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»Der erste aller Christen«

»Der erste aller Christen« - muenster.deangergun/otto-weiss-leseprobe.pdf · Der erste aller Modernisten: Ernesto Buonaiuti Kirchenreform – Augustinismus – Pascal • Leben

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»Der erste aller Christen«

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Otto Weiß

»Der erste aller Christen«

Zur deutschen Pascal-Rezeption von Friedrich Nietzsche bis Hans Urs von Balthasar

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

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Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.verlag-pustet.de

ISBN 978-3-7917-2461-4© 2012 by Verlag Friedrich Pustet, RegensburgUmschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

Umschlagbild: Blaise Pascal – Lithographie (Ausschnitt)von Nicolas Eustache Maurin nach einem Gemälde

von Philippe de Chamagne (Foto: akg-images)Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany 2012

Dem Andenkenmeines Bruders Karl

1939–1960

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Inhaltsverzeichnis

VORWORT

EINLEITUNG

1. Kapitel: Blaise Pascal – Leben und Werk

Kindheit und Jugend • Ein mathematisches Genie • Experiment und Induktion statt Spekulation • Ein zerrissener Mensch? • Leuchtturm Port-Royal • Die

Leichtigkeit des Lebens • Die »zweite Bekehrung« – das Mémorial • Im Jahr der Gnade 1654 • Die Gnade und das Wunder • Die Provinzialbriefe • Die Verteidigung des Christentums • Das Elend des Menschen ohne Gott – Die Bekehrung zur wahren Ordnung • Die drei Ordnungen • Die Vernunft des Herzens • Die Erlösung durch Jesus Christus • Letzte Lebensjahre und Tod

2. Kapitel: Die Pascalrezeption von den Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts

Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert • Die Rehabilitation Pascals zu Beginn des 19. Jahrhunderts – Jacobi • Kardinal Victor Dechamps • Nichtkatholische

Th eologie und Philosophie: der »Skeptiker Pascal« • Pascal im Urteil deut-scher Katholiken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts • Das Urteil der

Görresgesellschaft • Das Urteil von Wilhelm Kreiten • An der Wende zum 20. Jahrhundert

3. Kapitel: Christ und Antichrist: Friedrich Nietzsche

Ein redlicher, existentieller Denker – vom Christentum verwundet • Begegnung mit Pascal • »Die deutschen Philosophen kommen gegen ihn nicht in Betracht« • Vom Christentum verführt • Der Tod und die bösen Lüste • Heiligkeit ist Egoismus •

Der Vergleich • Ergebnis und Beurteilung

4. Kapitel: Aufbruch zum neuen DenkenModernisten, Mystiker und Philosophen in Frankreich

Der Modernismus und Alfred Loisy Modernismus – Apologetik – Immanenz • Pascal in der Sicht Loisys

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6 Inhaltsverzeichnis

Die religiöse Unruhe Henri Bremonds Mystère de Jesus • Die Bekehrung Pascals und unsere Bekehrung • Das Beten Pascals

Die Neue Philosophie Maurice Blondels Die Philosophie der »Aktion« • Immanenz und Apologetik • Blondel und Pascal –

»L’Action« • Andere Äußerungen Bremonds • Der Jansenismus Pascals • Die Modernität Pascals

Die Innerlichkeit Lucien Laberthonnières Das religiöse Problem – Natur und Gnade • Die apologetische Methode Pascals •

Verurteilung Laberthonnières

5. Kapitel: »Intuition« statt Deduktion – der Glaube als freie Tat Matthias Laros

Erste Begegnung mit Pascal • Das Geheimnis des sterbenden Erlösers • Auf dem Weg zur Dissertation • »Das Glaubensproblem bei Pascal« • Bedeutung und Grenzen der Dissertation von Matthias Laros • Einige Grundgedanken der Dissertation • Die Intuition bei Pascal • Die »intuitive« Begründung des Glaubens • Größe und Elend des Menschen – das dunkelste Geheimnis • Spätere Äußerungen zu Pascal

6. Kapitel: Hochlandkämpfe

Der »Hochlandkatholizismus« Konservativer Katholizismus und Nation • Gegner in den eigenen Reihen •

Pascal im »Hochland«

Pascal im Urteil Hermann Bahrs Barock gegen Romantik • Bahr über Pascal • Der weltabgekehrte Büßer • Laros

gegen Bahr: Barock- oder Katakombenchristentum • Hermann Bahrs Replik

7. Kapitel: Liebe als Grundphänomen – Unmittelbare Intuition:Max Scheler – Karl Adam

Pascal im Blickfeld Max Schelers Liebe als Grundphänomen • Begegnung mit Pascal • Pascals »ordre du cœur« •

Der Primat der Liebe bleibt

Karl Adam unter Verdacht Das »Irrationale« im Glaubensakt • »Pascals Intuition und der theologische

Glaube« • Karl Adams Schweigen über Pascal

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7Inhaltsverzeichnis

8. Kapitel: Blickpunkte von außen

Die Ethik Pascals in der Sicht protestantischer Theologen Strenge Katholizität – Trennung zwischen Wissen und Glauben •

Wie werde ich selig?

Franz Brentano – seine Philosophie Der Werdegang Brentanos • Pascal im Blickfeld Brentanos • Die Lehre Jesu und

ihre bleibende Bedeutung • »Über Pascals Gedanken zur Apologie des christlichen Glaubens« • Pascal, ein hoff nungsloser Pessimist?

9. Kapitel: Kirchenkritik im Zeichen Pascals

Der erste aller Modernisten: Ernesto Buonaiuti Kirchenreform – Augustinismus – Pascal • Leben und Werk Pascals im Urteil

Buonaiutis • Pascals Menschenbild • Die menschliche Gesellschaft • Gott fi nden, um ihn zu suchen • Jesu immerwährende Agonie und die schlafenden Jünger •

Pascals Erbe • Der Mensch über dem Abgrund

Eduard Winter: Reformkatholik und Bürger der DDR Ein nicht immer gerader Lebensweg • Über die Perfektibilität des Katholizismus

• Pascals Kampf gegen die Jesuitenmoral • Jansenisten und Jesuiten • Die Pensées - Wissenschaft und Religion • Damals und heute

Walter Nigg: Der Ketzer Pascal Lebensweg und Werk Niggs • Der Ketzer Pascal • Schlussbemerkung

10. Kapitel: Pascal und Kierkegaard

Carl Dallago, der grosse Unwissende Augustinus, Pascal, Kierkegaard • Das wahre Christentum besteht

in der Liebe zu Gott • Wo Pascal geirrt hat

Ein dänischer Professor: Harald Høffding Zwei Denker, vereint und verschieden • Ihr Charakter und ihr Lebensweg •

Geistige Voraussetzungen • Drei Lebensentwürfe – drei Stadien • Das Problem des Christentums • Zwei Einsame ohne Nachfolger und Schüler

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8 Inhaltsverzeichnis

11. Kapitel: Christliche Existenz

Der entscheidende Sprung • Das Rätsel Mensch • Natur – Recht – Gemeinschaft • Die Verborgenheit Gottes und das Herz • Das Argument der Wette •

Pascals Kampf • Die »dritte Bekehrung« • Eine Verzeichnung Pascals?

12. Kapitel: Brückenbauer zwischen den Kulturen

Karl Pflegers Wege in die Innerlichkeit Ein ungewöhnlicher Dorfpfarrer • »Die christozentrische Sehnsucht« • Der Sprung

Gottes in die Ordnung des Menschen • Die Christozentrik Pascals

Hermann Platz: Frankreich und Deutschland oder das Abendland Reformkatholische Prägung • Wende zur Tradition • Frankreich und Deutschland •

Zwei Pascal-Bücher • Das neue »französische« Bild von Pascal • Der »Zugriff Gottes« • Ein jansenistisches Zwischenspiel • Das Geheimnis Jesu • Les Pensées •

Pascals Wirkung in unserer Zeit • Pascal in Deutschland

13. Kapitel: Stimmen aus dem Jesuitenorden

Erich Przywaras Kritik am »neuzeitlichen« Pascal Lebensweg und Lebenswerk • Pascals Verschlossenheit im Ich • Zwischen

Reformation und Modernismus • Pascal, Kierkegaard, Newman • Der Denk-Stil der Neuzeit in Pascal, Kierkegaard und Newman • Und dennoch katholisch

Auf dem Weg zu einem neuen Pascalbild Pascal, der große Unruhige • Revision des Pascalbildes nach dem Zweiten Weltkrieg

14. Kapitel: Existenz am Abgrund

Ungewissheit und Wagnis – Peter Wust Die Auferstehung der Metaphysik • »Ungesichertheit« als »Existential« •

Ungewissheit und Gewissheit bei Pascal • Wust und Pascal

»Abwärts den Tiefen zu«: Reinhold Schneider Der Mensch im Kosmos • Der am Kreuze verhüllte Gott •

Reinhold Schneiders Pascal

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9Inhaltsverzeichnis

15. Der unbekannte Pascal im Blickfeld von Ewald Wasmuth

Ein bescheidener Privatgelehrter • Von Pascals Armbanduhr zu seiner Philosophie • Der unbekannte Pascal • Descartes und Pascal • Die Krise Pascals •

Die Unendlichen • Die Stellung des Menschen zwischen den Unendlichen • Die zwei Naturen des Menschen • Die Lehre von den Ordnungen • Die Vernunft

des Herzens • Der Glaube Pascals • Die Pascalinterpretation Wasmuths – eine Weichenstellung

16. Kapitel: Die Disproportion des endlichen Daseins: Das Pascalbild von Max Müller und Bernhard Welte

Max Müller: Endlichkeit – ausgerichtet auf das Absolute Lebensweg und Lebenswerk • Max Müller und Pascal • Die supranaturalistische

Krise des Menschenbilds bei Pascal • Pascal und Heidegger in der Sicht Max Müllers

Leidenschaft zum Unendlichen. Das Pascalbild von Bernhard Welte

Lebensweg und Lebenswerk • Welte und Pascal • Das Nichts und der verborgene Gott • Pascal, der neue Mensch in einer neuen Zeit • Schmerz der Endlichkeit und

Leidenschaft zum Unendlichen

17. Kapitel: Off enbarung der Verborgenheit Gottes. Hans Urs von Balthasar

Gottes Erlösungstat in Jesus Christus: Vom Karfreitag zum Karsamstag • Balthasars Pascalrezeption • Mit den Augen Pascals • Pascals Grundmotive • Die Figur im

Unendlichen • Proportion der Disproportionen • Verborgenheit und Liebe • Pascals Ästhetik • Der Seher Pascal • Hans Urs von Balthasar und Pascal, vereint im Sehen

der Gestalt

18. Kapitel: Ausblick und Bilanz

Verschiedene Annäherungen Noch immer grundlegend: Glauben und Vernunft bei Pascal •

Die Veröff entlichungen von Eduard Zwierlein • Sammlung des Bekannten –neue Aspekte: Albert Raff elt • Voraussetzungen und Perspektiven • Pascal – Lehrer

des Glaubens • Pascal und Heidegger • Sachlichkeit und Ausgewogenheit

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10 Inhaltsverzeichnis

Bilanz

Archivalien Literaturverzeichnis Abkürzungen Zitation der Pensées Personenverzeichnis

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Vorwort

Zur Pascal-Rezeption bin ich fast zufällig gekommen. Seit Jahren gilt mein be-sonderes Interesse der Kulturgeschichte des Katholizismus im Zwanzigsten Jahr-hundert. Eine der wichtigsten Quellen dazu bildet zweifellos die von Carl Muth gegründete und herausgegebene Zeitschrift Hochland, deren kritische Analyse jetzt endlich im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts in Angriff genom-men wird. Bis vor kurzem fehlte jedoch sowohl eine Prosopographie der Mitar-beiter wie ein Register der behandelten Th emen. So bemühte ich mich selbst um eine Durchsicht der Zeitschrift. Dabei fi el mir das ungewöhnliche Interesse an der französischen katholischen Kultur und Literatur auf, wobei die – durchaus kontroverse – Rezeption Blaise Pascals an erster Stelle stand. Mir schien, dass Pascal mit seinem Lebensweg, mit seinem Denken, mit seinen Lettres Provincia-les und seinen Pensées eine Projektionsfl äche für die verschiedensten Ideen und Ideologien des Katholizismus im vergangenen Jahrhundert darstellte. Die Pascal-Rezeption in Deutschland besagte off ensichtlich nicht nur und nicht an erster Stelle ein tieferes Eindringen in das Denken Pascals. Sie erwies sich vielmehr in ihren verschiedenen Wandlungen und Variationen auch als Teil einer modernen Ideengeschichte, der nachzugehen sich lohnte, um im Spiegel der Pascal-Rezep-tion Richtungen und Entwicklungen in der katholischen deutschen Th eologie und Kultur besser zu verstehen.

Die Frage, die sich allerdings stellte, war die nach Umfang und Grenzen der Untersuchung. Zunächst stand fest, dass vor allem der deutschsprachige Raum im Blickfeld stehen sollte. Die französische Pascal-Literatur in ihrer Gänze zu berücksichtigen, war schon deswegen nicht möglich, weil sie derartig umfang-reich ist, dass dies den zur Verfügung stehenden Rahmen bei weitem gesprengt hätte. Zum andern war nicht zu übersehen, dass die deutsche Pascal-Rezeption von der französischen beeinfl usst war. Als Lösung bot sich an, dort, wo eine ein-deutige Abhängigkeit bestand – nämlich am Beginn der deutschen katholischen Rezeption im Zwanzigsten Jahrhundert – die französische Pascal-Literatur ein-zubeziehen, es jedoch für die späteren Perioden bei Hinweisen auf bedeutende französische Werke zu belassen. Was die übrige nichtdeutsche Pascal-Rezeption betriff t, wurden wichtige – aber in Deutschland faktisch unbekannte – Veröf-fentlichungen von zwei Italienern und einem Dänen mit aufgenommen.

Von Anfang an war nicht beabsichtigt, jeder Äußerung über Pascal nachzu-gehen. Ziel und Zweck der Untersuchung ist nämlich nicht eine exakte wissen-schaftliche Aufzählung von Veröff entlichungen, zumal eine solche bereits von Albert Raff elt mit großer Sorgfalt erstellt wurde. Es geht vielmehr vor allem, wie bereits festgestellt, um die deutsche katholische Kultur- und Ideengeschichte im Spiegel der Pascal-Rezeption. Bücher, die dazu nichts Wesentliches beitrugen, wie etwa die von Heinrich Lützeler herausgegebene Auswahl aus Werken Pascals, wurden beiseitegelassen. Auch Äußerungen von Nichtkatholiken wurden mit

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12 Vorwort

wenigen Ausnahmen nicht aufgenommen. Zu denen, die dennoch behandelt wurden, gehört an erster Stelle Friedrich Nietzsche, dessen »tiefes« Pascal-Ver-ständnis nicht übergangen werden durfte.

Nun bleibt mir nur noch übrig, allen zu danken, die bei der Abfassung des Werkes behilfl ich waren. Danken möchte ich besonders P. Paul Sindermann, Bibliothekar an der Bibliothek der Accademia Alfonsiana in Rom, der in vie-lerlei Weise zum Gelingen der Arbeit beitrug. Danken möchte ich ferner Herrn Dr. Giacomo Losito, zurzeit wohnhaft in Paris, vor allem für seine Hilfe bei der Suche nach Veröff entlichungen von Lucien Laberthonnière. Weiterhin gilt mein Dank Herrn Verlagsdirektor Ernst J. Wasmuth, Tübingen, der mir Daten zu seinem Onkel Ewald Wasmuth vermitteln konnte. Ganz besonders aber danke ich Herrn Professor Dr. Albert Raff elt, Freiburg i. B., der die Arbeit mit großer Sorgfalt durchgesehen und mich auf Fehler aufmerksam gemacht hat. Schließ-lich sei dem Verlag Pustet und seinem Lektor für Th eologie, Dr. Rudolf Zwank, von Herzen gedankt.

Wien, im Juli 2012 Otto Weiß

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Einleitung

Blaise Pascal! Zweifellos einer der ganz Großen in der Geschichte des Chris-tentums, einer, an dem wir auf der Suche nach gelebtem Christsein nicht vor-beigehen können. Und doch, wer sich ihm anzunähern sucht, wird gleichzei-tig fasziniert wie abgeschreckt; abgeschreckt von der Radikalität, mit der dieser jungverstorbene Mann sein Christsein gelebt hat.

Blaise Pascal, der geniale Mathematiker, der tiefreligiöse »Christozentriker«, und zugleich der Fragende, Zweifelnde, der in der Tat seiner Glaubensentschei-dung sich unterwirft, auch der Kirche und dem Papst, obwohl er ihn gleichzeitig bekämpft. Sicher gehörte er zu jenen »extremen Existenzen«, die nottun, wie sie Reinhold Schneider forderte1 – gerade für unsere heutige Zeit, die zu einer Zeit der Halbheit und Beliebigkeit geworden ist, und so wird verständlich, dass im-mer wieder neue Darstellungen seines Lebens und Denkens erscheinen, und dass seine Pensées, Gedankenfragmente zu einer geplanten Verteidigung des Glaubens und der Kirche, in immer neuen Übersetzungen gedruckt werden.

Blaise Pascal, der »erste moderne Mensch«, modern mehr als Descartes, mehr als Montaigne, den er verehrte und von dem er gelernt hat. Es ist vor allem die Art seines Denkens, seines Philosophierens, und nicht zuletzt seiner Suche nach dem Sinn des Lebens, den er trotz aller Ungewissheit letztlich nur in Gott zu fi nden glaubte, was ihn den Menschen unserer Zeit vertraut macht. Angesichts der ungeheuren Weiten des Alls und der »Geworfenheit« des Menschen auf un-seren Planeten mit all seinen Grausamkeiten und Schrecknissen, die auch tief in uns selbst leben und wuchern, angesichts all dessen, vertraute er bei der Vertei-digung seines Glaubens nicht äußeren Vernunftbeweisen, sondern der Unruhe des menschlichen Herzens, und den Begründungen, die von innen kommen, mit anderen Worten einer anderen Art des Vernehmens von Wirklichkeit, das nicht mit unverbindlichem Gefühl verwechselt werden darf. Was sein Denken auszeichnete, war nicht nur eine Rückkehr zu Augustinus, wie immer wieder gesagt wurde, es war mehr, nicht nur, weil bei seinen religiösen Entscheidungen die Naturwissenschaft, die Mathematik – bis hin zur Wahrscheinlichkeitsrech-nung – eine kaum zu überschätzende Rolle spielte, sondern auch weil er die neu-zeitliche Wende zum Menschen, der für ihn Alles war im Vergleich zu der ihn umgebenden Welt und Nichts im Vergleich zu Gott, nicht nur gedacht, sondern auch gelebt hat, und zwar mit all den Problemen und Ungewissheiten, die diese Wende für den auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen, und gerade den gläubigen Menschen, am Beginn der Neuzeit mit sich brachte. Zu Recht wird daher die Linie von ihm weiter gezogen ans Ende der Neuzeit, zu Kierkegaard, der wie Pascal die Unruhe des modernen Menschen und seine ganz persönliche Entscheidung auf der Suche nach Wahrheit in den Mittelpunkt seines Nachden-

1 Reinhold Schneider, Winter in Wien, 138.

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14 Einleitung

kens stellte. So hat denn auch kein Geringerer als Romano Guardini ein Bild von Pascal gezeichnet, das ihn als Vordenker des Existentialismus darstellt. Eine durchaus sympathische Deutung. Nur sagt sie bei weitem nicht alles aus über den »Ersten aller Christen«, wie ihn Nietzsche genannt hat. Pascal passt in keine Schablone. Er war einmalig und zugleich vielfältig und mehrdeutig und voller Gegensätze.

Aber vielleicht ist es ja gerade das, was ihn uns Heutigen so nahe bringt und was Philosophen und Dichter des letzten Jahrhunderts – angefangen von dem am Eingang zum Jahrhundert verstorbenen Friedrich Nietzsche über Lew Tols-toi bis hin zu Paul Claudel, André Gide, Charles Péguy, Paul Valery, François Mauriac, Gabriel Marcel und Aldous Huxley – nicht losgelassen hat. Nicht zu Unrecht wurde von einem »revival«, von einem Wiederaufl eben Pascals zu Be-ginn des Zwanzigsten Jahrhunderts gesprochen. Und in der Tat, die Bücher und Aufsätze, die im letzten Jahrhundert und bis in unsere Tage über Pascal, zumal über seine Gedanken, geschrieben wurden, füllen in den großen Bibliotheken unzählige Bücherregale, und das gewiss nicht nur, weil die Wissenschaft in der Zwischenzeit mehr Ordnung in die Gedankenfragmente des großen Franzosen gebracht hat und die Übersetzungen genauer geworden sind, sondern vor allem deswegen, weil Pascal noch immer aktuell ist, so verschieden die Annäherungen an ihn und an sein Denken auch sein mögen.

Diesen verschiedenen Annäherungen nachzugehen, und zwar im Wesent-lichen beschränkt auf den deutschen Sprach- und Kulturraum, ist der Zweck vorliegender Darstellung. Nicht darum geht es dabei, den zahllosen Deutungen des französischen Denkers eine neue hinzuzufügen, vielmehr soll gezeigt wer-den, wie dieser ungewöhnliche Christ Th eologen, Philosophen und Dichter des letzten Jahrhunderts fasziniert und in ihrem Denken beeinfl usst hat. Und es ist erstaunlich, wer alles sich mit ihm befasst, wer seine Werke übersetzt, wer ihn studiert und kommentiert und in sein eigenes Denken integriert, oder aber – was in den vielen auf ihn gesungen Hymnen meist vergessen wird – ihn kritisiert oder gar verurteilt hat. Es ist eine bunte Vielfalt von Namen, bekannten und weniger bekannten, noch immer hoch gefeierten und zu Unrecht vergessenen.

Am Ende mag dann ein Resümee stehen, das die Aktualität Pascals beweist und seinen Einfl uss auf das heutige Denken, zumal auf die Th eologie unserer Tage, zum Ausdruck bringt, und darüber hinaus anregt, selbst zur Quelle zu ge-hen. Seine Gedanken sind immer wieder von Neuem wert, gelesen und meditiert zu werden.

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3. KAPITEL

Christ und Antichrist: Friedrich Nietzsche

»›Nietzsche‹ – der Name des Denkers steht für die Sache seines Denkens«. Mit diesen Worten beginnt Martin Heidegger die Veröff entlichung seiner Vorlesun-gen über Nietzsche1. Was er damit sagen will, ist klar: Entscheidend ist nicht der Mann, der hinter den Aussagen steht, entscheidend sind die Aussagen selbst. Doch eine solche »werkimmanente Interpretation«, die im Rahmen von Hei-deggers Seinsverständnis konsequent erscheint, fordert zum Widerspruch her-aus. Für Heidegger mag es gleichgültig sein, wer immer hinter den Gedanken Nietzsches steht, ist es doch, überspitzt gesprochen, immer das Sein, das sich ausspricht, doch gerade im Falle Nietzsches fällt es dem unvoreingenommenen Beobachter schwer, Denken und Denker voneinander zu trennen. Denn selten ist das Denken eines Philosophen so sehr von seiner Person und seiner eigenen Biographie abhängig wie im Falle Nietzsches, und dies nicht zuletzt in seiner Christentumskritik. Und dies gilt in besonderer Weise dort, wo Nietzsche sich mit Blaise Pascal auseinandersetzt, den er, der »Antichrist«, den »ersten aller Christen« nannte. In seiner Beurteilung, oder sollte man sagen Verurteilung, Pascals, den er als gleichwertigen Gegner achtet, gipfelt Nietzsches Kritik am Christentum, an der christlichen Moral und den christlichen Idealen. Aber diese Kritik ist nur zu verstehen, wenn man sie in Bezug setzt, nicht zum imaginären Nietzsche Heideggers, sondern zum wirklichen lebendigen Friedrich Nietzsche aus Fleisch und Blut.

Ein redlicher, existentieller Denker – vom Christentum verwundet

Wer war dieser Nietzsche? Wer seine gesammelten Werke, unberührt von allen gelehrten, tiefschürfenden Erklärungen liest, kommt zu dem Ergebnis: Da ist ein genialer Dichter und Philosoph und zugleich ein Mensch, dem jede Halbheit, jede »Unredlichkeit« zuwider ist, ein Mann auch, in dem Person und Denken eins sind, ein existentieller Denker und prophetischer Mensch im Sinne Kierke-gaards2. Doch dieser Mann wurde von früher Jugend an geschädigt durch ein das Leben unterdrückendes Christentum mit seiner beengenden Moral, wie sie ihm in seinem pietistischen Elternhaus und im strengen Internat von Schulpforta eingestanzt wurde, einer christlichen Moral, aus welcher der durchaus fromme Junge, tief verwundet, schon bald ausgebrochen ist. Und dieser Ausbruch dauer-

1 Martin Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961, I, 9.2 Vgl. Eugen Biser, Gott ist tot. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewusstseins, Mün-

chen 1962, 80–87.

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43Christ und Antichrist: Friedrich Nietzsche

te fort bis in die letzten Jahre seines bewussten Lebens, in denen er sich berufen fühlte, mit einem »Hammer« das verlogene, enge Christentum zu zertrümmern, aus dem er ausdrücklich Jesus ausnimmt, im Unterschied zu Paulus, in dem er den Anfang allen Elends zu erkennen glaubte.

Begegnung mit Pascal

Und gerade in diesen letzten Jahren, beginnend mit dem Herbst 1880, tritt die Gestalt eines Mannes stärker als bisher in sein Blickfeld, auch wenn er ihm schon zuvor, wie seine erste »Unzeitgemäße Betrachtung« beweist, nicht unbekannt war3. Es ist ein Mann, der ihm in vielem ähnlich scheint, ein Mann von gleicher Authentizität, von gleicher Redlichkeit und Originalität, von gleicher Leiden-schaftlichkeit in der skeptischen Suche nach Wahrheit, aber auch in gleicher Weise wie er von Krankheit gezeichnet und dennoch nicht gewillt, sich einer geistlosen Autorität zu unterwerfen: Blaise Pascal4.

Er ist es, den Nietzsche als den »einzigen konsequenten Christen« bezeichnet, den er »nicht liest, sondern liebt«5, auch wenn er leider dem Christentum geop-fert und von ihm verdorben wurde6. Er bleibt dennoch sein Freund, »freilich mit der Anhänglichkeit eines Freundes, welcher aufrichtig bleibt, um Freund zu bleiben und nicht Liebhaber und Narr zu werden«7. Doch dies hindert ihn nicht, Pascal in nicht geringerem Maße so »tief« zu fi nden wie Sokrates, Cäsar, Friedrich II. oder Leonardo da Vinci, auch wenn er »zu früh starb, um aus seiner prachtvollen, bitterbösen Seele heraus über das Christentum hohnzulachen, wie er früher und jünger über die Jesuiten getan hat«8. So schwankt denn Nietzsches Urteil über Pascal zwischen Bewunderung, ja liebender Hinneigung, und Trauer darüber, dass dieser große, selbstständige, redliche Geist dem Weg, den er selbst gegangen ist, nicht bis zum Ende folgen konnte.

Gewiss, Pascal war Christ und damit Teil jener Welt, die Nietzsche bekämpf-te. Doch zum Mindesten eines zeichnete ihn aus, er schien ein ebenbürtiger, bewundernswerter Gegner, wie Nietzsche sie auch sonst bei dem »christlichsten

3 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauß, der Beken-ner und Schriftsteller, Leipzig 1973.

4 Vgl. Franz Overbeck, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche.5 Friedrich Nietzsche, Ecce Homo § 3, in: Nietzsches Werke, Kritische Gesamtausgabe, hg.

von Giorgio Coli, Mazzino Montinari u. a., Abt. 6, Bd. 3, Berlin 1969, 385. Vgl. Nietzsche an Georg Brandes, 20. November 1888, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, von Giorgio Coli, Mazzino Montinari u. a., Bd. 8, Nr. 1151, Berlin 2005, 483.

6 Vgl. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist 5, in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. VI, Bd. 3, Berlin 1969, 169; Ders., Nachgelassene Fragmente, Werke, Kritische Gesamtausgabe, VII. Abt., Bd. 2, Berlin 1986, 15.

7 Nietzsche, Morgenröthe [], in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. V, Bd. 1, Berlin 1971, 686.

8 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. VII, Bd. 3, Berlin 1974, 190.

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44 3. Kapitel

Volk der Erde«, bei den Franzosen, zu fi nden glaubte, bei denen nach seiner An-sicht »die schwierigsten christlichen Ideale sich in Menschen verwandelt haben und nicht nur Vorstellung, Ansatz, Halbheit geblieben sind«. Es sind Gestal-ten wie Fénelon, Madam de Guyon oder Armand de Rancé, der »Gründer« des Trappistenordens, oder eben »Pascal, in der Vereinigung von Glut und Redlich-keit der erste aller Christen«9.

Ihm nahm er die Echtheit seiner Frömmigkeit ab, mehr noch, er war von ihr gerührt. »Pascals Gespräch mit Jesus«, notierte er sich Ende 1880, »ist schöner als irgend etwas im neuen Testament! Es ist die schwermütigste Holdseligkeit, die je zu Wort gekommen ist. An diesem Jesus ist seitdem nicht mehr fortgedich-tet worden; deshalb ist nach Port-Royal das Christentum überall im Verfall«10.

»Die deutschen Philosophen kommen gegen ihn nicht in Betracht«

Wenn nicht alles täuscht, überwiegt in Nietzsches letzten bewussten Jahren bei ihm dieses positive Bild von Pascal, dem er wiederholt Lob zollt, und das schon deswegen, weil Pascal (wie er selbst) in Aphorismen schreibe, denn, so stellte er fest, »die tiefsten und unerschöpfl ichsten Bücher werden wohl immer etwas von dem aphoristischen und plötzlichen Charakter von Pascals Pensées haben«11. Doch er bleibt nicht dabei stehen. Nietzsche bewundert Pascals Leidenschaft-lichkeit, die er »als nothwendig für Jedermann«, ja »als das einzige Nöthige« bezeichnet12.

So braucht es nicht zu verwundern, dass im Vergleich mit anderen großen Denkern, Pascal bei ihm an die erste Stelle rückt: »Spinoza«, so glaubt er, »ist tiefer, umfänglicher, höhlenverborgener als Cartesius; Pascal wiederum als Spi-noza. Gegen solche Einsiedler des Geistes und Gewissens sind Hume und Locke Menschen der Oberfl äche«13. Und an anderer Stelle: »Es ist nichts seit Pascal pas-siert. Die deutschen Philosophen kommen gegen ihn nicht in Betracht«14. Was er auch immer gegen die christliche Moral vorgebracht hat, Pascal nimmt er aus, ja er glaubt: »Um darzustellen, was das moralische Gewissen ist, dazu müsste einer tief und verwundet und ungeheuer sein wie das Gewissen Pascals«15.

Ja, es fehlt nicht an Bemerkungen, in denen Nietzsche selbst das Christsein Pascals, wenn auch auf seine Weise, bewundert. »Man muß sich«, so stellte er

9 Nietzsche, Morgenröthe 7 [192], in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. V, Bd. 1, Berlin 1971, 686f.

10 Ebd. [29], 654. 11 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente [31], in: Werke, Kritische Gesamtausgabe Abt. VII,

Bd. 3, Berlin 1974, 244. 12 Nietzsche, Morgenröthe 7 [190], in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. V. Bd. 1, Berlin

1971, 686.13 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente [31], in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt VII.,

Bd. 3, Berlin 1974, 288.14 Ebd., 445.15 Ebd., 189.

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45Christ und Antichrist: Friedrich Nietzsche

fest, »zu einer solchen Denkweise (wie die christliche ist) den idealen, ganz zu ihr geschaff enen Menschen denken – Pascal z. B. Denn für den durchschnittli-chen Menschen gibt es auch immer nur ein Surrogat-Christenthum, selbst für solche Naturen wie Luther – er machte sich ein Pöbel- und Bauernchristenthum zurecht«16. An anderer Stelle bemerkte er: Die christliche Kirche habe durch ihre Intoleranz großartige »geschmeidige Geister hervorgebracht: Abälard, Mon-taigne und Pascal«17. Schließlich fi ndet sich in seinen Aufzeichnungen 1887 die Notiz: »Ohne den christlichen Glauben, meinte Pascal, werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und die Geschichte, un monstre et un chaos«. Er fügte hinzu: »Diese Prophezeiung haben wir erfüllt«, wobei Nietzsche allerdings die Erfüllung dieser Prophezeiung im 19. Jahrhundert, das dem »schwächlichen 18. Jahrhundert« folgte, durchaus positiv zu werten scheint18.

Vom Christentum verführt

Soviel zur einen Seite des Pascalbildes Nietzsches. Die andere ist seine Enttäu-schung darüber, dass ein so gewaltiger Geist wie Pascal leider durch das Christen-tum korrumpiert worden sei: »Das Christentum hat es auf dem Gewissen, viele volle Menschen verdorben zu haben, z. B. Pascal und früher schon den Meister Eckart«19. Damit bringt Nietzsche Pascal in Verbindung mit seiner grundsätzli-chen Einschätzung des Christentums, das, wie er glaubte, gerade die Starken zu »verworfenen Menschen« gemacht habe: »Das Christenthum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißrathenen genommen, es hat ein Ideal aus dem Wi-derspruch gegen die Erhaltungs-Instincte des starken Lebens gemacht, es hat die Vernunft selbst der geistigstärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfi nden lehrte. Das jammervollste Beispiel – die Verderbnis Pascals, der an die Verderbnis seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Chris-tenthum verdorben war«20. An anderer Stelle führt er diese Gedanken dahin aus, dass der christliche Glaube Pascals »auf schreckliche Weise einem dauernden Selbstmorde der Vernunft« gleiche. Denn dieser Glaube verlange »Opferung al-ler Freiheit, allen Stolzes, aller Selbstgewißheit des Geistes, zugleich Verknech-tung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung«21.

16 Ebd. Abt. VII, Bd. 2, Berlin 1986, 198.17 Ebd., 170.18 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. VIII, Bd. 2,

Berlin 1970, 109.19 Ebd. Abt. VII, Bd. 2, Berlin 1986, 149.20 Nietzsche, Der Antichrist 5., in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, VI. Abt., Bd. 3, Berlin

1969, 169.21 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. V. Bd. 1,

Berlin 1971, 696.

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46 3. Kapitel

Pascals Hauptfehler freilich, der ihn in diese Verderbnis führte, habe darin bestanden, beweisen zu wollen, »daß das Christenthum wahr ist, weil es nöthig ist«. Doch gegen einen solchen Beweis sprächen verschiedene Tatsachen, nicht zuletzt, dass man sich an einen Irrtum schon so gewöhnt haben könne, dass man ihn für nötig halte. Pascal aber habe, so tief er für die Wahrheit interessiert war, die Vernunft zu Gunsten des christlichen Glaubens zu überwinden gesucht und sein »inneres Problem« letztlich damit gelöst, dass er mehr auf den »Instinkt« als auf die Vernunft hörte22 – ein Vorwurf, dem wir in ähnlicher Weise auch bei anderen Kritikern Pascals begegnen werden.

Der Tod und die bösen Lüste

Vor allem in einer Hinsicht distanzierte sich Nietzsche von Pascal. Dieser, so glaubte er, sei vom Christentum verführt worden, von dessen Moral wie von dessen Stellung zu den dunklen Wirklichkeiten der Welt und des Lebens – wobei er jedoch nur an wenigen Stellen auf eine der zentralen Überlegungen Pascals, die Erbsünde als Erklärungsversuch für all das mit der Güte Gottes Unvereinbare in der Welt, eingeht. Freilich scheint ihm schon die Fragestellung Pascals, und damit auch sein Antwortversuch, verfehlt. Pascal ist für ihn kein objektiver Be-obachter, weil er von den Prämissen der christlichen Lehre ausgeht: »Der Selbst-betrug Pascals: er geht schon von christlichen Prädispositionen aus. Die ›bösen Lüste‹! Die Bedeutung des Todes! Denken wir doch an den Tod, wie an den Tod bei Th ieren – so ist die Sache nicht so furchtbar. Zum Tode verurtheilt – das ist nichts so Schlimmes an sich: nur beim Verbrecher macht es uns so schreckliche Empfi ndungen, wegen der Schande. Pascal war nicht vorsichtig genug, er wollte beweisen! – die Verführungskunst des Christenthums«. Und Nietzsche gibt noch eins drauf: »Das Christenthum hat die Übel der menschlichen Lage übertrieben, d. h. sie erst geschaff en. Pascal thut noch das Äußerste«23.

Doch zurück zu den »bösen Lüsten« oder ganz allgemein zur menschlichen Leiblichkeit, zweifellos ein zentrales Th ema für Nietzsche und eine Angelegen-heit, in der ihm Pascal im Gefolge von Augustinus als Antipode erscheinen musste. Die gesamte menschliche Leiblichkeit – »was nur immer von dem Ma-gen, den Eingeweiden, dem Herzschlage, den Nerven, der Galle, dem Samen« herkomme – »alle jene Verstimmungen, Entkräftungen, Überreizungen, die gan-ze Zufälligkeit der uns so unbekannten Maschine« –, das alles sei für Pascal ein »moralisches und religiöses Phänomen …, mit der Frage, ob Gott oder Teufel, ob gut oder böse, ob Heil oder Unheil darin ruhen«24. Wenn dann Pascal auch noch glaube, man müsse sich nur an das Christentum gewöhnen, dann würden

22 Ebd., 693.23 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, V. Abt., Bd. 1,

Berlin 1971, 685.24 Nietzsche, Morgenröthe 1 [86], ebd., 76f.

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die Leidenschaften verschwinden, so bedeute dies, die eigene Unredlichkeit sich auch noch bezahlt zu machen25.

Heiligkeit ist Egoismus

Am weitesten geht Nietzsches Kritik, wo er sich den letzten Triebfedern von Pascals extremer Askese und Frömmigkeit zuwendet. Warum tut Pascal dies al-les? Auch ohne die berühmte »Wette« Pascals (Br. 233; Laf. 418) zu erwähnen, vermutet Nietzsche dahinter das Bemühen um das kommende Heil im Jenseits, wie es »vielen, auch heiligen Christen« zu Eigen ist. »Alle diese Heiligen sind Egoisten, und wie sollte es einer nicht sein, dem mit der Hölle gedroht wird! Es geht über ihre Kraft und alle Vernunft hinaus, an Andere zu denken in solcher Lage! Bei Pascal ist der tiefste Egoismus: auch alle Verzückungen sind es«26.

In diesem Zusammenhang kehrt Nietzsche mehrmals zum Vorwurf man-gelnder Liebe auf Seiten Pascals zurück, was insofern verwundert, da er doch selbst christliche Nächstenliebe als Schwäche qualifi zierte und das Lob des Ego-ismus verkündete. Freilich, der von ihm gepredigte Egoismus war anderer Art, war ein gesunder Egoismus und Zeichen der Kraft. Das Sichabmühen Pascals aber, in der Bekämpfung des eigenen Ich wie in der Sorge um das ewige Heil anderer, hatte nichts von einem solchen Egoismus an sich: »Pascal hat keine nützliche Liebe vor Augen, sondern lauter vergeudete, es ist alles egoistische Pri-vatsache27… es ist eine Art von Liebe, welche alle anderen verachtet und die Menschen bemitleidet, ihrer zu entbehren …«28.

Der Vergleich

Was ist für Nietzsche das Fazit? Er vergleicht sich mit Pascal, und kommt zu dem Ergebnis, dass er dabei gar nicht so schlecht abschneidet:

»Vergleich mit Pascal: haben wir nicht auch unsere Stärke in der Selbstbe-zwingung wie er? Er zu Gottes Gunsten, wir zu Gunsten der Redlichkeit? Frei-lich, ein Ideal, die Menschen der Welt und sich selber zu entreißen, macht die unerhörtesten Spannungen, ist ein fortgesetztes Sichwidersprechen im Tiefsten, ein seliges Ausruhen über sich, in der Verachtung all dessen, was ›ich‹ heißt. Wir sind weniger erbittert und auch weniger gegen die Welt voller Rache, innere Kraft auf

25 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, ebd., 655.26 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. V, Bd. 1, Ber-

lin 1971, 669f.27 Ebd., 700.28 Ebd., 696.

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48 3. Kapitel

einmal ist geringer, dafür brennen wir auch nicht gleich Kerzen zu schnell ab, sondern haben die Kraft der Dauer«29.

Ergebnis und Beurteilung

Versuchen wir, nachdem wir Nietzsche selbst zu Wort kommen ließen, abschlie-ßend seinem Verhältnis zu Pascal auf den Grund zu gehen. War Pascal wirklich sein »alter ego«, wie gesagt wurde?30 Oder war er nicht eher sein Antipode, sein Gegenspieler und Widerpart? Aber vielleicht war er ja beides. Zweifellos waren beide Menschen von großer denkerischer Leidenschaft, waren »extreme Existen-zen« und sie waren moderne Menschen, gerade in der Art ihres Denkens und Philosophierens. Nicht nüchterner Abstand, nicht rationale Deduktion, nicht zergliedernde Beweisführung, die von außen her argumentierte, war ihre Stär-ke, sondern die Einheit von Leben und Denken, die im Innern aufl euchtende Erkenntnis, das ganzheitliche Erfassen von Wirklichkeit, die subjektive, persön-liche Betroff enheit, die Unruhe des Herzens, die nach echten Antworten suchte. Diese innere Nähe beider Männer aber war der tiefste Grund der Bewunderung Nietzsches für Pascal, auch wenn dieser ihm als paradox erscheinen musste, da er mit dem Christentum den Begriff der Dekadenz verband, ein Begriff , der gerade bei Pascal nicht griff , dem ein gewaltiger Geist zu Eigen war und der zugleich das Christentum mit letzter, bewundernswerter Konsequenz lebte.

Nicht nur Nietzsches Freund Franz Overbeck31 und später Th omas Mann32, sondern auch neueste Untersuchungen haben daher die Geistesverwandtschaft beider Männer betont. Zusätzlich haben sie die »moderne« Art ihrer Beweisfüh-rung und ihrer Darstellung hervorgehoben, die beide gemeinsam hätten33. Dies alles dürfte zweifellos richtig sein. Wenn freilich die angeführten Autoren nahe-legen, Nietzsche habe wie kein anderer Pascal verstanden, so wird man dem nur bedingt zustimmen können. Noch fragwürdiger erscheint es, wenn nicht nur der Stil, sondern auch der Inhalt von Nietzsches Spätwerk völlig in Abhängigkeit von Pascal gesehen wird. Das heißt jedoch nicht, dass Nietzsche nicht da und dort von Pascal beeinfl usst war, etwa wenn der Mensch von Nietzsche wie von Pascal als Wesen gezeichnet wird, das über einem »Abgrund« lebt34. Zweifellos bestanden, wie aufgezeigt, viele Berührungspunkte zwischen dem Denken und Fühlen (!) Pascals und Nietzsches, doch die Beziehung Nietzsches zu Pascal war

29 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. V, Bd. 1, Ber-lin 1971, 702.

30 Vgl. Alberto Frigo, »La vittima più istruttiva del cristianesimo«. Nietzsche lettore e interprete di Pascal, in: Giornale critico della fi losofi a italiana 89/2 (2010) 275–298, hier 275.

31 Vgl. Franz Overbeck, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche.32 Vgl. Th omas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen [zuerst 1918]. Ges. Werke XII,

Frankfurt am Main 1960, 79–101.33 Vgl. Alberto Frigo, »La vittima più istruttiva«, passim,34 Vgl. Vivetta Vivarelli, Nietzsche und die Masken des freien Geistes: Montaigne, Pascal und

Sterne, Würzburg 1998, hier 95–131.

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vielschichtiger und auch tiefgründiger, als dass sie mit dem Nachzeichnen – oder Erfi nden – von Traditionslinien oder mit einer ähnlichen Semantik bei beiden erklärt werden kann.

Vor allem eines sollte nicht übersehen werden: Nietzsche hat zwar wesentliche Eigenschaften, Vorstellungen und Sehnsüchte Pascals erkannt und in sich selbst wiedergefunden, aber gerade hier gilt der alte Satz, dass alle Erkenntnis vom Erkennenden abhängig ist. Mit anderen Worten: In den Aufzeichnungen Nietz-sches über Pascal begegnet uns nicht der originäre Pascal, es ist vielmehr Pascal, gesehen mit den Augen Nietzsches, es ist Nietzsches Pascal, und damit nur eine Interpretation des französischen Mathematikers, Philosophen und Th eologen, eine Interpretation von vielen möglichen, wie sie uns in unserer Untersuchung noch begegnen werden.

Eines allerdings hat Nietzsche erreicht. Er hat in Deutschland weit über den katholischen Binnenraum hinaus den Blick auf Pascal gelenkt, und so dazu bei-getragen, dass dieser nicht vergessen wurde. Auch nichtkatholische Autoren ha-ben sich, in verschiedenster Weise, und nicht etwa nur dort, wo der Mathemati-ker und Naturwissenschaftler Pascal gefragt war, ihm zugewandt, und auch das Verhältnis Nietzsches zu ihm zur Sprache gebracht. Stellvertretend für verschie-dene andere Arbeiten sei hier nur auf eine umfangreiche Untersuchung Erich Voegelins35 hingewiesen.

35 Eric Voegelin, Nietzsche und Pascal [zuerst auf Englisch 1944], in: Nietzsche-Studien 25 (1996) 128–171.

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