17
This article was downloaded by: [University of North Carolina] On: 06 October 2014, At: 03:44 Publisher: Routledge Informa Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK Journal of Baltic Studies Publication details, including instructions for authors and subscription information: http://www.tandfonline.com/loi/rbal20 Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius, Die von Kelles Hubertus Neuschäffer a a Universität Kiel Published online: 01 Mar 2007. To cite this article: Hubertus Neuschäffer (1981) Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius, Die von Kelles , Journal of Baltic Studies, 12:2, 128-142 To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/01629778100000131 PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all the information (the “Content”) contained in the publications on our platform. However, Taylor & Francis, our agents, and our licensors make no representations or warranties whatsoever as to the accuracy, completeness, or suitability for any purpose of the Content. Any opinions and views expressed in this publication are the opinions and views of the authors, and are not the views of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracy of the Content should not be relied upon and should be independently verified with primary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for any losses, actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages, and other liabilities whatsoever or howsoever caused arising directly or indirectly in connection with, in relation to or arising out of the use of the Content.

Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius, Die von Kelles

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

This article was downloaded by: [University of North Carolina]On: 06 October 2014, At: 03:44Publisher: RoutledgeInforma Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH,UK

Journal of Baltic StudiesPublication details, including instructions forauthors and subscription information:http://www.tandfonline.com/loi/rbal20

Der deutschbaltische historicheRoman im 19. Jahrhundertals historische Quelle: EinBeispiel von Theodor HermannPantenius, Die von KellesHubertus Neuschäffer aa Universität KielPublished online: 01 Mar 2007.

To cite this article: Hubertus Neuschäffer (1981) Der deutschbaltische historicheRoman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor HermannPantenius, Die von Kelles , Journal of Baltic Studies, 12:2, 128-142

To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/01629778100000131

PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE

Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all theinformation (the “Content”) contained in the publications on our platform.However, Taylor & Francis, our agents, and our licensors make norepresentations or warranties whatsoever as to the accuracy, completeness,or suitability for any purpose of the Content. Any opinions and viewsexpressed in this publication are the opinions and views of the authors, andare not the views of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracy of theContent should not be relied upon and should be independently verified withprimary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for anylosses, actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages,and other liabilities whatsoever or howsoever caused arising directly orindirectly in connection with, in relation to or arising out of the use of theContent.

Page 2: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

This article may be used for research, teaching, and private study purposes.Any substantial or systematic reproduction, redistribution, reselling, loan,sub-licensing, systematic supply, or distribution in any form to anyone isexpressly forbidden. Terms & Conditions of access and use can be found athttp://www.tandfonline.com/page/terms-and-conditions

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 3: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

D E R D E U T S C H B A L T I S C H E H I S T O R I S C H E R O M A N IM

19. J A H R H U N D E R T ALS H I S T O R I S C H E Q U E L L E :

EIN BEISPIEL VON T H E O D O R H E R M A N N P A N T E N I U S ,

DIE VON K E L L E S

Hubertus Neusch?tff er, Universitdt K iel

Es handelt sich bei dieser Untersuchung des historischen Romans um eine historische und nicht um eine literaturwissenschaftliche Arbeit. 1 Die Grenzen des Aufsatzes sind damit abgesteckt. Folgende Fragen stehen unter anderen f'tir den Historiker im Vordergrund: Wie verh~ilt sich das Romanhafte, d. h. die sub- jektive Darstellung des Autors zur historischen QueUe? 2 Wie ist die Rezeptions- geschichte des Werkes? 3 Inwieweit bringt der historische Roman historische Erkenntnis und pr~igt Urteile oder setzt andererseits Vorurteile in die Welt oder best~ifigt vorhandene?

Die Besch~iftigung mit dem gesamten Fragenkomplex des historischen Ro- mans kann ftir den Historiker nicht bedeuten, im einzelnen'aufzuzeigen, an welchen SteUen der Roman yon der historisch-met~baren Wirklichkeit abweicht. Das w~e ein absurdes Unterfangen, besteht doch das Wesentliche dieser literar- ischen Gattung in der Subjektivierung historischen Stoffes, folglich in einer bewut~ten Distanzierung und LoslSsung vom historisch mei~baren Tatbestand. Man wird sich daher bemfihen miissen, das Romanhafte an historischer Wirk- lichkeit zu messen in Fragen des Selbstverstandnisses, der Tendenz und des Symbolhaften. Hier h'egt der Reiz solcher Arbeit, abet auch die grot~e Gefahr, den Boden historisch-wissenschaftlicher Methode zu verlassen und sich in die Gefdde der Spekulation zu begeben. Ftir den Historiker ist die Besch~tigung mit dem hJstorischen Roman geradzu die Exstremform doch letztlich jeder vorlieg- enden historischen Darstellung. Denn inwieweit ist historische Darstellung iiber- haupt objektivierbar? 4 Inwieweit muf~ die an den eigenen Standort gebundene Subjektivitiit doch notwendigerweise Ausgangspunkt bleiben f'tir jede DarsteUung? So ist z. B. dafiir auch bezeichnend, dat~ /iltere historische Darstellungen dem sp~iter Geborenen bisweilen als "historische Romane" erscheinen.

Der historische Roman als literarische Gattung ist sich seiner Subjektivit/it bewut~t und bekennt sich zu einer Tendenz. Die zeitbedingte Abh/ingigkeit des

128 JBS, Vol. XI1, No. 2 (Summer 1981)

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 4: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

Deutschbaltische historische Roman im 19. Jh. 129

Romans birgt in sich die Gefahr der Verbreitung zeitbedingter Urteile, d. h. die yon Vorurteilen, zumindestens for den sp~iteren Betrachter in seinem "Nachur- teil." Diese genannten zeitbedingten Urteile sollen bier gepriift werden. D. h. vor aUem steUt sich heraus, dat~ der historische Roman als Prim~irquelle eine be- deutende Funktion erh~lt. Von Politik und zeitbedingten Pragungen geleitet, be- wut~t oder unbewut~t, werden Zust~inde des 19. Jahrhunderts transponiert in die Zeit, in der der Roman spielt. Das macht es notwendig, Werk und Geschichte des Autors als Einheit zu sehen. Hier ergeben sich wohl die wesentlichen Unter- schiede zur Literaturwissenschaft, die z. T. bemiiht ist, das Werk unabh~ingig yore Autor zu betrachten. Am Beispiel des historischen Romans Die yon Kelles yon Theodor Hermann Pantenius soil dies untersucht werden. Zuvor gilt es aber, einen kurzen I)berblick tiber die deutschbaltische historische Roman-Entwick- lung im 19. Jahrhundert zu geben.

Die Zeit der russischen Geschichte des 19. Jahrhunderts lat~t sich nach ver- schiedensten Gesichtspunkten gliedern. Geeignet ist auch hier die Einteilung der Zeit nach den Regierungsjahren der Zaren, die jeweils ein politisches Programm beinhalten, aber gleichzeitig, kausalbestimmt, geistesgeschichtlich gepr/igt sind und damit auch for die Dichtung gelten kann.

Der Beginn des Jahrhunderts ist gepr~igt durch eine liberale Phase, die dann im Zuge der Volkserhebungen nach dem franz6sischen Einfall in Rut~land, dem Untergang Napoleons, einer Zeit der Restauration weicht. FOr die baltischen Provinzen brachte die Grtindung der Universit~t Dorpat 1802 eine neue Phase geistigen Aufschwunges, vor allem auf wissenschaftlicher Ebene. Die Zeit ist aber auch gepr~igt vom ausgehenden 18. Jahrhundert. Im baltiscl/en Raum zeugen daftir M~inner wie Karl Grat~ (1767-1814), Kasimir Ulrich B6hlendorff (1775-1825), Karl Petersen (1775-1823), Garlieb Merkel (1769-1850), Friedrich Ludwig Lindner (1772-1845) oder Karl Gustav Jochmann (1789-1830). Sie haben Gedichte, Dramen, ErzNalungen, Bekenntnisse, auch journalistisch- historische Abhandlungen, wie Merkel, verfat~t, aber keine historischen Romane. Ebenso nicht der bekannte aus Kurland stammende SchriftsteUer und Poet Ulrich yon Schlippenbach (1779-1826) und August yon Kotzebue, dessen historische Novelle "Ildegerte" (1788) vielleicht als Ausnahme zu nennen ware.

Die Epoche, in der Nikolaus I. herrschte, war gepr~igt durch eine "reaktion~ire" und "militfirische" Tendenz, war dennoch ftir den baltischen Raum ein goldenes Zeitalter in Relation zu kommenden Zeiten. FOr Julius Eckardt war es das "aRe Livland. " Vertreter dieser Epoche war Alexander Frhr. yon Ungern-Sternberg (1806-1868). Er schrieb zeitkritische Romane (Diana, Paul, Susanne), die in Berlin spielten. In seinem Alter hat er in Dresden auch an "biographischen und historischen Romanen gearbeitet." Es kam aber nichts wesenthches dabei heraus. Behrsing sagt dazu: "Man denke an Scott in diesem Alter. Wenn die Produktions- kraft mode wird, st0tzt sie sich auf den Stecken der Geschichte. ''5 Wilhelm Smets (1796-1848), Roman Frhr. yon Rudberg (1816-1858), Andreas yon Wittorf (1813-1886) z. B. schrieben viel, aber auch keine historischen Romane. Eine Ausnahme war Gustav Baron von Rosen (1800-1860). Rosen, bekannt als Text-

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 5: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

130 Journal o f Baltic Studies

dichter der Glinkaschen Oper Das Leben fiir den Zaren, dichtete vor allem in russischer Sprache. Er schrieb historische Dramen, z. B. Ruflland und Bathory, Die Belagerung yon Pskov, Die Tochter Johanns III. Nur das letztgenannte his- torische Drama wurde yon ihm ins deutsche tibertragen. Eine echten historischen Roman gab es auch in dieser Zeit nicht in den baltischen Provinzen.

Unter Alexander II. hSrte das livl~indische Stilleben auf. Die Zeit ist in die Zukunft gewandt. Es beginnt eine Zeit der Reformen. "Die Reformzeit deckte mit einem Schlage die ganze Problematik des baltischen Lebens auf. Welch ein reiches Feld yon Motiven erschlot~ sich hier! Der Gegensatz yon deutsch und undeutsch, yon adfig und borgerlich, von lutherisch und orthodox wurde plbtz- lich for die Literatur und haupts~chlich for die Erz~hlung und den Roman ent- deckt. ''6 Im Zuge dieser Entwicklung wird auch die Heirnatdichtung entdeckt, die Eingang auch in den Roman findet. Vor allem Frauen wirkten in diese Richtung. Namen wie Conradi, Seeberg, Dorn, B6ttcher, Lortsch, Jaksch, Schlip- penbach tauchen auf. Bahnbrechend wirkte dann aber erst Theodor Hermann Pantenius; er "erhob den baltischen Roman zum Kunstwerk. "7 Und tiber die Heimatdichtung kam er mit Besinnung auf baltische, historische Stoffe auf den historischen Roman, a der dann Nachfolger fand am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Theodor Hermann Pantenius (1843-1915) stammte aus Mitau. Er war der Sohn des "lettischen Volksschriftstellers" und Pastors zu St. Annen in Mitau. Schon der deutschstarnmige Vater widmete sich dem Ausbau der Kultur und der Emanzipation des lettischen Volkes. Theodor Hermann Pantenius hatte in Deutschland Geschichte und Theologie studiert und sich 1870 als Lehrer in Riga niedergelassen. 9 Neben dieser Tatigkeit begann Pantenius mit schrift- steUerischer Arbeit. 1° Er tibernatun die Redaktion der Baltischen Wochen- schrift; aut~erdem war er als Redakteur an der Rigaschen Zeitung angestellt, ging schliet~lich 1876 nach Leipzig als Redakteur der Zeitschrift Daheim. Panten- ius verliel~ nicht ungern die baltischen Provinzen. Dies berichtet seine Frau: Denn "w~ihrend im Lande eine schroffe Ablehnung aller (russischen) Regierungsformen bestand, war Theodor for ein magvoUes Nachgeben und vor allem ftir ein grimd- fiches Erlernen der russischen Sprache, um unsererseits Einflut~ zu gewinnen in den leitenden Regierungskreisen. ''11 So war Pantenius auch selbst 1866 ftir ein- ige Zeit nach Petersburg gegangen, um die russische Sprache und Literatur kennen- zulernen.

Eine andere Bemerkung von Louise Pantenius wird for den hier geschilderten historischen Roman bedeutsam. Sie schreibt, dat~ die Familie unter ihren Bekann- ten keine "Gutsbesitzer" hatte. Bis auf das Gut Neuenburg, das Pantenius mehr- fach beschrieb und das dem "alten Herren Diewel" gehbrige Gut "Menkenhof" h~itten die Pantenius keine Gtiter und ihre Menschen gekann~. 12 Dariiberhinaus war auch die Kenntnis der anderen baltischen L~nder noch keine Selbstver- st~ndlichkeit fiir einen Rigaer Bttrger. Louise Pantenius schreibt, dat~ sie niemals in Estland, aficht einmal in Reval gewesen sei, und-so schreibt sie weiter-"von Livland und Kurland habe ich nur wenig gesehen. ''1 a

Als Theodor Hermann Pantenius 1885 in Leipzig seinen Roman Die pon

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 6: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

Deutschbaltische historische Roman im 19. Jh. 131

Kelles, einen Roman "aus Livlands Vergangenheit," verSffentlichte, war er schon augerhalb des Landes. Die am Anfang herausgestellte bewuf~te Subjektivit~t des historischen Romans macht deutlich, dat~ bei Beurteilung des Romans dieser, zumindest ftir den Historiker, nicht vom Autor zu trennen ist. Pantenius schrieb tiber einen Stoff, den er aus eigener Anschauung wenig kannte. Er verliet~ sich auf die historischen Quellen, auf die schriftlich vorhandenen Urteile tiber seinen Gegenstand. Nun kann man nattirlich zu Recht einwenden, die Beurteilung eines historischen Stoffes bedtirfe nicht der gegenw~irtigen Kenntnis des noch verblie- benen historischen Zeugnisses einer Epoche, d. h. hier die Kenntnis ritterschaft- lichen Landlebens.

Andererseits ist aber nicht zu tibersehen, dat~ Pantenius yon seinem st~dtischen, "btirgerlichen" Ideal gepr~igt ist und dieses gar nicht verleugnen kann und auch gar nicht will. Die bewugte Hinwendung zum eigenen Standort ist in dem Roman ein Zeichen dafiir. Der sozialen und der sich in der zweiten H~ilfte des 19. Jahr- hunderts anbahnenden nationalen Konfrontation der Deutschen einerseits und der Esten und Letten andererseits, steht eine Nationalisiemng des russisch-bal- tischen Verh~iltnisses zur Seite. Diese national-kulturellen Konfrontationen waren im Grunde wirtschaftlich-politische. Russischer Reichszentralismus versuchte fttr sich folgerichtig auch kulturelle Autonomiebestrebungen zu brechen. Die nationale Emanzipation der Esten und Letten mutate ebenso auch eine soziale, politische und wirtschaftliche sein. Allerdings darf bei diesen genannten Kon- frontationen, das zwar am Rande liegende, vers6hnliche Moment nicht tibersehen werden, das in zahlreichen Ansgtzen zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen vorhanden war. Dies ist weitgehend bekannt und der Forschung bewut~t. Weniger bekannt und bewugt und deshalb als wesentlich hier hervorzuheben ist aber, dat~ soziale Auseinandersetzungen auch innerhalb der einzelnen Gruppen stattfanden, die durch das Hervorbrechen tier genannten Probleme weitgehend aus dem Blickfeld gerieten. Dies sind in den baltischen Provinzen die Aus- einandersetzungen innerhalb der einzelnen ethnischen Gruppen, z. B. die nicht nur politische, sondern auch soziale Auseinandersetzung innerhalb der Esten und der Letten sowie die Gegens~tze zwischen Esten und Letten.

Und hierher geh6ren auch die Auseinandersetzungen innerhalb der Deutsch- balten, die Pantenius in seinem Roman historisch aufgreift. Aber sie waren nicht nur historische, sondern auch im 19. Jahrhundert vorhanden, aUerdings wurden sie verdr~ngt. Dies war gut mSglich durch das Vorhandensein einer anderen ethnischen Gruppe. Diese deutsch-deutschen Auseinandersetzungen hatten ihrerseits, wie umgekehrt, Wirkungen auf die deutsch-estnisch-tettischen Bezie- hungen, d. h. es bleibt zu prtifen, ob die nationale und nationalistische Proble- matik tiberhaupt mit einer nur nationalen gegentiberstellenden Vereinfachung-wie es meist geschehen ist-richtig gekennzeichnet wird. Eine Differenzierung erweist sich auch hier als notwendig. Die Fragestellung mtigte etwa folgendermat~en lauten: Das Verhfiltnis der deutschen "patrizischen" Btirger Rigas zu einer let- tischen Gruppe, die aufgeschltisselt werden mtigte nach sozialen und politischen Gesichtspunkten, oder, das Verh~iltnis der deutschen Handwerker Rigas zu den

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 7: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

132 Journal o f Baltic Studies

lettischen Handwerkem Rigas. Oder, das Verh/iltnis der Gutsbesitzer Livlands (hier wieder unterschieden zwischen Ritterschaftsangeh6rigen und Landsassen) zu den Esten und Letten auf dem Lande (hier wiederum unterschieden in Ar- beiter, Gesindewirte, Buschw/ichter, Geistlichkeit oder auch estnische Gutsbesit- zer). Fragen tiber Fragen, die nicht ausreichend umschrieben werden k6nnen mit der einfachen Gegentiberstellung der verschiedenen ethnischen Gruppen unter ausschliet~lich nationalen Gesichtspunkten. Auf dem Lande war z. B. in friiheren Zeiten nicht unbedeutend, was for ein Verwalter auf dem Gut arbeitete. War es ein Lette, ein Este oder ein Deutscher! War es z. B. ein Deutscher, woher stammte er dann? Auf dies Art und Weise nicht zu differenzieren heist, iJber eine "nation- alistische" Argumentation des 19. Jahrhunderts nicht hinauszukommen, die nicht zuletzt auf einer mangelhaften sozialen Differenzierung beruht. Hier gilt es in erstaunlichem Mal~e noch Arbeit zu leisten, zur Abtragung yon Vomrteilen. Die Geschichtsschreibung ist in diesem Sinne noch h/iufig im 19. Jahrhundert stehengeblieben.

Pantenius schildert in seinem Roman vomehmlich das Verh~iltnis eines Rigaer Biirgers zu den Vertretern der Ritterschaft Livlands im 16. Jahrhundert. Es ist insbesondere eine Schilderung des deutschen "Adels" in den baltischen Provin- zen zu dieser Zeit, d. h. den Vertretern der Ritterschaft Livlands. Es ist eine Schilderung seiner sozialen Beziehung zu einem Vertreter aus dem deutschen "Biirgertum" Rigas. Auch hier gilt es schon zu differenzieren. Ritterschaft ist nicht gleich Ritterschaft, Biirger nicht gleieh Biirger, Adel nicht gleich Add. Es sind soziologisch gesehen v611ig unbrauchbare Begriffe. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dag Vertreter aus den einzelnen sozialen Gruppen herausragen fiber ihre Gruppengenossen, sondem, dal~ es iiberhaupt schwer ist, das yon Max Weber geforderte "idealtypische" zu benennen. Die eigene Standortbeziehung er- schwert die Beurtefiung. So gibt es auch mehrere Beispiele dafiir, da~ Pantenius nicht den Adel oder auch einen Teil dessen beschreibt, sondem ein Bild yon diesem wiedergibt, wie es sich eine bestimmte btirgerliche Gruppe schlechthin vorstellt. Und je eindeutiger das Bild vor Augen tritt, desto unwirklicher im historisch-soziologischen Sinne wird es. So w ~ l t Pantenius Beispiele, die geradezu etwas rtihrend hausbackenes, btirgerlich-biedermeierhaftes ausstrahlen. Es ist das auch ewig im M~rchen wiederkehrende Motiv: Reicher Prinz erw~alt das arme, reine und hiibsche M/idchen aus dem Volke zu seiner Braut (Aschenputtel, Froschk6nig-dort ist es die reiche Prinzessin, die den armen htibschen und tap- feren Mann aus dem Volke heiratet, so auch im "Tapferen Schneiderlein"). 14

Der Roman Die yon Kelles spielt im 16. Jahrhundert. Eine "kurze Orientie- rung fiber die politischen und geographischen Verh/iltnisse Livlands" in dieser Zeit hat Pantenius seinem Roman vorangesteUt. Es ist die Zeit der Russenein- ffalle in Livland unter Ivan IV., dem Schrecklichen. Das deutsche Ordensland, die vorhandenen Stifte sowie die verschiedenen Standschaften sind uneinig, d. h. die verschiedenen Ritterschaften. Ebenso die St~idte unter sich shad uneinig. Interessensgegens/itze stehen im Vordergrund. Grol~ ist der Gegensatz zwischen Stadt und Land, gerade auch innerhalb der Deutschen. Uniiberbrtickbare Gegen-

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 8: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

Deutschbaltische historische Roman im 19. Jh. 133

s~itze herrschen zwischen dem Rigaer st~idtischen B0rgertum und dem l~indlichen Adel (wobei es Pantenius unterl~it~t, die sozialen Gegens~tze innerhalb der Deut- schen in der Stadt herauszusteUen). Eine Konfrontation unter den genannten Gruppen schildert Pantenius. Er versucht, die Auseinandersetzungen in Livland aus der Sicht einer ritterschaftlichen Familie zu schildern.

Kelles ist ein Familienbesitz der Familie Kruse, einer alten ritterschaftlichen Familie. Pantenius selbst gibt Quellen f'tir seine Erz~hlung an, Der in dem Roman eine wesentliche RoUe spielende Eilhard Kruse ist eine historische Person. Er wird geschildert im Buch yon Theodor Schiemann: Charakterk6pfe und Sitten- bilder aus der baltischen Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts (Mitau, 1877). Auch die Helden des Romans sind historisch. Barbara v. Thedingsheim, die im Hause der Kruses, in Kelles, yon ihrem Onkel und ihrer Tante erzogen wird, ist die historisch bezeugte Barbara von Tiesenhausen. Pantenius selbst sagt: "In Bezug auf die Schicksale Barbaras fmdet man das Historische in dem Aufsatz: 'Bischof Johann yon Miinchhausen' yon K. Schirren (Baltische Monatsschrift, XXVIII, 1. H.)." Der Hauptheld ist Bonnius, der Barbara liebt, aber nicht standes- gem~l~ ist. Bonnius ist ein Biirgersohn Ri~as, der einen Vetter hat, der Kaufmann is t -mehr erfahrt man nicht. Bonnius' Eigenschaften werden aUe seinem Charak- ter zugeschrieben, der soziale Hintergrund wird nicht dargesteUt. Das fallt in- sofern auf, da Pantenius bemiiht ist, das "idealtypische" und ftir ihn Umwelt- und Sozialbedingte des "Adels" herauszuarbeiten. Das "idealtypische" des "Adels" wird bei Pantenius vom Umfeld beeinflul~t gezeigt. Bei Bonnius beruht alles auf seinen Charaktereigenschaften. Da Bonnius ein positiver Held ist, wird dieses Positive, da es aus ibm selbst kommt, noch besonders unterstrichen. In der Person von Bonnius verfiit sich der idealisierte, im Sinne eines biirgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts gezeichnete eigene Standort yon Pantenius.

Als die Liebe zwischen Barbara und Bonnius, der als Eleve in Kelles arbeitet und von dem alten Kruse sehr geschiitzt wird, ausweglos wird, den beiden Lieb- enden nichts anderes Obrig bleibt aul~er der Flucht, um sich zu verbinden, werden sic vom Bruder verfolgt. Auch der Sohn aus Kelles, Eilhard Kruse, der ebenfaUs Barbara liebt, diese Liebe aber yon ihr nicht erwiedert wird, beteiligt sich an der Ergreifung der beiden Fliichtenden. Die beiden Fliehenden schaffen es nicht, nach Riga zu kommen, um yon dort ins Deutsche Reich iiber LObeck zu gelangen. Barbara wird gefangen genommen, Bonnius kann fliehen. Barbara wird vor ein Familiengericht geladen und zum Tode verurteilt, vor allem durch die Stimme des "durch die Schmach" schwer getroffenen Bruders. Barbara wird von der Familie ge~ichtet und schliet~lich vom Bruder ges~ickt, d. h. in einen Sack ein- geniklat und ins Wasser geworfen. Bonnius selbst fiicht rich nun seinerseits an den ganzen Familien der Thedingsheims und Kruses, indem er nach und nach ver- sucht, alle zu erschlagen und deren H~iuser niederbrennt. Dies alles spielt sich ab vor dem Hintergrund der sich immer mehr zum Chaos ausbreitenden VerwOst- ungen des Russeneinfalls unter Ivan IV. Pantenius schildert dar0bertfinaus das Leben, die Feste und einzelne als idealtypische Charaktere herausgestellte Person- en der livl~indischen Ritterschaft.

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 9: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

134 Journal o f Baltic Studies

Das Bedfirfnis yon Pantenius ist offensichtlich die Darstellung des sozialen Konfliktes in Livland unter den Deutschen selbst, der tiber die Jahrhunderte schwelte, zum Tell verdeckt wurde durch eine Interessentiberlagerung gegen noch feindlichere Kr~ifte von aut~en. Allerdings der Gegensatz zwischen Btirger- tum und Adel, den Pantenius schildert, l~il~t eine weitgehende soziale Differen- zierung und auch K~impfe innerhalb dieser genannten Gruppen aut~er acht, z. B. wird der Begriff des "Biirgers" in dieser Hinsicht zu vereinfachend verwandt. Pantenius sagt zur Person yon Bonnius: "Was Bonnius betrifft, so bin ich in Bezug auf seine Lebensstellung Russow und Renner gefolgt, weil deren Angabe meinem Bediirfnis mehr entsprach. ' 'a 5 Die yon Rul~land kommende Gefahr, die russiche Reichszentralisierung, die die Besonderheiten der baltischen Provinzen abbauen sollte, besch~iftigte aUe Deutschen in den Provinzen, so dat~ die deutsch-deutschen InteressenkLrnpfe in den Hintergrund gerieten. Aber schon im 18. Jahrhundert brach dieser deutsch-deutsche Konflikt zwischen Stadt und Land, z. B. zwischen Stadtpatriziat Rigas und der Ritterschaft Livlands aus, ebenso auf dem Land zwischen Ritterschaft und Landsassen, den nicht immatrikulierten Gutsbesitzern (dieser Streit wurde rechtlich erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gel6st). Weiterhin sind die Auseinandersetzungen innerhalb der Stadt Riga z. B. in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts zwischen Gilden und Ztinften zu nennen. 16

Diese Auseinandersetzungen finden zum Teil verst~irkt noch im 19. Jahrhun- dert statt, werden aber-und das ist die Besonderheit in den baltischen Provinzen- tiberdeckt vom gemeinsamen Vorgehen aUer Deutschen, gegen st~irkere von aut~en kommende Feinde. Weiterhin werden diese Auseinandersetzungen tiberdeckt durch die M6glichkeit, yon einigen sozialen Gruppen unter den Deutschen, an den "Undeutschen" ihre sozialen Minderwertigkeitskomplexe abzureagieren oder in Grol~mut und Engagement ftir die Letten und Esten sich sozial zu er- h~ihen. Nattirlich waren hier auch Humanit~it und christliche N~chstenliebe die Grundlage. Die ge~uf~erte Formulierung ist tiberspitzt, bediirfte aber einer, auch unter psychologischen Kriterien verfafSten, genauen Untersuchung. Die sozialen Konfliktstoffe basierten auf pofitischen und wirtschaftlichen Grundlagen. Auf dem Lande war der Streitpunkt der Landbesitz und sowohl dort, als auch in den St~dten die Teilnahme an der politischen Verwaltung. In Riga selbst ging es zwischen Gilden und Ztinften ebenfalls um wirtschaftliche und politische Inter- essen. 17

Dieser deutsch-deutsche soziale Konflikt hat -wie gesagt-Wirkungen auf das deutsch-estnisch-lettische Verh~iltnis. Abgesehen yon der genannten jeweils zu differenzierenden Betrachtungsweise bleibt die Frage often, inwieweit die eine Begegnung vonder anderen gepr~igt ist. Z. B. ist die Frage zu stellen, inwieweit das unbestreitbare tiberaus starke soziale Engagement der livl~indischen Pastoren- schaft, in der Zeit der Aufkl~rung, far die lettische und estnische b~iuerliche Be- v~51kerung ebenso eine Bewegung war, die motiviert wurde durch das Engage- ment gegen die Ritterschaft des Landes. Die Pastorenschaft war eng verzahnt mit der Landbesitzfrage durch das Pastorat, zu dem Land geh6rte. Eine Verbindung zu Riga brachte den Pastoren btirgerlich-aufkl~irerische Denkweise. Das Studium

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 10: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

Deutschbaltische historische Roman im 19. Jh. 135

derselben im Ausland f6rderte diesen Proze6. Mit dem Engagement ftir eine soziale Gruppe traf man gleichzeitig eine andere soziale Gruppe an einer emp- findlichen Stelle. Diese andere soziale Gruppe wurde yon der Pastorenschaft vielleicht insgeheim beneidet und man bek/impfte sie, obwohl man nach aut~en hin bemthht war, mit ihr eine Einheit zu bilden, la Man mtil~te z. B. die Auf- fassungen Merkels einmal unter diesem Gesichtspunkt untersuchen.

Uns scheint, dat~ das Verhfiltnis z u der einen sozialen Gruppe nicht ohne das Verhiiltnis in der andern sozialen Gruppe zu betrachten ist. Z. B. in Estland war das soziale Engagement der Pastoren fiir ihre Bauem schw/icher als in Livland; lag das vietleicht an den dort vorhegenden nicht so gravierenden Gegens~tzen zwischen den soziaten Gegebenheiten unter den Deutschen, wie in Livland? Im ehemaligen Kurland lagen die Verhaltnisse wieder anders. Bei all den genannten Fragen mtigte man die jeweiligen regionalen Unterschiede in Betracht ziehen. Der baltische Raum scheint in dieser Hinsicht nicht so homogen zu sein, wie oft angenommen wird. Die Russifizierung im 19. Jahrhundert tiberdeckte diese Probleme. Pantenius wollte sie aufdecken, well dies fttr ilm offensichtlich einem "Bedtirfnis"-wie er sich ausdrtickte-entsprach. Wie zitiert, hatte er dartiberhin- aus zum russischen Nationalismus ein etwas anderes, ein vers6hnlicheres VerhSlt- nis, als die meisten Deutschen im Lande. 19

Die Handlung des Romans ist kurz skizziert folgende: Die Ereignisse beginnen im Jahre 1565. Der junge Kruse kehrt aus dem Ausland zuriJck. Ein deutscher Wanderer begegnet dem jungen Ritter kurz vor Riga. Der Wanderer is im Btit~er- hemd. Er ist eine Art Prophet. Georg yon Meil~en wird er genannt. Er prophezeit beschw6rend den Untergang Livlands, vor allem prangert er die deutschen Herren, d. h. die Ritter an: "Ich sehe die Zuchtrute, die der Herr dir gebunden, dein tippig Fleisch zu zerfleischen, aber du 1/igt nicht yon deiner leichtfertigen Art."20 Eilhard Kruse kommt zurtick auf das v/itefliche Gut Kelles; zuvor trifft er aber noch den Vater in Riga, der dort gesch~ifthch als Stiftsvogt des Stiftes Dorpat weilt. Mentaht~it der "Ritter" wird gezeigt-im iibrigen der scharfe Gegensatz zwischen Rittern des Ordens und denen des Stiftes.

Pantenius erl/iutert hier einen historischen Tatbestand sehr treffend, der auch in der Forschung im Zusammenhang mit den K/impfen der St~inde zu wenig Beachtung findet. Z. B. schildert Pantenius die Uneinigkeit der verschiedenen ritterschaftlichen St/knde in der Wahl eines m6glichen Landesftirsten. 21 Vor aUem schildert Pantenius die Konfrontation zwischen "Btirger" und "Adel" - eben wie er es sieht. Nach einem ritterschafthchen Fest in Riga kommt es zu Ausschreitungen auf der Strat~e. Es kommt zu einem Kampf zwischen Bttrgem Rigas und jungen Vertretern der Ritterschaft. Es hei6t:

Drei Biirger lagen tot auf dem Platz. Aul3erdem waren yon beiden Seiten ein hal~es Dutzend Undeutsche zu Fall gebracht. Oberaus grog abet war auf beiden Seiten die Erbitterung. Die Biirger schimpften laut auf die verdammten Junker, die jungen vom Adel trugen den yon Farensbach, der libel zugerichtet war, aber munter in die Welt schaute, auf ihren Schultern nach Johann yon OxkiiUs Hause in der Marstallstrage und sangen dabei: "Wir wollen den Bitrgern auf die K6pfe schlah'n, Das Blut soil in

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 11: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

136 Journal of Baltic Studies

den Stra~en stahn!" Bald war all der Glanz in aUe Winde zerstoben und als die Verwundeten und die

angesehenen Toten fortgeschafft waren, blieb auf dem Platze rtichts zuriick als zwei unverniinftige undeutsche Weiber, die fiber den Leichnamen ihrer Manner so j~immerlich heulten und klagten, als wenn dieselben Deutsche gewesen wS.ren. Oben am Himmel aber stand ernst und still die Zuchtrute Gottes, der Komet. 22

Pantenius schildert den Fall, so wie er vermutlicherweise im 16. Jahrhundert vorhanden gewesen sein soil. Allerdings l~fit er dabei historische Methoden der Objektivierbarkeit, dla. der Nachpriifbarkeit aufier acht.

Pantenius schildert den Pastor yon Kelles, der sich als "Idealtyp'" des aufge- kl~irten Pastors erweist, vor allem in seinem Engagement for die auf dem Lande lebenden Letten und Esten, die Undeutschen. 2a Im iibrigen, auch der Besitzer yon Kelles, Kruse, wird keineswegs als Bauernschinder dargesteUt, sondem die Kritik liegt vielrnehr in der Darstellung des Patriarchalischen, daft die Bauern in

KeUes zwar gut behandelt werden, aber doch yon der Willkiir der Herren abh~ingig sind, in einem als unab~der l i ch empfunden Klassenbewut~tsein. Der Pastor denkt letztlich ebenso. Eilhard Kruse sagt:

"Pastor, wenn es nun so ware, wie ihr wollt-und in allen D6rfern waren Schulen und alle Undeutschen gingen hinein-wiirde da nicht der Haber den Gaul so wild machen, dat~ er den Reiter fiber den Hals warfe? Die Undeutschen haben doch gar steife Nacken, sind ein trotziges und mutwiUiges Volk und ihrer sind viele, unser aber nur wenige." Die Mutter Eilhards antwortet far den Pastor: "Und wenn dem so ware, so dfirfte uns das nicht abhalten, unsere Untersassen das Evangleium zu bringen." "Amen, gn~idige Frau," fief der Pastor. "Was aber Eure Besorgnis angeht, lieber Junker, fuhrer fort, so meine ich, daft es damit gute Wege hat, denn unser deutsches Volk hat eine solche ManrLhaftigkeit, da~ noch fiinfzig Undeutsche vor einem deutschen Geharnischten das Hasenpanier ergreffen mSchten. "2'*

Einen zweiten Pastor, der zum Gut des Herrn von Randen gehfrt , schildert Pantertius als vollkommen yon seinem Gutsherrn abh'angig. Der Pastor k i l t dem Gutsherrn die Hand und verh~ilt sich devot. Der Herr yon Randen, ein Thedingsheim, Bruder der Barbara, schildert die SteUung des Pastors seiner Konkubine: Die alten wiiren schlimm gewesen.

"Die wufaten, daft hinter ihnen der Bischof stand und hinter dem Bischof der Papst, datum schritten sie gar trotzig einher und meinten, sie waren unseresgleiehen, ja wohl gar mettr. Seit die Pfaffen abet die KlOster verkauften und sich beweibt haben, sind sie zahm geworden und fressen aus der Hand, denn jagen wir sie fort, so kr~iht kein Hahn danach und niemand zieht gem mit dem wei~en Stecken in der Hand durchs Land. ''25

Ein weiterer Pastor, Westermann, ~iut~erte sich zu dem im Roman viel zitierten,

auf historischer Grundlage beruhenden "Pernauer Beschlut~," der besagte, daft unstandesgemat~e Heiraten in der Ritterschaft geahndet wiirden. Den Pastor

Westermann l~il~t Pantenius sprechen:

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 12: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

Deutschbaltische historische Roman im 19. Jh. 137

"Was endlich den Pernauer Beschluf5 anlangt, so kann ich darin nur eine ganz greu- liche, hoff'Lrtige, gottlose und teuflische Ordnung sehen, eine Ordnung wider all g6ttlichen und menschlichen Gebote, sintemalen sich nirgends in der Schrift angegben findet, dag eine oder ein paax Familien sich sollen zusammenrotten,-Obrigkeit soUen vorstellen und mit dem Schwerte derselben soUen spielen diirfen wie Knaben mit Knippkiigelchen, oh es gleich um Leib und Leben geht und niemand sonst Richter und Kliiger sein kann in einer Person. ''26

Die derben Vergnfigungen l/indlichen adeligen Lebens schildert Pantenius- einer Quelle entnommen. Wie z. B. eme lebendige Gans gebraten wird, d. h. sie wird lebendig gerupft, und langsam gebraten, dat~ sie noch schreiend angeschnit- ten werden kann, darin besteht der SpaiL 27 Allerdings stellt sich die Frage, ob das Selbstverst/indnis einer soziaien Gruppe-hier die Derbheit der Ritterschaft Livlands-sich an solchen "normaten" Sp/it~en zu erg6tzen-als solcher wirder nach Pantenius empfunden-geeignet ist, dutch diese Schilderung herausgestellt zu werden, ohne die Vergniigungen anderer sozialer Gruppen zur selben Zeit zu untersuchen. Aut~erdem stellt sich das Problem der Verallgemeinerung. 2 a

Bemerkenswert ist die Schilderung einer Auseinandersetzung zwischen Rit- tern des Deutschens Ordens und den Angeh6rigen der Ritterschaft des Dorpater Stifles, die rich vereinigen wollen, um gegen Polen zu ziehen. Die Stiftsritter iiberraschen die Ordensritter, wie sie einen Oberfall auflettische Bauem machen. Die schon mehr dem Lande als die Ordensritter verbundenen Ritterschafts- angeh6rigen des Stifles empfinden dies als Ungerechtigkeit. Einer der stiftischen Ritter, der estnisch undlettisch spricht; ruft aus: "Doch, bei meiner Mutter Grab, ich will sie lehren [die Ordensritter] ihr Miitchen an unsren undeutschen Bieder- m/innem zu ktihlen. ' '29 Im iibrigen befand sich auch im Heer gegen die Russen und Polen im Orden eine Abteilung yon sogenannten "Bauernschiitzen," die aus Esten und Letten bestand, ao Der Komtur in Riga, der den Streit zwischen den Rittem schlichtet, scherzt im Privaten mit dem Koadjutor fiber diesen Fall. Pantenius 1/it~t ihn folgende Fabel erziihlen: "So viel ich sehen kann, liegen die Dinge so, dat~ der Fuchs es nicht fertig gebracht hat, die G/inse ruhig am Wege weiden zu sehen. Der Wolf aber hat gemeint, dat~ er ailein ein Recht auf sie habe, und hat Reinecke dartiber am Kragen genommen. ' 'a i

Hironymus Rentsch, Verwalter auf dem Gut Randen, das dem Bruder der Heldin des Romans Barbara Thedingsheim geh6rt und das Stammhaus der Thedingsheim ist, will im Sinne seines Herrn die Beziehungen yon Bonnius zu Barbara aufdecken. Rentsch wird als fiberaus b6sartiger deutscher Verwalter geschildert, der aus dem deutschen Reich stammt. Rentsch, der ebenfaUs wie die Bauern yon seinem Herrn als nicht ebenbiirtig behandelt wird, behandelt die Bauern besonders schlecht: "Er und Bonnius waren keine Freunde. Er soll in seiner Heimat bei Wittenberg zwei seiner Briider erschlagen haben. Das bleibt ungewit~, gewig aber war, dag Rentsch mit Recht fiir den schlimmsten Bauern- schinder gait auf viele Meilen in der Runde. Bonnius verachtete ihn. ' 'a2 Der Typus des in den baltischen Provinzen eingewanderten deutschen Verwalters, der im Lande nicht anerkannt, ais besonders harter Vertreter gegen die Bauern

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 13: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

138 Journal of Baltic Studies

auftritt, bedtirfte einer Spezialuntersuchung. Ob dieses Bild zu Recht besteht, sei dahingesteUt. Es ist jedenfalls ein auch in der russischen Literatur gezeichnetes Bild, das uns nun hier bei Pantenius wieder begegnet, aa Es sei in diesem Zusam- menhang nochmals auf die schon angesprochene psychologische Komponente verwiesen, soziale Minderwertigkeitskomplexe an den "Undeutschen" abzu- reagieren.

Als im Verlauf des Russenkrieges Tataren in Livland einfaUen, werden Eilhard Kruse und sein Vetter, der Schlot~herr yon Randen, iiberfailen. Sogleich vermutet dieser: "Wir sind verraten worden, yon undeutschen Schurken verraten worden." /)ann heist es welter: "Diese Vermutung sollte sich nut zu schnen als berechtigt herausstellen, denn das scharfe Auge des Junkers erkannte bald unter einer Gruppe Tataren, welche den Anffihrer derselben umgab, einen Randenschen Bauem. T M Als die beiden Ritter gefesselt am Pfahl stehen, schl~gt sie der Bauer wiJtend. Pantenius sehildert dies so, als ob es programmatisch w~re, als ob es "idealtypisch" sei. Das ist die grol~e Gefahr in seinem Roman. Sein Roman beruht auf einer einzigen Quellengrundlage. Da bedtirfte es einer genauen Quel- lenkritik. Diese Schilderung in der Quelle mi~te in Hinsicht einer Verallgemein- erung einer genauen Prtifung an Hand weiterer Quellen unterzogen werden. Zu priifen w~iren ebenso die Gebr~iuche yon st~idtischen deutschen Gruppen sowie estnischen und lettischen. Die aUgemeine Tendenz, der extrem sozialen Ungleich- heit wird aber doch-ohne Zweifel zu Recht -mi t den Augen der Kritik gesehen, die vor allem erst mit der AufkJ~irung Eingang in die baltischen Provinzen fand. Das Unbewut~tsein, das Selbstverst~indliche des vermutlich Rechtm~$igen im 16. Jahrhundert versucht Pantenius auszudrticken. Und Pantenius versucht, das aUerdings schwer nachprOfbare Selbstverst~indnis damaliger Auffassung wieder- zugeben, wenn er zwei Ritter sprechen l~t~t: "So abet meinten wit, sie marterten nur die undeutsche Armut, w~Lhrend die b6sen, teuflischen Menschen unterdessen deutsches, adliges Blut vergossen. ' '35

Allerdings durchbricht Pantenius selbst dieses skizzierte Selbstverst~indnis, als er bei einem seiner Ritter einen Gesinnungswandel feststellt, auf Grund der greulichen Erfahrungen im Kriege.

"Grot~er Gott," fief tier Stiftsvogt, als es uns noch gut ging und wit in Rosen sa~en [Rosen war ein Gut], da war keiner dem anderen gut genug, und wit wollten vonein- ander nichts wissen und wut~ten nichts voneinander. Da hat uns der Herrgott alle in das gleiche Elend geraten lassen, damit wit sehen, dal~ nicht Rang und Stand, weder vornehme noch niedertr~ichtige Geburt den Menschen edel macht oder unedel, sondern allein die Gesinnung. 36

Pantenius Auffassung ist ganz die des biirgerlichen Realismus des 19. Jahrhun- derts. Es ist die Auffassung eines Gustav Freitag "mit seiner redlichen Biirger- lichkeit," die bei Pantenius in ihrer idealisierten Moralauffassung des "Biirger- turns" die eigene Standortbeziehung besonders deutlich hervortreten l~gt.

Die Besch~iftigung mit einem historischen Roman des 19. Jahrhunderts-hier am Beispiel des Panteniusschen-macht ftir den baltischen Raum auf einen m6g-

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 14: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

Deutschbaltische historische Roman im 19. Jli. 139

lichen sowohl historischen, als auch literaturwissenschaftlichen Forschungsansatz aufmerksam, der in der deutschbaltischen Forschung bisher zu wenig beachtet worden ist. Auch f0r die estnisch-lettische Forschung w~ire dieser Ansatzpunkt wtinschenswert, ntimlich dat~ neben den ethnischen und sozialen Auseinander- setzungen, den deutsch-estnisch-lettischen Begegnungen und auch Konfronta- tionen, aueh in den baltischen Provinzen deutsch-deutsche und vielleicht auch estnisch-estnische, lettisch-lettische und estnisch-lettische bemerkenswerte Beziehungen zur Seite stehen, die alle-und das ist hervorzuheben-in einem kau- salen Verhaltnis zueinander stehen.

Gerade auch innerhalb der Literaturwissenschaft gilt es dies zu bedenken und eine interdiscipliniire Zusammenarbeit w~re fiir beide Seiten, sowohl for die Literaturwissenschaftler als auch for die I-Iistoriker, ~iut~erst fruchtbar. Auf dem 30. Treffen der Cad-Schirren-GeseUschaft am 23. 9. 1979 wurde in L'~tneburg in der Bundesrepublik Deutschland ein sehr kritischer Vortrag yon dem Litera- turwissenschaftler Gero yon Wilpert fiber "Baltische Literatur, Thesen und Hypothesen" gehalten. Es ist ein Resum~e fiber die deutschbaltische Literatur. 37 Wilpert kommt in diesem Vortrag zu dem Schlut~: "Baltische Literatur ist eine Angelegenheit der Vergangenheit," d. h. die deutschbaltische und sie sei es auch immer gewesen. Sprachwissenschaftlich analysiert er die einfache Struktur der deutschbaltischen Literatursprache, die auf Grund der mangelnden heterogenen deutschbaltischen Sozialstruktur zu erkltiren sei. Zwei Merkrnale seien es, die n~aer zusammengeh6ren: "die klassenlose, homogene Gesellschaft der Ober- schicht und das unterhaltende Erziihlen. ' '38

Im Gegensatz zu oben ausgefiihrter Auffassung geht Wilpert yon einer deut- schen "homogenen Oberschicht" in den baltischen Provinzen aus, ohne die regionalen Unterschiede, vor allem die sozialen deutsch-deutschen Auseinander- setzungen zu beriicksichtigen. Der Begriff "Oberschicht" ist historisch-soziolo- gisch unbefriedigend, undifferenziert, wie auch die Entsprechung "Unterschicht" bei den Esten und Letten zu undffferenziert, auch for ~iltere Zeiten w~ire. 39 Wil- pert, der auch auf die Pastorenschaft zu sprechen kommt, fibersieht deren Unterschiede und Andersartigkeit im oben genannten Sinne zu den Ritterschaften (hier wieder unterschieden nach den drei Provinzen). Wilpert, der yon der Frage und auch yon der Bedeutung ausgeht, welchen Einflul~ die Gesellschaft auf die Literatur habe, macht seine Beantwortung fragwiirdig, da sie schon yon einem. vereinfachenden "Gesellschaftsbegriff," wie "homogener Oberschicht" ausgeht.

Dem folgenden Zitat ist in dieser Hinsicht nicht zuzustimmen:

Baltische Literatur ist, sower ich sehe, die einzige moderne abendlSaadische Literatttr, die yon einer Oberschieht f'tir eine Oberschicht geschdeben wurde . . . . Sie wurde getragen yon Adligen und Literaten, deren Trenung dutch zunehmenden Austausch- indem Adlige Sehrfftsteller, Schriftsteller geadelt wurden-verwischte . . . . Die bestehenden sozialen Spannungen lagen jenseits der Scheuklappen, mit denen der Deutschbalte auf die Welt kam. 4°

Die bestehenden sozialen Spannungen lagen durchaus auch diesseits der "Scheuk-

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 15: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

140 Journa l o f Ba l t i c S tud ie s

lappen," die dem Autor des genannten Aufsatzes seinerseits nicht aufgefallen

sind.

Diese Erkenntnis und Ergebnisse yon Forschungen, wenn rn6glich auf inter-

nationaler und interdiscipliniirer Ebene vorangetrieben, werden auch die bis-

herige Sehweise des deutsch-lettisch-estnischen Verh~ltnisses in Frage stellen

mtissen, weft andererseits auch eine soziale Differenzierung der estnischen und

lettischen sozialen Schichten weitere noch wenig erforschte Riickschltisse dieses

Verh~iltnisses erwarten lassen. Der Historiker findet in den literarischen Zeug-

nissen eine Primiirquelle, insbesondere fiir Sozial- und Vorurteilsforschung, die

fiir den baltischen Raum noch zu wenig genutzt ist und vielversprechende

Ergebnisse erwarten l~it~t.

ANMERKUNGEN

1 Auf einem KoUoquium in der hessischen Stadt Marburg in der Bundesrepublik Deutsch- land im Sommer 1979 wurden Probleme der Revolution yon 1905 im baltisehen Raum behandelt. Es war eine Veranstaltung der Association of Advancement for Baltic Studies und der Baltischen Historischen Kommission in G6ttingen. Von einigen Historikern wurde dort das Wagnis eingegangen, sich auch mit literarischen Fragen zu befassen. AUer- dings nur insoweit, wie diese flit den Historiker in Betracht kamen. Bei der dort be- handelten literarischen Gattung handelte es sich auch wie hier um den historischen Ro- man. Auch bei vorliegendem Beitrag liegt die Betonung auf dem historischen.

Altere DarsteUungen tiber den historischen Roman: Adolf v. Grolmann, "lJber das Wesen des historischen Romans," 587-605 in Deutsche Fiertel]ahresschrift, 7(1929); Max Brod, "Der Wahrheitsgehalt des historischen Romans," 323-328 in Eckart, 26 (1957); Wolfgang Gr6zinger, "Geschichtsbewut~tsein und Geschichtsroman," 840-846 in Frankfurter Hefte, 11 (1962); neuere bibliographische Angaben finden sich bei Hartmut Eggert, Studien der Wiykungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850-1875 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 14; Frank- furt/Main: Klostermann, 1971); Klaus Schr6ter, "Der historische Roman. Zur Kritik seiner sp~itbiirgerlichen Erscheinung," 111-153 in Exil und innere Emigration, hrsg. v. R. Grimm u. J. Hermand (Frankfurt]Main: Atheniium, 1972-1973).

2 Georg Luk~ics, Der historische Roman (Berlin: Aufbau, 1955). 3 Giinter Grimm, Rezeptionsgeschichte, Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und

Bibliographie (Universitiits Taschenbiicher, Bd. 691; Miinchen: Fink, 1977). 4 Vgl. dazu die Studie yon J6rn Riisen (Hrsg.), Historische Ob]ektivitdt (Kleine Vanden-

hoeck-Reihe, Bd. 1416;G6ttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1975). 5 t3ber den historischen Roman in diesem Zusammenhang vgl. schon die sehr gute Skizze

yon Richard Graf du Moulin Eckart, Der historische Roman in Deutschland und seine Entwicklung (Berlin, 1905).

6 Arthur Behrsing (Hrsg.), Grundrifl einer Geschichte der baltischen Dichtung (Leipzig: L. Fernau, 1928; Nachdruck Hannover-D6hren: H. v. Hirschheydt, 1973), 92, 93.

7 Ebd., 93. 8 Ebd., 93. 9 Louise Pantenius, Jugenderinnerungen aus dem alten Riga (Die Baltische Bticherei, Bd,

1; Hannover-D6hren: H. v. Hirschheydt, 1978). Jeannot Emil Frh. v. Grotthut~, Das Baltische Dichterbuch. Eine Auswahl deutscher Dichtungen aus den Baltischen Provin- zen Rufllands (Reval, 1894), 384ff.

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 16: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

Deutschba l t i sche his tor ische R o m a n im 19. Jh. t41

10 Louise Pantenius, die Frau H.T.P.s, berichtet 1872 an ihre Kinder als der Roman Wil- helm Wolfschild erschien. "Ihr k6nnt Euch gar nicht denken, welche Sensationen in baltischen Landen das Erscheinen dieses Buches hervorrief! Ein Roman, der im Lande spielte und einen Sohn des Landes zum Verfasser hatte. Das Buch war das allgemeine Gespr~ichsthema, und die Debatten flit und wider wurden mit echt baltischer Leiden- schafthchkeit gefiihrt. Fast jeder war stolz auf unseren Dichter und iibte, von keiner Sachkenntnis getriibt, doch sch~fste Kritik." L. Pantenius, Jugenderinnerungen, 25. T. Pantenius schreibt: "O, Du Heimat, wie fiebe ich Dich, deinen Sommer und Winter, deinen Friihling und Herbst, deinen lauen Juni und deine kalten Dezembern~ichte, dich und deine Kinder, deine trotzigen S6hne, deine selbstlosen T6chter." Pantenius hatte nur die Romane Wilhelm Wolfschild (1872) und Allein und frei (1875) irn Baltikum geschrieben, sagte selbst yon sich: "Wenn es je einen Heimatdichter gab, dann war ich es." Behrsing, 93ff.

11 L. Pantenius, Jugenderinnerungen, 61. 12 L. Pantenius, Jugenderinnerungen, 70f. Allein der sprachlich ungeschickte Titel Die yon

Kelles offenbaxt die mangelnde Kenntnis des Objekts. Ein Eduard v. Keyserlingk h~itte kaum ein Werk so betitelt.

13 Ebd., 61. 14 Vgl. die soziologisch orienterte Interpretation yon Irving Fetcher, Wer hat DornrOschen

Wach geki~)~t. Das Mdrchenvet~virrbuch (Fischer Taschenbuch, Bd. 1556; Frankfurt/ Main: Fischer Verlag, 1980).

15 Theodor Hermann Pantenius, Die yon Kelles (Bielefeld und Leipzig, 1885), VIII. Ober Balthasar Russow (um 1525-1600), Pastor in Reval, livl. Chronist, vgl. Reinhard Wittram, Baltische Geschichte. Darmstadt: Wissenschaftl. BuehgeseUschaft, 1954), 72. Auch Rus- sow ist Pastor, wie Pantenius Pastorensohn, und seine eigne Standortbeziehung ist zu beriicksichtigen, tOberhaupt scheint es eine Forschungsliicke zu sein, zu wenig die SteUung und den Standort der Geschichtsschreiber herauszusteUen. Das gilt auch lift die neueste Zeit.

16 Friedrich Bienemann, Die Statthalterschaftszeit in Liv- und Estland [1783-1796). Ein Capitel aus der Regierungspraxis Katharinas II. (Leipzig, 1886); Otto Heinrich Elias, Reval in der Reformpolitik Katharinas 1I. (Quellen und Studien zur baltischen Ge- schichte, Bd. 3; Bonn-Bad Godesberg: Wissenschaftliches Axchiv GmbH Bonn-Bad Godes- berg, 1978).

17 Ebd., 41if, 70ff, 140ff. 18 Vgl. dazu Erich Donnert, Johann Georg Eisen {1717-1 779). Ein Vork~mpfer der Bauern-

befreiung in Ruflland (Leipzig: Koehler u. Amelang, 1978). Donnert hebt den Klassen- kampf-charakter des Eisenschen Sozial-Engagements heraus. Pastor Eisen wax f'fir Don- nert ein "kleinbiirgerlicher" K~mpfer gegen "Bourgeoisie" und "Adel," der for die Rechte der "Bauern" eintrat. Wenn m'an den bei Donnert marxistischen Ansatz weiter verfolgt, ist bemerkenswert, dat~ auf die Daxstellung der angesprochenen psychologischen Komponente des "Sozialneides" (vgl. dazu Helmut Schoeck, Der Neid und die Gesell- schaft [Frankfurt]Main: Herder Verlag, 1971]) voUkommen verzichtet worden ist. T~ite man dies nicht, wiirde man Eisen und auch einen Merkel vorsichtiger beurteilen. lmmerhin sei darauf hingewiesen, daft Eisen zwei S6hne hatte, die beide russische Offi- ziere waren und im Puga6evaufstand mitk~impften, also einen-nach marxistischer Auf- fassung-Bauernaufstand mit niederschlagen halfen. Eisen miit~te konsequenterweise in Auseinandersetzung mit seinen S6hnen in dieser Frage nach vorliegender Schilderung ge- legen haben. Daf'fir gibt es aber keine Zeugnisse. Vgl. dazu Hubertus Neusch~iffer, "Der livl~indisehe Pastor und Kameralist Johann Georg Eisen yon Schwaxzenberg. Ein deut- scher Vertreter der Aufkl~ung in Rutland zu Beginn der zweiten H~ilfte des 18. Jahr- hunderts," 120-144 in Ruflland und Deutschland (Festschrift fiir Georg yon Rauch) (Kieler Historische Studien; Stuttgart: Klett, 1974). Aufschlufireich fur die genannte

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014

Page 17: Der deutschbaltische historiche Roman im 19. Jahrhundert als historische Quelle: Ein Beispiel von Theodor Hermann Pantenius,               Die von Kelles

142 Journal o f Baltic Studies

Problematik ware z. B. eine genaue Interpretation einer Erz~ihlung yon Siegfried yon Vegesack, Der Pastoratshase, Altlivldndische ldyllen (I-Ieilbronn: Eugen Salzer Verlag, 1957). Die Auseinandersetzung des Pastors Bergmann mit dem Baron Recke tr~gt bei aUer Gemeinsamkeit der Anschauungen doch sehr deutlich die Ziige einer sozialen Aus- einandersetzung. Diese Auseinandersetzung setzt sieh fort zwischen dem lettischen Wild- dieb Kuja und dem Pastor Bergmann.

19 Pantenius, Kelles, 5. 20 Ebd., 11, 20. 22 Ebd., 36. 23 Ebd., 77. 24 Ebd., 79; das Problem der Leibeigenschaft im 18. Ja~hundert spielte nicht nut auf dem

Lande eine Rolle, sondern auch in der Stadt. Z. B. nicht nut auf den Giitern gab es Leibeigene, sondern auch bei Handwerkern in den ~St~idten; vergleichende Untersuchungen fehlen hier zumeist. Elias, Reval 34ff.

25 Pantenius, Kelles, 213. 26 Ebd., 391. 27 Ebd., 97. 28 Ebd., 160. 29 Ebd., 196. 30 Ebd., 169. 31 Ebd., 170ff. 32 Ebd., 199. 33 Herausgestellt miit~te in diesem Zusammerthang aueh die Frage nach der Bedeutung des

"undeutschen Verwalters" werden. Auch im anekdotischen hat sich das besondere Verh~ltnis des Verwalters niedergeschlagen. Ein sehr begiiterter baltischer Grundbesitzer reitet durch seinen Wald und erwischt b~uerliehe Holzdiebe. Er droht ihnen mit dem Finger und sagt:" Pa~t ja auf, dat~ Eueh mein Verwalter nicht erwischt." Vgl. dazu aueh die Sehilderung des lettisehen Verwalters bei Edzard Sehaper, Der Henker (Miin- ehen: Artemis Verlag, 1978), 281ff.

34 Pantenius, Kelles, 265. 35 Ebd., 300. 36 Ebd., 503. 37 Wilpert ~itisiert den Begrfff "deutschbaltisch," der seiner Meinung naeh aueh den Beg~fff

"Estnischbaltiseh" und "lettisehbaltish" nach sich zSge. Wenn man es nieht wie Wilpert unter dem Aspekt eines nationalen Gesiehtspunktes ansieht, sondern es als ein spraeh- liehes Problem behandelt, soil rnit dem Begriff "deutschbaltiseh" die spraehliche und aueh ethnische Andersartigkeit ausgedriiekt werden. Baltiseh bedeutet aueh heute in Deutschland eben nieht automatisch deutschbaltiseh, sondern bezeiehnet die baltischen VSlker-insofern scheint zur Unterscheidung die Bezeiehnung deutschbaltisch angebraeht, um yon estniseh, lettiseh und litauiseh zu differenzieren.

38 Gero yon Wilpe~t, Baltisehe Literatur, Thesen und Hypothesen (Liineburg, 1979; Manu- skript, vervielfaltigt yon der Carl-Sehirren-GeseUschaft in Liineburg).

39 Gerade hier fehlt es auch an Untersuehungen in der deutsehbaltisehen Gesehichts- sehreibung, in der kaum eine soziale Differenzierung der "Untersehieht" vorgenommen wttrde

40 Wilpert, Baltisehe Literatur, 11.

Dow

nloa

ded

by [

Uni

vers

ity o

f N

orth

Car

olin

a] a

t 03:

44 0

6 O

ctob

er 2

014