition soll hier nicht näher eingegangen werden.

Vgl. zu einer anschaulichen Detaillierung Chait 1992.

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grenzung der Awoda-Arbeit von der Melacha-Arbeit scheint sowohl anhand des Wortfeldge-

brauchs als eben auch vor dem Hintergrund der oben ausgeführten definitorischen Präzisie-

rung von Melacha wie folgt gegeben: Melacha meint zielstrebiges schöpferisches und darin

formgebendes, materiewandelndes Wirken. Awoda meint pflegerisches, erhaltendes, operie-

rendes und in diesem Sinne (Systemanforderungen be-)dienendes Wirken; es erschafft nicht,

es erhält und verfeinert. Die gleiche Unterscheidung zieht sich über die Translation der LXX

bis in den neutestamentlichen Sprachgebrauch hinein: Der Melacha entspricht die Poiesis, das

„Tun“ oder „Verfertigen“ sowie das Poeima, das „Werk“ oder „Gebilde“27; der Awoda das

Ergon, die „Arbeit“. Interessant wirkt der Unterschied der implizierten Herrschaftsverhältnis-

se, die die beiden so unterschiedlichen Konzepte transportieren: Die Melacha ist ein Ausdruck

menschlicher Weltbeherrschung – und steht daher wie oben ausgeführt in potentieller Kon-

kurrenz zum Weltenherrscher. Die Awoda ist ein Ausdruck bestimmungsgemäßer Zu- bzw.

Unterordnung, in der der Mensch „den Acker bewirtschaftet“ und „der Scholle dient.“28 Umso

stärker die rabbinische Polarisierung zwischen Melacha als Ausdruck der menschlichen Urbe-

stimmung zum Mitherrschen und der darin erinnerten Exoduslegende („befreit von der Schol-

le“) einerseits und der Awoda und dem damit verbundenen „Frondienst Ägyptens“ als Aus-

druck des Herrschaftsverlustes andererseits. Diese Perspektive kann freilich der Qualität der

Awoda nicht voll gerecht werden, ist doch das dauerhafte welterhaltende Wirken Gottes nicht

weniger bedeutsam als sein schöpferisches29. Wollte man diese beiden differenten Konzepte

von Arbeit daher in einen weniger symbolischen und weniger wertenden, sondern einen mehr

gleichwertigen, komplementären Bezug zu einander bringen, so könnte man beispielsweise

ohne Schwierigkeit von der Melacha als dem innovativen und von der Awoda als dem iterati-

ven Aspekt menschlicher Arbeit und Tätigkeit im Allgemeinen sprechen (vgl. Hörning 2004:

19): Melacha als Neubeginn30, Awoda als Kontinuierung31. Melacha als Werken, Awoda als

27 vgl. Theologisches Begriffslexikon 1986: 1391 28 Der Gen 3 Vertreibungsnarration folgend war die Zuordnung zur Adamah zunächst keineswegs im gleichen

Sinne negativ konnotiert wie dann ab Gen 3,17 (Fluch des Ackers) und Gen 4,2 (der „Ackermann“ als „Diener

der Adamah“). 29 so im z.B. Ps 104, 27-30 und im NT z.B. Joh 5,17 (mit „ergazomai“ als Gegenstück des Avad in der LXX) 30 Zu der befreienden Erkenntnis, dass in jeder Handlung der Keim eines möglichen Neubeginns steckt, vgl. auch

Arendt 2008: 215: „In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen

dasselbe.“ 31 Dass das Sabbatgesetz allerdings nur die Melacha verbietet während es die Awoda nicht berührt, mag den

modernen Blick befremden, da die Leitdifferenz des Sabbats eine so gänzlich andere ist als die moderne Diffe-

renz von {Erwerbs-Arbeit | Freizeit} und die erlaubte Awoda keineswegs „ohne Anstrengung“ bedeutet.

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Wirken. Ausgedrückt in differenztheoretischer Notation: Arbeit = {Melacha / Werken | Awo-

da / Wirken}32. Da nur die Melacha am Sabbat verboten ist, könnten wir nun auch formulie-

ren: {Melacha = Neubeginn | Menuha = Sabbatruhe} bzw. in Erweiterung:

Leben33 = {{Werken | Wirken} | Ruhen von den Werken}34.

5. Der Begriff der Arbeit im Vergleich

Mit der Unterscheidung verschieden ausgerichteter Arbeitsbegriffe steht die semitische Spra-

che nicht alleine. Wie Arendt (2008: 99ff.) zeigt, hatte das klassische Griechisch eine ähnlich

scharfe begriffliche Unterscheidung menschlicher Tätigkeit.35 Es werden demnach unter-

schieden:

• Die Hausherren (οικεται), die sich ausschließlich dem Politischen widmen und im öf-

fentlichen Raum denken, sprechen und handeln.

• Die Werkleute (δεµιυργοι bzw. βαναυσοι), die ein freies Handwerk ausüben, sich

aber nicht politisch beteiligen. Der Arbeitsbegriff hier ist die ποιεσισ bzw. als Verb-

form ποιεο.

• Die Sklaven (δουλοι), die „mit ihrem Körper der Notdurft des Lebens dienen“

(Arendt 2008: 99), also die zum Lebensunterhalt nötige Arbeit leisten und damit den

Herren die politische Teilnahme überhaupt erst ermöglichen. Der entsprechende Ar-

beitsbegriff ist das εργον bzw. als Verbform εργαζεσθαι.

Nicht nur, aber doch vor allem auf Basis dieser klassischen Unterteilung verfolgt Arendt in

ihrem Werk „Vita Activa“ die Tätigkeit(en) des Menschen – auch etymologisch – durch die

Jahrtausende und kommt zu dem Schluss, dass sich des Menschen tätiges Leben in drei Tä-

tigkeitsarten ausdrückt: 32 An dieser Stelle wird aufgrund der vergleichbaren Unschärfe des Begriffs „Asa“ dieser nicht berücksichtigt.

Weiter unten wird er auf vorsichtige Arte wieder aufgegriffen werden. 33 Da der gesamte jüdische Lebensrhythmus durch die Unterscheidung der Wochen- von den Sabbattagen ge-

prägt ist, erscheint diese Verallgemeinerung hier möglich. Die Aufmerksamkeit unserer Betrachtung soll jedoch

durchgängig auf der rechten Seite der Gleichung liegen. 34 Wobei wie gesagt die Awoda am Sabbat nicht untersagt ist und insofern streng genommen nicht in strikter

Differenz vom Sabbat steht. Sie steht dennoch nicht im Zentrum, sondern tritt zugunsten der Ruhe ganz zurück. 35 Es ist zu bedenken, dass eine solcherart analytische Begriffsdifferenzierung ihrer reinen Natur nach eine dezi-

diert griechische Denkweise reflektiert und damit ganz im Gegensatz steht zu der eher „ganzheitlichen“ Natur

der semitischen Sprache(n). Es ist sicher nicht abwegig, in den diesbezüglichen rabbinischen Diskussionen den

hellenistischen Einfluss auf die hebräische Denk- und Diskurskultur zu erkennen. Natürlich kann sich auch der

Autor diesem Einfluss nicht entziehen, es hätte sonst wohl keine Arbeit mit dem vorliegenden Titel gegeben.

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• Das (öffentliche, politische) Handeln und Sprechen, das sich in ergebnisoffener sozia-

ler Interaktion ausdrückt und das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“ kollektiver

Sinnorientierung immer weiterwebt36.

• Das Herstellen des Homo faber, vermittels dessen sich die Weltaneignung und Behei-

matung des Menschen in einer ihm unmittelbar zunächst unwirtlichen Umwelt qua

Werkzeugbeherrschung und technologischem Fortschritt (aber auch künstlerischem

Ausdruck) vollzieht.37

• Das eigentliche Arbeiten und Sich Mühen, das dem Menschen – wie jedem Lebewe-

sen – um des reinen Lebenserhalts willen seitens der entropischen Naturgesetze38 ab-

verlangt wird. Girmes (2009) hat hier hilfreich anstelle des missverständlichen Arend-

tschen Allgemeinbegriffs „Arbeiten“39 den Begriff „In Gang Halten“40 vorgeschlagen.

Alle diese Kategorien haben gemeinsam, dass sie aktiv tätige Formen menschlicher Tätigkeit

bzw. Arbeit41 sind (die Vita activa eben) und sich als solche von den erkennenden und reflek-

tierenden42 mentalen Denkprozessen (der Vita contemplativa nämlich) abgrenzen. Wenn man

wollte, könnte man also wie folgt zusammenfassen: vita comprehensiva = {vita activa =

{handeln & sprechen | herstellen | arbeiten bzw. erhalten} | vita contemplativa}. Und obwohl 36 Mit diesem Ausdruck (so nicht bei Arendt) ist gezielt auf den Kulturbegriff von Clifford Geertz (Geertz 1992)

referiert. Genauso nahtlos ließe sich hier die von S. J. Schmidt (Schmidt 2003) eingeführte konstruktivistische

Begrifflichkeit der Geschichten (als Konsequenz des Handelns) und Diskurse (als Konsequenz des Sprechens)

anfügen. 37 An die nun vorgenommene Unterscheidung zwischen (politischem) Handeln einerseits und herstellendem

Werken andererseits könnte man mit der aristotelischen Unterscheidung zwischen „phronesis“ (als implizites

Handlungswissen) einerseits und „techne“ (als explizierbares Prozesswissen) andererseits anschließen. Vgl. dazu

bezugnehmend auf H. G. Gadamer Rese 2007: 144. Das soll hier über den Hinweis hinaus, dass Herstellen als

„techne“ eng mit „Technik“ verbunden ist, nicht weiter verfolgt werden. 38 oder mit christlicher Lesart: „der gefallenen Schöpfung“ 39 Die Unterscheidung zwischen „Herstellen“ und „Arbeiten“ arbeitet Arendt sehr erhellend aus: „So unterschei-

det das Griechische zwischen πονειν und εργαζεσθαι , das Lateinische zwischen laborare und facere oder

fabricari..., das Französische zwischen travailler und ouvrer, das Englische zwischen labour und work, das

Deutsche schließlich zwischen arbeiten und werken. In allen Fällen tritt nur in den Worten für „Arbeit“ die Ne-

benbedeutung von Not und Mühe deutlich hervor. Im Deutschen sagte man ursprünglich nur von Leibeigenen,

die in der Landwirtschaft arbeiteten, dass sie „arbeiteten“; die Handwerker „werkten“.“ (Arendt 2008: 99, Fn. 3,

Hervorheb. im Original). 40 Wir werden ihn mit gleicher Bedeutung im Folgenden zu „Erhalten“ sprachlich vereinfachen. 41 Wo nicht anders expliziert nutzen wir diese beiden Begriffe hier synonym. 42 Diese Unterscheidung geht m.W. auf Friedrich Herbart zurück, der sie in seiner „Allgemeinen Pädagogik aus

dem Zwecke der Erziehung abgeleitet“ (1885: 57ff.) wenn nicht erfindet, so doch zu Bekanntheit bringt.

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Arendt als Philosophin ganz in der griechischen Tradition des Vorzugs der Denkarbeit vor der

körperlich tätigen Arbeit steht, folgt sie (als Jüdin vielleicht auch wiederum gar nicht überra-

schend) zumindest in „Vita activa“ doch der jüdischen Tradition, der „Aktion das letzte Wort“

zu geben (Fackenheim 1999: 135) und die tätige über die sinnende Tätigkeit zu stellen43.

Nehmen wir nun den Vergleich der oben ausgeführten rabbinischen Begrifflichkeit zu der nun

über Arendt hergeleiteten griechischstämmigen vor, so ist sowohl die formale (nämlich: drei-

geteilte) als auch inhaltliche Parallele nicht zu übersehen. Sehr gut abgrenzbar erhalten wir so:

• Melacha / Werken = Poieo / Herstellen

• Awoda / Wirken = Ergazomai / Erhalten

Die Schärfe und geradezu Präzision dieser ersten beiden Begriffspaare resultiert mithin gerade

aus dem Detailgrad rabbinischer Begriffsdefinition an der Praxisfrage der Sabbatverbote. Ins-

besondere der Definitionskern von Melacha als „substanzändern“ bzw. „formgebend“44 ist so

eindeutig „technisch“ und die Logik seines Sabbatverbotes so eindeutig auf die kreative

Schaffenskraft des Menschen bezogen, dass insbesondere die Zuordnung des rabbinischen

Melacha zum Arendtschen Herstellen fast zwangsläufig erscheint. Aufgrund der sprachlich

weit weniger scharfen Bestimmung des hebräischen Asa sowie der fehlenden Konsistenz der

Zuordnung zu einem eigenen griechischen Begriff45 formulieren wir andererseits nur vorsich-

tig die in Klammern gesetzte Analogform:

• (Asa / Tun = Handeln und Sprechen46).

Wie belastbar diese vorwiegend etymologisch orientierten Begriffsdifferenzierungen auch

sein mögen und wie mehr oder weniger hilfreich sie sich für ein Beantworten der Ausgangs-

frage auch erweisen mögen, so wirken sie doch weder unhaltbar noch unfruchtbar. Eine wei-

tere begriffliche Differenzierungsdimension tut sich auf, wenn man die von Heschel 2003

betonte Zeit – Raum Differenz betrachtet. Heschel wie auch Urbach stellen den jüdischen

43 Hier könnten wir mit Girmes 2009 einem Exkurs zu den „basalen Aufgaben und Tätigkeiten menschlichen

Lebens“ folgen, innerhalb dessen Sie aufbauend auf Arendt und Herbart sechs „kontemplative“ und drei „aktive“

Grundaufgaben des Menschen in einen topographischen Zusammenhang bringt und als Grundlage einer Meta-

sprache disziplinübergreifender Aufgabenorientierung vorschlägt. 44 Der Schöpfungsbericht (Gen 1,2) des Substanz- und Formgebens in einer substanzlosen (tohu) und (wa) form-

losen (bohu) – wohl als liquide gedachten – Urmasse klingt natürlich an. 45 Denn „asa“ entspricht in der Tradition der LXX ebenfalls das „poiein“ (vgl. Theol. Wörterbuch 1986: 1391). 46 Die Doppelbedeutung des hebräischen ָּדָבֽר (z.B. Jes 58,3+13) entspricht ganz wunderbar der Arendtschen

Konzeption vom „Handeln und Sprechen“ als einer Form menschlicher Tätigkeit. Wir finden hier eine begriffli-

che Breite, die dem Gebrauch des oben besprochenen Begriffs Asa ebenso eignet und daher eine (zugegebener-

maßen schmale) Grundlage bilden soll, um die Begriffsparallele zu definieren.

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„Gott der Zeit“ dem typisch heidnischen „Gott des Raums“ (Urbach 1987: 72) gegenüber:

„‘The day of the Lord‘ is more important to the prophets than ‚the house of the Lord‘.“ (He-

schel 2003: 73). Interessant: Mit Girmes oder auch Latour bedacht, findet die vom Sabbat

ausgeschlossene Melacha in der Dimension des Raumes statt: Räumlich ausgedehnte Materia-

lien werden durch Menschenhand (bzw. bei mentalen Konstrukten: durch Menschenwort) zu

einem weiteren Bestandteil der Menschenwelt und reihen sich ein in die Plethora der Dinge47.

Die allerdings, obwohl als Ausdruck menschlicher Schöpfungskraft entstanden, sich doch

keineswegs mit einer rein passiven Rolle braver Untertanen des menschlichen Herrschers zu-

frieden geben. Vielmehr scheint es im Angesicht solch komplexer Aktanten wie Computer,

Roboter und zurückschlagender Naturgewalten48 berechtigt, den Dingen eine eigene

„Agency“ (vgl. Böhme 2006: 74), um nicht zu sagen, listige Widerspenstigkeit49 zuzuschrei-

ben. Und so werden die von Menschenhand als Werkzeuge geschaffenen Dinge zu geheimen

Drahtziehern, mithin zu den eigentlichen Herrschern50, die Wohl und Wehe der Menschen

entscheidend mit zu beeinflussen vermögen: „..so würden wir wirklich uns selbst gleichsam in

die Falle gegangen sein, bzw. die Sklaven – zwar nicht… unserer Maschinen, aber – unseres

eigenen Erkenntnisvermögens geworden sein, von allem Geist und allen guten Geistern ver-

lassene Kreaturen, die sich hilflos jedem Apparat ausgeliefert sehen, den sie überhaupt nur

herstellen können, ganz gleich wie verrückt oder wie mörderisch er sich auswirken möge.“

(Arendt 2008: 11). Sehr gut schließt sich hier die Heschelsche Interpretation der sabbatischen

Menuha-Ruhe als temporäre und symbolische Befreiung von dieser Tyrannei der Dinge an:

„Six days a week we live under the tyranny of things of space; on the Sabbath we try to

become attuned to holiness in time“ (Heschel 2003: xviii). Der Sabbat wird damit zum dauer-

haften Symbol sowie zum temporären Erleben der heilsamen Überwindung der (nun reflexiv

gegen den Menschen gerichteten51) Zivilisation, der urmenschlichen Kulturaufgabe, des

Diensts an der Scholle, und somit gleichsam zur Freiheit von den „gerufenen Geistern“52. Der

Sabbat als Kunst der Zivilisationsüberwindung: „the art of surpassing civilization“ (Heschel

2003: 17). 47 Vgl. z.B. Latour 2000: 231 für das bekannten Diktum „Die Menschen sind nicht mehr unter sich.“ (Hervor-

heb. im Original). 48 Man denke beispielsweise auch an einen virusbefallenen PC, ein streikendes Auto oder ein zur Übernachtung

auf Flughäfen zwingenden Discountflugsystem mit benennbaren Ausfallswahrscheinlichkeiten. 49 wie sie de Certeau - allerdings für personale Akteure - beschreibt (1988: 13) 50 In Heschels Worten: „as if the forces we had conquered have conquered us“ (Heschel 2003: 17). 51 Siehe dazu auch Ulrich Becks Konzept der „Nebenfolge“ (Beck 1996). 52 Von denen wir schon seit Goethe wissen, dass wir sie nicht mehr loswerden.

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Nun können wir mithilfe der von Girmes vorgeschlagenen, oben schon erwähnten, topogra-

phischen Konzeption menschlicher Tätigkeiten noch einen gedanklichen Schritt weitergehen.

Neben den klassischen Kantschen Dimensionen von Rau und Zeit führt Girmes – u.a. Her-

barts Diktum von den drei in der Erziehung zu behandelnden Dimensionen, nämlich: „Sa-

chen, Formen, Zeichen“ (Herbart 1885: 54) folgend53 – die Dimension „Sinn“ bzw. „Bedeu-

tung“ ein. Während wir wie ausgeführt die Melacha leicht der Dimension Raum zuordnen

können, befindet sich unserer Betrachtung zufolge auf der Ebene der Zeit die die Dinge und

das Leben erhaltende Awoda54. Da sich aber eine in-Gang-haltende aktive Tätigkeit nicht gut

verträgt mit dem existenziellen Lebensgenuss einer wahren Menuha-Sabbatruhe, darf vor dem

Hintergrund der dreigeteilten Dimensionierung die vorsichtige Anfrage an Heschel gestellt

werden, ob der Sabbat wirklich in der Dimension Zeit verortet werden sollte oder eventuell

nicht überzeugender in der von Sinn und Bedeutung? Kann der Sabbat als „palace in time“

wirklich als zeitliches Phänomen55 konzipiert werden? Kann er größer sein als die Zeit, wenn

er „in der Zeit“ ist? Und muss er nicht größer sein als beides, Raum und Zeit, wenn er mit

Ewigkeitshorizont Sinn und Hoffnung stiften will? Ist der Sabbat nicht eher ein „Palast aus

Zeit“ als ein „Palast in der Zeit“? Ein „Palast des Sinns“, ausgedrückt in der Zeit, nämlich

dem siebten Tag. Ein „Palast des Sinns“, ausgedrückt dann aber auch gleichermaßen im

Raum, nämlich an eben jedem Ort, an dem seiner ein Mensch gedenkt und ihn damit „in die

Zeit“ holt?!56 Zusammengefasst hieße das:

{{Melacha / Raum | Awoda / Zeit} | Menuha / Sinn }

6. Synopse und Schlussfolgerung

In Zusammenschau mit der weiter oben ausgeführten Notation: vita comprehensiva = {vita

activa = {handeln & sprechen | herstellen | arbeiten bzw. erhalten} | vita contemplativa} erge-

ben sich nun zwei Möglichkeiten: Die Sabbatruhe als Erlebnis wahrer Lebensessenz (s.o.) ist 53 Hierbei werden Sachen räumlich entweder als Ding oder als Raum, Formen als temporäre Konstellationen und

Abläufe in der Zeit und Zeichen als semantische Signifikanten verstanden. Die drei Dimensionen finden sich

übrigens in sehr ähnlicher Form auch in der systemtheoretischen Literatur als „sachliche, zeitliche und soziale“

Ebenen z.B. von Sinn (vgl. Baecker 2010). 54 Eine Aufgabe, die bekannterweise von den Rabbinen im Extremfall der Lebenserhaltung schon immer über

den Sabbat gestellt wurde. 55 Heschel spitzt es ja in diese Richtung zu, wenn er sagt: „Judaism is a religion of time aiming at the sanctifica-

tion of time“ (Heschel 2003: xv). 56 Eine dezentrale Konzeption, die sich am Ort der feiernden Familie manifestiert. Ebenso wie im Judentum

schon immer Sabbat gefeiert wurde: im Herzen und im Heim – und nicht primär an der einen heiligen Stätte.

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entweder – wie eben angedacht – eine auf der Sinndimension beheimatete aktive Tätigkeit

bedeutungsvollen und beziehungsstiftenden Handelns und Sprechens oder aber eine kontemp-

lativ-reflexive Tätigkeit jenseits des aktiv tätigen Lebens. Die erste Option erscheint zunächst

naheliegend, ist doch die moderne Sabbatpraxis stark auf die Pflege familiärer Beziehungen57

und mithin auch der gezielten Heilung von Beziehungen58 orientiert. Vor dem Hintergrund

der durchgehenden Abgrenzung des Sabbats vom Verricht der eigenen „Geschäfte“59 und

Ziele, Taten und Worte kann dieser Gedanke dann doch nicht durchgehalten werden. Zu ein-

deutig sind die Referenzen, die den Sabbat als bewusste Abwendung von allem alltäglich

Menschlichen ausweisen und als erinnernde, eingedenkwerdende Hinwendung zum göttlichen

Bezugspunkt bestimmen. Wie glücklich oder unglücklich die scholastisch eingefärbte Tradie-

rung der „Vita contemplativa“ als kategoriale Bezeichnung für das Wesen des Sabbats auch

sein mag, es scheint gegeben, dass das jüdische Verständnis der im Sabbat enaktierten und

zelebrierten Lebensessenz das einer reflexiven, kontemplativen Betätigung – oder vielleicht

besser: Seinsweise60 – ist. Damit steht der Sabbat also außerhalb aller drei Arendtschen Tätig-

keitsformen und aller drei o.g. Weltdimensionen und damit auch über der Dimension Sinn.

Der Sabbat kann dann doch nicht als „Palast des Sinns“ konzipiert werden, der sich in Zeit

und Raum ausdrückt. Vielmehr scheint er ein Bewusstseinsmoment zu sein, innerhalb dessen

sich die Fragen nach den Dingen (Raum), Bedarfen (Zeit) und Wünschen (Sinn) dieser Welt

nicht stellen, der diese irdische Verankerung also transzendiert. Gleichzeitig muss er – schon

um der jüdischen Wertschätzung des Arbeitsalltages und der menschlichen Normalität willen,

aber auch um seiner Positionierung auf der Metaebene willen – als rückbezüglich auf die ir-

disch-menschliche Dimension konzipiert werden: Der Sabbat als Bewusstseinsmoment, der

57 Quelle: Persönliches Gespräch mit einer jüdischen Bekannten. 58 Z.B. in Anlehnung an das mit dem Genuss des Sabbats verbundene „wahre Fasten“ (Jes 58) mittels versöh-

nenden, vergebenden und versprechenden Handelns. In verwandter Konzeption sind Vergebung und Verspre-

chen für Hannah Arendt die beiden Mittel des Menschen, um mit der zwangsläufigen Ergebnisoffenheit und

Nichtrücknehmbarkeit einmal getanen Handelns und einmal ausgesprochenen Sprechens umzugehen (Arendt

2003: 300ff.). 59 So die Übersetzung von ֵחֶפץ (Jes 58,3+13) in allen gängigen Übersetzungen. „Gutdünken“ schiene mir eine

möglicherweise alternative Übersetzung, die den lustvollen Anklang an das eigene „Gefallen“ (vgl. Gesenius

1962: 249f.) noch beinhaltete. 60 Hier ließe sich mit Fromm die ehrwürdige Differenz vom „Haben oder Sein“ anschließen. Aus Platzgründen

wird hier darauf verzichtet.

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Raum, Zeit und Sinn in eine („Gott und den Menschen“) wohlgefällige61 Synthese zu bringen

vermag, der dem gläubigen Juden einen das Hier und Jetzt umfassenden Sinn zu kreieren(!)

vermag und in dieser Schöpfungshandlung genau das göttliche Herrlichkeitshandeln eben

nicht nur symbolisch, sondern tätlich zur Erscheinung zu bringen vermag, welches dank der

Sabbatgebote nun auch nicht mehr durch menschliche Tätigkeiten überdeckt zu werden droht.

Der Sabbat also nicht als ein Guthandeln, nicht als ein Ruhehandeln und auch nicht als ein

Nichthandeln, sondern vielmehr als ein Raum machendes, loslassendes und Sinn-Synthese-

Emergenz ermöglichendes „Gott Gott sein lassendes62“, „Gott zulassendes“ Handeln.63 Der

Sabbat also als Bewusstseinsmoment: „it is the moment that lends significance to things“

(Heschel 2003: xiii). Als in diesem qualitativ zeitlosen Sinn dann doch wieder als “palace in

time”: Als Seins-Moment. Als wahrhaft spirituelle Erfahrung, die sich gleichzeitig ihrem Er-

leben nach der Zeit entzieht, operativ aber natürlich der Zeit (und des Raumes) bedarf, um

sich ereignen zu können: Der Sabbat als Ereignis64.

Wir fassen zusammen:

Vita = {vita activa = {Melacha = Werken = Herstellen im Raum | Awoda = Wirken = Erhal-

ten in der Zeit | Asa = Tun = Handeln & Sprechen mit Sinn} | vita contemplativa = (Sabbat =

Menuha = spirituelles Sein und Erleben)}

Und damit in Verkürzung:

Leben = {Tätiges Handeln | Erlebendes Sein}

Und da menschliches Leben nicht apersonal, sondern immer nur identitätsbasiert gedacht

werden kann muss gelten:

Selbst = {(in-spiriertes) Tun | (spirituelles) Sein}

61 Trotz der exegetisch gewagten (und für die Aussagekraft auch nicht entscheidenden) Anspielung scheint mir

das Wortspiel stimmig. 62 Das ist natürlich das Gegenteil des „Gott einen guten Mann sein lassenden“ Handeln... 63 Im Anschluss an Baeckers Konzept der Negativsprache (Baecker 2010) ließe sich der Sabbat konzipieren als

Negation (eben nicht: Negierung) der Arbeit, als produktives und kreatives Negativ, vor dessen Hintergrund und

in dessen positiv gestimmtem „Leerraum“ (vgl. Bollnow 1997 zum Konzept des gestimmten Raumes) überhaupt

erst der Wille und die Inspiration zum aktiven Leben entstehen kann. 64 Das Ereignis als Potentialität, als Latenzzustand einer noch unbestimmten Gegenwart ist ein schönes Bild für

die Potentialität des außerzeitmäßigen, außerhalb-aller-menschlichen-Tätigkeit-stehenden (und damit einer z.B.

jüdisch gestimmten Spiritualität Leer- und Ereignisraum öffnenden) Sabbatereignisses. Vgl. Seel 2003: 42: „Ge-

genüber der etablierten Praxis meldet sich im Ereignis die Potentialität des Gegenwärtigen zurück.“.

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Wobei diese Formel mit George Spencer Brown natürlich als „re-entry“ (vgl. Spencer-Brown

1972: 65 sowie verständlicher Schönwälder-Kuntze 2009: 183ff.) zu verstehen ist: das (not-

wendig spirituelle) Sein kann nicht anders als das Tun zu in-spirieren. Die Ruhe und qualita-

tive Zeitlosigkeit der Sabbatleere ist zugleich Distanz von (jeder Form von) Arbeit wie auch

eine bestimmte Art spiritueller Arbeit selber. Als „Wiedereinschluss des Ausgeschlossenen“65

(Schönwälder-Kuntze 2009: 297) und Einheit der Differenz zwischen „leerer Selbstreferenz

und oszillierender Fremdreferenz“66 (Baecker 2010: 18) ist sie zugleich ein Moment der Be-

wusstwerdung der {Arbeit | Ruhe} - Differenz und damit ein Erleben des Lebensrhythmusses

selber. Hieraus erklärt sich auf faszinierende Weise, warum sich die Awoda (des rhythmisch

fließend erhaltenen Lebens) eben nicht von der Sabbatruhe als „Essenz des guten Lebens“

trennen lässt: „Außerhalb des vorgeschriebenen natürlichen Kreislaufes, in dem ein Körper

sich erschöpft und regeneriert, in dem die Mühsal der Arbeit von der Lust des Verzehrens und

die Müdigkeit von der Süße der Ruhe gefolgt ist, gibt es kein bleibendes Glück, und was im-

mer diese kreisende Bewegung67 aus dem Gleichgewicht bringt... vernichtet die elementar

sinnliche Seligkeit, die der Segen des Lebendigseins ist.“ (Arendt 2008: 127).

Auf diese Art wird schließlich das Selbst zur Einheit der Differenz auf einer höheren Ebene.

Was sich aus der begrifflichen Differenzierung ergibt, ist eben kein Dualismus, kein religiöses

Schisma zwischen unheiligem Alltag und heiligem Feiertag, sondern vielmehr eine Einladung

zu einer spirituell inspirierten Lebensweise, die Arbeit und Ruhe, Tun und Lassen, Welt und

Schöpfung, Erde und Himmel, Mensch und Gott zu integrieren versteht. Der Sabbat als jüdi-

scher Weisheitsweg.

Könnte nun nicht im Verweben der menschlichen Tätigkeiten, von den banalsten bis zu den

erhabensten, mit dem reflexiven Akt demütig loslassenden Zurücktretens von all dieser Ge-

schäftigkeit auch eine Inspiration für die personale Identitätsbildung zwischen Weltbearbei-

tung und Welterneuerung, Iteration und Innovation, Dauer und Wandel liegen? Oder gar eine

65 nämlich der Einheit von Arbeit und Sabbat: zum einen in der Arbeit des Sabbats (d.h. die Einhaltung der Sab-

batgebote) und zum anderen in der sabbatlichen, also Sabbat-inspirierten Alltagsarbeit (wie sie alttestamentlich

im Erez Yisrael, im „verheißenen Land, in dem Milch und Honig fließt“, neutestamentlich in der „Ruhe des

Volkes Gottes, Hebr 4,19 sowie bei Heschels Diktum vom Sabbat als „affirmation and exaltation of labor“ zum

Ausdruck kommen) 66 nämlich zwischen der Unverfügbarkeit des Sabbatsereignisses einerseits und der Reflexion auf die Verfügbar-

keit alternativer und im Lebensvollzug alternierender Handlungsmodi andererseits 67 nämlich die oszillierende, regelmäßig in sich selbst wieder eintretende Bewegung zwischen den verschiedenen

Formen des aktiven, kontemplativen und ruhenden Handelns

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Inspirationsquelle für eine pragmatisch orientierte und überdisziplinär inspirierte Menschen-

wissenschaft, die im Angesicht der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nach tragfähigen

Handlungsmodellen sucht?

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