Michael Lattke: Paul Anton de Lagarde und das Judentum

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    Michael Lattke

    Paul Anton de Lagarde und das Judentum

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    2014, Michael Lattke, The University of Queensland ([email protected])

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    Fr Ingrid und John Moses

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    Inhalt

    Vorbemerkung und Dank ...................................................... 7

    EinleitungZur Entstehung und Anlage dieser Untersuchung.................. 912

    I Lebenslauf von Paul Anton Btticher, seit 1854Paul Anton de Lagarde, mit einem Anhang zuBtticher/Lagarde und Friedrich Rckert ............................. 1320

    II Martin Luthers Schrift Von den Jden und jren Lgen(On the Jews and Their Lies) ............................................... 2134

    III Aussagen von Lagarde ber sich selbst ............................... 3544

    IV Aussagen von Lagarde ber Juden und Judentum ............... 4555

    V Lagarde imAntisemiten-Katechismusvon TheodorFritsch ................................................................................... 5764

    VI Lagarde und der Berliner Antisemitismusstreit ................... 6582

    VII Verbreitung und Einfluss derDeutschen Schriftenbiszur Mitte des 20. Jahrhunderts ............................................. 8387

    VIII Lagardes Bedeutung fr das Gttinger Septuaginta-Unternehmen .......................................................................... 8998

    IX Die Bewertung von Lagarde in der Nachkriegsdebatteber Antisemitismus, Rassismus und VlkischeBewegung ................................................................................ 99115

    Zwei Schlussbemerkungen .................................................... 117

    Appendices ............................................................................ 118135

    Appendix ITabellarischer Lebenslauf von Paul Anton Btticher,

    seit 1854 Paul Anton de Lagarde ..................................... 119120Appendix IILagardes autobiographische Mitteilungen mit einemWerkeverzeichnis aus dem Jahre 1889 ............................ 121130

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    Inhalt6

    Appendix IIIInhalt der Mnchener Ausgabe (MA III) ................... 131134

    Appendix IVPaul Anton de Lagardes Septuaginta-Arbeitseit 1866 ........................................................................... 135

    Abkrzungen ........................................................................ 137138

    Literatur ................................................................................. 139153

    Register: Autoren und andere Personen ................................ 155159

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    Vorbemerkung und Dank

    Wie es zu diesem Bchlein kam und wie ich es gegliedert habe, steht in derEinleitung. Eine englische Kurzfassung habe ich als Main Paper auf der 68.Konferenz der SNTS (Studiorum Novi Testamenti Societas) in Perth, WesternAustralia, am 24. Juli 2013 vorgetragen. Fr die englische bersetzung danke

    ich Frau Marianne Ehrhardt, die schon hufiger schwierigste deutsche Passa-gen gemeistert hat. Zwei ihrer bersetzten Texte erscheinen auch hier, weil siein englischer Sprache bisher gar nicht oder nur ungengend vorlagen.

    Gewidmet ist dieses Bchlein den deutsch-australischen Freunden Ingrid undJohn Moses. Von Professor John Moses habe ich viel gelernt in Bezug aufdeutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, besonders was die Bewer-tung von Dietrich Bonhoeffer angeht. Die Freundschaft mit ihm und seinerdeutschen Frau Ingrid, einer der bedeutendsten Frauen im australischen undinternationalen Hochschulwesen, begann schon kurz nach meiner Ankunft inBrisbane am 8. Februar 1981. Sie waren anwesend, als ich am 10. April 1982zu einem Mitglied der Lutheran Church of Australia konfirmiert wurde.

    Als getaufter Katholik (Stettin/Szczecin 1942) bin ich wegen und auch trotzMartin Luthers evangelisch geworden und werde es wohl bleiben, allerdings

    nicht im Lagardeschen Sinne. Die Hoffnung auf die befreiende iustificatioimpii solagratia, solafide verbindet mich nicht nur mit der deutschenReformation, sondern vor allem mit dem Evangelium des palstinischen JudenJesus und mit der Theologie des hellenistischen und christusglubigen JudenPaulus.

    The University of Queensland, Brisbane, Australia

    10. April 2014 Michael Lattke

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    Einleitung

    Zur Entstehung und Anlage dieser Untersuchung

    Nachdem ich im August 2011 per Email die ehrenvolle Einladung durchSNTS Secretary Prof. dr. Martinus C. de Boer erhielt, to present a MainPaper at the meeting of the Society in 2013, hat es eine Weile gedauert, die

    freie Wahl des Themas zu treffen. Als ich die Einladung nach einigem Zgernannahm, hatte ich mir nur zweierlei vorgenommen, nmlich erstens etwasDeutsches in englischer Sprache vorzutragen und zweitens nicht zu technischzu werden.

    Ausgeschlossen hatte ich sogleich die Oden Salomos und das Johannes-evangelium, ber dessen Erforschung ich berhaupt erst zu meiner Lebens-arbeit an den Oden Salomos gelangt war. Auch das formgeschichtliche undinhaltliche Problem von Hymnen im Neuen Testament im Rahmen der helle-nistischen, jdischen und frhchristlichen Literaturgeschichte wollte ich nichtnoch einmal aufgreifen und meinen Kolleginnen und Kollegen aus aller Weltvorlegen. Es wre sowieso schwierig gewesen, einen Vortrag auszuarbeiten zuirgendwelchen umstrittenen Begriffen und Stellen, die es im Neuen Testamentimmer geben wird, weil der Groteil meiner Bibliothek Anfang 2011 durch

    berschwemmung vernichtet wurde.Es gibt ein Zitat aus dem Lehrgedicht des rmischen Grammatikers undDichters Terentius Maurus (2./3. Jh. n.Chr.), das sich auf die Auffassungsgabeder Leser bezieht:Pro captu lectoris habent sua fata libelli(zitiert nach Kudla1999, 52 [Nr. 260]; vgl. Kroh 1972, 604). Irgendwann im Jahre 2011 sah ich

    beim Wiederaufbau meiner Bibliothek in einem Antiquariat zwei gut erhalteneBnde von Paul de Lagardes Schriften fr das Deutsche Volk. Diese Bcherhat nun, sozusagen in wiedergeborener1Weise, noch einmal ihr Schicksal er-eilt. Ich kaufte sie vor allem deshalb, weil ich mich nach mehr als 30 Jahren anmeinen Lehrer Julius Afalg (19192001) erinnerte, bei dem ich in MnchenArmenisch, Koptisch und Syrisch studiert hatte. Ich wollte nun endlich ver-stehen, warum der Kenner der christlichen Kaukasusvlker nicht nur in Bezugauf diese Sprachen das Talent und die orientalistische Bedeutung von Paul de

    1 Den Begriffen wiedergeboren und Wiedergeburt werden wir fter beiLagarde begegnen. Er wollte wiedergeboren werden, wie er spter auch andere zurWiedergeburt aufrief (Stern 2005, 39; vgl. Stern 1961, 11). Auf Fritz Stern komme ichausfhrlich zurck (s.u. Abschnitt IX).

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    Lagarde betonte, sondern ihn auch ohne erkennbaren Anlass und meistenserregter als gewhnlich gegen Vorwrfe verteidigte. Diese Vorwrfe bezo-gen sich stets auf den deutschen Nationalismus und Antisemitismus.2Da wir Studentinnen und Studenten einer jngeren Generation angehrten als derehemalige Soldat Afalg im zweiten Weltkrieg, gab es hier und da Meinungs-verschiedenheiten, was die systematische Vernichtung der Juden durch die

    Nazis betraf. Kam die Sprache auf Holocaust (griechisch "#$%&'()*+) oderShoah (hebrisch hawvh), so wurde dieser Vlkermord dergestalt durch ihnrelativiert, dass er die Ermordung von vielen Hunderttausend Armeniern durchdie Trken vor allem in den Kriegsjahren 1915 und 1916 nicht nur als Aghet

    (armenisch![Unglck, Katastrophe], so die Armenier selbst), sondernals erstenVlkermord bezeichnete.

    Die provozierende und zuweilen Ekel3erregende Lektre derDeutschenSchriften von Lagarde fhrte mich zu der Entscheidung, als Deutscher inAustralien der internationalen Versammlung von historisch-philologisch ge-schulten und theologisch ausgebildeten Neutestamentlerinnen und Neutesta-mentlern den in unseren und weiteren theologischen Kreisen in Vergessenheitgeratenden Gttinger Professor Paul de Lagarde vorzustellen und vor allemseine verstreuten Aussagen ber und gegen die Juden (einschlielich seinerAnsichten von Jesus und Paulus) kritisch unter die Lupe zu nehmen und anseiner Eigendarstellung zu messen. Dieser hochgebildete radikal-konservative4

    2Zum Zusammenhang zwischen diesen beiden modernen Erscheinungen vgl. den

    Forschungsberblick bei Grfe 2010, 83231, bes. 100217. Zu den heute disku-tierten Theorien des Antisemitismus (Holz 2010) kann und will ich nicht beitragen.Der in der Reihe Kontroversen um die Geschichte erschienene BandAntisemitismuskann fr weitere Literatur herangezogen werden (Nonn 2008, 11833).

    3 Ekel ist ein Lieblingswort von Lagarde selbst. Er gebrauchte es nicht nur, umseine dem Alten Testamente gewidmeten Studien zu charakterisieren (MA II, 231;vgl. M. II, 323), sondern auch zum Ausdruck der Beschwerde ber die Theilnahm-losigkeit der Zunft (M. II, 372), womit er vor allem Theologen, Orientalistenmeinte (351). Lagarde kritisierte sogar die ekelhafte Buchmacherei seines Vaters(Rahlfs 1928, 13), die er dann allerdings noch bertraf. Fr Juden als unwieder-geborene Gelehrte wie Zunz war er entweder mit unauslschlicher Spottlust oder mitEkel erfllt (MA II, 223). Schon als fast Dreiigjhriger schrieb er an seine Frau ausFranzensbad, dass die Juden hier so zahlreich und eklig sind (A. de Lagarde 1894,56). Er war also auch ein sehr frher Vertreter des Bder-Antisemitismus (HAS 3[2010] 3740).

    4

    Schon 1853 bezeichnet sich Lagarde als Radikal-Konservativer, obwohl er eigent-lich mit der Politik gar nicht anfangen will: Aber die Zukunft gehrt meiner Partei,den Radikal-Konservativen, welche bis auf weiteres nur von mir vertreten ist (MA I,21; vgl. Paul 1996, 57). In der Monographie von Lougee ber radical conservatism inGermany findet sich auch ein Abschnitt ber die Juden (1962, 21015), in dem

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    Einleitung 11

    Deutsche und Professor fr orient[alische] Sprachen (Deppe 1975, 216), dersich selbst in einem eigentmlichen Sinn als evangelisch betrachtete undnicht selten als Theologe bezeichnete, hat einen nicht geringen Anteil daran,dass sich durch seine publizierte Verkndigung deutsche Brger, deutscheKirchen und deutsche Wehrmacht nicht frh und stark genug gewehrt habengegen die Diskriminierung und Verfolgung der Juden im sogenannten DrittenReich. Die notwendige Lektre weiterer Verffentlichungen von Lagarde, be-sonders seiner zweibndigen Symmicta und vierbndigen Mittheilungen, unddie damit zusammenhngende Erforschung der wichtigsten Literatur berLagarde und seine Wirkungsgeschichte, den (nicht nur deutschen) Antisemitis-

    mus und die sogenannte Judenfrage lieen mich im Laufe der Zeit erkennen,dass das fr die biblisch-historische Theologie und Religionswissenschaftrelevante Material sowohl den Zeitrahmen eines mndlichen Vortrags als auchden Umfang eines Zeitschriften-Beitrags sprengen musste. Eine neue Biogra-

    phie zu schreiben, erbrigt sich bis auf Weiteres nach dem Erscheinen desBuches von Ulrich Sieg vor nicht allzu langer Zeit (Sieg 2007), auch nach denkritischen Anmerkungen von Thomas Grfe (Grfe 2010a, 6169, bes. 64).Eine umfassende Monographie ber Leben und Werk von Lagarde zu schrei-

    ben, war nicht mein Ziel. Die vorliegende Untersuchung, deren Begrenzungder Titel signalisiert, gliedert sich in neun Punkte von verschiedenem Umfang.

    Beginnen werde ich mit dem Lebenslauf von Paul Anton Btticher, seit1854 Paul Anton de Lagarde (I mit Appendices I und II). Dabei sttze ichmich vor allem auf seine eigenen Aussagen und die Erinnerungen seiner FrauAnna (A. de Lagarde 1894), unter Heranziehung von weiteren Biographien

    und wichtigen biographischen Abschnitten (z.B., in chronologischer Reihen-folge: Schemann 1920; Rahlfs 1928; Hartmann 1933; Stern 1961; Hanhart1987; Paul 1996; Sieg 2007).5 Wegen der berragenden Bedeutung, die derDichter und Orientalist Friedrich Rckert fr Lagardes Leben und Werk hatte,folgt auf den Lebenslauf ein kurzer Anhang zu Btticher/Lagarde und Fried-rich Rckert, in dem es ausschlielich um das berhmte Gedicht Vom Bum-lein, das andere Bltter hat gewollt geht.

    Als Vorbereitung auf die Hauptteile werde ich auf dem Hintergrundbedauernswerter Auslassungen von Themen und vor allem Personen, dieeine ausfhrlichere Behandlung verdient htten, Martin Luthers Schrift Vonden Jden und jren Lgensprechen lassen (II). Da diese berhmt-berchtigte

    (Fortsetzung)

    Lagardes Antisemitismus nur mit seiner Kulturkritik begrndet wird. Immerhin ringtsich der amerikanische Professor zu der Warnung durch: Lagardes position is a diffi-cult one to support (215).

    5Lagarde mit Jahr bezieht sich immer auf Paul de Lagarde; A. de Lagarde mit Jahrbezieht sich auf Anna de Lagarde.

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    Schrift (Kaufmann 2013, 90, 97) selbst unter heutigen nicht-spezialisiertenLutheranern und vor allem im englischsprachigen Gebiet kaum bekannt ist,fge ich dem deutschen Originaltext der Zitate eine englische bersetzung bei.

    Das Kernstck meiner Untersuchungen besteht aus den folgenden Punkten:Aussagen von Lagarde ber sich selbst (III); Aussagen von Lagarde berJuden und Judentum (IV); Lagarde imAntisemiten-Katechismus(V); Lagardeund der Berliner Antisemitismusstreit (VI). In diesen Hauptpunkten, besondersin V und VI, geht es sozusagen um Lagardes Wirkungsgeschichte und kultur-geschichtliche Einordnung in seiner eigenen Zeit.

    Danach komme ich wegen ihrer immensen Wirkungsgeschichte auf

    Lagardes Deutsche Schriftenzurck (VII mit Appendix III). Diese Wirkungs-geschichte hrt bis auf wenige Ausnahmen am Ende des zweiten Weltkriegsabrupt auf.

    Im nchsten Punkt komme ich auf die besondere Rolle zu sprechen, dieLagarde bis heute fr das Gttinger Septuaginta-Unternehmen hat (VIII mitAppendix IV). Schon hier muss gesagt werden, dass Lagarde weder dessengeistiger Vater war (so richtig Smend 1990) noch dass mit his plan ofeventually editing the Ur-Septuaginta [] the Gttinger Septuaginta Unter-nehmen arose (gegen Fernndez Marcos 1990, 219).

    Abschlieend werfe ich einen Blick auf die Bewertung von Lagarde in derneuesten Debatte ber Antisemitismus, Judenfeindschaft und Vlkische Bewe-gung (IX).

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    I

    Lebenslauf von Paul Anton Btticher, seit 1854 Paul Anton deLagarde, mit einem Anhang zu Btticher/Lagarde und Friedrich

    Rckert

    Am 2. November 1827 wurde Paul Anton Btticher in Berlin geboren. SeineMutter Luise Klebe, deren ursprnglich lothringische Familie mtterlicherseitsden Namen de Lagarde trug, starb am 14. November 1827 im Alter von kaum19 Jahren. Das Verhltnis zu seinem frommen und strengen Vater Dr. JohannFriedrich Wilhelm Btticher, Gymnasiallehrer und Autor vieler, brigens auch

    judenfeindlicher Bcher (vgl. Rahlfs 1928, 10; Hartmann 1933, 46), war vonAnfang an sehr gespannt. Kindheit und Jugend bezeichnete Lagarde selbst alsfreudlos und kontaktarm (S. II, 138). Seine eigentlichen Erzieher warennicht Menschen oder Lehrer, sondern Bcher.1Ostern 1844 begann der Knabemit dem Studium der Theologie in Berlin und geriet unter den Einfluss desAlttestamentlers Ernst Wilhelm Hengstenberg und des Orientalisten FriedrichRckert. Das dritte Studienjahr verbrachte der immer noch nicht Zwanzig-

    jhrige in Halle an der Saale, wo er seine autodidaktischen Sprachstudienvorantrieb und sich sogar mit dem Gedanken trug, spter Judenmissionareauszubilden (Rahlfs 1928, 24).2 Im Zeitraum von knapp sechs Jahren verf-fentlichte Btticher schon neun Schriften, meist in Halle und von verschie-denen Druckern hergestellt (siehe Appendix I).3Am 23. Juni 1849 wurde ermit einer dieser Schriften zum Dr. phil. in Berlin promoviert. Zeitlich fllt diePromotion fast zusammen mit Bttichers politischer Wende anlsslich des

    1Im Jahre 1880 nannte er in autobiographischer Weise Jakob Grimms grammatik

    und mythologie, Lachmanns ausgabe der werke Wolframs von Eschenbach (S. II, 138,sic) sowie Bcher von Johann Salomo Semler (17251791) und Johann David Micha-elis (17171791), vor allem dessen Curae in versionem Syriacam actuum apostolico-rum(so der korrekte Titel dieses 1755 in Gttingen erschienenen Buches).

    2 In scheinbar philosemitischer Weise sagte er 1887, dass er sich als Schul- undHochschullehrer Schlern jdischer Nationalitt gegenber als Missionar versteht,

    dass sich aber die Dankbarkeit der jdischen Rasse nicht bewhrt hat und er stetsden einzelnen Juden von der Nation der Juden unterscheidet (MA II, 231).3In Appendix I bezeichnet * Werke, die digital in archive.org oder als Nachdruck

    zugnglich sind. Appendix II enthlt eine fast vollstndige, von Lagarde selbst nachSprachen geordnete Liste seiner Bcher.

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    Waldeck-Prozesses und seiner Abwendung vom vterlichen Pietismus. InHalle verlobte er sich Mitte 1850 mit Anna Berger und habilitierte sich einJahr spter mit einer weiteren dieser kleinen Schriften in Halle. Da ihm nochein theologischer Grad fehlte, stellte er selbst einen Antrag an die theologischeFakultt in Erlangen, ihn zum Lic. theol. honoris causa zu machen.4Dererfolgreiche Antrag wurde untersttzt von Franz Delitzsch, den Lagarde spterin belster Weise angreifen sollte. Ohne feste Anstellung oder Ernennung aneiner Universitt schlug sich Btticher mit Stipendien durch und verbrachtefast zwei Forschungsjahre in London, z.T. auch in Paris. Erst ein halbes Jahrnach der Heirat mit Anna wurde aus Paul Btticher am 9. Oktober 1854

    offiziell Paul de Lagarde, und von 1855 an erschienen alle Bcher und Bro-schren unter diesem hugenottischen Namen seiner vermgenden Grotanteund Adoptivmutter Ernestine de Lagarde. Seine eigene Behauptung von 1887,sein Name stamme nicht von seiner Mutter, sondern von der Gromutter (MAII, 226), ist daher nur die halbe Wahrheit. Bewerbungen um eine Professurscheiterten in Gieen, Halle, Jena, Kiel und Marburg. Darum war Lagarde von1854 bis 1866 Lehrer5 an verschiedenen Berliner Schulen (vgl. Rahlfs 1928,5053), bis er freigestellt wurde fr einen dreijhrigen Forschungsurlaub, andessen Ende er am 27. 2. 1869 als Professor fr orientalische Sprachen nachGttingen berufen wurde (Gttinger Arbeitskreis 1968, 3), und zwar als

    Nachfolger von Heinrich Ewald6 (vgl. Perlitt 1987) in der philosophischenFakultt der Universitt. Seine Ernennung in Gttingen erfolgte Ostern 1869.Inzwischen war ihm auch in Halle auf Grund von Genesisgraece (1868) derDr. theol. honoris causa verliehen worden. Dazu passt seine emphatische Aus-

    sage: Ich bin Theologe, nicht Orientalist (M. III, 34; siehe Appendix II). Erstsieben Jahre spter wurde er ordentliches Mitglied der Gttinger KniglichenGesellschaft der Wissenschaften (1876), und weitere 11 Jahre spter folgte die

    4 Im Zusammenhang mit seiner misslungenen Nostrification in Berlin betonte

    Lagarde: ich bin Erlanger Licentiatus theologiae honoris causa (M. IV, 82). Wie esdazu kam, sagte er nicht.

    5 In diese Zeit als Lehrer fllt seine Verffentlichung von Iosephi Scaligeri poe-mata omnia ex museio Petri Scriverii(Berlin: Verlag von A. Bath [Mittlers Sortiments-

    buchhandlung], 1864); vgl. M. III, 3 (1889) 3441, bes. 36. Editio altera aus demselbenJahr ist zugnglich in archive.org. Dazu schrieb mir der niederlndische Kollege HenkJan de Jonge: I happen to be an industrious user of one specific publication by Paul deLagarde, namely, his edition of the (almost) complete Greek and Latin poetry of thehumanist Joseph Scaliger (15601609), which is a most useful and excellent piece of

    work. I even published sort of an appendix of poems de Lagarde overlooked or omittedintentionally (Email vom 29.8.2013).6Zu Heinrich Ewald, the greatest Old Testament scholar whom Germany so far

    produced (Andrew L. Drummond), one of the Gttingen seven and a loyal Hanove-rian subject, vgl. Stern 1961, 16; 2005, 45.

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    Lebenslauf 15

    Ernennung zum Geheimen Regierungsrat (1887). Dies geschah im Jahr derVerffentlichung des zweiten Bandes seiner Mittheilungen (der erste warschon 1884 erschienen), auf den noch zwei weitere Bnde folgen sollten (1889und 1891). Im dritten Band stellte Lagarde eine nach Sprachen geordnete Listeseiner Bcher zusammen und bat darum, seinen vorangestellten Mini-Lebenslauf durch kein Wort zu vermehren (M. III, 34; siehe Appendix II).Er erwhnt seinen Geburtsnamen darin nicht. 7Nach dem Erscheinen desvierten Bandes erlag Lagarde am 22. Dezember 1891, drei Tage vor seinemLieblingsfest, den Folgen einer pltzlich notwendig gewordenen Darmkrebs-operation. Bei der Beerdigung am Weihnachtstag sprachen in Gttingen der

    Alttestamentler Rudolf Smend d.. (18511913) und der Prorektor Ulrich vonWilamowitz-Moellendorff (18481931).8Lagarde war trotz seiner Polemikgegen den Protestantismus nichtaus der Kirche ausgetreten (gegen Stern 1961,23; 2005, 54). Der von Lagarde gewhlte Spruch Via crucis est via salutisaufseinem Grabkreuz stammt von seinem Lehrer Hengstenberg (Rahlfs 1928, 21,94; Sieg 2007, 11) und bezieht sich weniger auf den historischen Kreuzwegdes Juden Jesus als auf Lagardes eigenen, oft beklagten Leidensweg eingebil-deter Verfolgungen und seine Sehnsucht nach der ewigen Heimat. Denn ervergleicht die Welt mit einem Kfig, von welchem frei zu sein des Christenheiligste Sehnsucht ist (M. IV, 74). So wrde ich den genannten Spruch eher

    7Bei Lagarde selbst findet sich 1891 in einem Abdruck der ursprngliche Hinweis

    von 1849 auf Boetticher rudim.mythol.Semit. (M. IV, 33). Ein peinliches Versehenbei einem Pedanten wie Lagarde.

    8Zitate aus der Rede des damaligen Prorektors nach Wilamowitz-Moellendorff1928, 23135 (fast identisch mit Wilamowitz-Moellendorff 1901, 9096: Am Sargevon Paul de Lagarde: Rede gehalten im Auftrage der Universitt Gttingen am 25.Dezember 1891 von dem zeitigen Prorektor). In den Erinnerungen von 1928 fehlt dieausfhrliche Anmerkung von 1901 (9091), wo es heit: Lagarde war aus der Landes-kirche ausgetreten; also war die amtliche Beteiligung eines Geistlichen ausgeschlossen,und doch hatte der Tote ein christliches Begrbnis nicht nur gewnscht, sondern aucheinen Anspruch darauf. Bei seiner fhrenden Kampfstellung lagen antisemitische oder

    philosemitische Strungen nicht auerhalb der Mglichkeit (90). Den Kollegen, deran dem Grabe die rituellen Gebete der reformierten Kirche verlas (91), nennt der seit1897 in Berlin wirkende Gelehrte nicht beim Namen (es war Rudolf Smend d..). Inseiner Rede kommen Juden und Judentum nicht vor (vgl. aber Wilamowitz-Moellen-

    dorff 1928, 3841). Der Kern seines Wesens sei weniger durch das Stichwort Ge-lehrter als vielmehr durch Prophet bezeichnet: Lagarde fhlte sich als Prophet(233). Erinnerungen an das eigenwillige und schwer zu vollstreckende Testament, indem Lagarde die Gttinger Gesellschaft der Wissenschaften zum Erben eingesetzthatte (235), knnen hier auf sich beruhen (vgl. Sieg 2007, 27882).

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    im Sinne von per aspera ad astra verstehen. 9Mit der Subscriptiote marty-rum candidatus laudat exercitus (Te Deum, 2. Strophe) zu seinen autobiogra-

    phischen Ausfhrungen (S. II, 13848) reihte sich der auf widerwrtigeWeise Gehinderte (138) und mit Fen getretene Paria (140) schon zu Leb-zeiten ein in das leuchtende Heer christlicher Mrtyrer.

    Im Laufe des Jahres 1892 erschienen viele Nachrufe (vgl. A. de Lagarde1894, 34), von denen ich nur denjenigen erwhnen mchte, den seinglhender Verehrer und spterer Biograph Ludwig Schemann schon im Januarschrieb und im VI. Stck (Juni 1892) der Bayreuther Bltter verffenlichte.Dieser schwlstige Nekrolog (Schemann 1892, 185) bezeichnete ganz im

    Sinne Lagardes das Ueberwuchern des Judenthums in unserem ffentlichenLeben als schlimmstes Symptom der Fulnis am deutschen Volksleibe(191) und sprach vom Moder jdischtheologischer Begriffseindringlinge(194). Schemann als Mann nahen Umgangs mit Lagarde pries ihn als Pro-

    pheten und Sendbote[n] des Hchsten (19799). Zu seinen Schwchenrechnete er nichtdie antisemitischen Ausflle Lagardes (199202). Er rief aus,Lagarde sei in diesem seinem Vaterlande nicht so aufgenommen worden, wieer es verdient und wie sein Volk es bedurft htte (202). Das sollte sich in denkommenden Jahrzehnten ndern. Als Bayreuther schrieb Schemann, dassLagarde zwar unserem Meister [Wagner] nie hold gewesen sei (208), aberdennoch die Besprechung seiner letzten Schriften in unserem Kreise aus-drcklich selbst gewnscht habe. Mit drei Ausrufezeichen verabschiedete sichSchemann von dem nach seiner Meinung kaum ersetzbaren Professor der Gt-tinger Georgia Augusta (209):

    Er war darum nicht weniger unser! dess zum Zeichen werfe ich hier imNamen unserer Genossenschaft eine Scholle Bayreuther Erde, der heiligen,theueren, geweihten Bayreuther Erde, in seine Gruft!Fahr wohl denn, Du grosser, edler, deutscher Mann!

    Mit der chaotischen Art und Weise, in der Lagarde alle seine Schriften heraus-gehen lie, hat er sich selbst um einige Frchte seiner Arbeit gebracht (vgl.z.B. Rahlfs 1928, 2729). Das Prinzip des Selbstverlag[s] hat brigens derSohn vom Vater bernommen (Rahlfs 1928, 14).10Den frhen Rat Friedrich

    9 Herkunft und Belege von Hesiod bis Spinoza bei Kudla 1999, 418 (Nr. 2741):

    Durch Mhsal zu den Sternen; Durch Nacht zum Licht.10Dazu einige Aussagen von Lagarde selbst: Ich habe stets auf eigene Kosten zu

    drucken gehabt (M. III, 100); Ich verdrucke mein eigenes, nicht wie herr Schlott-mann, fremdes geld (S. II, 79 [sic], in der Polemik gegen Konstantin Schlottmann[18191887, seit 1866 in Halle], auf den Lagarde neidisch war); Meine der Septugintagewidmeten Studien haben eine ganz auergewhnliche Theilname gefunden. DieseTheilname besteht freilich nicht darin, da die Exegeten des alten Testaments und

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    Lebenslauf 17

    Rckerts an den Einundzwanzigjhrigen, seine Bchelchen dick ange-stopft von Gelehrsamkeit und unntigen Citaten zu einem ordentlichendeutschen Buche [zu] verarbeiten, hat er nie beachtet.11 Lagarde war nacheigener Ausage Rckerts Lieblingsschler, eigentlich sein einziger Schler(M. II, 96). Mehr als einmal bezeichnete er Rckert als geliebten Lehrer undFreund (z.B.M. II, 82; S. I, 178; S. II, 139). Darum ist es mehr als berechtigt,hier einen kurzen Anhang zu Btticher/Lagarde und Friedrich Rckert folgenzu lassen ber einen winzigen strenden Punkt im Werk des deutschen Dich-ters.

    Anhang zu Btticher/Lagarde und Friedrich RckertDa Lagarde selbst Gedichte geschrieben hat, deren Gesamtausgabe seineWitwe drucken lie (vgl. Lagarde 1897; 21911), wre es eine interessanteAufgabe fr Germanisten, den Einfluss von Friedrich Rckert auch in dieserHinsicht zu untersuchen. In Lagardes Bibliothek befand sich ein undatierterBand Gedichtevon Rckert (A. de Lagarde 1892, 3*), nicht aber dessen 1813erschienenes und oft nachgedrucktes Bndchen mit den fnf Mrlein fr seinedreijhrige Schwester (Rckert 1933; Rckert 1980). Zu diesen Erzhlungen

    bzw. Gedichten gehrt das Gedicht Vom Bumlein, das andere Bltter hatgewollt. Irmtraud Petersson verdanke ich den Hinweis auf dieses Gedicht,dessen 4. Strophe folgendermaen lautet:

    Aber wie es Abend ward,Ging der Jude durch den Wald,

    Mit groem Sack und groem Bart,Der sieht die goldnen Bltter bald;Er steckt sie ein, geht eilends fortUnd lt das leere Bumlein dort.

    (Fortsetzung)sonstige ,Theologen meine (auf meine Kosten gedruckten) [] Bcher kaufen, son-dern darin, da sie schne Worte machen, mit denen ich den Setzer, Drucker, Papier-hndler, Buchbinder, Buchhndler [] nicht bezahlen kann (M. III, 22930); Ichhabe unter groen Opfern meine zahlreichen Urkunden zum Drucke gebracht (M. III,238). In einem Flugblatt von 1884 nennt Lagarde die Dieterichsche Buchhandlung inGttingen seine [C]ommissionsbuchhandlung (M. III, 240), in der er fr seineDrucke reichlich gute Setzer erzogen hat (M. III, 382). Machte ein Setzer Fehler, somusste Lagarde es selbst dokumentieren mit der Bemerkung: [so: Nachlssigkeit des

    Setzers] (M. III, 376), im Inhaltsverzeichnis beim doppelten Druck von Nr. 25.11 Die Unordnung in seinen Bchern verteidigte Lagarde einmal gegenber denangeblich nur naschenden Exegeten des alten Testaments mit folgenden hochnsigenWorten: In den Onomastica steht sehr viel Wichtiges, aber man mu etwas wissen, umes finden zu knnen (M. II, 383).

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    Lagarde und das Judentum18

    Whrend die von Krss publizierte Nachkriegs-Version (Krss 1959, 212) undder neueste Nachdruck (Rckert 2013, 9) fast identisch sind mit zwei Internet-Versionen12, gibt es neuere Versionen, in denen der Jude als ein Bauererscheint13oder zum Ruber mutiert14. Lagarde kannte das Gedicht in seinerursprnglichen Form vielleicht aus der von Rckert selbst zusammengestelltenAuswahl seiner Gedichte (Rckert 1841, 109111; 21847, 121123; 151868,5860; vgl. 211884, 6264), vielleicht auch aus einer anderen Sammlung (z.B.Rckert 1840, 485487; 1843, I.330332), sicher aber aus dem weit verbreite-ten Lesebuch von Philipp Wackernagel (vgl. Erinnerungen an FriedrichRckert inM. II, 82), dessen Fassung sogar den Vorzug verdient in Bezug auf

    die erste und elfte Strophe (Wackernagel 1843 =

    6

    1846, I.2627). Man darfvermuten, dass Rckerts Mrlein bzw. Mhrchen Lagarde gefallen hat wieviele andere seiner Gedichte (mit Ausnahme derjenigen, in denen Wein undGastwirtschaft gepriesen werden). Rckert fand Lagardes Gedichte mit einergewissen Ironie allerliebst, sinnreich und tief, nur gar zu sehr (M. II, 99).Wie bekannt und beliebt Rckerts Gedicht war, das er zum Christtag, d.h.Weihnachten 1813 ausgeheckt hat (Blaich 1980), beweist z.B. einerseitseine verbreitete Ausgabe von Rckerts Werken (Ellinger 1897, I.277279),andererseits die 453!237 mm groe und sehr abstoende Wasserfarben-Zeichnung Zu Rckert, Friedrich: Vom Bumlein, das andere Bltter hatgewollt, Der Jude im Wald von Josef Hegenbarth aus dem Jahre 1921, diesich unter der Inventar-Nr. C HA 2849 im Josef-Hegenbarth-Archiv der Staat-lichen Kunstsammlungen Dresden anschauen lsst.15Auf den Text in derLeselaube (d.h. Ging ein Bauer durch den Wald) verweist der englische

    Wikipedia-Artikel ber den antisemitischen Cartoon Vom Bumlein, dasandere Bltter hat gewollt (1940 im nationalsozialistischen Filmstudio Zei-chenfilm GmbH hergestellt), obwohl im Zitat von Strophe 4 der Jude ge-nannt wird (nach einer anderen Quelle). Wann und von wem die Vernderung

    12Vgl. http://gedichte.xbib.de/und http://www.zeno.org/(Zugriff: 20.8.2013 u..).13Vgl. z.B. Leselaube von www.garten-literatur.de(Zugriff: 20.8.2013 u..).14Im Praxisbeispiel von Gabriele Czerny, die sich auf ein Lesebuch der Primarstufe

    gesttzt hat (Email vom 2.8.2013); vgl. Czerny 2005.15 Online Collection (Zugriff 20.8.2013 u..). Die Art und Weise der Zeichnung

    knnte inspiriert worden sein vom Juden mit einem langen Ziegenbart und einemschbigen Rock im Mrchen Der Jude im Dorn (Grimm 1857, II.121125, bes.12223). Diese seit 1843 verstrkte Fassung endet mit folgenden Worten: Da lie der

    Richter den Juden zum Galgen fhren und als einen Dieb aufhngen. Zum litera-rischen Antisemitismus in den Schriften der Grimms vgl. Ehret 2009, 27071. La-garde kannte nicht nur die Deutsche Mythologie von Jacob Grimm, sondern natrlichauch Grimms Mrchen. Beide befanden sich in seiner Bibliothek (A. de Lagarde 1892,*2), auf die ich spter eingehen werde.

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    des Textes nach dem Untergang des Dritten Reiches vorgenommen wurde,kann hier offen bleiben. Eine Durchsicht der poetischen Werke von Rckertzeigt, dass er im Gegensatz zu seinem Schler Lagarde kein Antisemit war. 16Sonst htte er z.B. in dem zum Pantheon gehrenden Gedicht Bethlehemund Golgatha (vgl. Rckert 1882, VII.166168; 211884, 5657; 2013, 8789)Gelegenheit gehabt, einen scharfen Seitenhieb auf das antike Judentum aus-zuteilen. In der zwlfbndigen Ausgabe von 1882 findet sich unser Mrleinnatrlich auch, und zwar gleich am Anfang der Erzhlungen ber dieHeimath (Rckert 1882, III.57).

    16Im HAS2 (2009) findet sich mit Recht kein biographischer Beitrag zu Friedrich

    Rckert, wohl aber zu den Gebrdern Grimm (270271), Gustav Freytag (253255),Paul Anton de Lagarde (447448), Martin Luther (501506), Heinrich Mann (51314),Thomas Mann (514516), Friedrich Wilhelm Nietzsche (584586), Heinrich Gotthardvon Treitschke (838840) und Wilhelm Richard Wagner (865867), um nur eine kleineAuswahl der behandeltenPersonen(so der Titel des zweiteiligen Bandes) zu nennen.

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    JOSEF HEGENBARTHZu Rckert, Friedrich: Vom Bumlein, das andere Bltter hat gewollt,Der Jude im Wald (1921)

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    Martin Luthers Schrift Von den Jden und jren Lgen(On the Jews and Their Lies)

    Es gibt eine ganze Reihe von wichtigen Themen und Personen, die fr

    Lagarde von Bedeutung waren, die ich aber nicht eingehend behandeln kannund will. Ich begnge mich daher zunchst mit einigen Hinweisen auf ausge-lassene Themen und Personen, die in LagardesDeutschen Schriften(MA III)undMittheilungen(M. IIV) eine wichtige Rolle spielen.

    Zu den nicht eingehend behandelten Themen gehren in erster Linie dieBibel (passim), beim Neuen Testament besonders Einleitungsfragen und Ka-nongeschichte (MA I, 5053). Lagarde polemisierte gegen das sogenannteAlte Testament und das Verhltnis von AT/NT als das von Weissagungund Erfllung (MA I, 177, 254). Er bte scharfe Kritik an der revidiertenLutherbibel des Halleschen Waisenhauses (M. III, 33573). Er war neidisch,weil er nicht zu den von den kirchlichen Behrden berufenen Theologen vonallgemein anerkannter Autoritt gehrte, ber die er sich ebenso lustigmachte wie ber Mitglieder der Berliner Akademie (M. III, 372); die Revisionsei vllig veraltet und durch und durch unverwendbar (M. III, 373). Der

    Schluss seiner Kritik ist pomps wie immer: Ich ersuche, mit dem Gesagtenmeine Ankndigung einer neuen Ausgabe der Septuaginta 17 bis 30, die

    beiden Bnde meiner deutschen Schriften, und mein am 3 Oktober 1884 frdie konservative Partei Preuens entworfenes Programm zu vergleichen: manwird in diesen Bchern meine Gedanken weiter ausgefhrt finden (M. III,373). Die ganze Bibel nannte Lagarde die sogenannte Bibel (MA I, 149) und

    beklagte: Die Bibel wird als Ganzes nicht mehr gelesen (MA II, 97). Einer-seits konnte er sagen: Die beiden Testamente hat die Vorsehung aneinander-gefgt; andererseits: Kirche brauchen wir und Theologie, nicht Bibel (M.III, 371).

    Weitere hier ausgelassene Themen sind das Christentum und seine Ge-schichte (passim). Lagarde sieht es als erwiesen an, da das Christentum, alsoKatholizismus und Protestantismus, eine Entstellung des Evangeliums ist

    (MA I, 73). Zum Protestantismus beschrnke mich auf eine Aussage von1891, in der Lagarde Protestantismus und Judentum als gemeinsam Schiff-brchige angreift, weil jener den Antisemitismus fr eine Schmach des Jahr-hunderts, dieses den Protestantismus fr geschichtsfreien Liberalismus zuerklren alle Veranlassung hat (M. IV, 409; vgl. Hartmann 1933, 5473). Ich

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    behandele auch nicht seine verstreuten uerungen zum Religionsunterricht(passim, z.B. MA I, 21016), zur Schul- und Bildungspolitik (passim) und

    besonders zum Unterrichtsgesetz (MA I, 30525), zu Universitten (passim)und Wissenschaft (z.B. MA I, 45), Staat und Kirchen (passim, z.B. MA I, 77),zum Kulturkampf (passim, z.B. MA I, 146), zu Papst und Papsttum (passim,z.B. MA I, 39496) bzw. Vatikanismus (z.B. MA I, 269).

    Die vorliegende Untersuchung ist auch nicht der Ort fr die Behandlungvon Bemerkungen ber Lnder, Staaten und Vlker wie z.B. England undEnglnder, Frankreich und Franzosen, Italien und Italiener, sterreich undsterreicher, Polen, Preuen, Russland und Russen, Slaven, Ungarn (jeweils

    passim, vgl. Register in MA III). Was Lagarde zum Deutschen Reich, zuKaiser und Kaisertum, zur Geschichte Deutschlands und Europas eher in derRolle eines Kulturpessimisten als in derjenigen eines Politikers geuert hat(jeweils passim, vgl. Register in MA III; vgl. bes. Stern 2005 und Mommsen1927), kann und will ich nicht behandeln.

    Einige Aspekte der folgenden Themen werden auch hier anklingen, z.B.Kolonisation und deutsche Auswanderung (passim, z.B. MA I, 3335); Krieg1und Militr; Steuern2und Wirtschaft; Volk, Nation, Nationalitt (passim, vgl.MA I, 510; II, 325, jeweils im Register).

    Auf innerjdische Auseinandersetzungen, in die sich Lagarde eingemischthat, z.B. diejenigen zwischen Abraham Geiger und Heinrich Graetz in Breslau(MA I, 29295), gehe ich ebensowenig ein wie auf Lagardes Gutachten imFenner-Prozess (M. III, 323).

    Damit komme ich zu einigen von mir nicht nher behandelten Personen

    wie Abraham Berliner, an dessen Ausgabe des Targum Onkelos (M. II, 16382) Lagarde Kritik bte. Er nannte den jdischen Gelehrten nicht seltenBerliner-Akademie-Berliner (z.B. M. II, 129, 284). Weitere von Lagardenegativ bewertete Personen sind (in alphabetischer Reihenfolge, wie im Regis-ter von Sieg 2007):

    Otto von Bismarck (passim, vgl. MA I, 486 im Register); Franz Delitzsch(passim, z.B. MA II, 234); Paul Gssfeldt, Die Erziehung der deutschen

    Jugend, Berlin 1890 (M. III, 290323); Georg Wilhelm Friedrich Hegel (z.B.MA II, 6670; M. IV, 6974); Ernst Wilhelm Hengstenberg (18021868),Lehrer und Frderer Lagardes, dem aber jeder Horizont fehlte (MA II, 7176, bes. 73; M. IV, 7883); Ferdinand Kattenbusch (MA II, 280301; M. IV,

    1

    Das Heer sei das Gesundeste, was wir in Deutschland haben (MA I, 191); dieJugend will Krieg fr ein konkretes Ideal fhren, sie will Gefahr, Wagnis, Wunden,Tod (MA I, 439).

    2 In diesem Zusammenhang Polemik gegen Tabak und Alkohol als Geldquelleund Dividendenjauche (MA I, 245).

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    385422); August Neander3(17891850); Theodor Nldeke (MA II, 15763;M. III, 26180); Albrecht Ritschl (MA II, 322 im Register; M. IV, 384423,mit [typischem] Nachtrag 42327: Luther, von Otto Devrient. Fnfzehnte

    Auflage. Leipzig, Druck und Verlag von Breitkopf und Hrtel. Scene 5 und 6der sechsten Abtheilung); Friedrich Schleiermacher4(17681834); Konstan-tin von Tischendorf (18151874), der Klglichste der Klglichen (M. III,343; vgl. auch M. III, 288; MA I, 172); August Twesten (17891876),

    Nachfolger von Schleiermacher 1834 in Berlin, Lehrer und Frderer Lagardes,der aber auch die Aufgaben der Theologie nicht kannte (M. IV, 8494, bes.89); Leopold Zunz, von Lagarde immer Lipmann Zunz5genannt (Zweifel am

    Dr.-Titel von Zunz, auch durch Anfhrungszeichen bei Doctor [MA II, 22225;M. II, 10862]).Unter den negativ bewerteten Personen ragt Martin Luther hervor. Es wr-

    de sich lohnen, alle Aussagen von Lagarde ber Luther zusammenzustellen.Ich begnge mich hier mit einer typischen Bemerkung, die Lagarde sogarselbst in Auseinandersetzung mit Ferdinand Kattenbusch (s.o.) durch Wieder-holung hervorhebt (M. IV, 85; vgl. 407):

    In der Vergangenheit der lutherischen Kirche wurzelte [August] Twesten[s.o.] nicht: seiner feinen, mavollen, milden, reich ausgebildeten Naturmute der grobe, jeder Selbstbeherrschung baare, keifende, auf den Raumseiner zwei Nagelschuhe beschrnkte Luther antipathisch sein.

    Im 6. Kapitel des 1. Buches seiner Kulturgeschichte der Neuzeit (Die Deut-sche Religion) behauptet Egon Friedell (18781938), fr den Lagarde einer

    der klarsten und umsichtigsten politischen Denker war, Friedrich Nietzschehabe in Luther einen auf den Raum seinerNagelschuhebeschrnkten Bauergesehen (Friedell 2012, 270; vgl. 1139, 1410 und auch 154446 im Nachwortvon Weinzierl).6Die Charakterisierung von Luther als Bauer findet sich fter

    3Lagarde ist dieses heilig giftigen Juden sehr rasch mde geworden (M. IV, 88);

    der angeblich so liebevolle Mensch war ein Abgrund von Gift und Ha (M. IV, 9497, bes. 96).

    4 Ihn hat Lagarde als Kind gut gekannt, aber fast stets ein Grauen vor ihm emp-funden (M. II, 86; IV, 61). Lagarde zhlte ihn zu den schwchliche[n] Individuen(M. III, 322). Originalton Lagarde: Armer Schleiermacher (MA I, 183); so albernschleiermachert es (M. I, 384). Neben seinem Vater mag auch der KirchenvaterSchleiermacher Lagardes Antisemitismus mitgeprgt haben (vgl. Blum 2009, 734).

    5 Die Angriffe gegen den 90jhrigen Zunz gipfelten darin, da er ihn nicht Leo-

    pold Zunz, sondern bei seinem jdischen Namen, Lipmann, und Flscher nannte. Diessind keine Anklagen, sondern Beschimpfungen (Polnauer 1992, 3). Ich danke BerndtSchaller fr einen Sonderdruck von der Zeitschrift UDIM XVI (November 1992).

    6 Kontext des Zitats: Es gibt vielleicht keine zweite Persnlichkeit in der Welt-geschichte, ber die so widerstreitende Ansichten geherrscht haben und noch herrschen

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    bei Nietzsche, nicht aber die Nagelschuhe. Daher ist anzunehmen, dass derAntisemit Friedell Aussagen von Lagarde und Nietzsche kombiniert hat. Viel-leicht hat dabei Thomas Mann Pate gestanden, der in seinen Betrachtungeneines Unpolitischen Paul de Lagarde den Ehrentitel praeceptor Germaniae7

    (Fortsetzung)wie ber den Gegenpapst von Wittenberg. Katholiken haben ihn begeistert gepriesenund Protestanten haben ihn leidenschaftlich verabscheut, Atheisten haben ihn fr einengeistigen Erretter und fromme Mnner haben ihn fr einen Religionsverderber erklrt.Den einen gilt er als der ,deutsche Catilina, den andern als der ,grte Wohltter derMenschheit; Goethe sieht in ihm ,ein Genie sehr bedeutender Art, Nietzsche einen

    ,auf den Raum seiner Nagelschuhe beschrnkten Bauer; Schiller nennt ihn einenKmpfer fr die Freiheit der Vernunft, Friedrich der Groe einen ,wtenden Mnchund barbarischen Schriftsteller; man hat zu beweisen versucht, da er ein Fresser,Sufer, Lgner, Flscher, Schnder, Luetiker, Paranoiker, Selbstmrder gewesen sei,und deutsche Knstler haben ihn mit einem Strahlenkranz ums Haupt gemalt. ZuLagarde und Nietzsche vgl. Sieg 2007, 413 (Register); zu Lagarde und Wagner vgl.Scholz 2013, 221 (Register). Scholz betont im Vorwort zur ersten Ausgabe (Berlin:Parthas Verlag, 2000), dass der Wagnersche Antisemitismus [] sich grundlegendunterscheidet vom Rassenantisemitismus eines de Lagarde, Dhring oder gar Hitler(Scholz 2013, 1112). Er betont die Zurcknahme, ja Kehrtwende des frhen antisemitischen Denkens Wagners um 180 Grad, aber auch die Wagnersche Oppositiongegenber den nationalistischen, rassistisch-antisemitischen Propagandisten seiner Zeit,etwa Treitschke, [d]e Lagarde und Dhring (86), redet von Paul de Lagardes militantausgrenzendem Antisemitismus (125), spricht Hitlers antisemitischer Weltanschauung jegliche Originalitt ab unter Hinweis auf den Antimodernismus, denTreitschke und de Lagarde an Langbehn und Chamberlain weitergereicht hatten (129),unterscheidet Wagners Antisemitismus vom militanten Vokabular jener rden Biolo-gie des Rassischen und Vlkischen der Treitschke, de Lagarde, Dhring, Ahlwardt undderlei Autoren (141) und bezeichnet Paul de Lagarde sogar als einen der radikalstendeutschen Rassenantisemiten der ersten Stunde (155). Im Literaturverzeichnis charak-terisiert der Musikjournalist Scholz Lagardes Studie Juden und Indogermanen mitRecht als [b]eispielhaft rassistisch-antisemitische Hetz-Schrift (209). brigens hatWagner auf dem Hhepunkt seiner Judenfeindlichkeit sich dazu verstiegen, dieJuden als ,Ratten und Muse, die ,trichinenartig im Krper der anderen schma-rotzten, zu bezeichnen (82). Ob diese durch Cosimas Tagebcher bezeugte uerungRichard Wagners Einflu auf einen hnlichen Vergleich Lagardes ausgebt hat (s.u. zu

    M. II,339), kann hier auf sich beruhen. Insgesamt hatte Wagner ein durchaus gespal-tenes Verhltnis zum Judentum (Nowakowski 2009, 865). Noch zwei Jahre vorseinem Tod konnte er neidisch und verachtend (wie Lagarde) schreiben, der Jude

    (sic) sei das erstaunlichste Beispiel von Racen-Konsistenz, welches die Weltgeschich-te noch je geliefert hat (Wagner 1881, 39).7 Lehrmeister Deutschlands humanistischer Ehrentitel, der zuerst Philipp Me-

    lanchthon gegeben wurde (Kurzke in: Mann 2013, II.384). Kurzke erwhnt diezahlreichen Anstreichungen in der von Thomas Mann benutzten Auswahl der Schriften

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    verleiht und von Nietzsche, Lagarde und Wagner als den Groen diesesVolks spricht (Mann 1920, 26263; 2013, I.301302; vgl. schon Mann 2013,I.140).8

    Unter den von Lagarde wie Erzfeinde behandelten Theologen der Kirchen-geschichte ragen zwei besonders heraus, nmlich der hellenistische Jude undChrist Paulus (auf ihn komme ich spter zurck) und der deutsche Refor-mator Martin Luther, dessen furchtbare Sptschrift Von den Jden und jren

    Lgen (1543) ihn eigentlich htte erfreuen mssen.9Dass in den hasserfllten

    (Fortsetzung)

    von Lagarde (nmlich Daab 1913; vgl. Mann 2013, II.273, 383384, 390391). AufLagardes hufig zitierten Spruch Das Deutschtum liegt nicht im Geblte, sondern imGemte geht Thomas Mann am Ende seiner Betrachtungen ein (Mann 2013, I.598599; II.606607). Er kannte also den aus den Deutschen Schriften stammenden Ab-schnitt ber die Juden und das Judentum recht gut (Daab 1913 u.., 15256).

    8Schon 1916 hatte Mann in seinem Aufsatz Der Taugenichts Lagarde als gro-en und geistvollen Patrioten bezeichnet (Mann 2002, I.164). In der umstrittenen RedeVon deutscher Republik: Gerhart Hauptmann zum sechzigsten Geburtstag (1922)uerte er sich auch zu seinenBetrachtungenund verteidigte sie mit folgenden Worten:Ich widerrufe nichts. Ich nehme nichts Wesentliches zurck. Ich gab meine Wahrheitund gebe sie heute (Mann 2002, I.533). Die Rede endete mit dem Ruf: Es lebe dieRepublik! (559). In seiner am 15.10.1924 gehaltenen Rede zur Feier des 80. Geburts-tags von Nietzsche erwhnt Mann nur Richard Wagner, nicht mehr Lagarde (Mann2002, I.790). Damit kein falscher Eindruck von Thomas Mann entsteht, empfehle ichden judenfreundlichen Aufsatz Zur jdischen Frage von 1921 (Mann 2002, I.42738,

    bes. 437; vgl. II.28388). Dass sich in seinem Werk antisemitische Tendenzen undStereotype finden, ist dennoch kein Ruhmesblatt fr den Nobelpreistrger von 1929(Baganz 2009a, 51416). Einige seiner Texte stehen daher auch im Mittelpunkt derErforschung eines literarischen Antisemitismus (Krte 2010, 199).

    In seinem Kirchenlexicon wehrte sich Franz Overbeck in seiner (spteren) vlli-ge[n] Distanzierung von Lagarde gegen jeglichen Vergleich zwischen dem in metho-discher Hinsicht mangelhaften Gttinger Rhetoriker und seinem Freund Friedrich

    Nietzsche (Peter/Sommer 1996, 135). Zum ambivalenten Anti-Antisemitismus vonNietzsche vgl. Mittmann 2009, 585. Er selbst distanzierte sich in einem Brief an Theo-dor Fritsch (23.3.1887) vom deutschen Antisemitismus und machte sich lustig berdie Bcher jenes ebenso gespreizten als sentimentalen Querkopfs, der Paul de Lagardeheit. Eine knappe Woche spter (29.3.1887) schickte er Fritsch, auf den ich zurck-kommen werde (s.u. Abschnitt V), die drei bersandten Nummern Ihres Correspon-denz-Blattes zurck, hhnte ber den Principien-Wirrwarr der Antisemiten und

    zhlte Lagarde zu jenen Autoritten, welche von jedem besonneneren Geiste mitkalter Verachtung abgelehnt werden (beide Briefe in eKGWB; Zugriff: 3.10.2013);vgl. auch Paul 1996, 7778.

    9Zu Lagardes (nur z.T. kritisiertem) Paulus- und Lutherbild vgl. Fischer 1933, 8090. Dieser Artikel stellt am Anfang fest: Lagarde ist heute gegenwrtiger, als er es zu

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    und verchtlichen Bemerkungen von Lagarde ber Luther, die mir bekanntsind, niemals etwas ber Luthers Sptschrift steht, spricht Bnde. Er htte sichsonst nmlich mit ihm verbrdern und Luthers geistige Einflsse aner-kennen mssen.10 Denn man kann durchaus von einer teilweisen Parallelittder Wirkungsgeschichte von Lagarde und Luther sprechen, wie das folgendeZitat zeigt (Kaufmann 2009, 505):

    Die Wirkungsgeschichte von Luthers historisch bewegten uerungenber die Judenheit ist auerordentlich komplex. Seine Schrift Von denJuden und ihren Lgen stie selbst innerhalb des sich formierendenLuthertums auf Distanzierung oder verdeckten Widerspruch; z. T. wurde

    ihre Verbreitung durch obrigkeitliche Zensurmanahmen verhindert. Auchunter den Reformierten folgte man Luthers Polemik in aller Regel nicht.

    Ich sttze mich im Folgenden auf die Faksimile-Ausgabe11von 1543, zitiereLuther in der Sprachform seiner Zeit und hebe einige Begriffe wegen ihresVorkommens bei Lagarde durch Fettdruck hervor. Luther fragt in seinerSchrift von 1543: Was wollen wir Christen nu thun mit diesem verworffen /verdampten Volck der Jden? (215 [522]).12Den Obrigkeiten unterbreitet erfolgende sieben Ratschlge, die das Fazit der Errterung bilden und dieWanda Kampmann in ihrem Buch Deutsche und Juden schn (wenn man dasso sagen darf) zusammengefasst hat (1963, 45).13

    (Fortsetzung)seinen Lebzeiten war. Seine Gedanken sind weithin Gemeingut der Kreise geworden,denen es um vlkische Neubesinnung geht (78).

    10Es wurde mit Recht festgestellt, dass Lagardes Denken intuitiv und eigenwillig[idiosyncratic] war und er keinerlei geistige Einflsse anerkannte [he acknowledged nointellectual influences] (Stern 2005, 93 [vgl. Stern 1963, 55]).

    11Original in der Bayerischen Staatsbibliothek (Webdokument); vgl. auch WA 53(1920) 412552, bes. 52326 (Hinweise jeweils in eckigen Klammern). Statt LuthersDeutsch zu modernisieren, prsentiere ich in Anmerkungen die englische bersetzungder Zitate durch Martin H. Bertram (Luther/Bertram 1971), mit einigen Ergnzungen

    bzw. Korrekturen von Marianne Ehrhardt in Kursivschrift. Dies erscheint umsoberechtigter, als erstens die englische bzw. amerikanische bersetzung (= ET) zugng-licher ist als die WA und zweitens der ET im Gegensatz zur WA eine sehr gutehistorische Einleitung vorangeht (Bertram 1971, 12535). Seit 1948 gab es brigens(gegen Bertram 1971, 123) eine auch mit sehr ernsten Warnungen versehene erste ame-rikanische bersetzung, nmlich The Jews and Their Lies(Los Angeles, CA: Christian

    Nationalist Crusade, 1948 u..; Zugang: archive.org), die aber weniger zuverlssig ist.

    Die Namen der beiden bersetzer werden nicht genannt.12What shall we Christians do with this rejected and condemned people, theJews? (ET 268).

    13 Eine noch knappere Zusammenfassung steht in dem in einer Auszeichnungs-kandidatur befindlichen Wikipedia-Artikel Martin Luther und die Juden, in dem ich

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    Luthers Schrift Von den Jden und jren Lgen 27

    1. das man jre Synagoga oder Schule mit feur anstecke [], das kein Menschein stein oder schlacke davon sehe ewiglich; darin sie Christum und uns

    beliegen / lesteren / fluchen / anspeien und schenden (216 [523]).14Berufungauf Dtn 13 im AT.

    2. das man auch jre Heuser [] zerstre: Denn sie treiben eben dasselbigedrinnen / das sie in jren Schlen treiben (217 [523]). Behandlung wie dieZigeuner, auff das sie wissen / sie seien nichtHerrn in unserm Lande / wiesie rhmen / Sondern im Elend und gefangen (217 [523]). 15Der Hinweis aufdie Zigeuner [] bedeutet Heimatlosigkeit, Nomadentum, Recht- und Schutz-losigkeit (Kampmann 1963, 47).

    3. das man jnen neme alle jre Betbchlein und Thalmudisten [sic] / darinsolche Abgtterey / lgen / fluch und lesterung / geleret wird (218 [523]). 16

    (Fortsetzung)einen Hinweis auf Kampmann 1963 ebenso vermisse wie bei Kaufmann 2013. Das so-eben in 2. Auflage erschienene Bchlein (Kaufmann 2013, VI) des Gttinger Kir-chengeschichtlers ist von grundlegender Bedeutung fr die Erforschung von Lutherssogenannten Judenschriften und ihrer historischen Kontextualisierung (45).Luthers Handlungsempfehlungen (13), d.h. seine 1543 empfohlenen Manahmen(106) gegen die Juden hat Kaufmann auch zusammengefasst (12627). Fr dasVerstndnis der Schrift Von den Juden und ihren Lgen und ihres Verhltnisses zurfrheren Schrift Da Jesus Christus ein geborener Jude sein (1523) ist bei Kaufmannviel zu lernen. Besonders wichtig ist der Abschnitt Der innere Zusammenhang der dreispten ,Judenschriften (11027), aber auch das Kapitel Zur Rezeptions- und Wir-kungsgeschichte von Luthers ,Judenschriften (13445). Kaufmann betont, dassLuthers rhetorisch-polemische Mittel in den Judenschriften Elemente einesfrhneu-

    zeitspezifischen Antisemitismus enthalten (13132). Seine Zusammenfassung (14655) endet mit wichtigen Bemerkungen ber die Grenzen der Reformation und dieunendliche Scham und Trauer darber, was dem jdischen Volk auch im Namen unse-res Glaubens angetan wurde (155).

    Immerhin nennt Manns trotz seiner Verteidigung von Luthers Stellungnahme zurJudenfrage (Manns 1983, 218) die Schrift Von den Juden und ihren Lgen (224).

    14 First, to set fire to their synagogues or schools [] so that no man will everagain see a stone or cinderof them; in which they lie about, blaspheme, curse, vilify,and defame Christ and us (ET 268).

    15Second, I advise that their houses also be [] destroyed (ET 269): For theypersue in them the same aims as in their synagogues (schools) (ET 269). Treatingthemlike the gypsies. This will bring home to them the fact that they are not masters

    (lords)in our country, as they boast, but that they are living in exile and in captivity(ET 269).16 Third, I advise that all their prayer books and Talmudic writings (Talmudists

    [sic]), in which such idolatry, lies, cursing, and blasphemy are taught, be taken fromthem (ET 269).

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    Lagarde und das Judentum28

    4. das man jren Rabinen bey leib und leben verbiete / hinfurt zu leren (218[523]).175. das man den Jden das Geleid und Strasse gantz und gar auffhebe []weil sie nichtHerrnnoch Amptleute noch Hendeler / oder des gleichen sind /Sie sollen da heime bleiben (21819 [524]).18

    6. das man jnen den Wucherverbiete / und neme jnen alle barschafft / undKleinot an silber und Gold / und lege es beiseit zu verwaren. Und ist dis dieursache / Alles was sie haben (wie droben gesagt) haben sie uns gestolenundgeraubt durch jren Wucher / weil sie sonst kein ander narung haben. Slchgeld solt man dazu brauchen (und nicht anders) wo ein Jde sich ernstlich

    bekeret (219 [524]).19

    Diskussion von Dtn 23,20 mit der abschlieendenUnterscheidung zwischen Juden des Kaisers und Juden des Moses, die es seit1400 Jahren nicht mehr gibt.

    7. das man den jungen starcken Jden und Jdin in die Hand gebe / flegel /axt / karst / spaten / rocken / spindel / und lasse sie jr brot verdienen / imschweis der nasen / wie Adams kindern auffgelegt ist (222 [52526]; Hinweisauf Gen 3,19). Denn es taug nicht / das sie [] rhmen lesterlich / das sie derChristen herrnweren (222 [526]). So lasst uns bleiben bey gemeiner klug-heit der andern Nation / als Franckreich / Hispanien / Behemen etc. und mit

    jnen rechen / was sie uns abgewuchert/ [] / Sie aber jmer zum Land aus-getrieben. Denn wie gehrt / Gottes zorn ist so gros ber sie / das sie durchsanffte barmhertzigkeit / nur erger und erger / durch scherffe aber wenig

    besser werden. Drumb jmer weg mit jnen (223 [526]).20

    17Fourth, I advise that their rabbis be forbidden to teach henceforth on pain of loss

    of life and limb (ET 269).18 Fifth, I advise that safe-conduct on the highways be abolished completely for

    the Jews [] since they are not lords, officials, tradesmen (traders), or the like. Letthem stay at home (ET 270).

    19Sixth, I advise that their usurybe prohibited to them, and that all cash (coins)and treasure (jewelry) of silver and gold be taken from them and put aside for safe-keeping. And this is the reason: All that they have (as mentioned before) has beenstolen and robbed from us by their usury since they have no other livelihood. Thismoney is to be used only for a Jew who is sincerely converted (and for no other

    purpose) (ET 270, z.T. M. Ehrhardt).20 Seventh, I recommend putting a flail, an ax, a hoe, a spade, a distaff, or a

    spindle into the hands of young, strong Jews and Jewesses and letting them earn their

    bread in the sweat of their brow (noses), as was imposed on the children of Adam (ET272). For it is not fitting that they should [ be] boasting blasphemously ot theirlordshipover the Christians (ET 272). Solet us emulate (hold to) the common sense(wisdom) of other nations such as France, Spain, Bohemia, etc., compute with themhow much their usuryhas extorted from us, [], but then eject (expel) them forever

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    Franklin Sherman, einer der Herausgeber von Luthers Works vol. 47, zitiertLuthers biographer Roland H. Bainton, der gesagt hat: One could wishthat Luther had died before ever this tract was written. Er selbst fgt hinzu:Many efforts have been made to explain the treatise [] but it cannot be ex-

    plained away (Sherman/Lehmann, 1971, x). Man muss Luthers Streitschriftund besonders seine Ratschlge gelesen haben, um nicht ihre Beurteilung imfundierten und erfolgreichen Luther-Buch des deutsch-britischen Schrift-stellers Richard Friedenthal (18961979) als Verharmlosung zu verstehen(Friedenthal 1967, 644):

    Er wird zum Demagogen, ein Zug, der frh in ihm angelegt und durchtiefere und echte Leidenschaft berdeckt worden war. [] Vergessen istseine vershnliche Haltung [] in seiner frheren Schrift, da JesusChristus ein geborener Jude gewesen; vergessen, da er damals die Sacheausschlielich Gottes Wirken anheimgestellt sehen wollte, der zu gege-

    bener Zeit vielleicht die Juden erleuchten und bekehren werde. Jetzt sollder Landesherr eingreifen und sie rcksichtslos vertreiben.

    Klarer drckt sich der Kirchengeschichtler Heiko Augustinus Oberman (19302001) aus, der nach dem Zitat der sieben Manahmen gegen die Juden mitgrausam genauen Anweisungen den Eingangssatz zu diesem Programm []getrost als Aufruf zum Pogrom bezeichnet (Oberman 1982, 30506). Ober-man hat Recht, dass man Luthers Schriften gegen die Juden [] nicht vonden Schriften gegen Papisten und Bauern isolieren kann. Gegen alle drei

    Gruppen hat Luther mit peinlicher Schrfe geschrieben und die Obrigkeit zumharten Einschreiten aufgefordert (30405). Auf die selbstgestellte Frage, wiedieser Mensch zwischen Gott und Teufel in der Lage war, der Obrigkeitdas Schwert in die Hand zu geben mit dem Auftrag, als Hterin des ffent-lichen Rechts selbst Pogrom und Massaker als Ordnungsmittel einzusetzen,antwortet Oberman in folgender Weise (307):

    Der natrliche Zustand der Welt ist Chaos und Aufstand. Sie ist sichniemals selbst berlassen, sondern immer Kampfgebiet zwischen Gott undTeufel. [] Die Verteufelung von Papisten, Bauern und Juden ist aufelende Weise mit der Grundentscheidung verbunden, den Weg der Refor-mation als Aufbruch zur Welt zu bestimmen. Luther selbst hat damit denVollzug dieses Aufbruchs teuflisch gebremst.

    (Fortsetzung)from the country. For, as we have heard, Gods anger with them is so intense thatgentle mercy will only tend to make them worse and worse, while sharp mercy willreform them but little. Therefore, in any case, away with them! (ET 272); cf. WA 53(1920) 526: rechen = abrechnen.

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    Indem Wanda Kampmann die auch von Luther wiederholten Gerchte von j-dischen Brunnenvergiftungen und Kindermorden mit Recht als gegenstandlos

    betrachtet (1963, 46), kommt sie zur Sache: Luther wendet sich an die Lan-desherren, und damit werden seine Ratschlge politische Weisungen. Fr den

    protestantischen Frstenstaat, der die Ordnung der Landeskirche bernehmenmu, wird jetzt die alte Frage wieder aktuell, [] wie in einem christlichenStaatswesen eine religis und national andersartige Gruppe ihren Platz findenknne (47). Er geht weit ber die strenge Judengesetzgebung im kirchlichenRecht des Mittelalters hinaus, das zwar die Trennung von den Christen for-derte, aber den Juden Synagoge und Wohnsttte (spter im Ghetto) zugestand

    (47). Luthers siebente radikale Weisung ist insofern politisch unrealistisch,als sie letztlich auf die Ausstoung einer kleinen Gruppe aus der mensch-lichen Gemeinschaft abzielt: am besten fr alle (d.h. fr die Frsten und diechristlichen Untertanen) sei die Austreibung der Juden (48). Man mu denSchlu ziehen, da sich aus der theologischen berzeugung von der Verwor-fenheit des jdischen Volkes und seiner ewigen Verdammnis keine Rechtsnor-men fr seine Existenz in dieser Welt herleiten lassen (48).

    Fr den lutherischen Protestantismus stellt diese Schrift, verstrkt seitdem spten 20. Jahrhundert, eine schwere Belastung dar (Kaufmann 2013a,749). Wenn im Luther-Artikel der TREgesagt wird, dass Luthers Motive frdiese erst nach 400 Jahren voll durchgefhrten Manahmen theologischerArt waren, obwohl sie letztlich weder mit seinem Christusglauben noch mitseiner exegetischen Methode im Einklang standen (Brecht 1991, 523), dannhtte diese Schrift von mehr als 280 Druckseiten auch im Rahmen der Darstel-

    lung seiner Theologie behandelt werden mssen.21Dem Querverweis auf denArt. Antisemitismus (vgl. Mller 1978, 14648) folgt die warnende, wennnicht sogar apologetische Notiz: So konnte sich, wenn auch mibruchlich,der Antisemitismus seit dem 19. Jh. auf die Autoritt Luthers berufen (Brecht1991, 523).22Blttert man im Antisemitismus-Artikel der TREein paar Seiten

    21Fehlanzeige sowohl bei zur Mhlen 1991 als auch schon bei Joest 1981, der mit

    keinem Wort auf die Juden in Luthers Schriften eingeht, sondern nur seine eigeneAuswahl und Beschrnkung so beschreibt: Ich beschrnke mich hier auf eineUmrizeichnung der theologischen Grundgedanken Luthers unter Verzicht auf eineDarstellung seiner Lebensgeschichte und seiner kirchlichen Wirksamkeit im ganzen derdeutschen Reformationsgeschichte (131).

    22

    Vgl. das Wort mibruchlich auch im Titel von Kabus/Buschmann 1989. Zumausgestellten Faksimile von Martin Luthers schrfster antijdischer Schrift Von denJden und ihren Lgen wird kurz vor der Herstellung der Einheit Deutschlands (am3.10.1990) in der DDR festgehalten, dass Julius Streicher vor dem Nrnberger Tri-

    bunal 1946 zu seiner Rechtfertigung darauf verwiesen hat. Die Widmung dieser

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    weiter, so vermisst man in Bezug auf den Antisemitismus in Mitteleuropa18711918 (Weinzierl 1978, 15861) den Namen Paul de Lagarde nebenWilhelm Marr, Eugen Dhring, Adolf Stoecker23und Heinrich von Treitschke.Im ausfhrlichsten neueren Lexikonartikel zu Lagarde, ebenfalls in der TRE,kommt jedoch der Antisemitismus Lagardes zur Sprache (Heiligenthal 1990,376).

    Spter werden wir sehen, dass es zwischen Lagarde und seinem ErzfeindLuther bereinstimmungen gibt, die nicht nur auf mndlicher Tradition be-ruhen. Bei Lagardes Belesenheit und seinem Judenhass wre es erstaunlich,wenn er Luthers Schrift Von den Jden und jren Lgennicht gekannt htte. Sie

    befindet sich heute noch in den Bibliotheken derjenigen Universitten, andenen Lagarde studiert, geforscht und gelehrt hat (Berlin, Gttingen, Halle).Dass sich auer Luthers deutscher Bibelbersetzung, deren revidierte Fassungdes Halleschen Waisenhauses (sog. Probebibel, Halle 1883) Lagarde scharfangegriffen hat (M. III, 33573), keine einzige Schrift des Reformators in derumfangreichen Privatbibliothek von Paul de Lagarde befand, mag mit seinemHass und seiner Verachtung zu erklren sein, vielleicht aber auch mit der Tat-sache, dass ihm die Mittel zum Kauf nicht wissenschaftliche[r] Werke fehl-ten (A. de Lagarde 1892, *1).24

    (Fortsetzung)Tafel lautet in der Ausstellung: Den Wittenberger Opfern der faschistischen Rassenpolitik zum mahnenden Gedenken (39).

    23 Zu Stoeckers Antisemitismus vgl. Greschat 1985, 26768 und 273; Brakel-mann 2001, 194. Zu den wechselseitigen Beziehungen Stoeckers zur antisemitischenBewegung vgl. Bergmann 2009b, 801.

    24Anna de Lagarde lie Ende 1892 einen Katalog der Bibliothek ihres Ende 1891verstorbenen Mannes drucken (A. de Lagarde 1892). Dieser Katalog ist in digitalerForm zugnglich (Digitalisierungszentrum der Niederschsischen Staats- und Universi-ttsbibliothek Gttingen). Auf ein Vorwort von Anna de Lagarde folgen drei Seiten miteinem Verzeichnis der in ihrem Besitze bleibenden Bcher (*14 [* = mein Zu-satz]). Daran schliet sich die Titelseite des eigentlichen Geschftskatalogs an:Katalog der von dem weil[and] Geh[eimen] Regierungsrath Professor D. Dr. Paul deLagarde gesammelten und von ihm der Kniglichen Gesellschaft der Wissenschaftenzu Gttingen vermachten Bibliothek. Als Manuscript gedruckt. Gttingen: Druck derDieterichschen Universittsdruckerei (W. Fr. Kaestner) [I]. Das Vorwort dazu stammtvon Professor Hermann Sauppe, dem bestnd[igen] Secretr der K. Ges. d. W. undschliet mit den Worten: Angebote werden bis zum 1. Januar 1893 erwartet [II]. Auf

    der Inhaltsseite (86) findet sich die Gliederung der Bibliothek, die nur als ganze zuverussern war [II]. Als Schlussblatt (87) folgt noch eine Liste der Werke von Paulde Lagarde selbst mit Bezeichnungen am Rand aus dem Katalog der TbingerUniversittsbibliothek, die am 11. Januar 1892 von E[berhard] N[estle] erstellt wurde.Zum Verkauf der Bibliothek an die Universitt der Stadt New-York vgl. A. de

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    Hinweisen mchte ich noch auf zwei von einander unabhngige Verffent-lichungen von 1933. Bei der ersten handelt es sich um die im Jahre der deut-schen Revolution 1933 erschienene apologetische Schrift des KnigsbergerPrivatdozenten Erich Vogelsang mit der bezeichnenden Widmung: Demersten Deutschen Evangelischen Reichsbischof Ludwig Mller (Vogelsang1933, 3; vgl. 18). Seine Besprechung von Luthers sieben Forderungen (2829)gipfelt in der These, es handele sich bei ihnen um den staatlichen Brauch desGesetzes (30: usus politicus legis). Auf die im Zusammenhang mit derJudenfrage als Rassenfrage gestellte Frage, ob auch bei Luther schonvlkische und rassische Gesichtspunkte seinen Kampf gegen die Juden mitbe-

    stimmen (30), lautet die klare Antwort, dass der volksdeutsche Gesichts-punkt auch in seinem Judenkampf nicht mehr zu bersehen sei (31). Denn:

    (Fortsetzung)Lagarde 1894, 148. Die von Anna de Lagarde abgedruckte Rede von George F. Moore

    bei der feierlichen Erffnung der Lagarde-Bibliothek in New-York am 29.4.1893(14958) ist voll des Lobes ber das Genie Lagarde (158: a genial man), scheut nichtden Vergleich mit Jesus (155: as one having authority; vgl. z.B. Mk 1,22) und er-whnt nur ganz nebenbei einmal his animosity toward Judaism (157). In The NewYork Times war schon Monate vorher (26.1.1893) ein Artikel erschienen ber denAnkauf von Rare Oriental Volumes, in dem der Sammler Lagarde als the mostremarkable writer on Semitic studies that the world has ever known bezeichnet wird.Kaum ein Orientforscher wrde diesem Urteil zustimmen, vgl. z.B. die vernichtendeKritik von Hans Heinrich Schaeder (18961957): Mit keiner der groen und umge-staltenden Erkenntnisse, die im vergangenen Jahrhundert die Orientforschung auf dieStufe der lteren philologisch-historischen Wissenschaften erhoben haben, ist sein

    Name verbunden (Schaeder 1942, 23). In der dem Zeitgeist entsprechenden Wrdi-gung von Lagardes Deutschen Schriften (1, 1213), die Schaeder vier Jahre spter si-cher nicht verfasst htte, fehlt jeder direkte oder gar zustimmende Hinweis auf den vonden Nazis bernommenen Antisemitismus von Paul de Lagarde. Das ehrt den Lehrervon Carsten Colpe.

    Schon vor einem halben Jahrhundert schien die an die New York University ver-kaufte Lagarde-Bibliothek, one of the best Oriental libraries in America, nicht mehras a separate unit zu existieren (Stern 1961, 24). Was aus der Sammlung von mehrals 5000 Bnden oder den einzelnen Bestandteilen geworden ist, konnte ich bishernicht herausfinden. Im 19. Jahrhundert hatte der Antisemitismus Lagardes den deutsch-

    amerikanischen Assyriologen Paul Haupt (18581926), der eine kurze Zeit lang Gttin-ger Kollege von Lagarde gewesen war, nicht davon abgehalten, den Kauf der Lagarde-Bibliothek zu vermitteln (A. de Lagarde 1894, 148). Sptestens nach dem 2. Weltkriegmuss auch die englisch-amerikanische Begeisterung fr Lagarde ein Ende gefundenhaben.

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    Die innere Einung und Durchformung von Deutschtum und Christentum isteben Luthers Strke (32).25

    Die zweite ist das Machwerk eines cand. theol. im Luther-Gedenkjahr1933, auf dessen Titelblatt Adolf Hitler zitiert wird: Indem ich mich desJuden erwehre, kmpfe ich fr das Werk des Herrn (Noack 1933). ImVorwort zu diesem Heftchen heit es, die Bekanntmachung der weitgehendunbekannten Schrift Luthers diene dazu beizutragen, die neue Deutsche Kir-che zu bauen, zum Segen unseres Volkes und des Dritten Reiches (2). ImSchlusswort wird die Stellung Luthers zu den Juden charakterisiert als Stel-lung, wie sie jeder artreine nichtjdische Mensch natrlicherweise einnehmen

    mu (16). Gegenber dem Naturgesetzgeber Gott sei es unsere Pflicht, unsauch hier diesem seinem Willen zu beugen, indem wir jene Rassenunter-schiede anerkennen und entsprechend handeln (16). Hhepunkt des Auszugsaus WA 53 (1920) 412552 sind die oben zitierten sieben Forderungen bzw.Handlungsempfehlungen Luthers (1415).26

    Im Gegensatz zu diesen und hnlichen Verlautbarungen steht der am 1. Juli1933 gedruckte Vortrag des 27-jhrigen Lic. Dietrich Bonhoeffer, Die Kirchevor der Judenfrage. 27 Der Vorsitzende der Niederdeutschen evangelisch-

    25Etwa zur gleichen Zeit kritisiert ein Leipziger Privatdozent Lagarde trotz seines

    Lobes fr den unerbittlichen Kampf gegen das Judentum: Ein Verkennen der rassi-schen Verschiedenheit ist es aber, wenn L[agarde] Eindeutschung der Juden fr mg-lich hlt (Eisenhuth 1934, 149). Dieser Artikel will offenbar Hitlers Kampf (163)sttzen.

    26Es ist bemerkenswert, dass Noack Luthers Judenschrift(en) 1933 fr weitgehendunbekannt hielt. Beim Kaufpreis von 10 Pfennig kann man sich gut vorstellen, wie weitverbreitet dieser in unser Schriftdeutsch bertragene Auszug war (Noack 1933, 1).

    Nach dem Krieg wurde er ebenso aus dem deutschen Gedchtnis verdrngt wie diehnliche Flugschrift des Dresdner Landesvereins fr Innere Mission, die der bedeuten-de Lutherforscher Georg Buchwald (18591947) zwei Jahre vorher zusammengestellthatte (Luther 1931). In seinem viel gelesenen Lebensbild fr das deutsche Haus(Untertitel von Buchwald 1902) finden sich auch schon, ohne irgendein kritischesWort, Auszge aus Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lgen, die sich auf diezitierten Ratschlge konzentrieren (Buchwald 1902, 49192).

    27Anmerkung der H[erausgeber]: Mit Erlaubnis der Evangel[ischen] Monats-schrift ,Der Vormarsch, 1933, Heft 6 entnommen. Diese erst 1931 gegrndete Un-abhngige Monatsschrift fr reformatorisches Christentum stellte gegen Jahresmitte

    1933 ihr Erscheinen ein (Gailus 2008, 463).John Moses, der Bonhoeffer and the Jewish Question ein ganzes Kapitel widmet(Moses 2009, 14872), behandelt diesen Vortrag ausfhrlich schon in Kap. 5 (TheChurch Struggle to 1937), und zwar im Abschnitt Confronting the Jewish Question(10614). Er betont, dass Bonhoeffer damit had only taken the first, but nevertheless

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    lutherischen Konferenz, Landesbischof D. Dr. Schffel, erlaubte Bonhoeffernicht nur den Abdruck, sondern auch die Voranstellung von Luther-Zitaten.Diejenigen aus dem Jahre 1523 beziehen sich auf die Schrift Da JesusChristus ein geborner Jude sei und sind mehr oder weniger korrekt.28Diezwei krzeren aus dem Jahre 1546 stammen aus Luthers letzter Predigt am 15.Februar 1546 (Eine vermanung wider die Juden) und wurden harmonisiert 29

    bzw. in ihrer Reihenfolge vertauscht.30Wichtiger ist, dass sie leider nicht ganzreprsentativ sind, was auch den Gegnern der Bekennenden Kirche die Beru-fung auf den Reformator erleichtern sollte.

    Luther verlangt von den Juden Bekehrung und Annahme des Herrn Jesus

    Christus, betont mehrfach ihr Lstern (lestern) und ruft den regierendenHerr[e]n folgende, von Bonhoeffer ausgelassene Aufforderung zu: Darumbsolt jr sie nicht leiden, sondern sie weg treiben.31Das Ende der uerst kur-zen, an Herrn und Unterthanen gerichteten warnung lautet wie folgt:

    Wollen sich die Jden zu uns bekeren und von jrer lesterung, und was sieuns sonst gethan haben, auffhren, so wollen wir es jnen gerne vergeben,Wo aber nicht, so sollen wir sie auch bey uns nicht dulden noch leiden. 32

    (Fortsetzung)crucial step, in developing a revolutionary solution to this age-old problem, which was,of course a problem for the church only because it had made it a problem (109).

    28Vgl. WA 11 (1900) 314336, bes. 315 und 336.29 Statt christliche Lehre (Bonhoeffer 1933, 234) steht bei Luther Christliche

    liebe (WA 51 [1914] 195). Aber Lere des Euangelij erscheint vorher.30Vgl. WA 51 (1914) 195196, bes. 195.31WA 51 (1914) 195.32WA 51 (1914) 196. Zu dem von den Jden im Lande angeblich angerichteten

    grossen schaden zhlt Luther drei Tage vor seinem Tod am 18. Februar 1546 auerLsterungen die Kunst derjenigen Juden, die sich vor ertzte ausgeben, einen Men-schen so zu vergiften, davon er in einer stund, in einem Monat, in einem Jar, ja inzehen oder zwentzig jaren sterben mus (195). Damit meint Luther also nicht die bis indie Neuzeit wiederholten Vorwrfe der Brunnenvergiftung.

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    III

    Aussagen von Lagarde ber sich selbst

    Um einen leuchtenden Mastab zu gewinnen, an dem Lagardes dunkle Urteileber den und die Juden gemessen werden mssen, folgt nun eine kleine, leichtzu vermehrende Auswahl1aus Lagardes Aussagen ber sich selbst.

    Der Einsiedler (M. IV, 396)2 Lagarde war Orientalist (vgl. Schaeder1942), auch wenn er es abgelehnt (MA II, 34, 50; M. III, 34)3 und dieseBerufsbezeichnung allerdings nicht ohne Eitelkeit in Anfhrungszeichengesetzt hat (MA II, 283). Er nannte sich ja sogar Genosse seines spterenGegners Theodor Nldeke (M. IV, 333). Er bezeichnete sich auch gelegentlichals Historiker (M. IV, 176), was gesttzt wird durch die Charakterisierungseiner Arbeit (passim).4Im Gegensatz zu Ritschl wollte er Historiker, und alssolcher ein Gegner aller Dogmatik sein (M. IV, 392, 396). So konnte er sogar

    1Unbercksichtigt bleiben seine z.T. schon in den GGA (durch * gekennzeichnet)

    erschienenen Anzeigen eigener Publikationen: M. I, 19, 26, 122*, 124*, 163*, 175*,176*, 200; II, 370; III, 34, 131*, 229; IV, 341, 427. Seine Selbstanzeigen, z.B. eine von6 Arbeiten (M. II, 37087, darunter auchM. II), begrndet er damit, dass die Zunft mitder ihr eigenthmlichen, wissentlichen Verleugnung der Wahrheit an meinen wissen-schaftlichen Arbeiten vorbeigeht (M. II, 371).

    2Lagarde hatte im Jahr seines Todes 1891 noch die Vorstellung von sich als einemnach Einsamkeit lechzendem Kinde (M. IV, 62). In einem Gutachten, Die knig-liche Gesellschaft der Wissenschaften in Gttingen betreffend, vergleicht sich Lagardemit einem einsamen, traurigen und vielbeschftigten Gelehrten (A. de Lagarde 1894,164). Schon am 5.12.1874 schrieb er aus Gttingen an Franz Overbeck: Ich bin, sowenig es so aussieht, ein auerordentlich scheuer Mensch, der am liebsten in einemKloster [] lebte (Peter/Sommer 1996, 149).

    3Noch im Jahre 1880 schrieb Lagarde in seinen Vorbemerkungen zu meiner aus-gabe der Septuginta (S. II, 13748; hier 138 [sic]):

    mein studium morgenlndischer sprachen ist so gut wie ausschlielich [] als denarbeiten zur textkritik der bibel dienstlich betrieben worden: orientalist habe ichnicht sein wollen, und will es jezt weniger sein als je.4 Lagarde uerte sich folgendermaen zum Pietismus und Rationalismus seiner

    Zeit: Pietismus und Rationalismus haben den Protestantismus Luthers aufgezehrt. DerRationalismus hat sich zur objective Wahrheit erstrebenden Geschichtsforschungdurchzulutern begonnen. Ich habe als Historiker selbst die Hand mit am Pfluge ge-habt, und auch Samen gestreut, dem ich Gedeihen wnsche. [] Es ist Aufgabe unsrerTage, den Pietismus zur Frmmigkeit [] zu machen (M. IV, 41213).

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    im Blick auf sich selbst sagen: Geschichte darf nur lehren, wer Geschichteauch machen knnte (M. III, 301). Im Gegensatz zu katholische[n] und pro-testantische[n] [T]heologaster[n] (M. I, 243)5wollte Lagarde Theologe ohneAnfhrungszeichen sein: Ich bin Theologe, nicht Orientalist (M. III, 34).6Wre er Mitglied einer theologischen Fakultt gewesen, htte er deren Arbeitwahrscheinlich weniger pauschal als sogenannte Wissenschaft bezeichnet(M. IV, 411). Er sagte fter: ich als Theologe (M. III, 7), aber auch: wirTheologen (M. III, 227). Die echte Theologie sei ausgezeichnet durch Wahr-haftigkeit (MA II, 69). Lagarde wollte in theologischen Dingen objektiveWahrheit erobern (M. I, 123). Er war schon im Jahre 1846, als er auf seiner

    Odyssee durch die Kirchen beim AltLutherthume angelangt war (M. II, 92),von einer aufdringlichen Wahrheitsliebe erfllt (M. II, 93). Diese seit sptes-tens 1853 etablierte rckhaltlose Wahrheitsliebe fhrte ihn dazu, sich selbststolz und ironisch als Ketzer zu bezeichnen (MA I, 22). Er sah sich als histo-risch und philologisch geschulten Theologe[n], der seine Sache gelernt hat(M. II, 332). Und er sah sich als fleiigenTheologen, der zum [B]esten der[T]heologie in zehn [S]prachen [T]exte ediert hat (M. III, 254). Er wollte alsSemitist auch zur Kritik des Evangelientextes beitragen und sagte kurz vorseinem Tode ber seine Arbeit als Neutestamentler: [W]enn auch der Gunstder ersten Facultten mich nicht erfreuend, fhle ich mich doch stets als Theo-loge (M. IV, 329). Er meinte stndig tadeln zu drfen, weil er die Theologiehoch hielt (M. I, 239). Ende 1887 rhmte er sich der Einsicht, die mich schon1845 fast als einen Knaben Plne fassen machte, welche die meisten aus-gewachsenen Professoren der Theologie noch heute nicht begreifen (M. II,

    287).7Die Begrndung lieferte er gleich mit: Ich glaube behaupten zu drfen,da so bald nicht wieder ein Gelehrter so vorbereitet und so willig sein wird,die Kritik des Bibeltextes zu frdern, wie ich es bin (M. II, 287).

    5Im Anschluss daran Polemik gegen Luther: die letzteren von einem Augustiner-

    mnche reformiert (M. I, 243). Zum verchtlichen Ausdruck Theologaster (Gegen-satz zum Theologen Lagarde) vgl. auch die folgende Bemerkung in Verteidigungseiner abenteuerlichen Thesen zum Messiasnamen: [I]ch kann mich nur aufrichtigfreuen, wenn die Theologasteran diesen Arbeiten vorbergehen: sie sterben an diesemVorbergehen, und da sie sterben, ist fr das Vaterland ein Gewinn (MA I, 149,meine Hervorhebung).

    6In seiner Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert htte KarlBarth dem Theologen Lagarde fast die Ehre einer Behandlung angetan: Es wre aber

    auch an der Gestalt des ebenfalls in diese Generation gehrigen Lagarde die Wendunganzuzeigen, die Ritschl unmittelbar folgte und die das Ganze doch wieder auf dendurch den Namen Schleiermacher bezeichneten Weg zurckfhrte (Barth 1947, 598).

    7In Bezug auf solche Theologen (auch in Anfhrungszeichen) redete Lagarde so-gar von blden Augen (M. IV, 82).

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    Ich bleibe beim Stichwort Theologe und gehe vom Fachlichen ber zumPersnlichen und Moralischen. Lagarde scheute nicht davor zurck, sich mitden alttestamentlichen Propheten als Weissagern zu vergleichen.8Er rechnetesich in indirekter Weise zu den besten Menschen und reichsten Naturenund als ernsthafter Theologe auch zu den Mitgliedern des Reiches Gottes(M. IV, 11819).9Um Lagardes emphatischen Anspruch auf den Titel Theo-loge bzw. Doctor der Theologie (M. IV, 172)10genauer zu ver,-./.01 2,-.3,-.0, 40 5.0 6237/827/.0 9.204:.0 ;r den unbekannten Ver-fasser11der Apokalypse zu erinnern (N/A27632:Inscriptio) und zweitens seinVerstndnis von Theologie heranzuziehen. Da er Theologie eng mit Religi-

    on und Frmmigkeit verknpfte, folgt ein kleiner Abschnitt zu den BegriffenTheologie, Religion und Frmmigkeit bei Lagarde.12Von sich selbst sagte Lagarde 1887: Etwas anderes bin ich nicht als Theo-

    loge, und mein Interesse fr alle Dinge hat seinen Mittelpunkt in meiner Theo-logie (M. II, 256; MA II, 51). Wenn er von jdischer Theologie sprach, setzteer Theologie in Anfhrungszeichen (M. II, 156). In Bezug auf Deutschlands25 theologische Fakultten (8 katholische, 3 lutherische, 14 unierte) stellte erfest, dass die tatschlich vorhandene Theologie eine Wissenschaft nicht ist

    8In einer Polemik gegen A. M. Ceriani in Mailand schrieb Lagarde im Jahre 1880:

    ich bitte meine befhigung zur auslegung der propheten nach meiner eignenfhigkeitzu weiagen zu bemessen, die auch durch meine deutschen schriften erwiesen seindrfte (S. II, 146; Orthographie wie im Original, meine Hervorhebung). Der oft schonvor Fritz Stern (1961, 125) und Ulrich Sieg (2007, 292 und Titelblatt) fr Lagarde ge-

    brauchte Titel Prophet geht also mindestens indirekt auf Lagarde selbst zurck.9Die Waffen seiner sittlich entrsteten Gegner sind dagegen fr ihn Schmutz,

    Schmutz, Schmutz , nicht einmal origineller Schmutz (M. II, 386).10 Obwohl Lagarde dem jdischen Gelehrten Zunz den Dr.-Titel streitig machte

    (s.o.), unterzeichnete der Dr. theol. honoris causaseine gedruckte Antwort auf den kri-tischen Artikel des Wiener Rabbiners Moses Gdemann (Der deutsche Nationalhei-lige Paul de Lagarde) mit: Doctor der Theologie und der Philosophie (M. II, 270).

    11 Lagarde war dagegen berzeugt, da das vierte Evangelium und damit dennauch die drei unter dem Namen Johannes im Kanon befindlichen Briefe von dem Ver-fasser der sogenannten Offenbarung Johannis herrhren und da der Verfasser allerdieser Schriften kein anderer sein kann als der Apostel Johannes (MA I, 65). Eine sol-che Auffassung findet man heute nur noch im biblischen Fundamentalismus.

    12Vgl. dazu besonders Hartmann 1933, dessen Beurteilung von Lagarde als Pro-phet deutschen Christentums ich allerdings sehr kritisch gegenberstehe. Falls die

    Judenfrage fr Lagarde nur eine ethische Frage war (127), wie mag es dann um seineEthik bzw. sein Ethos bestellt gewesen sein? Ob Lagarde ein Groer in der Geschichtedes Reiches Gottes war (158), wird wohl erst im jngsten Gericht (185) entschiedenwerden, ber das er selbst ein Gedicht verfasst hat (184). Zur Frmmigkeit vonLagarde vgl. auch Rolffs 1941, 38993.

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    (MA I, 46). Die Theologie sah er als die [K]nigin der [W]issenschaften (M.III, 236), bezeichnete sie aber dann als eine Unterabteilung der Geschichts-wissenschaft (238; MA I, 172): Ein Mann der Widersprche (Sieg 2007, 921)! Theologie als Religionskritik war ihm unbekannt. Theologie sollte nachseinem Verstndnis die Pfadfinderin der deutschen Religion werden (MA I,79). Obwohl ihm Religion als Weltanschauung (M. III, 369; IV, 79) bzw.Gesammtanschauung vom Leben (M. IV, 91) ein Fremdwort war wie esHumanitt, Popularitt, Liberalismus fr den Philosophen Johann GottliebFichte waren (MA I, 287), hlt er an dem Begriff fest: Das Wort Religion

    brauche ich stets unter Vorbehalt. Wir reden von Religion erst, seit wir keine

    haben: [] Religion ist Import-Artikel. Aber das Wort Religion ist bequem:und darum wende ich es an (M. IV, 6263; MA II, 61).13Ich komme auf denBegriff spter noch einmal zurck. Wenn Lagarde Theologie als das Wissenum die Religion berhaupt, also als interkonfessionelle Wissenschaft derReligion definierte (MA I, 80; II 103), htte er eigentlich Judentumskunde

    bzw. die Wissenschaft des Judentums (Schulte 2013) einschlieen mssen.Wir werden spter sehen, in welcher Weise er und ob er berhaupt denJuden seiner Zeit zugestand, eine Religionsgemeinschaft zu sein. Jedenfalls:Solche Theologie gehrt unbedingt auf die Universitten, und der Staat hatfr sie und ihre Hilfswissenschaften Lehrsthle zu errichten (MA I, 80).Grundlage ist die Beobachtung aller Religionen und die so verstandeneTheologie gibt ein Wissen von der Religion, soferne sie eine Geschichte derReligionen gibt (MA I, 80).14Und noch einmal anders im Jahre 1891: Theo-logie ist ein Wissen um Religion, also gibt es [] Theologie nur, wo es Reli-

    gion gibt (MA II, 103). Im engeren Sinne fasste Lagarde aber die Wissen-schaft der Theologie als Geschichte des Reiches Gottes auf (M. IV, 119),genauer gesagt als Kenntnis der Geschichte des Reiches Gottes (A. deLagarde 1894, 172); man soll Theologie studieren, nicht um gelehrt, sondernum ein Christ zu werden (M. IV, 119). Er verstand sich selbst also als Christ(aber s.u.). Programmatisch verkndete Lagarde schon 1884: Das DaseinGottes lehren heit zugleich lehren, da alles geschaffene Leben nur in Gott

    13Gediehen ist die Religion seit 1848 nicht (M. IV, 103). Das Jahr 1848 war fr

    Lagarde ein Jahr des Untergangs.14Diese Aussagen haben wohl dazu gefhrt, Lagarde zum Vorlufer der Religions-

    geschichtlichen Schule hochzustilisieren. Bei Colpe (1961 und 1964) wird er jedoch

    mit Recht nicht einmal erwhnt. Lagardes Wissenschaft der Religion (MA II, 103)deckt sich nicht mit heutiger Religionswissenschaft (vgl. Antes 2012 und z.B. Wiki-pedia-Artikel Religionswissenschaft). Vgl. besonders Schtte 1966, 11618. Es flltauf, dass in diesem von Ohst (2011, 58, Anm. 83) als [u]nberholt bewerteten Artikelkein Wort ber Juden und Judentum zu finden ist.

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    Halt und Ruhe und Lebenskraft findet (MA I, 419). Darum ist alles EthosGottesdienst (MA I, 419).

    Nun noch einmal zum Begriff Religion. Einerseits hielt Lagarde Religi-on fr ein Objekt des Wissens (MA I, 411), andererseits war sie fr ihn derGlaube an eine andere Heimath (M. IV, 60)15und das Leben des Menschenmit Gott und vor Gott (MA II, 230). In Jesus und dem mit Jesus gleich-gesetzten Evangelium sah er die historisch zu studierenden Anfnge unsererReligion (MA I, 53). Sein Urteil: der Religionsbegriff des Christentums istfalsch, begrndete er folgendermaen: Religion ist [] nicht Vorstellungvon, nicht Gedanke ber, sondern persnliche Beziehung des Frommen auf

    Gott, Leben mit ihm. Sie ist unbedingt Gegenwart, Hoffnung auf die Zukunftnur insoferne, als der Umgang mit dem Ewigen jedem, der ihn bt, unumst-liche Gewiheit gibt, da auch er selbst ewig ist (MA I, 71). Wenn Lagardeohne Ausnahme jede lebendige Religion fr ausschlieend hielt (MA I,152, meine Hervorhebung), dachte er sicher nicht an die jdische Religionsamt dem nach Lagardes Meinung hoffnungslos verderbt[en] Canon derJuden (M. II, 375, 378), wohl aber an die christliche und nationale Weltan-schauung (M. IV, 79): Unsere Religion [] wurzelt [] nicht in Palstina,sondern in der westEuropischen Kirche; darum sei das Alte Testament