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Der Feigling von Loors

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Nr. 357

Der Feigling von Loors

Die letzten Stunden des Tyrannen

von Peter Terrid

Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dank Atlans und Razamons Eingreifen der Erde nichts anhaben konnte, liegt nach jäh unterbrochenem Hyperflug auf Loors, dem Planeten der Brangeln, in der Galaxis Wolcion fest.

Pthors Bruchlandung, die natürlich nicht unbemerkt geblieben war, veranlaßte Sperco, den Tyrannen von Wolcion, seine Diener, die Spercoiden, auszuschicken, damit diese den Eindringling vernichten.

Diese Aktion wiederum brachte Atlan sofort dazu, sich den Spercoiden zu widmen und deren Möglichkeiten auszuloten.

Bei seinem Eingreifen an vielen Plätzen der Galaxis Wolcion war der Arkonide überraschend erfolgreich in seinem Bemühen, die Macht des Tyrannen zu untergra­ben und den durch Sperco Unterdrückten die Freiheit zu bringen.

Für Sperco selbst schlägt die letzte Stunde in dem Augenblick, als er sein Raum­schiff persönlich auf dem Planeten Loors zu landen versucht.

Nur Atlan überlebt die Schiffskatastrophe, und der Arkonide stößt, als er sich auf den Rückmarsch nach Pthor macht, auf den FEIGLING VON LOORS …

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3 Der Feigling von Loors

Die Hautpersonen des Romans:Sperco - Der Tyrann fliegt nach Loors.Atlan - Der Arkonide kehrt zurück.Feigling - Ein Mann, der seinen Namen zu Recht trägt.Ephor und Torpha - Das Königspaar der Drocks.

1.

Als der Mond seinen höchsten Stand er­reicht hatte, war Ephor am Ziel.

Die Burg der Weißen zeichnete sich braunschwarz gegen das Licht des Mondes ab. Der Fluß schlug leise gegen die Uferbe­festigungen. Ephor seufzte. Für einen Ver­liebten war das Leben wahrlich nicht leicht.

Er huschte aus dem Wasser und schüttelte sich das Fell trocken. Sorgfältig glättete er die Nackenhaare, bevor er seinen Schleich­gang aufnahm. Auf den Wällen der Burg pa­trouillierten die Wachen. Ihre Bewegungen waren recht martialisch, aber Ephor ließ sich davon nicht beeindrucken.

Er erreichte die Stelle in der Burgmauer, die er in den letzten Nächten ausgekund­schaftet hatte.

Das Mauerwerk auf dem Ufer bestand aus Holz, das mit Lehm aus dem Flußboden und Blättern verkleidet worden war. Vierfach mannshoch war die Mauer, selbst an dieser Schwachstelle. Ephor wartete einen Augen­blick lang. Prüfend zog er die Luft durch die Nase.

Es roch nach Lehm und Wasser, nach Grün und nach schlechtem Fisch. Minde­stens vier Tage alt. Und dazu noch gebraten, was den feinen Fischgeschmack garantiert zerstörte. Nun ja, Stadtbewohner.

Die Leute aus dem Fluß waren da anders. Ephor riß sich zusammen. Dies war nicht

der Zeitpunkt, den alten Konflikt aufzuwär­men. Er wollte Torpha besuchen, dazu war er gekommen. Geschickt turnte Ephor an der Mauer in die Höhe. Es hatte vor wenigen Stunden noch geregnet. Der Lehm der äuße­ren Mauer war daher noch feucht. Selbst ein Uralter hätte es geschafft, dieses Hindernis zu überwinden.

Auf der Mauerkrone angelangt, warf Ephor sich sofort auf den Boden. Er wollte um jeden Preis vermeiden, gesehen zu wer­den. Wenn die Stadtbewohner ihn fanden, wenn sie gar herausfanden, was er in der Stadt wollte … vielleicht hätten sie ihn tot­geschlagen.

Ephor entschloß sich, dieses erhebliche Risiko, das er einging, an passender Stelle in seine Unterhaltung einfließen zu lassen. Im Grunde war er bereit, jedes nur denkbare Ri­siko zu tragen, wenn er nur Torpha sehen konnte. Und wenn es gar beim bloßen Sehen nicht blieb …

Ephor raffte sich auf. Auch für Träume­reien war dies nicht der richtige Ort. Die Wachen kamen näher. Ephor konnte hören, wie sie sich unterhielten.

»Diese Flußleute werden immer dreister«, hörte Ephor sagen. »Neulich, da hat es einer gewagt, sich nachts in die Stadt zu schlei­chen. Er hat nur nicht daran gedacht, daß er sich sehr schnell verraten würde. Dieser Bursche nun hatte kurz vorher Fisch geges­sen, weißt du, und weil Flußleute den Fisch bekanntlich roh essen – wirklich eine sehr unappetitliche Sache –, war sein ganzer Pelz voll Schuppen. Und an der Spur, da haben wir ihn erkannt. Durch die ganze Stadt ha­ben wir ihn gejagt, aber wir haben ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen. Eine Unver­schämtheit ist das wirklich, eine Unver­schämtheit sondergleichen.«

Lauthals lamentierend zogen die Wachen an Ephor vorbei. Sie hätten wahrscheinlich anders reagiert, hätten sie gewußt, daß der Frechling während der empörten Rede keine zehn Klafter entfernt hinter einem Mauer­vorsprung gehockt und sich lautlos ins Fäustchen gelacht hatte. Auf dem Rückweg nach der halsbrecherischen Flucht hatte Ephor den Fehler bemerkt. Heute hatte er

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ihn natürlich vermieden. Ephor huschte aus dem Schatten hervor

und sah sich um. Bis die Ronde zurückkehr­te, mußte nach seinen Beobachtungen fast eine Stunde vergehen.

Fast geräuschlos turnte er an der Innensei­te der Stadtmauer herab. Dabei half ihm, daß die Mauer innen bewachsen war.

Nach kurzer Zeit stand Ephor auf dem Boden der Stadt. Es tat ein wenig weh, auf dem Pflaster zu gehen. Ephor war einen an­deren Untergrund gewohnt, aber die Sehn­sucht nach Torpha ließ ihn auch diese Unbe­quemlichkeit geringachten.

Ephor sah zum Mond hinauf. Er leuchtete die Straßen der Stadt gut aus. Entschieden zu gut, wenn man Ephor gefragt hätte. Als er sich durch die leeren Straßen schlich, hielt er sich, wo immer dies möglich war, im Schat­ten auf.

Das Haus, in dem Torpha wohnte, lag am anderen Ende der Stadt. Ephor mußte daher die ganze Stadt durchqueren. Das behagte ihm gar nicht, ließ sich aber leichter durch­führen, als eine Umrundung der Stadt.

Ephor hatte Glück. Niemand sah ihn. Ab und zu kühlte Ephor seine Füße in den Ab­wässergräben, die entlang der Straßen ver­liefen. Das Wasser war natürlich nicht sau­ber und roch dementsprechend. Zum tau­sendsten Male, seit er Torpha gesehen hatte, nahm sich Ephor fest vor, die Geliebte aus diesem Drecksnest zu erretten. Kein Wun­der, daß die Stadtleute so absonderlich wa­ren. Wer ständig derart im Unrat wühlte, mußte ja früher oder später marode werden.

Als Ephor das Haus erreicht hatte, vergaß er alles andere. Er starrte zu dem Balkon hinauf, der von sorgsam gezüchtetem Gra­hun überwuchert war. Die kleinen Blätter der Pflanze bildeten einen hübschen Rah­men zu der hölzernen Tür.

»Torpha!« rief Ephor in die Höhe und ließ eine Reihe gurrender Brunftlaute folgen.

»Torpha!« Sie hatten sich verabredet, als sie sich das

letzte Mal getroffen hatten. Aber Torpha er­schien nicht. Der Balkon blieb leer.

Peter Terrid

Ephor steigerte sein Brunftgeschrei, aber nichts rührte sich in der Höhe. Wurde die Geliebte festgehalten, von Eltern oder Brü­dern? Die Sippe der Cinereas war als ausge­macht wohlhabend bekannt, daher galt Tor­pha als gute Partie. Sie würde mindestens zwei Fuder Schößlinge in die Ehe mitbrin­gen. Indes waren solche Gedanken Ephor stets profan erschienen.

»Dann komme ich eben hoch«, sagte Ephor ergrimmt. Er hatte nicht üble Lust, mit der ganzen Cinerea-Sippe zu raufen.

Ephor machte sich an die Arbeit. Vom Boden bis zum Balkon hinauf rankte sich dichtes Esro-Gestrüpp. Es mußte leicht sein, dank dieser Hilfe, in die Höhe zu steigen.

Ephor hatte noch keine zwei Mannslän­gen erklommen, als zweierlei geschah. Zum einen trat er sich einen Dorn in den Fußbal­len, der auf der anderen Seite herauszukom­men schien, so lang war er, und zum zweiten öffnete sich die Tür zum Balkon. Torpha er­schien. Ihr Fell glänzte im Mondlicht.

»Seht nur des Mondes lichte Scheibe«, seufzte Torpha laut. »Wie lieblich klingt da­zu des Pretors Schlagen!«

»Erstens«, stieß Ephor hervor, »ist dies kein Pretor, der schlägt, sondern vielmehr ein Pydol, der trillert, denn das tun diese elenden Viecher immer, wenn sie den Mond sehen. Und zweitens habe ich mir einen ent­setzlich langen Dorn in den Fuß getreten.«

»Weh mir!« rief Torpha aus. Was sie auf den Gedanken brachte, sich ausgerechnet mit dem Mond zu unterhalten – denn ihn sah sie dabei an – blieb ein Geheimnis. »Hör ich des Geliebten wehe Stimme?«

»Mir wäre entschieden wohler«, versetzte Ephor, »würdest du dich weniger um meine wehe Stimme als vielmehr um meinen we­hen Fuß kümmern. Ich werde nämlich in ein paar Augenblicken abstürzen, wenn du mir nicht hilfst.«

»So eil ich denn«, rief Torpha, »zu Hilf' zu eilen dem Geliebten!« Offenbar hatte sie wieder ihre lyrische Phase. Das war die Fol­ge der Erziehung, die ihr die Sippe hatte an­gedeihen lassen.

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Sie warf Ephor einen Strick zu, der sich in Windeseile um Ephors Hals legte und sich, als Torpha daran zu ziehen begann, derart schnell zusammenschnürte, daß Ephor kein Wort mehr herausbringen konnte. Zum Glück war Torpha ein kräftiges Mädchen. Sie brauchte nur ein paar Augenblicke, um den Geliebten auf ihren Balkon zu hieven.

»Geliebter!« rief sie aus, als Ephor vor ihr stand.

Ephor röchelte etwas, weil er den Strick um seinen Hals noch nicht hatte lösen kön­nen.

»Ich liebe dich!« beteuerte Torpha. Wie­der sah sie dabei den Mond an.

»Ich dich auch«, versicherte Ephor, so­bald er wieder Luft bekam.

»Ruhe da oben!« keifte eine ältliche Stim­me. »Könnt ihr nicht leiser balzen?«

Torpha führte Ephor in ihre Kammer. Im Innern des Hauses sah es recht ordentlich aus, das mußte sogar Ephor zugeben. Die Wände der Kammer waren säuberlich ver­putzt, und das Heu in der Schlafmulde dufte­te auch in Ephors Nest nicht aromatischer und einladender. Zielsicher strebte Ephor so­fort auf die Mulde zu, aber Torpha brachte es mit einer geschickten Körperdrehung fer­tig, ihn von diesem Ziel abzulenken. Sie nahmen auf einer Lage Blätter Platz.

»Wann werden wir endlich heiraten?« fragte Torpha.

»Ich weiß es nicht«, sagte Ephor traurig. »Meine Familie ist gegen unsere Liebe …«

»Typisch Flußleute«, warf Torpha ein. Sie hatte ein Stück Fischfilet aufbewahrt. Der­naz, eine Köstlichkeit, aber natürlich, wie bei den Stadtbewohnern üblich, gebraten. Der Geruch fraß sich förmlich in Ephors Nüstern. Trotzdem machte er ein Gesicht, das selige Überraschung ausdrücken sollte.

»Wie lieb von dir«, sagte er, dann schlug er mit Todesverachtung die Zähne in das Fischfleisch. Ihm wurde beinahe übel, so pe­netrant war der Bratgeschmack. Das war das erste, was er Torpha beibringen wollte, wenn sie erst einmal verheiratet waren – daß Fisch sein wirkliches Aroma nur in rohem

Zustand erreichen konnte, gewürzt lediglich mit einigen frischen Blattspitzen oder Al-genwurzeln.

»… deine Familie ist dagegen«, setzte Ephor die betrübliche Aufzählung der Hin­dernisse fort. »Und die Flußleute und die Stadtleute mögen sich untereinander auch nicht.«

»Kein Wunder«, bemerkte Torpha. »Da hast du recht«, seufzte er. Unauffällig

schmuggelte er den Rest des Fischbratens samt dem daran haftenden Fett beiseite.

»Ich liebe dich«, versicherte Torpha. »Ich dich auch«, sagte Ephor automatisch. »Ach ja!« seufzte Torpha. »Wir müssen endlich etwas unterneh­

men«, sagte Ephor. »So geht es jedenfalls nicht länger weiter.«

»Recht hast du«, stimmte Torpha zu. »Du mußt endlich etwas unternehmen.«

»Ich werde mit deinem Vater reden«, be­teuerte Ephor. »Ich werde …«

»Ja?« »Wäre es nicht besser, wir würden ein­

fach fliehen?« schlug Ephor zaghaft vor. »Wohin nur?« klagte Torpha. »Wir wären

nirgendwo sicher. Alles hat sich gegen uns verschworen.«

Dem konnte Ephor nur zustimmen. Zärt­lich kraulte er das Nackenfell seiner Gelieb­ten. Torpha schnurrte dankbar und schmieg­te sich an Ephor.

»Wenn nur nicht die Familien wären«, jammerte Ephor.

»Ja, da hast du recht«, stimmte Torpha zu. »Wenn nur nicht deine Familie wäre.«

Ephor brauchte einige Sekunden, bis er begriffen hatte, was Torpha da von sich ge­geben hatte.

»Meine Familie?« fragte er entgeistert. »Meine Familie?«

»Natürlich«, sagte Torpha sanft. »Wer denn sonst?«

»Wer denn sonst?« wiederholte Ephor fassungslos. »Und was ist mit deiner Fami­lie?«

»Ich komme mit meinen Leuten wunder­bar zurecht«, erklärte Torpha. »Es sind

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grundsätzlich zauberhafte Leute.« »Zauberhaft«, echote Ephor. »Sie halten

dich hier gefangen. Sie verbieten unsere Lie­be. Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.« »Sie hindern uns daran, glücklich zu wer­

den«, fuhr Ephor fort. »Und überhaupt.« »Was heißt hier überhaupt?« fragte Tor­

pha zurück. Sie löste sich von Ephor. »Gefallen dir meine Verwandten nicht?«

»Nun ja«, sagte Ephor, der einem Streit nach Möglichkeit aus dem Weg gehen woll­te.

»Was heißt nun ja?« fragte Torpha. »Magst du sie, oder magst du sie nicht. Ich muß das wissen. Schließlich werden sie uns in unserem Haus oft besuchen kommen.«

Ephor war alarmiert. »Was für ein Haus?« wollte er wissen.

»Ich dachte …« »Hast du allen Ernstes angenommen«,

fragte Torpha mit steigender Erregung, »ich würde mit dir zu deinen Leuten ziehen?«

»Allerdings«, sagte Ephor kühn. »Das ha­be ich gedacht.«

Torpha begann zu lachen. »Das ist doch nur ein Witz«, sagte sie.

»Ich werde doch nicht zu diesem ungehobel­ten Gesindel ziehen, wo man keine wahre Zivilisation kennt. Es versteht sich doch von selbst, daß wir zu meinen Verwandten zie­hen werden. Es sind Leute von erlesenem Geschmack.«

Torpha hatte ein sehr energisches Gesicht aufgesetzt. Ephor sah nach oben, um festzu­stellen, ob der Himmel noch dort hing. Es kam ihm nämlich vor, als sei das Himmels­gewölbe über ihm zusammengestürzt.

»Nein, nein«, brachte er hervor. »Wieso nein?« legte Torpha los. »Also ei­

nes steht jedenfalls fest. In den Fluß ziehe ich nicht, und diese widerliche Angewohn­heit, den Fisch roh zu essen, das mache ich auch nicht mit. Kein Wunder, daß deine Sip­pe gegen unsere Heirat ist. Dann hätte sie ja gesellschaftliche Kontakte mit uns, und da käme schnell heraus, was für ein unzivili­siertes Gesindel im Fluß wohnt. Also wirk-

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lich, Ephor!« »Meine Familie!« staunte Ephor.

»Unzivilisiert. Was ist mit deiner Verwandt­schaft, die die Erde verschlingen möge?«

»Oh!« knirschte Torpha. »Unzivilisiert, daß ich nicht lache«, legte

nun Ephor los. »Ihr habt es nötig. Wo stinkt es denn überall nach Abfall, weil ihr keine vernünftige Bewässerung habt? Und wo trieft überall widerliches Fett? Herunterge­kommene Barbaren, das sind deine Leute, die längst vergessen haben, was wirklich gut ist. Und wenn wir erst verheiratet sind …«

»… wenn!« wiederholte Torpha, »woran ich nun zweifle.«

»… dann werden wir selbstverständlich an den Fluß ziehen, damit unsere Kinder es einmal besser haben als ihre arme Mutter.«

Torpha wollte gerade zu einer Entgeg­nung ansetzen, als in der Ferne ein Geräusch erklang. Der Wächter auf dem Turm stieß ins Horn. Mitternacht war längst vorbei.

»Ich muß gehen«, seufzte Ephor auf. »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch«, seufzte ihrerseits Tor­pha.

Auf dem Gang wurden Schritte laut. War Ephor gesehen worden?

»Beeile dich!« flüsterte Torpha besorgt. Ephor stieß einen Schrei aus. Er hatte den

Dorn völlig vergessen. Jetzt hatte er sich den Stachel noch tiefer in das empfindliche Fleisch der Fußballen getrieben.

Ephor zog den Fuß hoch. Blut tropfte auf den Boden. Torpha packte mit den Zähnen zu und zog den Dorn aus dem Fleisch. Ephor stieß ein leises Wimmern aus.

»Wer ist in deiner Kammer?« fragte eine energische Männerstimme.

»Niemand!« rief Torpha eilig. Ephor ha­stete zum Balkon. An der Balustrade ange­kommen, drehte er sich noch einmal um.

»Ich liebe dich!« rief er. »Ich dich auch!« Ephor drehte sich wieder herum. Dabei

berührte er mit der verletzten Sohle den Bo­den. Der scharfe Schmerz entriß ihm einen leisen Schrei. Obendrein verlor er das

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Gleichgewicht, prallte gegen die Balustrade, die krachend barst, und stürzte laut auf­schreiend in die Tiefe.

Gleichzeitig wurde die Tür von Torphas Kammer aufgerissen. Auf der Schwelle er­schien eine imponierende Gestalt – Torphas Vater, der alte Aonyx Cinerea.

»Wo ist der Halunke?« schrie er. »Wo hält er sich verborgen?«

Während er sich in der Kammer nach Torphas nächtlichem Besucher umsah, hum­pelte Ephor vorsichtig den Weg zurück, den er gekommen war. Es schien ihm, als habe er sich jeden zweiten Knochen gebrochen.

Während hinter ihr der Vater die Kammer durchwühlte, stand Torpha an der Balkontür und sah zum Mond hinauf. Ein feuriges, ro­tes Schemen zog an der Scheibe des Mondes vorbei und verschwand am Horizont.

»Und es war doch ein Pretor!« sagte sie leise.

2.

»Fliegen!« stammelte Sperco. »Ich werde fliegen.«

Ich sagte nichts. Jeder Kommentar war hier überflüssig. Der Tyrann der Galaxis Wolcion war längst über jene unsichtbare Grenze geschritten, die eine geistige Erkran­kung vom Zustand des unheilbaren Irreseins trennte.

Drei Schritte neben Sperco, dessen ver­krüppelte Flügel in höchster Erregung zitter­ten, stand der Kommandant der WAHR­HAFTIGKEIT. Er stand still wie eine Sta­tue. Für den Spercoiden blieb nach dem Be­fehl des Tyrannen, so zu handeln, nichts an­deres übrig. Gegen den Willen Spercos gab es für den Spercotisierten keinerlei Einwän­de, keinerlei Widerstand.

Die WAHRHAFTIGKEIT befand sich im Landeanflug auf Loors. Seit dem Eintritt in den Normalraum, seit der Planet auf den Op­tiken der Raumbeobachtung aufgetaucht war, hatte Sperco praktisch den Verstand verloren. Er konnte es einfach nicht erwar­ten, daß ich mein Versprechen wahrmachte.

Er wollte fliegen, frei und unbeschwert flie­gen, sein Krüppeldasein vergessen.

Was mich erwartete, wenn ich seinen Wunsch nicht erfüllen konnte, lag auf der Hand. Die vier Roboter, die seit dem Beginn des Fluges ihre Waffenarme auf mich ge­richtet hatten, sprachen da eine deutliche Sprache.

»Fliegen!« jauchzte Sperco. Mit ihm re­den zu wollen, war vergeblich. Er dachte nur noch an das eine.

Unternehmen konnte ich nichts. Das ver­boten die Waffen der Roboter, die keinen Augenblick zögern würden, mich zu atomi­sieren.

Wohl aber zusehen. Zusehen, wie Sperco die WAHRHAF­

TIGKEIT steuerte. Er raste mit einer Ge­schwindigkeit auf Loors zu, die jedes ver­nünftige Maß überstieg. Und zu allem Über­fluß konnte Loors nicht mehr seine Funktion als Leuchtfeuer erfüllen. Einer katastropha­len Bruchlandung stand also nichts mehr im Wege.

Du solltest Absturz sagen, kommentierte der Logiksektor unbarmherzig.

Allerdings setzte Sperco jetzt zur Lan­dung an. Tief unter uns brüllten die Maschi­nen des Schiffes auf, als Sperco mit aller Kraft verzögern ließ.

»Ich werde doch fliegen, nicht wahr?« »Sicherlich!« log ich.

»Selbstverständlich.« Ich mußte lügen. Hätte ich verneint, wäre

ich einen Herzschlag später tot gewesen. So hatte ich noch die kurze Spanne Zeit zur Verfügung, die bis zum Aufprall der WAHRHAFTIGKEIT auf Loors vergehen mußte. Ein armseliges Stück Zeit. Aber es barg in sich den winzigen Funken Wahr­scheinlichkeit, der das Unwahrscheinliche vom Unmöglichen trennte. Und wer den si­cheren Tod vor Augen hat, der hat leichtes Hasardieren mit dem Leben.

Sperco begann zu tanzen. Es war das Hüpfen und Schreiten eines Wahnsinnigen, der das Vergnügen hat, seinen Anfall bis zur Neige auszukosten, in einem rauschhaften

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Wahn einen – vermutlich – sogar angeneh­men Tod zu sterben.

Danse macabre, kommentierte der Extra­sinn.

»Fliegen«, jubelte Sperco. »Fliegen.« Er sagte fast nur noch dieses eine Wort.

Er wiederholte es immer wieder, sprach es hoffnungsvoll aus, sehnsüchtig, inbrünstig.

Sperco kehrte zu den Armaturen zurück. Ich konnte auf dem großen Panorama­

schirm sehen, wie nahe wir Loors bereits ge­kommen waren. Wir steuerten die Nachtsei­te des Planeten an – falls man die aberwitzi­gen Manöver des Irren als Steuern ansehen wollte. Das Land wurde von einem Mond beschienen, aber dieses Licht reichte nicht aus, mich erkennen zu lassen, ob Pthor noch auf Loors lag oder längst verschwunden war. Ich hätte gerne gewußt, ob ich im Fall einer Landung, nicht eines Absturzes, noch eine Chance gehabt hätte, Loors zu verlas­sen.

Sinnlose Sentimentalitäten, bemerkte der Logiksektor.

Die WAHRHAFTIGKEIT raste weiter auf Loors zu, auch wenn sämtliche Trieb­werke mit höchster Kraft Gegenschub liefer­ten. Das einzig Positive war, daß wir auf der Nachtseite aufprallen mußten – ich brauchte nicht anzusehen, wie mir der Planet entge­genzurasen schien.

Sperco lachte laut und schrill. Die Roboter ließen mich nicht entkom­

men. Ich hätte eine Chance gehabt, eine hauchdünne Möglichkeit, wenn ich mich dieser Wächter hätte entledigen können. Das aber war mir unmöglich – die vier Maschi­nen hatten sich so postiert, daß sie ein per­fektes Quadrat bildeten, in dessen Mitte ich mich befand.

Noch immer stand der Kommandant der WAHRHAFTIGKEIT in der Zentrale des Schiffes und rührte sich nicht. Er würde sich bis zuletzt nicht rühren, da war ich mir si­cher. Die Spercotisierung war wirkungsvoll, selbst im Angesicht des Todes. Das gleiche galt für die anderen Spercoiden an Bord der WAHRHAFTIGKEIT.

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Auf den Bildschirmen war Loors nicht mehr zu erkennen.

Das hieß, daß wir dem Planeten bereits so nahe gekommen waren, daß der Bildschirm den Planeten nicht mehr zur Gänze abbilden konnte. Er konnte nur Ausschnitte zeigen.

Das hieß, daß es nur noch wenige Sekun­den dauern konnte.

Ich hörte, wie es langsam laut wurde. Viel zu schnell drang das Schiff in die Lufthülle des Planeten ein. Die Luft wurde erhitzt, rieb sich an den Schirmfeldern, staute sich davor. Wahrscheinlich tauchte jetzt für die Bewohner des Planeten ein neuer, rotglühen-der Stern am Himmel auf. Nun, er würde nicht lange bleiben.

Der Lärm schwoll an, wurde zum Dröh­nen, dann zu Kreischen. Ich sah, wie Sper­cos Flügel zuckten. Hören konnte ich nichts mehr. Der Lärm der überbelasteten Maschi­nen und der ionisierten Luft vor dem Bug des Schiffes übertönte alles andere.

Die Bremsverzögerung war brutal. Ich ging in die Knie, als der Druck zu stark wur­de. Sperco schien von alldem nichts zu spü­ren, er handhabte die Steuerelemente der WAHRHAFTIGKEIT, als gebe es nichts Wichtigeres zu tun.

Noch einmal kam der Andruck voll durch. Ich brach in die Knie und kippte dann um. Automatisch senkten die Roboter ihre Waf­fenarme.

Es konnte nur noch einen Sekundenbruch­teil …

*

Ich begriff es selbst nicht. Mein rechtes Bein tat höllisch weh. Es

war ein wühlender Schmerz, der vom Knö­chel ausging und sich in die Höhe arbeitete. Er war weniger peinigend als vielmehr uner­hört lästig. Es war dieser Schmerz, der mich geweckt hatte.

Geweckt! Ich lebte noch, das Bein bewies es mir. Ich wußte nicht, wie ich es fertiggebracht

hatte, den Absturz der WAHRHAFTIG­

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KEIT zu überstehen. Jedenfalls lebte ich und hatte Schmerzen.

Ich öffnete die Augen. Unmittelbar vor mir sah ich Metall. Vielleicht war es der Bo­den, auf dem ich gegangen war, vielleicht auch die Decke. Ich folgerte aus dem An­blick, daß die WAHRHAFTIGKEIT erheb­lich beschädigt sein mußte.

Beschädigt? fragte der Logiksektor lako­nisch.

Richtig. Nach den letzten Bildern zu schließen, die ich hatte sehen können, war die WAHRHAFTIGKEIT jetzt ein Wrack. Mir konnte das gleichgültig sein. Hauptsa­che war, daß ich noch lebte. Ich spürte die kräftigenden Impulse des Zellaktivators.

Ich machte mich daran, eine Bestandsauf­nahme durchzuführen. Ich lebte noch und hatte Schmerzen im rechten Bein, die aber langsam nachließen. Ich versuchte das Bein zu bewegen. Es gelang, und der Schmerz wurde nicht wesentlich größer. Aber ich stellte fest, daß ich das Bein nicht heranzie­hen konnte. Ich war eingeklemmt. Das rech­te Bein hing fest, das linke hakte in Kniehö­he. Irgend etwas Schweres lag mir auf der Brust, und ein kantiger Metallgegenstand hatte es sich in meiner Magengrube bequem gemacht. Ich versuchte den Kopf zu drehen.

Das erste was ich sah, war der häßliche Schädel eines Robots. Es war einer der vier Roboter, die mich bewacht hatten. Zu mei­nem Leidwesen besaßen Robots kein Blut. Ich konnte daher nicht herausfinden, ob die Maschine ausgefallen oder nur untätig war.

Dann sah ich etwas, was mich mit noch weniger Freude erfüllte. Knapp eine Hand­breit links von meinem Kopf baumelte ein Kabelbündel herab. Es sah hübsch bunt aus, war aber eklig dick – Starkstromkabel also. Ich schloß die Augen.

Das Kabel führt keinen Strom, informierte mich der Logiksektor und lieferte die Be­gründung gleich mit. Andernfalls hätte es bei den in Raumschiffen üblichen Spannun­gen Überschlagsblitze geben müssen.

Das klang beruhigend. Nach mehr als ei­nem Jahrzehntausend Erfahrung mit dem

Extrahirn wußte ich, daß ich mich auf diese Analyse blindlings verlassen konnte.

Du mußt dich beeilen, drängte der Extra­sinn. Das Wrack könnte strahlenverseucht sein.

Gegen Radioaktivität half auch die le­benserhaltende Wirkung des Zellaktivators wenig. Der Extrasinn hatte recht, ich mußte mich sputen. Als erstes mußte ich zusehen, meine Bewegungsfreiheit zurückzubekom­men. Ich ruckte und zerrte probeweise am rechten Bein. Irgend etwas schepperte und klapperte, aber das Bein ließ sich bewegen. Sehr vorsichtig begann ich mich aus meinem Gefängnis aus Schrott zu befreien. Ich wand und krümmte mich wie ein Aal, und lang­sam zeigten sich die ersten Erfolge. Der Kopf des Roboters kollerte zur Seite, der Druck auf meine Magengrube ließ nach.

Ich brauchte schätzungsweise zwei bis drei Stunden, dann war ich frei. Frei hieß, daß ich mit arg ramponierter Kleidung, schweißgebadet und unsäglich verdreckt in einem Gewirr von Metallplatten und – stre­ben steckte, die früher einmal eine Raum­schiffzentrale gebildet hatten. Es war fast als Wunder zu bezeichnen, daß ich überhaupt noch lebte.

In einem Winkel entdeckte ich einen Spercoiden-Anzug. Der Träger, der ehemali­ge Kommandant des Schiffes, war den Tod der Spercotisierten gestorben, er war bei ei­ner Beschädigung seines Anzuges in kaltem Feuer vergangen.

Tot war auch Sperco, der Tyrann. Ich kämpfte mich durch die Trümmer zu ihm durch. Sperco lag ad dem Rücken, die ver­stümmelten Flügel ausgebreitet. Wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deutete, dann lächelte Sperco verzückt. Hatte er im letzten Augenblick seines grausamen Lebens das Glück gefunden, nach dem er gesucht und um das er so viele seiner Artgenossen betrogen hatte?

Ich konnte mich nicht lange bei dem toten Tyrannen aufhalten. Es gab Dinge, die ent­schieden wichtiger waren. Irgendwo in dem wirren Haufen, der einmal ein Schiff gewe­

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sen war, rumorte es. Lebten noch andere Passagiere des Schif­

fes? Oder waren es Maschinen, die diesen Lärm erzeugten? Im letzten Fall folgte dar­aus logisch, daß diese Maschinen noch mit Energie beliefert wurden – und arbeitsfähige Energieerzeuger in einem Raumschiffwrack waren alles andere als angenehm. In jeder Sekunde konnte ein solcher Reaktor in die Luft fliegen.

Dennoch konnte ich das Schiff nicht so ohne weiteres verlassen. Zum einen mußte ich mir in dem Schrottlabyrinth selbst einen Ausgang suchen, zum anderen war ich in meinem derzeitigen Zustand allen Tücken des Planeten fast schutzlos ausgesetzt. Ich hatte keine Waffen, keine Lebensmittel, kein Wasser. Von Medikamenten oder angemes­sener Kleidung gar nicht erst zu reden. All dies mußte ich mir in dem Wrack verschaf­fen, wenn ich mir wirklich eine Chance aus­rechnen wollte, Pthor zu erreichen. Wenn ich Pech hatte, mußte ich ein Viertel des Planetenumfangs zu Fuß zurücklegen, um Pthor erreichen zu können. Ich verzichtete darauf, mir schon vorher auszurechnen, wie lange ich für diesen Marsch brauchen wür­de.

Ich fand in den Trümmern der WAHR­HAFTIGKEIT ein scharfes Messer, ein paar Stücke Seil, die ich zu einem Lariat verband und mir über die Schulter legte. Zu essen fand ich keinen Krümel – die Gedanken an saftige Steaks mußte ich also vorerst zurück­stellen.

Verlasse das Schiff! drängte mich der Lo­giksektor. Schnellstens!

Ich kämpfte mich durch die Trümmer nach oben. Eine halbe Stunde später stand ich an der Spitze des Schrotthaufens, der einmal ein raumtüchtiges Schiff gewesen war. Die Kletterei hatte sehr angestrengt, zu­dem hatte ich mir an den scharfen Kanten der Trümmerstücke etliche Schnittverletzun­gen zugefügt.

Dann machte ich mich an den Abstieg. Meter um Meter kletterte ich in die Tiefe,

vorbei an zerstörten Kabinen, vorbei an

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Hangars, aus deren aufgesprungenen, verbo­genen Toren die Wracks zerstörter Beiboote hingen, vorbei an verbogenem, verdrehtem Stahl, baumelnden Kabelsträngen, an deren Enden bunte Entladungen knisterten. Tief im Innern des Wracks liefen noch immer ir­gendwelche Maschinen. Das Brummen war auch außen deutlich zu hören und trug dazu bei, mich schnell klettern zu lassen.

Die letzten vier Meter bis zum Boden sprang ich hinab. Ich kam glücklich auf, rollte mich ab und stand eine Sekunde später wieder auf den Füßen.

Ich sah mich um. Die WAHRHAFTIGKEIT hatte sich ein

Gebirgstal als Landeplatz ausgesucht. Wo­hin ich mich zu wenden hatte, war einstwei­len noch ein Rätsel – nur eines stand fest. Ich mußte mich schnellstens aus dem Ge­fährdungsbereich des Wracks entfernen, be­vor die Reste in die Luft flogen.

Ich nahm die Beine in die Hand. Wenn das Wrack explodierte, mußte ich einige Ki­lometer hinter mich gebracht haben.

Ich wählte mir eine Richtung, rein nach Gefühl, darauf hoffend, daß ich mich so Pthor näherte, dann rannte ich los. Einen re­gelrechten Weg gab es naturgemäß nicht, so daß ich nach kurzer Zeit mein Tempo ver­mindern mußte. Felsbrocken mußten umrun­det werden, Steilhänge machten es nötig, daß ich auf allen vieren hinaufkletterte. Eine bequemere Route einzuschlagen, hätte Zeit gekostet, die ich einstweilen nicht hatte. Erst einmal mußte ich von dem Wrack fort, aus dessen Trümmern nun hohe Flammen schlu­gen. Was das bedeutete, ließ sich ohne Mü­he ausrechnen – irgend etwas war in Brand geraten, und nun lagen die Kabel und Lei­tungen des Wracks in den Flammen – mehr brauchte es nicht, einen Reaktor explodieren zu lassen.

Vorwärts! drängte auch der Extrasinn. Ich erreichte den Grat des ersten nahen

Gipfels. Vor mir erstreckte sich ein weiteres Tal, von einem wildschäumenden Bach durchzogen, der über schroffe Felsen dahin­stürmte. Sofort überfiel mich Durst. Ich sah

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zu, daß ich möglichst schnell in die Tiefe kam.

Teilweise stolperte ich mehr als ich ging, aber ich kam dem Bach immer näher. Zu meinem Leidwesen war diese Gebirgsland­schaft ohne jedes Leben. Es gab keine Sträu­cher, keine Bäume, obwohl das Gebirge gar nicht einmal sehr hoch war.

Ich erreichte den Bach, beugte mich nie­der und trank.

Es war eine Instinktreaktion, die mich die Augen schließen ließ. Die Explosion fand hinter mir statt, aber das wenige Licht, das von den Bergen reflektiert wurde, war so hell, daß ich wahrscheinlich erblindet wäre, hätte ich nicht sofort die Augen geschlossen.

Auf den grellen Lichtblitz folgte das ur­tümliche Grollen der Explosion. Der Boden leitete die Schallwellen erheblich schneller als die Luft, daher spürte ich zunächst das Erzittern des Felsenuntergrunds. Es war, als sei der Boden lebendig geworden, als krüm­me er sich unter den Höllengewalten, die nur einen knappen Kilometer von mir entfernt tobten.

Der weitaus größte Teil der Druck- und Hitzewelle wurde von dem Tal, das ich ver­lassen hatte, so abgelenkt, daß sie ihre Kraft in den Himmel entlud, aber was davon bis zu mir drang, war immer noch stark genug. Ich wurde von der Druckwelle erfaßt und zu Boden geschleudert. Ein stechender Schmerz raste durch meine Brust, als ich auf einen Felsbrocken prallte.

Minutenlang blieb ich wie betäubt auf dem Boden liegen. Ich spürte, wie die Luft über mir hin und her wogte, je nachdem, wie die Wände des Tales die Druckwellen aus­lenkten.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich den riesenhaften Pilz über dem Gebirge in die Höhe quellen.

Ich rappelte mich auf. Ich hatte auch die Katastrophe überlebt, die Hitze und die Druckwelle – jetzt gab es nur noch die Ge­fahr der radioaktiven Strahlung und des strahlenden Fallouts.

Ich feuchtete einen Finger an und hielt ihn

in die Höhe. Die Seite, die dem Wind zuge­kehrt war, kühlte merklich ab – und diese Richtung schlug ich ein. Gegen einen radio­aktiv verseuchten Regen war kein Kraut ge­wachsen, diese Tatsache mußte in den näch­sten Tagen alle meine Entscheidungen be­stimmen. Ich mußte gegen den vorherr­schenden Wind marschieren, der die Wolken des Atompilzes von mir wegdrückte.

Ich folgte dem Lauf des Baches, in der Hoffnung, daß sich das Wasser den kürze­sten Weg in die Ebene hinab gewählt hatte. Das Wasser war eisig kalt und ließ nach kur­zer Zeit die Füße fast gefühllos werden. Um diese und andere Schwierigkeiten konnte ich mich aber nicht kümmern. Ich marschierte so schnell ich konnte. Nur fort, heraus aus der Todeszone, deren Symbol zu mir hin­überdrohte.

*

Es gab Belastungen, die kein Zellaktivator ausgleichen konnte. Dazu zählten nicht nur die Verletzungen oder der radioaktive Nie­derschlag, dem ich gerade noch entkommen war. Eine andere Belastung bestand im Hun­ger. Zu dürsten brauchte ich nicht, der Bach war mir Quelle und Wegweiser zugleich. Aber noch soviel Wasser stillte nicht das bohrende Hungergefühl, mit dem ich seit drei Tagen zu kämpfen hatte. Genaugenom­men war es nicht einmal Hunger, der mich quälte. Wer völlig auf Nahrungsmittel ver­zichtete, hatte meist nach dem zweiten Fa­stentag keine Hungergefühle mehr. Ich hatte derlei einige Male im irdischen Mittelalter erproben können.

Das Tier, das ich auf dem Hügel sah, war mir unbekannt. Aber es verfügte ohne jeden Zweifel über Fleisch, und danach gierte ich förmlich. Es sah aus wie ein Schaf – ein wolliges Etwas auf vier Beinen, das zudem Hörner trug. Sobald ich das Tier gesehen hatte, ließ ich mich fallen. Das Bergschaf stand auf dem Hügel und witterte. Zum Glück wehte der Wind auf mich zu, und se­hen konnte mich das Tier ohnehin nicht. Ich

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griff nach dem Messer in meinem Gürtel. Wenn ich dem potentiellen Braten nahe

genug kam … als Messerwerfer mit ausge­prägter Gier nach Fleisch brachte ich wahr­scheinlich einiges zuwege. Ich mußte nur nahe genug herankommen, um das Messer mit Erfolg werfen zu können.

Vorsichtig schlich ich mich heran. Hof­fentlich sprang der Wind nicht um. Ich ge­wann Meter um Meter an Boden, und als das Tier einen Augenblick lang den Kopf zur Seite wandte …

Das Schaf hörte offenbar das heransau­sende Messer, aber es reagierte falsch. An­statt mit einem Satz das Weite zu suchen, wandte es den Kopf, um nach der Ursache des Geräuschs zu sehen. Mein Messer traf richtig. Das Schaf sprang noch mit allen vie­ren in die Luft und brach dann tot zusam­men.

»Gratuliere, Bruder der stählernen Wöl­fe«, sagte ich halblaut. Der Extrasinn hielt meinen Jagderfolg für nicht bemerkenswert, daher sprach ich mit mir selbst. Ich hatte al­so noch nichts verlernt. Kein Wunder. Man trieb sich als arkonidischer Kristallprinz nicht ohne Folgen ein Jahrzehntausend mit terranischen Barbaren herum …

Konzentriere dich auf das Wesentliche, mahnte der Extrasinn.

Ich kletterte über ein Geröllfeld zu meiner Beute hinüber. Erst als ich das Tier erreicht hatte, wurde mir völlig klar, wieviel Glück ich gehabt hatte. Zum einen lag das tote Tier nur einen Schritt von einer Felswand ent­fernt, die an dieser Stelle mindestens zwei­bis dreihundert Meter lotrecht in die Tiefe führte. Zum anderen verströmte meine Beute einen Geruch, der selbst dem alten Vitellius den Appetit verschlagen hätte – und das war ein Fresser vor dem Herrn, der seinesglei­chen suchte in der Geschichte der Erde. Ich sah ihn förmlich vor mir, den ehemaligen Gouverneur von Colonia Claudia Ara Agrippinensis, den seine Rheinarmee im Jahre 68 der Zeitrechnung zum Kaiser des Imperium Romanrum ausgerufen hatte, und der sich dann von Köln nach Rom fast buch-

Peter Terrid

stäblich durchgefressen … Ich fuhr herum. Es war ein kurzer, schmerzhaft starker

Impuls des Extrahirns, der mich aus meinen Erinnerungen an einen fetten römischen Kaiser gerissen hatte.

Ein Paar Arme umklammerte meine Bei-ne, zerrte daran.

Ich warf mich nach vorn, von dem Ab­grund weg, in den der Angreifer mich stoßen wollte. Mit meinem ganzen Gewicht fiel ich auf den Angreifer, dem nicht mehr als höch­stens eine Zehntelsekunde gefehlt hatte, um mich in den Abgrund zu befördern.

Ich packte zu, bekam die Ferse des Man­nes zu fassen und drückte mit aller Kraft die Achillessehne des Angreifers zusammen. Zweierlei geschah gleichzeitig – zum einen ließ der Mann meine Beine los, zum anderen stieß er ein Schmerzgeheul aus, als ginge es ihm geradewegs ans Leben.

Ich rollte mich zu Seite – und empfing im gleichen Augenblick einen derart infamen Fußtritt in den Unterleib, daß mir der Schmerz die Luft nahm. Ich brachte nicht einmal ein Stöhnen über die Lippen. Es war einer jener Tritte und Schläge gewesen, die einen Kampf entscheiden können, weil sie den Getroffenen unter Umständen für eine Sekunde und mehr völlig lähmen.

Ich wartete auf den Schlag oder Tritt, der für mich das Ende des Kampfes bedeuten mußte, aber der Treffer blieb aus. Mein Gegner entwand sich meinen kraftlos ge­wordenen Händen – und suchte das Weite.

Jetzt begriff ich gar nichts mehr. Der Mann hätte mich mit geringer Mühe in den Abgrund rollen können, ohne daß ich auch nur einen Finger hätte rühren können.

Ich riß den Mund auf, schnappte nach Luft. Meine Lungen füllten sich, der rasende Schmerz verebbte. Er war noch stark genug, aber die Erfahrung aus vielen hundert Kämpfen hatte mich gelehrt, in solchen Fäl­len nicht wehleidig das Ende der Schmerzat­tacke abzuwarten, sondern schnellstens zum Gegenangriff überzugehen, bevor der Geg­ner die Gelegenheit nutzen und mich für im­

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mer von allen Schmerzen befreien konnte. Von dem heimtückischen Angreifer war

nichts zu sehen. Erst beim zweiten Rund­blick entdeckte ich ihn, wild zwischen den Felsen herumhüpfend. Er hatte es sehr eilig.

»Warte, Bruder!« knurrte ich und begann ihm nachzusetzen. »Dich werde ich lehren, einen Lordadmiral mit Füßen zu treten!«

Gegen den Zellaktivator und meine Wut hatte der Flüchtling keine Chance. Von bei­den beflügelt setzte ich ihm nach, und nach wenigen Minuten hatte ich ihn beinahe er­reicht. Er sah oder hörte mich, und sein Ge­sicht wurde fast weiß vor Angst.

Er blieb stehen, als sei er gegen eine Wand gerannt. Ich hörte auf zu laufen und ging auf ihn zu, und er ging rückwärts. Der Mann war nicht sonderlich groß, ich schätz­te ihn auf einhundertfünfundsechzig Zenti­meter, eher weniger als mehr. Und er war er­schreckend mager und schwächlich. Er trug seine blonden Haare in einer Art Pagenfri­sur, glattgeschnitten. Die Augen über der ziemlich kleinen Nase waren dunkelblau, die Lippen bemerkenswert voll.

Er erinnerte mich an jemand, allerdings wollte mir nicht einfallen, an wen.

»Komm her«, forderte ich ihn auf. »Komm her und beziehe die Prügel, die du verdient hast.«

Der magere Blonde wich weiter zurück, dann stolperte er und lag einen Augenblick danach flach auf dem Rücken. Mir genügte ein Satz, dann stand ich vor ihm.

Der Mann stieß ein Heulen aus, als sollte er bei lebendigem Leib geröstet werden, da­zu trat er mit den Füßen und schlug er mit den Händen um sich – ein sechsjähriger Knabe hätte sich wirkungsvoller gegen eine drohende Tracht Prügel zur Wehr gesetzt.

»Heiliges Arkon!« stieß ich hervor. »Erbarmen, Schonung, Nachsicht, Verge­

bung, Barmherzigkeit!« Er sprudelte die Worte nur so hervor. »Ruhe!« brüllte ich. Er verstummte augenblicklich, und das

war mir lieb. Zum einen wollte ich ihn stop­pen, bevor er das ganze Synonymenlexikon

– Stichwort Gnade – heruntergejammert hat­te. Zum anderen irritierte mich die Sprache. Es war Pthora, unverkennbar. Aber dieses Pthora klang anders, als ich es gewohnt war.

»Wer bist du?« herrschte ich ihn an. Er schlug beide Hände vor das Gesicht

und heulte von neuem los. Ein Feigling, diagnostizierte der Extra­

sinn scharfsinnig. Die Diagnose stimmte, und wenn ich

mich nicht sehr täuschte, verband der Blon­de mit seiner Feigheit eine hübsche Portion Niedertracht. Als ich auch nur eine Sekunde lang nicht aufpaßte, versuchte er, mir die Beine mit einem Scherengriff wegzuziehen und sich erneut abzusetzen. Ich kam dem Angriff zuvor.

»Wie heißt du?« Die Antwort bestand in einem herzzerrei­

ßenden Jammern. »Du bekommst Prügel, wenn du nicht

bald antwortest!« drohte ich. »Angst«, kreischte er los. »Panik, Entset­

zen, Grauen, Furcht, Kummer, Schmerz, Elend, Not.«

Ein verweisender Blick brachte ihn zum Schweigen.

»Ich werde dich Feigling nennen«, ent­schied ich. »Irgendwelche Widersprüche?«

Ich erwartete einen neuen Wortschwall, wurde aber enttäuscht. Feigling nickte nur. Sein Blick hing an mir, als wäre ich sein Henker.

»Steh auf, Feigling«, sagte ich. »Wir se­hen zu, daß wir etwas zu essen bekommen.«

Inzwischen war mir auch klargeworden, was den kleinen Mann so angestachelt hatte, daß er einen Angriff auf mich gewagt hatte. Er hatte Hunger. Offenbar hatte er seit ge­raumer Zeit nichts mehr zu essen bekom­men. Vielleicht war das auch die Ursache für seinen charakterlichen Zusammenbruch. Beständiges Hungergefühl konnte selbst tap­fere Männer restlos zermürben.

Feigling stand auf. Kein Wunder, daß er vor mir Angst hatte. Ich war größer als er, breiter in den Schultern, kräftiger, muskulö­ser – er konnte einem leid tun.

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»Verdruß!« legte Feigling plötzlich los. »Ärger, Wut!«

Die Kommunikation versprach heiter zu werden. Feigling deutete in die Höhe.

Mein Bergschaf war doch nicht das einzi­ge Lebewesen in dieser Steinwüste gewesen. Es gab hier auch noch eine Art Vögel, die groß genug waren, um ein totes Bergschaf tragen zu können – in einem Stück und mit einem Messer im Kadaver.

Nur ein Narr läßt sein Messer im Schwein stecken! maulte der Extrasinn.

Der Vorwurf war berechtigt, aber an der Tatsache selbst ließ sich nichts mehr ändern. Der Vogel jedenfalls zog mit meiner Beute und meiner einzigen Waffe ab.

Ich sah Feigling an. Er trug eine arg zer­schlissene Lederkleidung und nicht eine ein­zige Waffe.

Waffenlos also, und das auf einem Plane­ten, dessen Gefahren ich nur abschätzen konnte. Die Zukunft mußte zeigen, wie weit ich ohne Hilfsmittel kommen konnte. Das erste Ziel jedenfalls stand schon fest.

Ich sah auf eine der Ebenen des Planeten hinab, weites, flaches Land; üppig bewach­sen war die Fläche nicht. Savanne hätte man den Landstrich auf der Erde genannt. Im­merhin, etwas wuchs dort, das Tiere ernäh­ren konnte, und diese Tiere konnten uns zur Nahrung dienen.

Uns? Was sollte ich auf die knappe Frage des

Extrahirns antworten? Feigling verdiente seinen Namen, und er gehörte – in dieser Beurteilung war ich meiner Sache sicher – keineswegs zu jener sympathischen Sorte von Angsthasen, die wenigstens den Mut aufbringen, zu ihrer Angst zu stehen. Feig­ling schien zu der infamen, der heimtücki­schen Sorte von Memmen zu gehören, und nach solchem Weggenossen trug ich gerin­ges Verlangen. Dennoch dauerte er mich – der Bursche würde es niemals fertigbringen, sich selbst durchzuschlagen.

»Auf den Weg, Feigling!« rief ich ihm zu und deutete dabei auf die Fläche. »Wir müs­sen dort hinab.«

Peter Terrid

Feigling rollte mit den Augen. Zu einer Wortkaskade reichte es nicht, vielleicht dämpfte ihn auch der verweisende Blick meiner Augen.

Er deutete auf mich und gab mit Gesten zu verstehen, daß er es sehr begrüßen würde, wenn ich die Spitze übernehmen würde. Ich nickte, dann nahm ich mein Lariat von den Schultern. Der Weltrekord im Augenrollen war Feigling nicht mehr zu nehmen. Aber er wehrte sich nicht, als ich unsere Seilschaft zusammenstellte. Wenn er jetzt den Plan ausführte, den er in seinen schmutzigen Ge­danken wälzte – nämlich sich meiner Person durch einen harmlosen kleinen Schubser zu entledigen –, dann trat Feigling die zweihun­dert Meter tiefe Fahrt in den Abgrund eben­falls an. Ich mußte auf der Hut sein vor die­sem Wicht.

Ich sah ihn mir noch einmal an. Irgendwie – ich wußte selbst nicht recht,

wie ich darauf kam – irgendwie sah er den drei Göttersöhnen Sigurd, Heimdall und Balduur ähnlich.

Ein reichlich absurder Gedanke, kom­mentierte der Logiksektor.

Es war in der Tat eine Beleidigung für die Göttersöhne, Feigling mit ihnen zu verglei­chen. Was war es, das mich an sie erinnerte – vielleicht das Zeitlose seines Gesichts? Sein Alter hätte ich nicht zu bestimmen ge­wagt. Er hatte eine helle, fast knabenhafte Stimme, aber das besagte nicht viel.

»Furcht!« murmelte Feigling, als ich mich an den Abstieg machte und ihn unnachsich­tig hinter mir her zog. »Angst, Schwindel, Bedrohung.«

Fast glaubte ich seine Zähne rhythmisch klappern zu hören.

Das kann ja heiter werden, dachte ich.

*

»Bursche, wenn du Lärm machst …!« Ich brauchte Feigling nicht zu drohen. Er

war bereits aufgeregt genug. Es war finstere Nacht, und vom Mond war kaum etwas zu sehen. Er und die Sterne wurden fast voll­

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ständig von einer Wolkenschicht verdeckt, deren Sammlung und Zusammenballung ich den ganzen Tag über hatte beobachten kön­nen. Über unseren Köpfen braute sich ein Gewitter zusammen, als wolle der alte Zeus beweisen, daß er der Chef sei. Feigling für seinen Teil war offenbar am Ende seiner Kräfte.

Der schmächtige Bursche war nichts wei­ter als eine Ansammlung von Phobien. Er hatte Angst vor dem Dunklen, vor mir, vor dem Gras, an dem er sich einmal geschnitten hatte, vor dem Schicksal, an dieser Wunde verbluten zu müssen, vor der Wundinfektion … Es war wirklich erstaunlich, wovor ein lebendes Wesen alles Angst haben konnte.

Ich war gespannt, wie er auf das Gewitter reagieren würde – zumal es bei dem Gewit­ter allein nicht bleiben würde.

Ich hatte eine kleine Karawane der Bran­geln entdeckt. Sie lagerten nicht weit von uns. Ich hatte vor, mir ein paar Spyten aus­zuleihen, um so schneller vorwärtskommen zu können. Da die Brangeln die Spyten ver­mutlich nicht freiwillig hergeben würden, mußten wir sie stehlen. Ich war gespannt, ob Feigling dieser Nervenbelastung gewachsen war.

Ein erster Blitz zickzackte durch die Nacht, tauchte sekundenlang die Landschaft in ein fahles, blauweißes Licht. Scharf und bizarr zeichnete sich ein Baum in der Nähe gegen den hellen Himmel ab. Sekunden spä­ter erst kam der Donner bei uns an, ein gera­dezu infernalisches Krachen. Feigling sprang vor Angst senkrecht in die Höhe.

Er war so eingeschüchtert, daß er nicht einmal schrie.

Der Regen setzte ein. Zuerst fielen nur wenige Tropfen, dann wurde ein Regen dar­aus – und zum Schluß goß es wie aus Bade­wannen. Genau das richtige Wetter zur rechtswidrigen Aneignung eines fremden beweglichen Eigentums, erschwert durch den Umstand, daß der Täter den Umstand ei­ner Gefahr ausnutzte.

Da auf Feigling nur hinsichtlich seiner Ängstlichkeit Verlaß war, schlich ich mich

allein an die Spyten heran. Die Tiere konn­ten das Gewitter ebenfalls nicht leicht ertra­gen, sie scharrten und stampften. Die Spyten waren unruhig, was mir die Arbeit keines­wegs erleichterte. Immerhin schaffte ich es, zwei Spyten loszubinden und zur Seite zu führen.

Als Beleuchtung hatten wir nur den unre­gelmäßigen Blitzschlag zur Verfügung, aber dieses ungewisse Licht machte mir auf den ersten Blick klar, daß Feigling für die Spy­ten nicht das geringste empfand – Furcht na­türlich ausgenommen.

»Angst«, plärrte er los. »Schmerz, Verlet­zung, Beißen, Haß, Abscheu, Ekel.«

Seine Ausbrüche konnten selbst die Spy­ten nervös machen. Ich packte Feigling am Arm.

»Hör zu, du Wicht!« brüllte ich, um das Donnern zu übertönen und das monotone Klatschen des Regens. »Steig auf und reite, oder ich werfe dich diesen Viechern zum Fraß vor!« In Windeseile hatte Feigling sei­nen Spyten erklommen, ja er stieß sogar einen aufmunternden Schrei aus, trieb dem Tier die Hacken in die Seite. Ich konnte auf meine pädagogischen Fähigkeiten wirklich stolz sein.

Vorsicht! warnte der Logiksektor. Als ich mich umdrehte, erkannte ich, was

den plötzlichen Anfall von Tapferkeit bei Feigling bewirkt hatte. Die Brangeln hatten offenbar bemerkt, daß ihnen zwei Tiere fehl­ten, und nun machten sie sich daran, die Spytendiebe zu jagen.

Es galt keine Zeit zu verlieren. Ich schwang mich auf den Rücken meines Spy­ten und trieb das Tier an. Ich hatte Glück, der Spyte reagierte sofort. Feigling war na­türlich weit voraus. Der Lump hatte nicht ei­ne Sekunde daran gedacht, mich zu warnen. Alles, was ihn interessierte, war die eigene Haut. Ich nahm mir vor, sie ihm in Streifen abzuziehen – wenn ich ihn erst erwischt hat­te.

Einstweilen hatte ich genug damit zu tun, eine gehörige Distanz zwischen mich und die empörten Brangeln zu legen. In der fin­

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steren Nacht sollte das eigentlich eine Fin­gerübung für mich sein.

Es wurde zu einem Hasardspiel. Die Brangeln waren zäh, geschickt und

überaus hartnäckig. Sie dachten nicht daran, die Verfolgung abzubrechen, als sie mich einmal aus den Augen verloren hatten. Sie schwärmten vielmehr aus, um eine langge­streckte Verfolgerkette bilden zu können.

Aber auch dagegen gab es eine Maßnah­me.

Als ich die Kette nach einiger Zeit wieder hinter mir auftauchen sah, strengte ich mich ein zweites Mal an, den Kontakt abreißen zu lassen. Das gelang mir.

Ich suchte mir eine Bodenwelle aus und hielt den Spyten an. Ich zwang das wider­borstige Tier, sich auf den Boden zu legen. Auch das gelang mir schließlich.

Einige Minuten verstrichen, dann konnte ich hören, wie die Spyten der Brangeln her­anjagten. Das Geräusch wurde lauter und lauter. Zwei der Verfolger jagten an mir vor­bei. Kurz bevor sie mich passierten, krachte wieder ein Blitz, der die Brangeln sekunden­lang blendete. In diesen wenigen Sekunden preschten sie an mir vorbei, ohne mich zu sehen.

Ich konnte hören, wie sie weiterjagten. Und dann hörte ich einen einzelnen Spy­

ten näherkommen, immer näher. Der Spyte hielt an. Ich bereitete mich auf den Kampf vor.

Der Brangel stieg ab, dem Geräusch nach zu schließen.

Ich sprang auf, genau in einen Blitzschlag hinein.

Feigling stand auf der Bodenwelle und grinste mich dümmlich an.

Ich hätte ihn umarmen mögen, den Lump.

3.

»Du mußt mitkommen«, drängte Ephor seinen Vater. »Es ist lebenswichtig für mich.«

»Unsinn«, wehrte der Alte ab. »Nichts ist wichtig.«

Peter Terrid

»Ich werde die Familie verlassen«, drohte Ephor. »Das wird einen Skandal geben am Fluß …«

»Er wird nicht größer ausfallen als der, den wir schon haben. Ein Flußmann verliebt sich in ein Stadtmädchen. Es ist nicht zu glauben.«

»Sie ist die einzige, die wirklich zu mir paßt«, sagte Ephor. Er sagte es sanft, denn dies war sein einziger wirklich brauchbarer Trumpf.

Der Alte warf einen Seitenblick auf Ephors Fell. Es ließ sich nicht leugnen. Man konnte die Haare beim besten Willen nicht als schwarz bezeichnen. Dafür waren sie entschieden zu hell. Grau, das war das pas­sende Wort. Nicht, daß die Flußleute etwas gegen graue Felle gehabt hätten – wenn die­se Felle unter ihnen etwas häufiger vertreten gewesen wären. Zu Ephors Leidwesen aber waren graue Felle bei Flußleuten recht rar – genauer gesagt: Ephor war der erste Fluß­mann überhaupt in der Geschichte der Fluß­leute, der ein graues Fell vorzuweisen hatte, und das machte die ganze Angelegenheit überaus kompliziert.

Natürlich war Grau als Fellfarbe entschie­den besser als das fischbäuchige Weiß, mit dem die Stadtbewohner herumliefen. Kein Wunder, daß sie nicht im Fluß leben konn­ten, wie es sich von Rechts wegen gehörte. Den Fischen wäre bei diesem Anblick wo­möglich übel geworden.

»Torpha hat ebenfalls ein graues Fell«, er­innerte Ephor.

»Ich weiß«, brummte sein Vater. »Es ist aber so, mein Sohn: Wenn jemand wegen seines grauen Fells nicht bei den Stadtleuten gelitten wird, dann heißt das noch lange nicht, daß der oder die Betreffende damit au­tomatisch eine von uns wäre. Du bist der Sohn von Flußleuten, ehrbar und rechtschaf­fen, und du gehörst zu uns. Torpha – allein schon der Name! – ist in der Stadt geboren und gehört folglich zu den Stadtleuten. Wie bereitet sie Fisch zu? Sage nichts, ich kann es riechen. Du warst vor drei Tagen bei ihr, aber du stinkst immer noch nach diesem wi­

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derlichen Bratfett.« »Das werde ich schon ändern, Vater«,

versprach Ephor voreilig. Auf diesen Beschwichtigungsversuch

ging der Alte gar nicht erst ein. »Und wie stellst du dir vor, daß die Kon­

ferenz ablaufen soll?« erkundigte er sich bei seinem Sohn.

Ephor witterte hinter diesen Worten ein Zugeständnis und hakte sofort nach.

»Wir werden uns am Ufer treffen, rein zu­fällig natürlich. Torpha wird ihre Familie mitbringen. Es ist übrigens eine recht hüb­sche Tante dabei.«

Mit solchen Mitteln war der Alte nicht zu überzeugen.

»Kein Interesse«, wehrte der Alte ab. »Und weiter?«

»Ich werde ein Gespräch mit Torpha an­fangen …«

»Auf freiem Feld?« fragte der Alte. »Ohne, daß man euch offiziell vorgestellt hat? Also diese Jugend …«

»Du verzichtest auf weitere Belehrungen, Vater«, sagte Ephor schnell, »und ich ver­zichte auf weitere Fragen, wie ausgerechnet ich zu einem grauen Fell gekommen bin.«

»Also gut, ich werde mit diesen feinen Pinkeln aus der Stadt reden. Hoffentlich stinken sie nicht zu sehr nach gebratenem Fisch.«

Ephor war sehr erleichtert. Sein Vater, der alte Enhydra Lutris, war

trotz seines Alters recht rüstig. Ephor war et­was zu jung, das wirklich beurteilen zu kön­nen, aber er wußte, daß es etliche ältere al­leinstehende Weibchen gab, die seinem Va­ter mit recht bedenklichen Blicken nachsa­hen. Vielleicht schaffte es der Alte mit sei­nem Charme, die Cinerea-Sippe für sich ein­zunehmen. Zuzutrauen war ihm das Kunst­stück.

Der Alte glättete sich noch einmal das Fell und entfernte die letzten Schuppen.

»Es wäre vielleicht besser, wir würden den Notausgang benutzen, Vater«, schlug Ephor vor.

Wie alle Flußleute wohnte auch die Lut­

ris-Sippe in einer geräumigen Höhlenwoh­nung in der Uferböschung. Der eigentliche Eingang zu dieser Unterkunft lag natürlich auf der Flußseite, unterhalb des Wasserspie­gels. Nur im Winter, wenn Eis den gesamten Fluß bedeckte, wurde der zweite Weg be­nutzt, der hinauf auf das feste Land führte.

Der Alte machte ein finsteres Gesicht. Bei Besuchen hatte das Fell naß zu sein, so ge­hörte es sich.

»Bitte!« Der Alte knurrte, aber er fügte sich. Nach­

einander schlüpften die beiden durch den Gang, den sie hinter sich mit einer Lage Blätter und Zweigen wieder verschlossen.

Es war früher Morgen, die Sonne schien auf das Land herab. Der Alte räkelte sich wohlig.

»Ab und zu«, sagte er, »ist es doch ganz angenehm, an Land zu gehen. Aber auf Dau­er?«

Ephor hütete sich, dazu irgend etwas zu sagen. Er wollte nach Möglichkeit überhaupt nichts sagen, bis sich die beiden Familien trafen. Zum Glück hatte Ephors Familie bei weitem nicht die Größe wie die Cinerea-Sip­pe, die zu den größten und einflußreichsten zählte.

Ephor und sein Vater gingen langsam am Flußufer entlang.

»Wo habt ihr beide euch eigentlich ken­nengelernt?« wollte der Alte wissen.

»In der Riesenmuschel, auf der anderen Seite der Stadt«, antwortete Ephor. »Das war der einzige Platz, wo man uns ungestört spielen ließ.«

»So lange ist das schon her?« fragte En­hydra erstaunt. »Wie lange geht das schon so mit euch beiden?«

Ephor machte eine vage Geste. »Wir waren uns schon als Kinder einig,

daß wir heiraten würden«, sagte er. »Schließlich war niemand anders da, zu dem wir gepaßt hätten.«

»Heilige Strömung«, seufzte der Alte. »Das wird Ärger geben, Junge, sehr viel Är­ger sogar.«

Ephor schwieg. Er hatte weit voraus die

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Cinerea-Sippe gesehen. Torpha hatte es also geschafft, ihre Familie zu dem Spaziergang zu überreden. Ephor konnte Torphas graues Fell deutlich sehen.

»Ich sage dir, Junge, wenn sie zu sehr stinken, dann verschwinde ich. Ich kann die­sen Geruch nicht vertragen.«

»Vater!« »Schon gut. Aber eines sage ich dir: Glau­

be nicht, daß du mit deiner graufelligen Fischbraterin bei mir unterkrauchen kannst, wenn ihr von der noblen Cinerea-Sippe da­vongejagt werdet. So weit geht meine Ge­duld nicht, das sage ich dir.«

Inzwischen waren sich die beiden Famili­en recht nahe gekommen. Ephor hielt es nicht mehr aus, er rannte auf Torpha zu.

»Ich liebe dich«, begrüßte er sie. »Ich dich auch«, antwortete Torpha. Sie

warf einen scheuen Seitenblick auf ihre Ver­wandten, die diesen Gefühlsausbruch mit peinlichem Schweigen kommentierten.

»Vater, darf ich dir Ephor vorstellen …« Ephor verneigte sich höflich. Der alte

Aonyx setzte das hochmütigste Gesicht auf, zu dem er fähig war.

»Interessant«, war alles, was Aonyx Cine­rea zu sagen hatte.

»Mein Vater«, stellte nun seinerseits Ephor vor.

Die beiden Alten grüßten sich mit spürba­rer Zurückhaltung.

»Die Fische springen hoch in diesem Jahr«, eröffnete Enhydra die Unterhaltung.

»In der Tat«, antwortete der alte Cinerea und ging weiter. »Sehr hoch, in der Tat. Ich muß sagen, ich habe sie noch nie so hoch springen sehen. Wirklich nicht. Und das Wasser ist ungewöhnlich feucht für die Jah­reszeit, meinen Sie nicht auch?«

Während die Alten auf diese Weise eine erfrischende Konversation führten und sich miteinander bekannt machten, sonderten sich Ephor und Torpha ein wenig ab.

»Wie sieht es aus?« fragte Ephor. Torpha kicherte ein wenig.

»Ich habe einen Freund …« »Was?«

Peter Terrid

»Einen guten Bekannten«, verbesserte sich Torpha. »Ich habe ihn gebeten, mir einen Gefallen zu erweisen.«

»Welchen?« fragte Ephor mißtrauisch. Das Gespräch der Alten war inzwischen bei der außergewöhnlich runden Form des Mon­des angelangt.

»Er hat meinem Vater anvertraut, daß kein Mann in der ganzen Stadt um meine Pfote anhalten würde, jedenfalls keiner aus besseren Kreisen.«

Der Ausdruck bessere Kreise paßte Ephor gar nicht, denn wenn es Kreise gab, die alles andere als besser waren, dann gehörte er da­zu.

»Er machte Vater klar, daß aus der Stadt praktisch nur Mitgiftjäger um meine Pfote anhalten würden.«

»Sehr gut«, lobte Ephor. »Ganz ausge­zeichnet. Das hast du gut gemacht.«

»Ich liebe dich«, versuchte Torpha ihre Motivation zu erklären.

»Ich dich auch«, antwortete Ephor rasch. »Komm, wir wollen uns beeilen. Ich möchte wissen, was unsere Eltern zu besprechen ha­ben.«

Die beiden Patriarchen hatten sich der­weilen darüber verständigt, daß die Sonne auch nicht mehr das sei, was sie vor Jahren noch gewesen.

»Nun ja«, sagte der alte Cinerea, als Ephor und Torpha zu der Spaziergesell­schaft aufschlossen. »Man muß mit der Zeit gehen, nicht wahr. Vorurteile zahlen sich nicht aus.«

»Überaus zutreffend«, sagte Ephors Va­ter. Seinen Sohn traf fast der Schlag, denn die Stimme des Alten bekam langsam den sarkastischen Unterton, mit dem er seine Gesprächspartner zur Weißglut zu reizen pflegte, wenn sie ihm nicht paßten. »Eine ausnehmend hübsche Tochter, die Sie da ha­ben.«

»Nicht wahr?« sagte Cinerea freundlich. »Und eine ausnehmend hübsche Fellschat­tierung. Eine sehr seltene Spielart des Wei­ßen.«

Auch Torpha zeigte sich überrascht, daß

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ihr Grau plötzlich zu einer Schattierung der Farbe Weiß geworden war.

»Bei meinem Sohn liegt die Sache ähn­lich. Es ist nicht das gewöhnliche Schwarz. Ich würde es schwarzgrau nennen, eine bei­nahe adelige Farbe, finden Sie nicht auch?«

Torpha und Ephor hielten den Atem an. Aonyx Cinerea nickte.

»Es ist wirklich an der Zeit, die alten Vor­urteile über Bord zu werfen«, bemerkte En­hydra. »Beispielsweise diese unseligen Dif­ferenzen zwischen der städtischen und der Flußbevölkerung. Alles nur Vorurteile, eines übler als das andere. Man müßte einmal ein Exempel statuieren.«

»Kein schlechter Gedanke«, stimmte Ci­nerea zu. »Ich mutmaße, daß Sie dabei an ei­ne eheliche Verbindung Ihres Sohnes mit meiner Tochter dachten.«

»Sehr richtig«, stimmte Enhydra zu. »Mein Sohn hat mich informiert …«

»Ich weiß«, sagte Cinerea. »Meine Ange­stellten haben ihn beobachtet, aber leider nicht zu fassen bekommen. Nun, ich bin grundsätzlich einverstanden. Nur grundsätz­lich, wohlgemerkt. Die Einzelheiten bedür­fen natürlich einer besonderen Betrach­tung.«

»Was für Einzelheiten?« fragte Enhydra Lutris entgeistert.

»Nun, das wäre die Frage, wo die beiden nach ihrer Verehelichung wohnen werden. Mein Haus ist wegen der großen Verwandt­schaft ein wenig zu eng geworden. Außer­dem wäre da das Problem der Morgengabe. Sie müssen wissen, daß sich einige einfluß­reiche und sehr wohlhabende Junggesellen der Stadt für meine Tochter interessieren.«

»Dieser Heuchler«, knurrte Ephor. »Glauben Sie, mein Sohn fände kein an­

deres Weibchen, das zu ihm passen würde?« konterte Enhydra. Der Dialog begann sich in überaus gefährlichen Bahnen zu bewegen.

Die kleine Gruppe hatte inzwischen kehrt­gemacht und spazierte nun langsam zur Stadt zurück.

»Ich bin sicher, wir werden uns auch dar­über einig werden«, sagte Cinerea begüti­

gend. Lutris nickte nur. Ephor konnte sehen, daß sein Vater vor Wut förmlich kochte.

»Wann soll die Hochzeit sein?« fragte Torpha plötzlich laut. »Es wäre vielleicht ratsam, sich ein wenig zu beeilen …«

Sie sagte kein Wort mehr, aber diese kur­ze Bemerkung genügte vollauf.

Ephor zwinkerte verblüfft, weil er sich keiner Schuld bewußt war, der alte Lutris grinste anzüglich, Torphas Mutter und die Tante – die während des Gesprächs kein Au­ge von Enhydra gewandt hatte – fielen mit wehleidigen Seufzern in Ohnmacht. Der alte Cinerea wurde blaß.

»Was soll das heißen?« fragte er. »Ich meine nur, einfach so«, sagte Torpha

mit strahlendem Lächeln. Der Blick, mit dem Cinerea Ephor bedachte, hätte den Fluß auf dreitausend Schritte zu einem einzigen Eisblock gefrieren lassen, aber da Ephor sich keiner Schuld bewußt war, verfehlte der Blick seine Wirkung.

»Also gut«, knurrte der Alte. »In zehn Ta­gen wird geheiratet. Ich werde ein übriges tun und die ganze Bevölkerung einladen. Ih­nen, mein lieber Enhydra Lutris, würde ich vorschlagen, daß Sie die Flußleute verstän­digen und einladen.«

»Das werde ich tun«, versprach der Alte. »Ganz gewiß werde ich das tun. Diesen Tag wird man niemals vergessen, da bin ich mir ganz sicher!«

Ephor hatte plötzlich das unschöne Ge­fühl, als enthielten diese Worte einen ausge­sprochen bösen Doppelsinn.

*

»Komm her, Feigling!« forderte ich mei­nen Reisebegleiter auf. Ich war ehrlich er­staunt, daß er seinen Spyten noch hatte.

Feigling grinste und stieg zu mir herunter. »Wie hast du das gemacht, du Schlingel?«

fragte ich. Feigling zuckte nur mit den Schultern. Eine Antwort gab er mir nicht.

Wir sahen zu, daß wir uns aus dem Staub machten. In diesem Fall hätte es allerdings besser geheißen, aus dem Schlamm ge­

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macht. Der Platzregen, der nicht aufhörte, hatte den Boden aufgeweicht. Die Spyten hatten Mühe mit diesem Untergrund, daher kamen wir nur sehr langsam voran. Immer­hin brachten wir zwischen uns und das Zelt­lager der Brangeln einen Kilometer nach dem anderen. Feigling hielt sich dabei nicht schlecht. Ich konnte ihn zwar nur ab und zu sehen, wenn ein Blitz für Beleuchtung sorg­te, aber es schien, als habe er sich an seinen Spyten gewöhnt.

Als der Morgen heraufzog, waren wir weit genug von den Brangeln entfernt. Auch der Dauerregen hatte endlich aufgehört, aber es würde mindestens einen Tag dauern, bis der Boden wieder einigermaßen normal aus­sah.

Ich pries mein Glück, daß wir Reittiere hatten. Zu Fuß hätten wir in diesem Gelände kaum überwindliche Schwierigkeiten ge­habt. Auch so kamen wir nur langsam voran, viel zu langsam nach meinem Geschmack. Ich wollte so schnell wie möglich Pthor er­reichen.

Es gab mehrere Gründe für mich, nach Pthor zu streben.

Zum einen stellte Pthor/Atlantis für mich die einzige Möglichkeit dar, jemals wieder in jene Zeit zurückkehren zu können, von der aus ich aufgebrochen war. Atlantis war meine einzige Verbindung zur Erde.

Allerdings war mir durchaus klar, daß es in absehbarer Zeit nicht möglich sein würde, Terra wiederzusehen. Unter Umständen konnten noch Jahre, vielleicht gar Jahrzehn­te vergehen, bis der Dimensionsfahrstuhl Pthor wieder Terra erreichte.

Der andere Beweggrund bestand darin, daß ich versuchen wollte, Pthor für meine Zwecke zu benutzen.

Ich arbeitete zwar hier nicht im Dienste der Menschheit, wie ich es so lange Zeit in der USO getan hatte, aber an den Prinzipien, nach denen ich mein Handeln ausrichtete, hatte sich nicht das geringste geändert. Vor allem hatte ich vor, den Herren der Schwar­zen Galaxis das Handwerk zu legen – sofern dieses Ziel mit meinen Kräften zu erreichen

Peter Terrid

war. Ein Beispiel für das, was ich erreichen wollte, konnte ich bereits vorweisen – die Tyrannis Spercos war gebrochen, die Gala­xis Wolcion war wieder frei.

Der Ritt zog sich in die Länge. Feigling schien sich mit der Lage abge­

funden zu haben. Ich konnte hören, daß er ab und zu eine fremde Melodie summte und ein recht vergnügtes Gesicht machte.

»Wo kommst du eigentlich her?« fragte ich Feigling.

Er zuckte zusammen, dann hob und senk­te er die Schultern. Er sah zu mir herüber, ausgesprochen schuldbewußt.

Der Mann störte mich. Es war nicht seine Anwesenheit, nicht

einmal seine schier unglaubliche Feigheit. Was mich nicht zur Ruhe kommen ließ, war das Geheimnis, das diesen Mann umgab.

Daß er ein Geheimnis hatte, stand für mich fest. Ich hatte nicht den leisesten Zwei­fel daran.

Feigling sprach ein fremdartig klingendes Pthora. War er früher einmal ein Bewohner Pthors gewesen? Wenn ja, wie kam er dann nach Loors, warum hatte er Atlantis verlas­sen? Es gab Fragen über Fragen, aber es er­mangelte an Antworten dazu. Und von Feig­ling würde ich nicht viel zu hören bekom­men, da war ich mir sicher.

So ritten wir Stunde um Stunde durch das Land, auf der Suche nach Pthor oder wenig­stens einem Hinweis, wo wir nach Pthor zu suchen hatten. Unterwegs legten wir einige Male eine kleine Pause ein, um die Spyten und uns verschnaufen zu lassen. Zu fressen bekamen bei solchen Gelegenheiten nur die Spyten – für Feigling und mich gab es nur Wasser. Zu meinem Erstaunen ertrug Feig­ling den Hunger einigermaßen klaglos.

Feigling deutete mit der Hand voraus. Ich nickte.

Ich hatte die Hügelkette bereits gesehen. Die Hügel waren stark bewaldet, das gab mir neue Hoffnung, daß im Innern dieses Waldgebiets sich vielleicht Wild herumtrieb.

Wir ließen die Spyten in einen langsamen Trott fallen. Feigling machte wieder ein Ge­

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sicht, das seine Bedenken mehr als deutlich machte. Er fürchtete sich offenbar vor mehr als zwei Bäumen pro Quadratmeile.

Als wir den Rand des Waldstücks erreicht hatten, verlangsamten wir unsere Geschwin­digkeit noch mehr. Der Wald war offenbar unbewohnt, wie die umgestürzten Bäume, das Buschwerk und andere Anzeichen an­deuteten. Jedenfalls konnten wir keine Wege oder Pfade entdecken, und das trug erheb­lich dazu bei, meine Stimmung zu verbes­sern.

Der Abend begann heraufzudämmern, es wurde also Zeit, wenn wir noch jagen woll­ten. Wir stiegen von den Spyten und began­nen uns einen Weg durch den Urwald zu bahnen. Daß wir damit die gesamte Fauna des Waldes aufweckten und warnten, ließ sich nicht vermeiden. Die Spyten machten Lärm, da ihnen der Wald offenbar gar nicht behagte, wir traten immer wieder auf kleine­re oder größere Zweige, die teilweise mit ex­plosionsartigen Geräuschen brachen, und ab und zu entfuhr Feigling ein Protestschrei, wenn ihm eine Liane ins Gesicht schlug oder ein Zweig zurückschnellte.

»Gefahr!« stellte Feigling fest. »Bedrohung, Ungemach, Beschwernis!«

Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Überhaupt hatte Feigling die absonderliche Gewohnheit, auf meine Fragen praktisch gar nicht zu antworten, dafür aber an den unpas­sendsten Stellen und zu ebenso unwahr­scheinlichen Zeiten in sturzflutartige Wort­kaskaden auszubrechen, die einem Synony­menlexikon alle Ehre gemacht hätten.

»Halt den Mund!« knurrte ich ihn an. Er ging mir auf die Nerven. Einmal mehr ver­fluchte ich den Augenblick der Schwäche, in dem ich mir diesen überaus lästigen Vogel aufgeladen hatte.

Feigling wurde still. Wir erreichten eine Lichtung, keine sehr

große freie Fläche, aber ausreichend, um darauf ein gemütliches Feuer anzuzünden. Vor meinem geistigen Auge erschienen ver­lockende Szenen – ein prasselndes Feuer, darüber eine bewegliche Konstruktion aus

Holz mit einem gewaltigen Stück Fleisch, in der Nähe ein plätschernder Bach, darin ein Fäßchen mit Bier oder Wein …

Mein Gedankenflug wurde ebenso jäh wie rüde unterbrochen.

Ich spürte, wie der Boden unter mir nach­gab. Ein bedrohliches Knacken erklang. Aber meine Abwehrreaktion kam zu spät.

Der Versuch, mich mit aller Kraft nach hinten zu schnellen, um aus der Gefahrensi­tuation herauszukommen, hatte lediglich zur Folge, daß ich mit dem Hinterkopf gegen einen harten Gegenstand krachte, während ich in die Tiefe stürzte. Die Schwerkraft von Loors lag um ein Zehntel unter dem Wert der Erde, aber auch das nützte mir nichts.

Ich prallte auf den Boden, und der Auf­schlag war so hart, daß ich sekundenlang wie betäubt liegenblieb. Mit einem gellen­den Kreischen kam mein Spyte herunter und schlug dumpf neben mir auf. Das Tier ver­stummte abrupt, und aus dem vernehmlichen Knacken schloß ich, daß es sich den Hals gebrochen hatte.

Der Verlust ließ sich verschmerzen. Zur Not konnte Feiglings Spyte uns beide tra­gen. Voraussetzung dafür aber war …

»Feigling!« brüllte ich. Ich stand auf. Das Loch war mindestens vier Meter tief.

Ausgeschlossen, daß ich es fertigbrachte, so hoch zu steigen oder zu springen, daß ich den Rand erreichte. Ohne Hilfe meines Be­gleiters kam ich aus dieser Fallgrube nicht heraus.

Daß es sich um eine Fallgrube handelte, lag auf der Hand – ich hatte jedenfalls noch nie ein rechteckiges Loch im Boden gese­hen, das fast lotrechte Wände aufzuweisen hatte und geschickt mit Zweigen und Laub getarnt worden war.

»Feigling!« Ich atmete erleichtert auf, als kurz nach

meinem zweiten Ruf das Gesicht meines Be­gleiters am Rand des Loches auftauchte.

»Los, hilf mir hier heraus!« forderte ich ihn auf.

»Ich helfe«, versprach er.

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Er sah auf. Offenbar suchte er nach einer Liane, die er mir zuwerfen konnte.

Als ich sah, wie sich seine Augen vor Schreck weiteten, erschrak ich ebenfalls.

»Zlits!« gellte Feiglings Schrei, und einen Sekundenbruchteil später war er verschwun­den.

Ich sah mich um. Wie kam ich aus diesem Loch heraus? Ich entdeckte einen Ast der Abdeckung, der stabil genug aussah, um mir als Prügel zu dienen.

Ich hatte mich kaum in den Besitz dieser kümmerlichen Waffe gesetzt, als neue Ge­sichter am Rand der Fallgrube auftauchten. Die Erbauer kamen, um sich anzusehen, was sich in der Grube gefangen hatte.

Einen ähnlichen Plan hatte ich beim Be­treten des Waldstücks ebenfalls gehabt. Jetzt waren die Rollen vertauscht, ich war das Wild, nicht der Jäger.

Hagere, gierige Echsengesichter tauchten am Rand der Grube auf und starrten auf mich herab. Ich sah die Zlits gierig züngeln, ihre Augen funkelten bedrohlich.

Zum Glück war bis zu diesem Zeitpunkt kein Blut geflossen. Blutgeruch hätte die Zlits um den Verstand gebracht, sie blind­wütig gemacht in ihrer Gier nach Fleisch.

Immer größer wurde die Zahl der Köpfe, die am Grubenrand erschienen. Die Lage wurde zusehends düsterer. Mit dem Knüppel allein, gegen diese Übermacht, das war nicht viel.

Ich sah mich nach einer Möglichkeit um, aus dieser Fallgrube herauszukommen, be­vor die Zlits über mich herfallen konnten.

Der tote Spyte fiel mir ein. Ich behielt den Knüppel in der Hand,

während ich versuchte, den toten Spyten nä­her an die Wand der Fallgrube heranzu­wuchten. Wenn ich auf den Körper stieg …

So weit ließen die Zlits mich nicht kom­men.

Der erste sprang in die Grube hinab, baute sich vor mir auf. Nach waren die Zlits eini­germaßen ruhig, noch war kein Blut geflos­sen.

Ich wich zwei Schritte zurück. Der Zlit

Peter Terrid

beäugte mich nervös. Dann sprang er mich an. Ich ließ den Knüppel auf seinen Schädel

sausen. Der Zlit brach zusammen, und als er auf dem Boden der Fallgrube landete, sah ich mit Entsetzen den dünnen Faden Blut, der hinter seinem Ohr hervorlief.

Im gleichen Augenblick hatten auch die Zlits das Blut bemerkt, und nun kannten sie kein Halten mehr.

Wie auf ein Kommando stürzten sie alle gleichzeitig in die Grube, acht, zehn, viel­leicht noch mehr Gestalten tauchten blitzar­tig in meinem Blickfeld auf. Ich hörte das heisere Fauchen, mit dem die Zlits über ihre Beute herfielen.

Als erstes machten sie sich über den Spy­ten her, und – soweit ich sehen konnte in diesem Durcheinander von Leibern – ver­schonten sie auch ihren Artgenossen nicht.

Zwei Zlits hatten sich mich zur Beute aus­erkoren. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, schlug mit dem Knüppel zu, trat mit den Fü­ßen.

Zwei der Angreifer konnte ich außer Ge­fecht setzen, leider nur um den Preis einer Verletzung, was den sofortigen Tod der bei­den Zlits zur Folge hatte. Dann aber wurde die Zahl der Angreifer zu groß.

Die Zlits hausten irgendwo in den Hü­geln, die unter dem Wäldchen lagen, und es schien eine größere Siedlung dieser Rau­bechsen zu sein. Immer neue Zlits tauchten auf und stürzten sich ohne Zögern in die Grube, um an dem Fressen teilnehmen zu können. Sobald sie Blut gerochen hatten, verloren sie völlig den Verstand. Ich hörte das Krachen, wenn ein Knochen ihnen zwi­schen die starken Kiefer kam und zersplitter­te.

Irgend etwas Hartes traf meinen Kopf. Ich kippte zur Seite, schlug noch ein zweites Mal im Fallen gegen einen massiven Kör­per. Ich war halb betäubt. Was in meiner Umgebung geschah, nahm ich nur wahr, als sähe ich einen extrem unscharfen Film.

Wehren konnte ich mich nicht mehr. Den Knüppel hatte ich verloren, er lag irgendwo

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unter dem Knäuel beschuppter Leiber, die wild durcheinanderwogten.

Ich versuchte noch einmal, mich aufzu­richten, und bekam einen Schlag in die Ma­gengrube, der mir endgültig die Besinnung nahm.

Das letzte, was ich noch sehen konnte, war ein bleckendes Gebiß, unmittelbar vor meinem Gesicht, die Lefzen rot vom Blut.

4.

Es versprach die Hochzeit aller Hochzei­ten zu werden. Torpha schluchzte seit dem frühen Morgen fast ohne Pause, und der alte Cinerea hatte nichts Wichtigeres zu tun, als mit stolzgeschwellter Brust in den Straßen zu paradieren.

Es waren wirklich alle gekommen. Da waren die Verwandten der Cinereas,

ein halbes Dutzend Sippen, jede einflußreich und keine unvermögend. Die Honoratioren der Stadt hatten es sich angelegen sein las­sen, die Feier mit der Ehre ihrer Anwesen­heit zu krönen. Ephor hatte den leisen Ver­dacht, daß die feinen Herrschaften nur nach einem Vorwand gesucht hatten, ihre Arbeit im Stich zu lassen und sich auf Kosten der Cinerea-Sippe einmal prall und rund zu fres­sen. Die Aussichten für dieses Vorhaben waren hervorragend. Es gab Köstlichkeiten in Fülle.

Natürlich waren auch die Flußleute ge­kommen, allen voran Ephors Vater mit sei­nen Freunden, eine Abordnung der Honora­tioren der Flußleute, sehr höflich und vor­nehm mit triefendnassem Fell, ja, es war so­gar eine Festdelegation der Leute vom Berg gekommen. Sie sahen leider etwas scheckig aus und rochen ziemlich streng aus dem Mund – was vermutlich an ihren hinterwäld­lerischen Freßgewohnheiten lag. Mäuse! Man stelle sich nur vor, angeblich sogar le­bend! Die Damen der Gesellschaft hatten je­denfalls genug zu hecheln und zu klatschen.

Überhaupt versprach die Feier ein Jahr­hundertereignis zu werden. Es hieß – hinter vorgehaltener Pfote – daß eine Delegation

vom Meer im Anmarsch sei. Angesichts der Tatsache, daß sowohl die Fluß- als auch die Landbewohner früher einmal im Meer ge­haust hatten und aus Gründen, die sich der Nachprüfung entzogen, ausgewandert wa­ren, kam dieser Gesandtschaft höchste poli­tische Bedeutung zu.

Ephor stand am Rand der Festwiese, die prachtvoll geschmückt war.

Hilfesuchend sah er sich um, vergeblich. Der alte Cinerea war nirgendwo zu ent­

decken. Er hatte sich sofort mit dem alten Enhydra zusammengetan, um ein Ereignis größter politischer Tragweite zu besprechen.

Im Hintergrund machten sich die Berg­burschen an die Weibchen heran, ziemlich plump und aufdringlich, wie Ephor fand. Unter Umständen konnte das Ärger geben.

Völlig vertrauen konnte Ephor der Lage nicht.

Die Feindschaft zwischen Flußleuten und Landbewohnern war uralt, keiner wußte mehr, wann und vor allem womit der Streit begonnen hatte. Zwar war der Konflikt nach mehr als einhundert Generationen ein wenig langweilig geworden, aber er konnte jeder­zeit wieder aufleben. Von seinen früheren Spielkameraden aus dem Fluß wußte Ephor jedenfalls, daß sie entschlossen waren, sich an Ephors Hochzeitstag gründlich zu amü­sieren – so oder so. Wenn die jungen Männ­chen aus der Stadt friedfertig blieben, würde es eine friedfertige Feier werden, wie sie das Ufer noch nicht erlebt hatte. Und wenn die Stadtburschen frech wurden, dann würde es eine Rauferei geben, nicht minder groß und gewaltig und ebenfalls ein Ereignis, das die Chronisten für lange Zeit beschäftigen wür­de.

Ephor verließ die Festwiese, auf der gera­de die ersten Speisen aufgetragen wurden – jedem nach seinem Geschmack, also für die Flußleute Frischfisch, für die Landbewohner Gebratenes.

Nach kurzer Zeit hatte Ephor das Haus der Cinereas erreicht. Er hätte es beim be­sten Willen nicht verfehlen können – kein anderes Haus in der ganzen Stadt war derar­

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tig geschmückt worden. Grünzeug, wohin man sah, Blumen in riesigen Mengen.

Im Haus selbst ging es zu wie in einer Fischreuse. Jeder tobte herum, behauptete der einzige zu sein, der wirklich alles begriff und durchschaute, und alle anderen waren nichts als Hohlköpfe, die nur Unheil stifte­ten.

Eine Gruppe weiblicher Verwandter hatte es binnen zweier Stunden geschafft, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen.

Ephor hatte einige Mühe, in diesem Cha­os seine Braut zu finden. Erst als er nach dem lautesten Schluchzen, Heulen und Wimmern fahndete, entdeckte er Torpha.

Sie war mit den Nerven völlig am Ende. »Ich liebe dich«, grüßte Ephor. »Ich dich auch«, gab Torpha zurück. Zwei Tanten – alt, häßlich, folglich unver­

heiratet und daher zum Erteilen beherzigens­werter Ratschläge für Bräute bestens geeig­net – machten sich an Torpha zu schaffen, diskutierten Schattenlinien auf dem Fell, zupften hier und zerrten dort und gebärdeten sich im ganzen so, als stünde die eigene Vermählung bevor.

»Nur noch eine Stunde«, erklärte Torphas Mutter, die in dem allgemeinen Chaos als einzige den Kopf behalten hatte. »Hör end­lich auf zu weinen, Kind.«

Der Aufforderung folgte eine neue Trä­nenflut. Ephor sah ein, daß er hier so über­flüssig war wie ein Kropf und machte sich vorsichtshalber aus dem Staub.

Auf der Festwiese war unterdessen das er­ste Mahl begonnen worden. Zufrieden stellte Ephor fest, daß sich die Gäste manierlich be­trugen, nach Herzenslust schmausten und einstweilen noch kein Streit aufgekommen war. Auch die Bergbewohner fanden Gefal­len an dem servierten Fisch. Ephor, der sich schon als mäusejagenden Bräutigam gese­hen hatte, war erleichtert, dies zu sehen.

Und tatsächlich stellte sich wenig später auch eine Abordnung von Seebewohnern ein, prächtige Gestalten, reich mit Kostbar­keiten des Meeres geschmückt. Einige der jüngeren Weibchen schielten den See-

Peter Terrid

Leuten ziemlich ungeniert nach. Der Anführer der Delegation überreichte

Ephor eine Perlenkette, die er seiner Braut nach der Zeremonie umhängen sollte. Ephor nahm die Kette in Empfang und bedankte sich überschwenglich.

Der alte Cinerea winkte Ephor heran. Erstaunt stellte Ephor im Näherkommen

fest, daß sich bei Aonyx Cinerea nicht nur sein Vater aufhielt, sondern auch die jeweili­gen Anführer der einzelnen Clans. Berg-, See-, Fluß- und Landbewohner hatten je einen Abgesandten gestellt.

»Nun kann ich dir auch verraten, welchen besonderen Plan wir heute durchführen wol­len«, verkündete Aonyx Cinerea, als die kleine Gruppe vollständig war. »Du wirst König, mein Junge! Was sagst du dazu?«

Ephor sagte gar nichts. Diese Eröffnung verschlug ihm die Sprache. Seit Urzeiten hatte es keine Könige mehr gegeben, weil sich Flußleute und Landbewohner nicht auf einen Kandidaten hatten einigen können.

»Wir haben uns gesagt«, erklärte Ephors Vater den Zusammenhang, »daß wir die ein­malige Chance nutzen sollten, die wir au­genblicklich haben.«

»Es ist wegen der Farbe«, sagte der Berg­bewohner. »Verstehst du?«

Ephor schüttelte den Kopf. Das alles ging über seine Kräfte. Er hatte doch nur Torpha heiraten und mit ihr in die leere Riesenmu­schel ziehen wollen. Von einem König war in diesem Zusammenhang nie die Rede ge­wesen.

»Du hast ein graues Fell«, stellte Cinerea fest. »Und Torpha hat auch ein graues Fell. Und mit etwas Glück werden auch eure Kin­der graues Fell haben.«

Ephor wandte den Blick beschämt zur Seite.

»Ein Königspaar mit grauem Fell würde all unsere Streitigkeiten lösen«, fuhr Cinerea fort. »Stadtleute und Flußbewohner könnten wieder friedlich und einträchtig leben.«

»Was in unser aller Interesse wäre«, er­gänzte der Leiter der Bergdelegation.

Ephor, der sich aus der Rolle des Bräuti­

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gams jählings in die eines hochwichtigen Politikums gesetzt sah, schwieg einge­schüchtert. Eigentlich hatte er nur heiraten wollen.

»Wir haben auch schon einen Kronrat ge­bildet«, wußte Ephors Vater zu vermelden. »Damit ihr jungen Leute nicht soviel mit Regierungsdingen zu tun habt.«

»Wie aufmerksam und rücksichtsvoll von euch«, murmelte Ephor. Er merkte, daß hier einige Dinge ausgekungelt worden waren. Jetzt begriff er auch, warum der alte Cinerea sein Einverständnis zu der Hochzeit gegeben hatte.

Die Sache war klar wie das Mondlicht. Daß sich das jungvermählte Paar nicht um

Politik kümmern würde, lag auf der Hand. In diesem Punkt ging die Rechnung des Al-ten schon vorher auf – Ephor dachte an vie­les, aber Politik war gewiß nicht darunter. Macht würde das neugekürte Königspaar al­so nicht haben, jedenfalls keine wirkliche Macht. Die eigentlichen Regierungsgeschäf­te würde der Kronrat besorgen, und da war der geschickte Aonyx Cinerea jedem voraus – mit den tölpelhaften Flußleuten fertig zu werden war für den Alten nicht mehr als ei­ne politische Fingerübung. Ephor war sich ziemlich sicher, daß Cinerea auch mit sei­nem Vater wenig Schwierigkeiten haben würde. Der Alte aus der Stadt war ein Schlaukopf, der schnell erkannt hatte, daß ihm diese Hochzeit, die denkbar beste Mög­lichkeit bot, sich zum heimlichen Herrscher nicht nur der Stadt sondern auch der Flußbe­wohner aufzuschwingen.

Ephor dachte an Torpha und an die Sze­nen, die unweigerlich folgen mußten, wenn er jetzt widersprach. Ephor machte ein freundliches Gesicht und schwieg weise.

In diesem Augenblick näherte sich, wie auf Stichwort, ein feierlicher Zug der Fest­wiese.

Torpha erschien, begleitet von der gesam­ten weiblichen Verwandtschaft, die ihren Gefühlen und den Tränen freien Lauf ließ. Man konnte glauben, ein Massengrab sollte eingeweiht werden. Das Schluchzen schien

kein Ende nehmen zu wollen. »Ich liebe dich«, murmelte Ephor ergrif­

fen. Der alte Cinerea, der neben ihm stand, sah ihn verwundert an und schwieg dann.

Feierlich geleitete Torphas Mutter die Braut auf die Mitte des Platzes. Die Menge raste vor Begeisterung. Torpha hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen, sie schwebte be­ständig am Rand einer Ohnmacht des Glücks. Ephors Stimmung war nicht ganz so euphorisch. Ihn verdroß das siegessichere Lächeln in den Zügen seines Schwiegerva­ters.

Die Zeremonie nahm ihren vorgeschriebe­nen Lauf.

Unter dem Beifall der Zuschauer opferte Torpha dem Gott mit den bunten Schuppen, der von den Flußleuten verehrt wurde. Ephor für sein Teil mußte ein Gebet zum vierfach geschwänzten Mond sprechen, den die Stadtbewohner anbeteten. Das Ganze er­schien ihm hochgradig albern, da er sich den Mond nicht geschwänzt vorstellen konnte. Obendrein war der Mond gar nicht zu sehen. Dennoch sprach Ephor laut und deutlich den Gebetstext.

Cinerea übernahm dann als Sippenober­haupt der Braut das feierliche Aushandeln des Brautpreises, wohingegen Enhydra Lut­ris als Sippenoberhaupt des Bräutigams eine wucherische Mitgiftforderung erhob. Nach einem halbstündigen Wortgefecht, das Ephor verdächtig einstudiert klang, wurden die beiden handelseinig. Torpha trat auf die andere Seite und wechselte somit den Besit­zer und die Sippe. Angesichts der offenen Verbrüderung beider Stämme besagte das allerdings nicht viel.

Die restliche Zeremonie dauerte dann nur wenige Augenblicke. Ephor gelobte feier­lich, für seine nunmehrige Frau zu sorgen, auch für ihre Kinder – an dieser Stelle brach, wie immer, das Publikum in anzügliches Ki­chern aus – und Kindeskinder. Torpha ver­sprach auch einiges, wobei Ephor entging, daß sie die übliche Formel des Gehorsams gegenüber dem Ehemann irgendwie über­ging oder vergaß.

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Danach reichten sich beide die linke Pfo­te, und der Ehevertrag war damit feierlich geschlossen.

»Ich liebe dich«, sagte Ephor leise. »Ich dich auch«, antwortete Torpha eilig.

»Ist es nicht herrlich?« Nach den Feierlichkeiten gab es nur noch

einen Programmpunkt – das Festmahl, und darauf konzentrierte sich dann auch die all­gemeine Aufmerksamkeit.

Um das Brautpaar kümmerte sich nie­mand mehr. Schuppen flogen als silbriger Staub in der Luft herum, aus eifrig bewegten Mundwinkeln troff der Saft. Das allgemeine Murmeln erstarb und machte einem ebenso allgemeinen Schmatzen Platz.

Ephor sah dies mit nur geringem Vergnü­gen. Ihn beschlich eine Ahnung, daß dieses Fest nicht ganz so verlaufen war, wie er sich das vorgestellt hatte, und wenn er ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß er sich im Grunde gar nichts vorgestellt hatte.

Angestellte des Cinerea-Haushalts eilten durch die Reihen der Gäste und verteilten Fische und Getränke. Ephor merkte unfroh, daß auch berauschende Getränke ausge­schenkt wurden. Er kannte seine Spielkame­raden früherer Jahre und wußte daher, daß sie wenig vertrugen und obendrein zu Rauf­händeln neigten, wenn sie getrunken hatten.

»Da wäre nur noch ein Problem«, sagte plötzlich Ephors Vater.

Der alte Cinerea wurde hellhörig und stellte die Ohren auf.

»Der Schatz!« sagte Enhydra fest. »Wem soll der Schatz gehören?«

Ephor sah einen Streit entstehen und be­mühte sich um Schlichtung. »Auch diese Frage wird man klären können«, sagte er ha­stig. »Aber nicht jetzt. Später, wenn das Fest vorbei ist.«

»Nichts da«, warf Cinerea ein. »Wir klä­ren die Angelegenheit hier und jetzt. Der Schatz wird beiden Gruppen gehören.«

»Der Schatz liegt im Wasser«, stellte En­hydra fest. »Er liegt ganz und gar im Was­ser. Ich wüßte nicht, was es da zu teilen gä­be.«

Peter Terrid

»Der Schatz«, beharrte Cinerea, »ist Ge­meinschaftseigentum. Im Grunde gehört er ohnehin uns. Es ist ein Schatz für das feste Land, nicht für das Wasser – sonst läge er dort nicht einfach herum.«

»Er liegt keineswegs einfach herum«, pro­testierte Enhydra. »Wir besuchen ihn oft und gern. Und außerdem gehört er ins Wasser – da liegt er schließlich auch.«

»Aber er hat dort nicht immer gelegen«, erwiderte Cinerea mit Festigkeit. »Er ist erst dorthin gekommen. Und da alles, was im Fluß liegt, nur vom festen Land kommen kann, ist es eigentlich ein Landschatz.«

»Lachhaft!« begehrte Enhydra auf. »Es ist ein Wasserschatz!«

»Ich liebe dich«, sagte Ephor seiner Frau ins Ohr. »Könntest du nicht deinen Vater zu­rückhalten. Er ist außerordentlich streitsüch­tig.«

»Ich dich auch«, sagte Torpha. »Und er ist kein bißchen streitsüchtig. Es ist dein Va­ter, der an allem schuld ist. Er ist so starr­köpfig.«

»Mein Vater ist im Recht«, beharrte Ephor.

»Meiner hat recht«, trotzte Torpha. Die beiden bemerkten nicht, daß es still

geworden war. Die Alten hatten ihren Dia­log beendet. Nur Torpha und Ephor redeten.

»Dein Vater ist halt einer vom Fluß«, sag­te Torpha. »Man kann seine Abstammung nicht verleugnen. Jemand mit Zivilisation hätte längst eingesehen, daß mein Vater die Sache vollkommen richtig betrachtet.«

»Lächerlich«, begehrte Ephor auf. »Schließlich weiß doch jeder, daß die Land­leute völlig degeneriert sind.«

»Das mußt du sagen, ausgerechnet du«, schimpfte Torpha, und ehe sie sich versah, war ihre Pfote in Ephors Gesicht gelandet.

Es klatschte vernehmlich. Ephor riß die Augen weit auf. Er spürte die Blicke der Menge auf sich ruhen.

Er packte Torpha, die sich angesichts der bevorstehenden Tracht Prügel lebhaft wehr­te.

»Laß mein Kind los!« brüllte der alte Ci­

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nerea. »Recht so, mein Junge!« mischte sich En­

hydra ein. »Zeige ihr, wer im Haus das Sa­gen hat.«

»Wage es!« kreischte Torpha in den höch­sten Tönen.

»Elendes Gesindel«, fauchte Cinerea. Ephor hielt inne. Er ahnte, was jetzt fol­

gen mußte wie der Donner dem Blitz, und richtig, Cinerea hatte seine Verwünschung noch auf der Zunge, da machte er bereits mit der Rechten von Enhydra Bekanntschaft. Ci­nerea stieß einen heiseren Schrei aus, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden.

»Heiliger Himmel«, stieß Ephor hervor, aber der Seufzer kam zu spät.

Die Keilerei begann damit, daß die Fluß­leute den Stadtbewohnern die Fische um die Ohren schlugen. Die Weibchen kreischten auf und stoben davon. Währenddessen ver­wandten die Stadtbewohner ihre Trinknäpfe als Wurfgeschosse. Nach einigen Augen­blicken hatte sich so die Festwiese in ein Durcheinander von Leibern verwandelt. Mö­bel barsten, Näpfe flogen, Fisch landete in Gesichtern, für die er nicht bestimmt war, es wurde gebrüllt und gekeift, daß niemand auch nur ein Wort verstand.

Die Stadtbewohner, an ihren weißen Fel­len unschwer zu erkennen, waren zunächst im Vorteil. Sie waren größer und stärker als ihre schwarzfelligen Gegner aus dem Fluß. Die aber machten mangelnde Kräfte und Größe durch Wendigkeit und Wut mehr als wett.

»Stadtbrut, elendige!« brüllte Enhydra und versetzte Aonyx einen wuchtigen Tritt. »Nieder mit den Stadtbewohnern!«

»Flußgeschmeiß!« gab der alte Cinerea zurück. Er war trotz seines vorgeschrittenen Alters noch wendig genug, sich verblüffend schnell wieder aufzurappeln und seinem Wi­dersacher seinerseits einen Fußtritt zu ver­setzen, der Enhydra einige Schritte zurück­taumeln ließ.

Zum Glück hielten sich die Frauen zu­rück, dachte Ephor, aber er sah sich wenig später getäuscht. Am Rand der Festwiese,

abseits der immer heftiger miteinander kämpfenden Männchen, begannen sich nun auch die Weibchen zu balgen, und dabei ging es nicht sanfter zu als auf der Festwie­se. Im Gegenteil, die Weibchen prügelten sich noch hitziger und unversöhnlicher als die Männchen. Es flogen buchstäblich Haa­re, und das Keifen und Kreischen übertönte alle Versuche, das Handgemenge zu been­den.

Die Leute aus dem Gebirge und die Besu­cher vom Meer sahen dem Kampf eine Zeit­lang zu. Ephor hoffte schon, bei ihnen wür­de die Besonnenheit siegen, aber er sah sich getäuscht. Die Gäste verständigten sich kurz mit Blicken, dann stürzten sie sich jubelnd in die Menge.

»Ich liebe dich«, wimmerte Torpha. Sie hatte sich unter einen Tisch geflüch­

tet. Das Blumenarrangement, das ihren Kopf geschmückt hatte, war aufgelöst.

»Ich dich auch«, antwortete Ephor lustlos. »Und was soll nun werden? Wie soll das weitergehen?«

Torpha schluchzte nur, zu mehr war sie nicht in der Lage. Auf der Festwiese zeich­nete sich allmählich ab, daß die Flußleute die Oberhand gewinnen würden. Der Hitzig­keit, mit der die Schwarzen kämpften, hatten die Weißen nichts entgegenzusetzen. Zudem waren sich die Besucher nicht ganz schlüs­sig, zu wem sie halten sollten – daher prü­gelten sie auf alles ein, was ihnen vor die Pfoten kam.

»Verschwinden wir«, schlug Ephor vor. »Wenn die Keilerei beendet ist, wird man über uns herfallen – gleichgültig, wer der Sieger sein wird.«

Im Augenblick sah es nach einem Sieg der Flußleute aus, aber die Stadtbewohner begannen sich hinter ihre Mauern zu flüch­ten. Von den Zinnen der Stadtmauer bom­bardierten sie die angreifenden Schwarzen mit allem, was zur Hand war – mit Fisch­köpfen, Lehmklumpen, Vogeleiern, Holz­stücken. Die Getroffenen heulten wütend auf und verstärkten ihre Attacken. Es zeichnete sich ab, daß es am Ende des Tages zwei

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Verlierer geben würde, wenn nicht ein Wun­der geschah.

Vor allem aber ließ sich ausrechnen, daß keine der beiden Parteien diesen Zank je­mals vergessen würde. Von dieser Hochzeit würde man noch in vielen Generationen sprechen. Die große, einmalige Chance, die beiden seit Urzeiten verfehdeten Stämme zu befrieden, war vertan.

Der alte Cinerea wankte heran. Ihm fehlte eine Kralle an der linken Pfote, ein Ohr war eingerissen, Blut lief über sein Gesicht. Er strahlte.

»Wer werden es diesen Barbaren schon zeigen«, frohlockte er. »An der Mauer wer­den sie sich die Zähne ausbeißen, wie im­mer. Und du, Torpha, du kommst her. Du wirst nicht mehr mit diesem heruntergekom­menen Flußjungen spielen.«

Der alte Cinerea hatte sich augenschein­lich im Jahrzehnt geirrt. Von Spielen war nicht die Rede.

Schmerzlich wurde Ephor bewußt, daß die Lage noch viel verfahrener war, als er angenommen hatte. Für einen Rückzug war es nämlich mittlerweile zu spät. Die Ehe war gültig und konnte nur in beiderseitigem Ein­vernehmen gelöst werden.

»Ich bleibe bei meinem Mann«, trotzte Torpha.

In diesem Augenblick erschien auch Ephors Vater, gleichermaßen blutend und sichtlich zufrieden.

»Das feige Gesindel verdrückt sich«, freu­te er sich. »Und mit dieser Mauer werden wir auch fertig dieses Mal. Junge, nimm dir deine Frau und verschwinde mit ihr. Ich möchte ihr ersparen, mitansehen zu müssen, wie ich mir ihren verweichlichten Vater vor­knöpfe.«

»Verweichlicht!« heulte Cinerea auf. »Verweichlicht?«

Einen Augenblick später rollten die bei­den ineinander verkrallt auf dem Boden.

»Komm«, sagte Ephor traurig. »Wir ge­hen.«

Er nahm Torpha bei der Pfote. Nebenein­ander überquerten sie den Festplatz. Die

Peter Terrid

Kämpfenden waren viel zu sehr damit be­schäftigt, sich gegenseitig nach Kräften zu verdreschen, als daß sie auf das Paar geach­tet hätten.

»Ich fürchte«, sagte Ephor niedergeschla­gen, »daß wir künftig beide keine Familie mehr haben werden. Wahrscheinlich werden uns beide Stämme ausstoßen.«

»Dann«, verkündete Torpha entschlossen, »begründen wir beide einen neuen Stamm. Komm!«

*

Ich holte tief Luft. Mein Schädel brummte fürchterlich, aber

das Brummen bewies mir, daß ich lebte. Die Zlits hatten mich offenbar vergessen.

Welchem Schicksal ich entgangen war, das ließ sich nicht übersehen. Von dem Spy­ten, mit dem zusammen ich in diese Fallgru­be gestürzt war, waren nur noch die Kno­chen zu sehen. Sie blinkten so weiß, als hät­te ein Fachmann sie präpariert.

Mich hatten die Zlits offenbar nur aus dem einen Grund nicht angerührt, weil ich mich nicht bewegt hatte und offenbar trotz meiner Betäubung kein Blut verloren hatte.

Ich hatte keine Lust auf ein zweites Expe­riment dieser Art. Ich wollte so schnell wie möglich aus diesem Loch heraus, bevor die Zlits sich besannen und zurückkehrten.

Die Lage sah übel aus. Die Wände der Grube waren glatt. Daran hinaufzuklettern, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Narr, bemerkte der Extrasinn. Benutze die Knochen des Spyten als Steighilfe!

Natürlich hielt ich mich an diesen Rat­schlag. Ich nahm eine der Rippen des toten Spyten und rammte sie in den Lehm der Grubenwand. Mit einem Oberschenkelkno­chen trieb ich die Rippe tiefer und tiefer in den Lehm. Die zweite Rippe hämmerte ich sechs Handbreit über der ersten in die Wand. Auf diese Weise stieg ich Rippe um Rippe in die Höhe.

Ich stieß einen zufriedenen Seufzer aus, als ich mit den Händen den Rand der Grube

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zu fassen bekam. Wenige Augenblicke spä­ter stand ich wieder auf der Oberfläche des Planeten Loors.

Von den Zlits, denen ich den Fall in die Grube und den Verlust meines Spyten zu verdanken hatte, war nichts mehr zu sehen.

Offenbar hatte ich einige Stunden lang in der Grube gelegen. Es dämmerte bereits, und das erklärte auch, warum sich die Zlits nicht sehen ließen. Als Echsen waren sie na­turgemäß wechselwarm, und daher zogen sie es vor, bei Einbruch der Nacht in ihren Höh­len zu sein, sicher vor Auskühlung.

Nach diesem Abenteuer hatte ich aller­dings keine Lust, am eigenen Leibe nachzu­prüfen, ob meine Überlegung richtig war. Ich wollte so schnell wie möglich heraus aus dem Wäldchen, bevor sich irgendein anderes Raubzeug an die Arbeit machte, mich zu ja­gen.

Ich schlug einen flotten Trab ein. Zwar hatte ich bei jedem Tritt das Gefühl, als be­stünde eine unmittelbare Verbindung zwi­schen meiner Fußsohle und meiner Hirnrin­de, aber der Schmerz ließ sich ertragen. Nach einer Viertelstunde hatte ich den Rand des Waldes erreicht. Im langsam schwächer werdenden Licht der untergehenden Sonne konnte ich von der Kuppe eines Hügels über das Land sehen.

Ich sah eine Ebene, die sich bis zum Hori­zont erstreckte, mit Gras bestanden und niedrigem Buschwerk.

Vorsichtshalber blieb ich im Sichtschatten der Bäume, daher wurde ich auch nicht ge­sehen, als ich – zwei Kilometer oder ein we­nig mehr entfernt – eine Gestalt erkannte, die mir verdächtig bekannt vorkam. Wenn mich meine Augen nicht trogen, dann saß Feigling am Rand des Waldgebiets und er­freute sich am Sonnenuntergang.

Ich nahm mir vor, den Burschen gründ­lich zu überraschen. Es war infam, mich ein­fach hilf- und wehrlos in der Fallgrube der Zlits zurückzulassen. Ich wollte mich revan­chieren.

Ich schlug einen Bogen, kehrte in den Wald zurück und huschte durch das Gehölz.

Auf den ersten Kilometern kam ich flott vor­wärts, ich brauchte keine Rücksicht darauf zu nehmen, daß ich bei meinem Lauf ziem­lich viel Lärm machte.

Auf den letzten fünfhundert Metern kam ich nur noch sehr langsam voran. Ich wich sorgfältig allen Ästen und Zweigen aus, die sich mir in den Weg stellten, ich achtete dar­auf, auf nichts zu treten, das brechen könnte.

Ziemlich viel Aufwand für ein nebensäch­liches Ziel, kommentierte der Logiksektor.

So konnte man die Sache natürlich auch sehen. Ich ließ mich durch diesen Einwand nicht abhalten. Einen Denkzettel wenigstens wollte ich Feigling verpassen – vielleicht half das, ihm für die Zukunft etwas mehr Zuverlässigkeit einzuflößen.

Die letzten zwanzig Meter legte ich auf allen vieren zurück. Nach kurzer Zeit hatte ich Feigling entdeckt.

Der Bursche saß im Gras am Rand des Waldes. Der Spyte, mit dem er geflohen war, weidete in der Nähe. Feigling schien es gutzugehen. Er hatte den Rücken an einen Baum gelehnt, sah auf die Ebene hinaus und summte ein fremdartiges Lied.

Ich schlich mich lautlos an ihn heran, bis ich ihn mühelos berühren konnte. Er schien mich überhaupt nicht zu bemerken.

Einen Augenblick lang überlegte ich noch, dann streckte ich die Hand aus und griff nach Feiglings Schulter.

Mit einem gellenden Schrei ging er in die Höhe. Der Spyte quiekte und trabte er­schreckt ein Stück davon.

»Grauen!« kreischte Feigling. »Entsetzen, Panik, Furcht!«

Er hatte sich herumgedreht und dabei mit beiden Armen ziellos in die Luft gedro­schen. Auch seine ungezielten Fußtritte tra­fen nur die Luft.

Er war kreideweiß im Gesicht, das völlig blutleer zu sein schien. Seine Lippen zuck­ten, die Hände konnte er nicht eine Sekunde lang ruhig halten.

Jetzt tat es mir schon wieder leid, den Burschen derart erschreckt zu haben. Es war entsetzlich, wie furchtsam dieser Mann war.

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»Beruhige dich«, forderte ich den beben­den Feigling auf. »Ich werde dich schon nicht fressen!«

Feigling schien dem nicht zu glauben. Er streckte abwehrend beide Hände aus.

»Weiche, Dämon!« keifte er. »Weiche von mir, entferne dich, du übler Geist!«

»Sieh an«, murmelte ich. »Er kann also doch reden!«

»Zurück!« schrie Feigling, als ich einen Schritt auf ihn zu machte. »Verschwinde.«

»Ich bin kein Geist«, schrie ich zurück. Eine normale Unterhaltung schien mit die­sem Mann nicht möglich zu sein.

Feigling kniff die Augen zusammen. »Atlan?« fragte er. »Wer sonst«, gab ich zurück. »Die Zlits

haben mich nicht getötet.« Meine Worte schienen ihn noch immer

nicht gänzlich überzeugt zu haben. Mißtrau­isch kniff er die Augen zusammen.

Einen Augenblick lang wirkte er völlig verändert. Er sah plötzlich aus wie einer, der einem Braten nicht traut und Genaueres wis­sen will. Er wirkte skeptisch, nicht ängstlich. Für eine kurze Zeitspanne machte Feigling einen Eindruck, als müßte man ihn ernstneh­men. Er sah irgendwie – mir wollte kein an­deres Wort einfallen – bedeutsam aus.

Ähnlichkeit mit Sigurd, Heimdall und den anderen? kommentierte der Extrasinn zwei­felnd.

Ich hielt Feigling die Hand hin. Er zögerte noch immer. Erst als ich eine Blattschale voll Beeren präsentierte, die ich unterwegs gepflückt hatte, zeigte er sich zutraulicher. Er leckte sich die Lippen und kam näher.

»Gut«, lockte ich. »Lecker, wohl­schmeckend, aromatisch.«

Unwillkürlich war ich in das Sprachkli­schee gerutscht, dessen sich Feigling so oft bediente. Feigling grinste, als hätte er den kleinen Lapsus bemerkt.

Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich hielt das große schalenförmige Blatt in der Hand, ausgestreckt. Er zögerte noch einen Augenblick lang, dann griff er nach der Schale, riß sie mir aus der Hand und lief ei-

Peter Terrid

nige Schritte damit fort. Er ließ mich dabei nicht aus dem Auge.

»Iß!« ermunterte ich ihn. Feigling zögerte wieder, dann kostete er

die erste Frucht. Sie schmeckte ihm. Die zweite Beere folgte, die dritte … Er setzte sich auf den Boden und begann die Beeren hinabzuschlingen. Um mich kümmerte er sich nicht mehr. Offenbar hatte ihn der Wohlgeschmack der Beeren davon über­zeugt, daß er es mit keinem üblen Dämon zu tun hatte.

Auf die Idee, mir etwas von den Beeren, die ich gesammelt hatte, abzugeben, kam Feigling nicht. Wenn ich so dumm war, ihm alles zu geben, dann war das mein Fehler, er hatte nichts damit zu tun. Er aß gierig, ohne auf den Saft zu achten, der ihm auf die Klei­dung tropfte.

Obwohl er mich in lebensgefährlicher La­ge im Stich gelassen hatte, war ich ihm selt­samerweise nicht mehr böse. Offenbar konn­te er einfach nicht anders.

Beachte, warnte der Logiksektor. Er ist nicht nur feige – er ist auch hinterhältig!

Nun, wenn einer ein Feigling war – aus welchen Gründen auch immer –, welche Möglichkeiten hatte er dann? Wenn er über­leben wollte, kam er mit Furcht und Ehrlich­keit nicht sehr weit – nur in der Kombinati­on mit einer gehörigen Portion Niedertracht hatte er dann noch eine echte Überleben­schance. So betrachtet, tat Feigling das glei­che wie ich – er kämpfte um sein Leben, nur tat er es auf eine wenig erfreuliche Art und Weise.

Während er die Beeren hinunterschlang, fing ich den ausgebrochenen Spyten wieder ein. Das Tier mußte nun uns beide tragen.

Ich mußte mich beeilen. Niemand wußte, wie lange Pthor auf diesem Planeten bleiben würde – und Pthor war meine einzige Chan­ce, jemals wieder zu meinen Freunden zu­rückzukehren.

Ich wußte, ich hatte Pthor nicht nur zu finden, ich hatte es vor allen Dingen schnell zu finden, sehr schnell sogar.

Wenn nicht, dann lief ich Gefahr, meine

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Tage auf Pthor zu beschließen, in der Ge­sellschaft von Zlits, Brangeln, Spyten – und Feigling.

5.

Als der Morgen graute, hatten wir wieder ein beträchtliches Stück Weges hinter uns gebracht. Die ganze Nacht hindurch hatte uns der Spyte langsam, aber willig getragen. Feigling hatte zwar gezetert, als ich ihm einen Nachtritt aufnötigte, aber er hatte sich darin gefügt – die Alternative für ihn wäre gewesen, allein zurückzubleiben. Und vor einem neuerlichen Zusammentreffen mit den Zlits hatte er offensichtlich noch mehr Angst als vor dem Nachtritt.

Mir brannte die Zeit auf den Nägeln, dar­um gönnte ich weder mir noch Feigling oder dem Spyten eine Pause. Unablässig trieb ich die beiden voran, in die Richtung, in der ich Pthor vermutete. Ich mußte Atlantis erreicht haben, bevor der »Dimensionsfahrstuhl« Loors verließ. Ich mußte – das gab mir Kraft und die Härte, mit der ich unseren Weg hin­ter mich brachte.

Feigling saß auf dem Spyten, der nur noch langsam trottete. Ich ging zu Fuß, auf die Wirkung des Zellaktivators vertrauend.

Du mußt dem Spyten eine Erholungspause gönnen, warnte der Extrasinn. Ein kranker Spyte hilft dir nicht weiter.

Ich wußte auch schon, wo ich Feigling und dem Spyten eine Pause gönnen würde. Einige Kilometer voraus hatte ich das silbri­ge Band eines Flusses entdeckt, der unseren Weg kreuzte. Dort wollte ich anhalten, und das nicht nur aus Rücksicht auf meinen Ge­fährten und das Reittier. An mir klebte der Staub der langen Wanderung, ich gierte nach einem erfrischenden Bad. Meine Klei­dung war verdreckt, und auch Feigling wür­de eine Reinigung gut bekommen.

Der Spyte witterte das Wasser und ver­schärfte das Tempo. Das Tier war durstig und mobilisierte die letzten Kräfte, um das nahe Wasser schnell zu erreichen. Ich trabte neben dem Spyten her, auf dessen Rücken

der erschöpfte Feigling sich nur mit Mühe hielt.

»Streng dich an«, rief ich ihm zu. »Ich lasse dich erbarmungslos zurück, wenn du vom Rücken des Spyten fällst!«

Ich konnte nur hoffen, daß Feigling auf Drohungen reagierte. Es war weder ange­nehm noch einfach, die tiefverwurzelte Furcht dieses Mannes derart auszunutzen, aber dies schien mir das einzige Verfahren zu sein, auf ihn Druck auszuüben.

Feigling hielt sich auf dem Rücken des Spyten, der sein Tempo immer mehr steiger­te. Fast wahnsinnig vor Durst schien der Spyte zu sein. Ich mußte mich anstrengen, um ihn nicht zu verlieren.

Dann endlich konnten wir den Fluß sehen. Silbrig glänzte die Oberfläche. Die Sonne

malte ihre glitzernden Reflexe auf das klare Wasser. Ich leckte mir die Lippen.

Feigling stieß einen gellenden Schrei aus. Schlagartig schien er hellwach zu sein.

Zunächst erkannte ich den Grund für sei­nen Aufschrei nicht, aber dann sah ich, daß der Spyte eingebrochen war. Wild schlug das Tier um sich, aber es brach mit der Hin­terhand immer tiefer in eine Höhlung ein. Ein wütendes Bellen ertönte, kaum zu hören neben dem ohrenbetäubenden Schreien von Feigling.

»Angst«, plärrte er wieder los. »Panik, Gefahr, Tiere, Bestien, Ungeheuer!«

Er war knapp fünfzig Meter voraus und gestikulierte wild herum. Ich wollte auf ihn zu rennen, brach aber nach wenigen Schrit­ten selbst ein.

Bis ans Knie versank mein linkes Bein im Boden. Ich schlug der Länge nach hin.

Wieder ertönte das wütende Bellen, dies­mal ganz in meiner Nähe.

Ich richtete mich vorsichtig auf. Was ich sah, ließ das Schlimmste befürchten.

Aus zahlreichen Öffnungen im Boden ka­men Wesen hervorgeeilt, die mich sofort an irdische Otter erinnerten. Die Tiere hatten einen hellen, fast weißen Pelz und maßen, wenn sie sich auf die Hinterbeine stellten, fast zwei Meter. Man durfte also nicht mit

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ihnen spaßen. Offenbar wohnten sie am Ufer des Flusses.

»Langsam, Freunde!« rief ich ihnen zu. Die Zahl der Otter vergrößerte sich rapi­

de. Es mußten Tausende sein, die in den Höhlen am Flußufer wohnten, und sie alle schienen sich vornehmlich für mich zu inter­essieren – und natürlich für Feigling, der sich auf dem Rücken des Spyten klein ge­macht hatte, diesen Vorteil aber dadurch kompensierte, daß er schrie, als würde er am Spieß gebraten.

Pelzige Hände mit gefährlich aussehenden Krallen griffen nach mir, rissen mich in die Höhe. Ziemlich unsanft wurde mein linkes Bein aus dem Erdloch befreit, und die Püffe und Stöße, mit denen die Otter mich voran­trieben, waren gleichfalls nicht sehr sanft. Feigling brüllte immer noch, als könne er damit die Otter verscheuchen. Die großen Nager halfen auch dem um sich schlagenden Spyten auf die Beine, und selbstverständlich zerrten sie den kreischenden Feigling vom Rücken des Spyten. Es war wirklich erstaun­lich, woher der Mann die Luft zu seinem nervenzerfetzenden Angstgeheul nahm.

»Nicht so hastig«, stieß ich hervor. »Nur nicht drängen, wir kommen schon.«

Ich wartete auf eine Antwort. »Lauf!« bellte irgendein Otter. Ich konnte

die Sprache nur mit Hilfe des Extrahirns verstehen, aber immerhin, eine Verständi­gung war möglich.

Die weißen Otter schleppten uns mit, und jetzt sah ich auch, daß ich mich gründlich getäuscht hatte.

Das, was ich für das Ufer gehalten hatte, war in Wirklichkeit die äußere, bewachsene Seite einer Stadtbefestigung. Die Neigung dieser Mauer aus Lehm, Holz und Blättern ließ vermuten, daß die Otter von der Land­seite her keinerlei Gefahren befürchteten. Um so stärker mußte sie daher unser Auftre­ten in Aufregung versetzen.

Die Löcher, in die wir eingebrochen wa­ren, stellten in Wirklichkeit landwärtige Ausgänge aus den Wehrräumen der Stadt­mauer dar – ohne zu wollen, hatten Feigling

Peter Terrid

und ich offenbar den Ernstfall ausgelöst. Die Stadtmauer umschloß eine Siedlung

von mehreren hundert Häusern, alle aus dem gleichen Material erbaut – Holz, dessen Zwischenräume mit einem Brei aus Blättern und Lehm verputzt waren. Sehr schön wirk­te die Siedlung nicht, eine größere Menge weißer Farbe hätte ihr nicht geschadet. Aber mir war nach dem ersten Blick über die Stadtmauer klargeworden, daß ich diese We­sen mit Respekt zu behandeln hatte.

Die Stadt hatte die Gestalt eines langge­streckten Ovals. Die eine Längsseite wurde von dem Wall gebildet, den wir unwissent­lich beschädigt hatten. Die Schmalseiten und die gegenüberliegende Längsseite hingegen bestanden aus einer sauber ausgeführten Stadtmauer – ich sah Wehrgänge, Türme, Zinnen. Das Bild erinnerte entfernt an Städte aus dem irdischen Mittelalter. Die Stadtmau­er verlief parallel zum Fluß, an den sie grenzte. Dort war die Befestigung auch am stärksten.

»Vorwärts!« bellte der Anführer des Trupps mich an.

Für mich war es nahezu unmöglich, die Otter voneinander zu unterscheiden. Die Wesen hatten alle das gleiche fast weiße Fell. Der Sprecher, der sich vor mir aufbau­te, unterschied sich von seinen Artgenossen lediglich durch einen blutverkrusteten Riß an einem Ohr. Außerdem schien ihm eine Kralle zu fehlen.

»Wer seid ihr?« fragte er mich. Hinter uns trieb der Spyte mit den Ottern

allerhand Unfug. Der Spyte schlug um sich und war nur mit Mühe zu bändigen. Daß sei­ne Tritte eines der Häuser in den Grundfe­sten erschütterten, ließ sich aus dem Krei­schen deutlich heraushören.

»Reisende!« antwortete ich schnell. Der Extrasinn half mir, meine Stimme dem ei­gentümlich bellenden Tonfall der Otter an­zugleichen. »Wir wollten an dieser Stelle den Fluß überqueren.«

»Ihr seid Spione«, erklärte mein Ge­sprächspartner. Wenn ich den Blick richtig deutete, den er auf den Spyten warf, schien

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33 Der Feigling von Loors

ich allerdings weniger in eine Spionagege­schichte als vielmehr in einen ausgesproche­nen Horrorroman geraten zu sein. Die Otter wußten offenbar nicht, was sie mit uns an­fangen sollten, und vor dem Spyten hatten sie einen höllischen Respekt. Das lag ver­mutlich daran, daß der Spyte inzwischen das erste Haus in eine Ruine verwandelt hatte. Die Otter versuchten, ihn mit Stricken zu bändigen, aber der Spyte wehrte sich ener­gisch gegen diese Versuche. Zum Glück wa­ren die Bewohner der Stadt zäh und gelen­kig. Sie flogen zwar wie Geschosse durch die Luft, wenn der Spyte sie traf, erlitten aber offenkundig keine schwerwiegenden Verletzungen.

»Laßt uns frei«, bat ich. »Dann setzen wir über den Fluß und verschwinden aus eurem Land.«

Im Augenblick war mir allerdings wenig nach Verschwinden zumute. Über der gan­zen Stadt lag ein Geruch nach gebratenem Fisch, der mir das Wasser im Mund zusam­menlaufen ließ. Einzig Feigling schien an ei­ner raschen Flucht interessiert zu sein.

»Du lügst«, behauptete mein Gesprächs­partner. »Ihr wollt unseren Schatz rauben, deswegen seid ihr gekommen.«

»Wir wissen nichts von einem Schatz«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Nicht das ge­ringste.«

»Jeder weiß von dem Schatz«, bekam ich kategorisch zur Antwort.

Der Dialog versprach ausgesprochen ab­surd und sinnlos zu werden, als ein Schreckensruf hörbar wurde.

»Die Flußleute kommen!« Ich wußte nicht, wer diese Flußleute wa­

ren, aber die Stadtbewohner schienen ziem­lichen Respekt vor ihnen zu haben.

Sie stoben blitzartig auseinander und ver­schwanden in den Häusern. Der Rest ballte sich zu kleinen Haufen zusammen. Offenbar wurden Widerstandsgruppen gebildet. Um Feigling und mich kümmerte man sich nicht mehr. Ich war den Ottern deswegen keines­wegs böse.

Feigling begriff, daß es ihm nicht mehr

ans Fell ging, und er handelte danach. Mit einem Satz war er im Häusergewirr ver­schwunden. Derweilen hatte der Spyte ein weiteres Haus in Trümmer gelegt. Da sich nun aber niemand mehr um ihn kümmerte, wurde das Tier ruhiger, blieb stehen und be­gann damit, das aus den Häuserwänden her­vorstehende Blattwerk zu fressen.

Ich überließ Feigling seiner Angst und den Spyten seinem Appetit. Ich wollte wis­sen, aus welchem Grund die Otter plötzlich zu den Stadttoren eilten.

Offenbar kam diese Aktion ohnehin zu spät. In ihrem Eifer, ihre Gefangenen in die Stadt zu schleppen, hatten die weißen Otter offenbar die Sicherung ihrer Stadtbefesti­gung sträflich vernachlässigt.

Auf den Wällen tauchten andere Gestalten auf. Es waren ebenfalls otterähnliche Krea­turen, allerdings erheblich kleiner. Zu unter­scheiden waren sie vor allem durch ihr fast schwarzes Fell.

Obwohl die Schwarzotter ihren weißen Gegnern körperlich unterlegen zu sein schie­nen, waren sie es, die die Stadt energisch an­griffen, und das nicht ohne Erfolg. Die Wei­ßen mußten das Haupttor im Stich lassen, durch das die Schwarzotter scharenweise in die Stadt drängten. Mir fiel auf, daß die Schwarzen durchweg ein nasses Fell hatten – wahrscheinlich hausten sie im Fluß, das hätte sowohl die Stadtbefestigung erklärt als auch den Angstruf der Weißen.

Die Stadtbewohner dachten allerdings nicht daran, ihre Behausungen kampflos zu verlassen. Sie wehrten sich hartnäckig, ob­gleich sie ihren Gegnern an Wendigkeit un­terlegen waren. Die Flußotter schienen auch entschieden aggressiver in ihrer Art zu sein. Sie waren es, die immer wieder zum Angriff übergingen und den Weißen buchstäblich an den Hals sprangen.

»Hilfe!« kreischte eine Stimme, die ich nur zu gut kannte.

Feigling tauchte aus einer Seitenstraße auf, verfolgt von zwei Weißottern, vor de­nen er Reißaus nahm.

»Hilfe«, schrie er noch einmal. »Zu Hil­

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fe!« Dann waren Jäger und Gejagter wieder in

einer anderen Gasse verschwunden. Einen Augenblick später machte sich auch der Spyte los und galoppierte auf eigene Faust durch die Stadt. Holz krachte und splitterte, als er sehr knapp in eine Straße einbog und dabei einen Hauswinkel zerstörte. Ein halbes Dutzend Weißotterkinder purzelte auf die Straße, quiekte empört und huschte in die Sicherheit eines Hauses zurück.

Vor mir auf dem freien Platz in der Mitte der Stadt entspann sich ein wilder Kampf. Die Schwarzotter waren in der Überzahl und griffen immer wieder an. Rufe, Schreie und Schmerzenslaute gellten über den Platz. Haare flogen, die Otter kollerten in ihrem Kampfeseifer über- und durcheinander, daß man die Fronten kaum mehr auseinanderhal­ten konnte. Von einem Dach purzelte ein ge­flecktes Knäuel, das sich im Fallen öffnete und vier schwarze und drei weiße Otter frei­gab, die einträchtig ihren Flug durch die Luft absolvierten, geschickt und unverletzt auf dem Boden landeten – und im nächsten Augenblick wieder übereinander herfielen und als weißgraues Bündel über die Straße kollerten.

Zu meiner Erleichterung stellte sich nach kurzer Zeit bereits heraus, daß die Otter zwar leidenschaftlich und erbittert kämpften, aber glücklicherweise Blutvergießen verab­scheuten. Ich konnte jedenfalls nirgendwo Waffen sehen, weder bei den Angreifern noch bei den Verteidigern.

»Erbarmen!« kreischte jemand. »Gnade, Vergebung, Milde!«

Nunmehr von einem halben Dutzend Schwarzottern gehetzt, jagte Feigling an mir vorüber und war, ehe ich ihm beispringen konnte, wieder in einer Gasse verschwun­den.

Markerschütterndes Knirschen und Kra­chen bewies mir, daß auch der Spyte noch lebte.

Unterdessen griffen auch die Otter in den Häusern in den Kampf ein. Wurfgeschosse flogen durch die Luft, und da ich als Spion –

Peter Terrid

in wessen Diensten eigentlich? – galt, ziel­ten die Werfer vornehmlich auf mich. Zu meiner Erleichterung handelte es sich nicht um Steine, Messer oder dergleichen, son­dern teils um Fischabfall, der zwar erbärm­lich stank, aber dafür keine tödlichen Wun­den schlug. Etwas erstaunt war ich, als ich unter den Wurfgeschossen auch Stücke Bratfisch entdeckte. Einem ehemaligen Ad­miral der Arkonflotte, ehemaligen Kristall­prinzen, Lordadmiral der USO et cetera durfte es nicht schwerfallen, aus dem Regen von Geschossen die nahrhaften Stücke her­auszuangeln. Ich bekam auch tatsächlich sehr bald ein Stück zu fangen.

Danach lehnte ich mich gegen die nächst­beste Hauswand und begann zu essen. Mein nagender Hunger ließ die Balgerei der Otter sehr nebensächlich werden.

Im Gegenteil, mir begann die Sache fast schon Spaß zu machen.

Während ich aß, galoppierte der Spyte an mir vorbei, auf dem Rücken ein Weißotter, der verzweifelt schrie und in die Luft schlug, dahinter ein keuchender Feigling, der einen leicht zerrupften Eindruck machte, und ihm auf den Fersen eine immer größer werdende Schar von Otterkindern, schwarz und weiß gemischt, die der ganzen Sache offenbar un­getrübtes Vergnügen abgewinnen konnten.

Ich ließ mich von der wilden Meute nicht stören. Der Fisch schmeckte vorzüglich, besseren hatte ich selten gegessen.

Währenddessen trat die Schlacht auf dem großen Platz in ihr entscheidendes Stadium.

Ich sah jenen Weißen auftauchen, der mich zu verhören versucht hatte. Er sah jetzt noch ein wenig ramponierter aus. Er hatte sich mit einer kleinen Truppe besonders kräftig aussehender Weißotter um ein Haus geschart, das ganz offenkundig das vor­dringliche Ziel der Angreifer darstellte.

Das Haus war mit Blumen geschmückt, als sei es für einen hohen Gast vorbereitet worden – vermutlich aber keinen Flußotter, denn jeder Schwarzpelz, der sich in die Nä­he wagte, wurde energisch zurückgeprügelt.

Das Haus hatte sogar einen Balkon, stellte

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35 Der Feigling von Loors

ich fest, während ich mir den Fisch schmecken ließ. Auf diesem Balkon war ein Otter aufgetaucht, der sich erheblich von seinen Artgenossen unterschied. Das Fell glänzte metallisch silbern, ein prachtvoller Farbton. Ein Glück, daß es auf diesem Pla­neten keine Kürschner gab.

Wenig später entdeckte ich in der Menge der Angreifer ein weiteres Fell mit dieser Zeichnung.

Der – oder die – Silberne schlich sich seit­wärts an das Haus heran. Während die Rau­ferei auf dem Platz vor dem Haus munter weiterging und immer unübersichtlicher wurde, hatte eine kleine Abteilung der Schwarzotter offenbar eine Art Stoßtruppun­ternehmen im Sinn.

Das Kommando kam schnell vorwärts und mußte nur einmal eine kurze Pause ein­legen, als eine Gruppe Weißotter, von Feig­ling verfolgt, die Straße überquerte. Feigling allerdings wurde seinerseits von dem Spyten gehetzt, der ein Rudel Flußotter hinter sich herzog.

Ich leckte mir die Finger ab. Nun, da ich satt und zufrieden war, stellte

sich die Frage, ob ich in diesen Streitfall ein­greifen sollte.

Der Stoßtrupp hatte unterdessen das Haus erreicht und stand unter dem Balkon. Der oder die – ich neigte mehr zu dieser zweiten Vermutung – gestikulierte wild, während die Angreifer versuchten, ein Seil zu dem Bal­kon hinaufzuwerfen.

»Heda!« rief ich laut, aber niemand rea­gierte.

Halte dich zurück, du Narr! schimpfte der Extrasinn.

Das Seil hatte endlich den Balkon er­reicht. Die Silberne band es geschickt am Geländer fest und begann dann daran herun­terzuklettern.

»Deine Tochter wird gerade entführt!« rief ich dem Anführer der Weißen zu.

Der Chef des kleinen Trupps, der das Haus bewachte, erstarrte förmlich. Der Lei­ter des Stoßtrupps erstarrte ebenfalls. Ich kannte mich in der Mimik von Ottern nicht

aus, aber ich hätte gewettet, daß der Blick, den er mir zuwarf, tödlich gemeint war.

Die beiden Anführer prallten aufeinander, gerade als die beiden Silbernen sich in die Arme fielen.

Binnen einer Sekunde hatten sich die bei­den ineinander verkrallt und rollten über den Boden. Im Hintergrund erstarrten nun die beiden Silbernen. Der Balkonotter verab­reichte dem anderen eine Ohrfeige, die so heftig ausfiel, daß ich unwillkürlich selbst zusammenzuckte. Wieder verging knapp ei­ne Sekunde, dann rollten auch die beiden Silbernen über die Straße.

Jetzt wurde mir die Angelegenheit zu al­bern, zumal jetzt eine Gruppe über die Stra­ße galoppierte, in der Feigling das Schluß­licht und der Spyte die Spitze bildete, mit ei­nem Haufen bellender und keifender Otter jeglicher Schattierung dazwischen.

Ich machte einige Schritte, dann packte ich zu.

Ein empörtes Quieken antwortete mir. Ich hatte genau zum richtigen Zeitpunkt zuge­griffen. In jeder Hand hielt ich einen schlan­ken Otterhals.

»Ich liebe dich!« kreischte der eine Silbe­rotter.

»Ich dich auch!« fauchte der andere zu­rück.

Die beiden Elitetrupps waren gerade da­bei gewesen, dem Beispiel ihrer Anführer zu folgen. Als sie aber sahen, daß ich die bei­den Silbernen im Griff hatte, sahen sie von der Balgerei ab.

Auch auf dem großen Platz sahen immer mehr Kämpfer, daß die Silbernen in meiner Gewalt waren. Der Kampf ebbte ab und hör­te schließlich ganz auf, wenn man von ei­nem fauchenden, beißenden, kratzenden Knäuel absah, das über den Boden kollerte.

»Was geht hier eigentlich vor?« fragte ich streng, obwohl ich alle Mühe hatte, nicht in Lachen auszubrechen.

»Ich heiße Torpha«, sagte der eine Silber-ne.

»Ich heiße Ephor«, sagte der zweite Silbe­rotter. »Wir sind das Königspaar.«

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36

Ich glaubte mich verhört zu haben, aber die beiden bestätigten, daß sie verheiratet wären.

»Trennt endlich die beiden Streithähne«, forderte ich die Bevölkerung auf. Auf dem Platz versammelte sich langsam die gesamte Einwohnerschaft. Nach kurzer Zeit waren dann auch die letzten Kämpfer voneinander getrennt.

*

»Zuuuuugleich!« Die Drocks legten sich in die Seile, und

tatsächlich, das Ding bewegte sich ein Stückchen vorwärts.

Drocks, so nannten sich die Otter – übri­gens ohne Unterscheidung der Farbe, und das Ding, das war der Schatz, um den der Kampf tobte.

Dies alles hatte ich in Erfahrung bringen können, nachdem die Schlacht um die Schlammstadt endlich beendet worden war. Blut war nur wenig geflossen, denn im Grunde wollten die liebenswerten Drocks ei­gentlich nur ein wenig balgen.

»Zuuugleich!« Der da die anfeuernden Rufe ausstieß,

war Feigling, der nach zwei Tagen endlich begriffen hatte, daß die Otter trotz ihrer spit­zen Zähne lieber Fisch verzehrten, als ihre Zähne in seinen mageren Körper zu schla­gen. Jetzt hatte der Bursche natürlich Ober­wasser.

Er hatte mir natürlich auch nicht geholfen, als ich nach dem Schatz getaucht war – mit dem Einverständnis beider Bevölkerungs­gruppen.

Ich hätte unter Wasser am liebsten einen Luftsprung gemacht, als ich erkannt hatte, worum es sich bei diesem Schatz wirklich handelte.

Der Schatz hatte sich als Beibootgleiter entpuppt, als Spercoidengleiter, der vor vie­len Jahren in den Fluß gestürzt sein mußte. Das Beiboot sah äußerlich völlig unversehrt aus.

Nach dieser Erkundungsübung – bei der

Peter Terrid

es Feigling vorgezogen hatte, an Land zu bleiben – hatte ich den Drocks erklärt, ich wollte das Problem des Schatzes ein für alle Male lösen, wenn ich mir dafür einen freien Wunsch aussuchen könnte. Damit waren die Drocks einverstanden gewesen.

Sie würden vermutlich böse werden, wenn ich ihnen erklärte, daß ich zur Beloh­nung für die Lösung des Schatzproblems den gesamten Schatz für mich beanspruchte, aber damit wollte ich mich nicht aufhalten. Es war ohnehin, so hatte ich mir gesagt, die für alle Beteiligten beste Lösung.

»Zuuugleich!« Ich leckte mir nervös die Lippen. Der Bug

des Gleiters tauchte aus dem Wasser auf. Das Fahrzeug hatte lange Zeit im Fluß ge­

legen und war über und über mit Grünzeug behangen. Ob das Wasser auch den Appara­turen des Gleiters zugesetzt hatte, mußte sich erst noch zeigen.

Wieder brüllte Feigling. Ich hatte mir überlegt, ob ich ihn nicht bei

den Drocks zurücklassen sollte, aber dort wäre er früher oder später unangenehm auf­gefallen. Die Drocks waren so zufrieden da­mit, daß endlich ein Versuch unternommen wurde, den lästigen Streitfall aus der Welt zu schaffen, daß ihre Bewunderung für mich hart an religiöse Verehrung grenzte.

Vor allem Torpha und Ephor, das Königs­pärchen, wußten sich vor Freude kaum zu halten. Sie hatten eine riesenhafte Muschel am Ufer bezogen, und dort saßen sie den ganzen Tag lang und versicherten sich ihrer gegenseitigen Zuneigung. Es war ein Dia­log, wie man ihn sich alberner nicht mehr vorstellen konnte – aber ungeheuer wir­kungsvoll.

In dieser Idylle hätte Feigling nur gestört. Ehrlich gesagt, ich hätte mir kaum einen Fleck ausdenken können, an dem dieser hin­terhältige Angsthase nicht gestört hätte.

»Weißt du, was das ist?« fragte mich der alte Cinerea. Inzwischen verstand ich die Otter ziemlich gut.

»Ich glaube schon«, antwortete ich zö­gernd.

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37 Der Feigling von Loors

Mit einem letzten Ruck beförderten die Drocks den Gleiter ans Ufer. Langsam ging ich auf das Fahrzeug zu. Wenn der Gleiter noch funktionstüchtig war, war ich meinem Ziel Pthor ein beträchtliches Stück näher ge­kommen. Mit dem Spercoidengleiter war die Fahrt nach Atlantis ein Kinderspiel – vor­ausgesetzt, der Gleiter lief noch.

Ich ging einmal vorsichtig um das Fahr­zeug herum. Es sah wirklich recht befremd­lich aus. Auf dem Sitz des Piloten lag ein großer Fisch und schnappte nach Wasser. Wasser strömte in Sturzbächen aus dem In­nern. Es war erstaunlich, worauf Pflanzen einen Halt fanden – auf dem Gleiter hatten sie kaum ein Fleckchen frei gelassen.

Was mochte aus der Besatzung des Glei­ters geworden sein, fragte ich mich, dann nahm ich auf dem Beifahrersitz Platz. Ich untersuchte die Apparaturen, den Pilotensitz. Den Fisch beförderte ich in sein Element zu­rück, dann nahm ich seinen Platz ein.

Ich versuchte, das Fahrzeug zu starten. Winselnd kam ein Aggregat auf Touren.

Die Drocks, die sich zu Tausenden versam­melt hatten, um dem Wunder zuzusehen, wi­chen einige Schritte zurück. So hatten sie sich ihren Schatz wohl nicht vorgestellt.

Irgend etwas im Innern des Gefährts er­wachte zum Leben – zu einem Leben, das mit Rattern, Prasseln und heftiger Qualment­wicklung verbunden war.

Man mußte kein Techniker sein, um zu wissen, daß solche Lebenszeichen bei Glei­teraggregaten alles andere als üblich waren. Mir begann zu dämmern, daß mit diesem Spercoidengleiter nicht mehr viel Staat zu machen war.

Irgend etwas knallte laut. Die Drocks sto­ben angsterfüllt auseinander.

Eines stand jetzt für mich fest: Wenn ich den Gleiter behalten wollte, würden die Drocks wahrscheinlich nichts dagegen ha­ben. Die Sache war ihnen alles andere als geheuer.

Kreischend und heulend kam der Gleiter in Fahrt. Er hob sich vom Boden ab, beglei­tet von einer Rauchwolke, die mir sofort die

Sicht nahm. Zusätzlich verbreitete sich ein Geruch nach schmorenden Kabeln und Iso­lationen, der das Schlimmste befürchten ließ.

Noch einmal krachte und donnerte es, dann fiel der Gleiter das kurze Stück, das er sich vom Boden erhoben hatte, zurück, und dabei gab es nach den Geräuschen allerlei Bruch.

Sinnlos! kommentierte der Extrasinn. Der Gleiter lag viel zu lange im Wasser!

Unter diesen Umständen gab es für mich nur eines zu tun – so schnell wie möglich heraus aus diesem Wrack.

Ich stieg aus, naß, von Grünzeug behan­gen. Als ich aus der Rauchwolke wieder ans Tageslicht kam, nahmen die Drocks Reiß­aus. Nur die beiden Anführer wagten sich noch in meine Nähe.

Im Wasserspiegel des Flusses konnte ich sehen, daß mich die Rauchwolke gründlich geschwärzt hatte. Ich wusch mich leidlich.

»Hat der Gott zu dir gesprochen?« fragte Cinerea respektvoll.

Offenbar hielten die Drocks die befremd­lichen Geräusche des Gleiters für die Stim­me eines Gottes. Warum diesen Glauben nicht ausnutzen?

»Der Gott des Donners und des Qualmes sprach mit mir«, eröffnete ich den Drocks.

Die Menge kam langsam wieder näher, und hinter einem Gebüsch kam wenig später auch Feigling hervorgekrochen.

»Ihr sollt Frieden halten untereinander, auf daß euer Leben ein Wohlgefallen ist den Göttern«, sagte ich pathetisch. »Der Gott will es so.«

Die Drocks waren sichtlich eingeschüch­tert.

Ich zögerte einen Augenblick lang. Hatte ich das Recht, bei diesen harmlosen,

sympathischen Wesen einen Kult einzurich­ten, der jeder Vernunft hohnsprach? Durfte ich Götter einsetzen, Verbote und Gebote im Namen dieses Gottes verkünden und so einen tiefgreifenden Einfluß auf die Drocks und ihre Zukunft ausüben?

Zu spät! kommentierte der Logiksektor

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38

diese Bedenken. »Der Gott will«, fuhr ich pathetisch fort,

»daß ihr in Eintracht lebt miteinander.« Unausgesprochen stellte ich dem Extra­

hirn die klare Frage, ob es möglich sein wür­de, den Gleiter wieder betriebsbereit zu ma­chen.

Die Antwort kam ebenso klar und kurz: Nein! In diesem Fall konnte ich getrost auf den

defekten Gleiter verzichten. Um so besser für die Drocks, dachte ich – dann blieb ih­nen wenigstens etwas als Erinnerung an die­se Tage. Das Wrack des Spercoidengleiters konnte zum Symbol des Zusammenhalts der Otter werden.

Wenn es mir gelang, dieses Ziel zu errei­chen, dann waren auch die Mittel legitim, die ich anwenden mußte.

Ich kramte in meinem Gedächtnis, und ich fand auch ziemlich bald eine berühmte Rede, deren Wortlaut wie geschaffen war für diesen Anlaß. Man mußte den Text nur ein wenig den Umständen anpassen.

Ich stellte mich in Positur und begann zu sprechen.

6.

Ich war am Ziel. Nicht ganz, mußte ich mir eingestehen,

aber doch beinahe. Das Gebiet, auf das ich herabsehen konn­

te, war mir bekannt. Es war die Ebene Jell-Cahrmere.

Das Gebiet war nicht zu verkennen, ein Irrtum war ausgeschlossen. Da war zum einen das Riesenheer zusammengeschmol­zener Roboter, das die Fläche bedeckte, ei­nem Meer aus Stahl gleich.

Überzeugender als dies aber war das, was sich dem Blick auf der anderen Seite der Ebene bot.

Das Gebilde, das sich dort in den Himmel türmte wie ein Gebirgszug, war in seiner Art einmalig.

Pthor! Atlantis!

Peter Terrid

Der Dimensionsfahrstuhl hatte Loors noch nicht verlassen. Ich hatte also noch Zeit, nach Pthor zurückzukehren.

Als ich Pthor sah, entfuhr mir unwillkür­lich ein Seufzer der Erleichterung. Der Ge­danke, auf Loors für alle Zeit zurückbleiben zu müssen, hatte mich zwar nicht unablässig beschäftigt, aber er hatte mich doch sehr be­drückt, wann immer ich mich mit diesem Problem beschäftigt hatte. Auch die Tatsa­che, daß ich einen Zellaktivator besaß, konn­te diese Aussicht nicht verlockend gestalten – zehn Jahrtausende auf der Erde hatten meinen Bedarf an persönlicher Entwick­lungshilfe für eingeborene Barbaren mehr als gedeckt. Ich hatte keinerlei Lust, diesen Weg noch einmal zu gehen – obendrein oh­ne die Zuflucht der Schlafkuppel bei den Azoren.

»Kennst du diese Landschaft?« fragte ich Feigling.

Er schüttelte den Kopf. Feigling saß vor mir auf dem Spyten, der

uns bis an den Rand der Ebene getragen hat­te. Dem Tier war die Rast bei den Drocks sehr gut bekommen. Auch Feigling und mir hatte die Pause gutgetan.

»Unheil«, murmelte Feigling. »Ich wittere Gefahr.«

Allmählich bekamen seine Äußerungen etwas mehr Umfang und Inhalt. Offenbar hatte Feigling Vertrauen zu mir gefaßt – so­weit er zu einer solchen Denk- und Hand­lungsweise überhaupt fähig war. An der Tat­sache, daß das Husten einer Grille seinen Adrenalinspiegel in astronomische Höhen schnellen ließ, hatte sich indes nicht das ge­ringste geändert. Er war und blieb ein Feig­ling – ein Superfeigling. Auf seine Art war er einmalig.

Feigling leckte sich nervös die Lippen. Er kam mir vor wie einer, der in seinen

Erinnerungen kramt und die passenden Stücke nicht zu finden vermag. Es sah so aus, als kenne er die Ebene doch, sei sich aber nicht sicher. Vielleicht handelte es sich auch einfach um ein Déjà-vu-Erlebnis, also jene höchst eigentümliche Empfindung, als

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39 Der Feigling von Loors

habe man das, was sich dem Blick darbietet, schon einmal gesehen – obwohl die konkrete Erinnerung dem völlig widerspricht.

Ich schnalzte mit der Zunge und trieb den Spyten vorwärts. Wir mußten zunächst in die Ebene hinabsteigen, um sie durchqueren zu können. Daß dieser Weg mühevoll und beschwerlich sein würde, lag auf der Hand. Andererseits wäre der Marsch rund um die Ebene nicht wesentlich bequemer gewesen, Zeit hätte er dagegen sehr viel mehr bean­sprucht.

»Nun, kannst du dich daran erinnern?« fragte ich Feigling und deutete auf die Ebe­ne. »Hast du dies alles noch nie gesehen?«

Hilflos zuckte Feigling mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, sagte er. In seiner Stim­

me waren Unsicherheit und Besorgnis zu hören – für Feigling allerdings ein normaler Unterton und daher nur mit Vorsicht zu be­werten.

Der Spyte trabte langsam den Abhang hinunter.

Von seinem Rücken aus waren die Ver­wüstungen sehr gut zu sehen, die Pthor bei seiner Landung auf Loors hervorgerufen hatte. Die Ebene Jell-Cahrmere war ein ein­ziger Robotfriedhof. Ich schätzte, daß min­destens zweihunderttausend Maschinen auf der Ebene lagen, zerfetzt, zerstört, ge­schmolzen, zusammengebacken.

Ich hütete mich allerdings, daraus den Schluß zu ziehen, die Ebene sei leicht zu durchqueren.

Nicht nur, daß wir uns durch einen gigan­tischen Schrottplatz zu wühlen hatten – eini­ge der Maschinen waren mit Sicherheit noch in der Lage, ihre Gliedmaßen zu bewegen, zu sehen, zu hören und zu reagieren – letzte­res vermutlich nach einem Programm, das bei der Landung Pthors ziemlich durchein­andergeraten war.

Ich überlegte kurz, ob ich versuchen soll­te, aus einer der nicht zur Gänze zerstörten Kampfmaschinen die Waffe auszubauen, aber dann fiel mir ein, daß ich auf dieses Hilfsmittel ohnehin von dem Zeitpunkt an verzichten mußte, an dem ich durch den

Wölbmantel schritt. Mein Blick fiel auf Feigling. Würde er den Wölbmantel passieren kön­

nen? Er sprach Pthora, wenn auch mit einem merkwürdigen Akzent. Stammte er von Pthor? Wenn ja, dann konnte er den Wölb­mantel passieren. Dann aber stellte sich so­fort die Frage, wo man diesen Mann einzu­ordnen hatte.

Ich wurde aus meinem Begleiter einfach nicht schlau, er vereinigte in sich zuviele Ei­genschaften und Charakterzüge, die ich nicht auf einen Nenner zu bringen vermoch­te.

Seine geradezu atemberaubende Feigheit war offenkundig, desgleichen die unerfreuli­che Tatsache, daß er ein Lump allererster Güte war, in der Lage, einem Kleinkind das letzte Stück Brot wegzunehmen – vorausge­setzt natürlich, der Säugling sah ihn nicht drohend an.

Das war Feigling in voller Lebensgröße, unverkennbar in seiner Art.

Und da war noch eine Person, deren Na­men ich nicht kannte. Diese Person war an­ders als der äußere Schein. Dieser rätselhafte Kern gab dem Burschen ein Gewicht, das ihm normalerweise gar nicht zukam. Es war, mir wollte kein anderer Vergleich einfallen, als gebe es in diesem Wesen einen Kern, der nicht zu erkennen war unter einer dicken Schale aus Feigheit und Niedertracht.

Müßige Spekulation, gab der Extrasinn durch.

*

»Können wir eine Pause machen?« Feiglings Stimme klang erschöpft und

ausgelaugt. Er übertrieb ziemlich stark, grundsätzlich aber hatte er recht.

Es dämmerte, und wir waren ein gehöri­ges Stück weitergekommen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir Pthor erreichten.

Wir steckten mitten in dem Meer zerstör­ter Roboter. Es war ein bizarrer Wald aus Stahl, Plastik, Drähten und Glas. Arme rag­ten wie Korkenzieher in den Himmel, aus

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zerstörten Augenhöhlen baumelten Sehzel­len an bunten Kabeln. Die Rümpfe sahen zum Teil aus, als hätten Riesen damit Fuß­ball gespielt.

Ich ließ den Spyten anhalten und band ihn am nächstbesten Schrotthaufen fest.

Feigling sah sich ängstlich um. Ich konnte ihn gut verstehen. Der Platz, den wir für unsere Rast ausge­

sucht hatten, war alles andere als anhei­melnd. Es handelte sich zwar nur um einen Roboterfriedhof, aber das machte das Bild um nichts weniger gespenstisch. Das Licht der untergehenden Sonne malte rötliche Re­flexe auf die stählerne Wüstenei; das Licht zuckte über Stahl und Glas, und wenn der Wind ein lose hängendes Metallstück be­wegte, dann schienen feurige Pfeile über die Ebene zu schießen.

Es war still, nur ab und zu hörte man ein leises Scheppern und Kollern, wenn Metall gegen Metall stieß. Dazwischen mischte sich gelegentlich ein unheilverkündendes Brum­men, das mir verriet, daß längst nicht alle Maschinen ihr positronisches Leben ausge­haucht hatten. Irgendwo in dieser gewaltigen Masse floß noch Energie durch Leiter und Aggregate. Wir mußten auf der Hut sein.

»Angst!« murmelte Feigling. Er drängte sich näher an den Spyten. »Es gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht«, gab ich zu. »Aber möchtest du lieber im Gebirge übernachten? Dort gibt es viele wilde Tiere, reißende Be­stien vielleicht.«

Feigling machte eine ratlose Geste. »Was ist das hier?« fragte er.

»Roboter«, antwortete ich ihm. Was hätte ich ihm erklären sollen?

Feigling schien sich mit dieser Auskunft zufriedenzugeben – vorerst.

»Böse?« fragte er nach einer kurzen Pause und deutete auf die Roboterwracks.

»Tot«, sagte ich, um ihn zu beruhigen. Er wiegte zweifelnd den Kopf. Ich ging zu dem Spyten hinüber und öffnete die Sattelta­schen. Die Drocks hatten uns beim Abschied reichlich mit Lebensmitteln versorgt, vor-

Peter Terrid

nehmlich mit Räucherfisch, dem Feigling al­lerdings wenig abgewinnen konnte. Den­noch aß er mit großem Appetit. Ihm schien jede Nahrung recht zu sein, solange er sie nicht selbst jagen und dabei seine Haut aufs Spiel setzen mußte.

Ich setzte mich auf den Boden, lehnte mich gegen ein Roboterwrack und aß genuß­voll. Die alles andere als normale Umge­bung übersah ich geflissentlich. Irgendwo, weit von uns entfernt, zuckte ein Strahl­schuß in den sich verfinsternden Himmel. Feigling konnte nichts davon sehen, und ich hütete mich, ihm davon zu erzählen.

Ich beobachtete meinen Begleiter, wäh­rend er aß. Auf geheimnisvolle Weise ka­men mir seine Bewegungen bekannt vor. Sie erinnerten mich an die Odinssöhne.

Unfug! sagte ich mir selbst. Der Extrasinn schwieg.

Eine Parallele zwischen Sigurd, Heimdall und Balduur zu ziehen, sie mit meinem Be­gleiter zu vergleichen … absurd. Es konnte genaugenommen kaum einen stärkeren Ge­gensatz geben als diesen. Mein Begleiter war der größte Feigling, den ich jemals er­lebt hatte – die Ähnlichkeit mit den Odins­söhnen konnte nur äußerlich sein.

Natürlich wußte ich, daß ein heldenhafter Vater nicht unbedingt heldenhafte Söhne ha­ben mußte, daß es zwischen Brüdern sehr große Gegensätze geben konnte – Charak­tereigenschaften wurden schließlich nicht vererbt.

Wohl aber angeboren. In irgendeiner Form mußten sich die Bemühungen der El­tern, ihr Kind zu prägen, auswirken – entwe­der wurde das Kind nach dem Wunsch der Eltern geformt, oder es suchte seine Identität darin, das genaue Gegenteil von dem zu werden, was die bemühten Eltern erreichen wollten. Dieser zweite Fall kam ziemlich häufig vor – oft war es für einen Heran­wachsenden die einzige Möglichkeit, über­haupt eine Art von Selbständigkeit zu be­weisen. Lieber ein unabhängiger, eigenstän­diger Flegel als ein marionettenhafter Mu­sterknabe hieß in diesem Fall die – natürlich

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unbewußte – Parole. War Feigling vielleicht einen ähnlichen

Weg gegangen? Hatte er in dem Geschwi­stergespann die einzige Möglichkeit, eine ei­genständige Persönlichkeit zu werden, darin gesehen, ins genaue Gegenteil zu verfallen?

Denkbar, aber nicht ohne weiteres zu be­weisen, kommentierte der Logiksektor.

Ich beschloß einen Versuch zu wagen, be­vor das Sonnenlicht ganz verschwand und ich die Gesichtszüge meines Gegenübers nicht mehr erkennen konnte.

»Wie heißt du eigentlich?« fragte ich Feigling. Ich hatte die Frage schon oft ge­stellt und niemals eine brauchbare Antwort bekommen. Feigling sah nicht einmal auf.

Ich wiederholte die Frage – mit dem glei­chen Ergebnis.

»Hast du Brüder, Feigling?« bohrte ich. »Sagen dir diese Namen etwas: Sigurd, Heimdall, Balduur …«

Feigling ließ das Stück Fleisch fallen. Sein Gesicht war fahl geworden.

»Aaaahhhh!« Feigling schrie. Er schrie, wie ich ihn noch nie hatte

schreien hören. Nacktes Entsetzen gellte aus diesem Schrei. Er barg in sich das äußerste Maß an Angst, das ein Mensch ausdrücken konnte.

Feigling kippte vornüber. Seine Hände fuhren durch die Luft, wäh­

rend er schrie. Seine Beine traten, während er schrie. Seine Lippen zuckten, während er schrie, und der Schrei nahm kein Ende. Feiglings Augen rollten, drohten aus den Höhlen zu treten. Und er schrie und schrie.

Es waren keine Worte, die er von sich gab, es war ein elementares Angstgebrüll, das keiner Interpretation bedurfte.

Es war, als hätte meine Frage den Mann bis ins Mark erschüttert, die Wurzel seiner Angst freigelegt.

Feigling wand sich auf dem Boden. Er war nicht in der Lage, seinen Körper zu kon­trollieren.

Ich stand auf, eilte zu ihm hinüber. »Hör auf!« schrie ich ihn an. »Hör auf,

niemand bedroht dich. Es ist alles gut.« Er hörte nicht auf mich. Das markerschüt­

ternde Schreien nahm kein Ende. Er war rot im Gesicht, die Anstrengung des Schreiens trieb ihm das Blut in den Kopf.

Ich biß die Zähne zusammen und gab ihm eine Ohrfeige. Eine, zwei, drei – das Schrei­en nahm kein Ende, das Zucken und Winden hörte nicht auf. Der Anfall ging weiter.

Immer heftiger schlug und trat Feigling um sich, immer krampfhafter wurden seine Bewegungen.

Er wurde erst wieder ruhiger, als sich aus seinem mageren Körper kein Fünkchen Energie mehr herauspressen ließ.

»Nein«, wimmerte er erstickt. »Nein!« »Was ist mit dir?« fragte ich. Er trat jetzt

nicht mehr nach mir, er zitterte nur noch schwach am ganzen Körper. Sein Gesicht war wieder gespenstisch fahl, fast blutleer geworden.

»Nicht«, winselte Feigling. »Nicht. Kein Zusammentreffen, nicht. Kein Wiedersehen. Ich will nicht.«

Ich mußte die einzelnen Worte förmlich rekonstruieren. Feiglings Stimme war kaum zu verstehen.

Kein Wiedersehen? Kannte er also die Odinssöhne?

Alles in mir brannte danach, die Befra­gung fortzusetzen, aber der Anblick, den Feigling in den letzten Minuten geboten hat­te, war mir in die Glieder gefahren. Ich woll­te ihm die Befragung nicht zumuten, sie kam unter diesen Umständen einer Folter gleich.

»Beruhige dich«, sagte ich so sanft wie möglich. Ich stand auf, ging zum Spyten hinüber und holte die Feldflasche.

»Hier, trink!« Ich hielt Feigling die Flasche an die Lip­

pen. Er trank, mit zuckenden Lippen und flackernden Augen, in denen sich das Grau­en widerspiegelte, das er in den letzten Mi­nuten erlebt hatte.

»Nicht«, murmelte er schwach. »Nicht wiedersehen!«

Er trank noch einmal, sah mich an. Der Blick schmerzte. Er war vorwurfsvoll.

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Dann sank Feigling zur Seite. Wenige Augenblicke später war er eingeschlafen.

Noch im Schlaf verzerrten sich seine Zü­ge vor Angst, stellte ich wenig später fest.

Dieser Mann trug ein Geheimnis mit sich herum.

Ich war entschlossen, dieses Geheimnis zu lüften. Früher oder später würde ich die Wahrheit erfahren.

Die Wahrheit über Feigling – und das, was ihn zum Feigling gemacht hatte.

*

Die Ebene lag hinter uns. Vor uns lag Atlantis. Pthor. Der Dimensi­

onsfahrstuhl. Feiglings Heimat? Ich wartete noch einige Minuten. Irgend-

wo hinter uns, im stählernen Meer der Robo­ter trieb sich der Spyte herum. Wir hatten ihn freigelassen, darauf vertrauend, daß die Brangeln das Tier früher oder später einfan­gen würden.

Die Stunde der Entscheidung war gekom­men.

Es ging nach Pthor zurück, Pthor, das vom Wölbmantel geschützt wurde. Was würde geschehen, wenn wir den Wölbman­tel durchschritten? Ich würde nicht das Ge­dächtnis verlieren, nur die Kleidung, die ich vom Tyrannen Sperco bekommen hatte.

Merkwürdig, an Sperco hatte ich seit dem Absturz kaum einen Gedanken verschwen­det.

Vor uns lag Atlantis. Ich schätzte, daß wir in der Nähe des

Blutdschungels standen. Die nächsten Minu­ten würden vieles entscheiden.

Konnte Feigling den Wölbmantel passie­ren?

Es gab nur eine Lösung für dieses Pro­blem – den praktischen Versuch.

Im Grunde sprach vieles dafür, daß Feig­ling von Pthor stammte. Die Tatsache, daß er Pthora sprach, daß er die Odinssöhne zu kennen – und zu fürchten schien, daß er ih­nen ähnlich sah, sich ähnlich bewegte.

Peter Terrid

»Komm!« forderte ich ihn auf. Feigling nickte und folgte mir.

*

Er stammte von Pthor. Es gab keinen Zweifel mehr. Feigling war

ein Bewohner von Atlantis. Das löste zwar ein oder zwei Probleme – warf aber im glei­chen Augenblick ein Dutzend neuer Fragen auf.

Er stand neben mir, der hinterhältige Feigling, nackt wie ich. Ein Pthorer also – aber woher stammte er, wo war er geboren, aufgewachsen, wo hatte er gelebt?

Später, sagte der Logiksektor nur. Meine zweite Vermutung hatte sich eben­

falls bewahrheitet. Wir befanden uns am Rand des Blutdschungels.

Damit stand für mich die weitere Route fest.

Ich mußte versuchen, die Feste Grool zu erreichen. Von dort war es hoffentlich mög­lich, eine Verbindung zur FESTUNG herzu­stellen.

Die andere Möglichkeit – Richtung Wol­terhaven – schloß ich aus. Der Weg wäre zu lang geworden, hätte zuviel Zeit gekostet – und obendrein war er zu gefährlich. Es war schon abenteuerlich genug, mit einem Be­gleiter wie Feigling den Blutdschungel durchqueren zu wollen.

Ich war gespannt, wie er sich verhalten würde.

Zunächst zeigte er sich ein wenig er­staunt, daß er seiner Kleidung verlustig ge­gangen war, aber sehr aufgeregt war er nicht. Ein Indiz mehr, dachte ich. Auf Loors hätte er vermutlich vor Angst geschlottert.

Daß ihm der Blutdschungel nicht geheuer war, nahm nach den Erfahrungen, die ich mit ihm gemacht hatte, nicht wunder. Und doch – er wirkte skeptisch, aber nicht über­mäßig furchtsam. Unter Umständen hatte das Passieren des Wölbmantels so etwas wie eine Charakterwandlung bewirkt. Möglich schien mir bei diesem Mann vieles.

Indes hatte er sich nicht sehr gewandelt.

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43 Der Feigling von Loors

Das wurde mir schlagartig klar, als er plötzlich aufschrie. Wir hatten nur einige wenige Kilometer im Dschungelbereich zu­rückgelegt, als ihn schon etwas zu panikarti­ger Flucht veranlaßte.

Bei diesem Fluchtgrund handelte es sich um eine Schar dunkelhäutiger Humanoiden, die sich fast geräuschlos aus dem Unterholz erhoben, mit Pfeilen auf mich zielten und sehr grimmige Gesichter machten.

Ich machte ebenfalls ein grimmiges Ge­sicht und hob die Hände.

Die Krieger umringten mich schweigend, aber mit sehr beredten Gesten. Ihre Speere sprachen eine recht deutliche Sprache.

Gegen diese Übermacht war jeder Wider­stand zwecklos. Mir blieb nichts übrig, als mich in mein Schicksal zu fügen. Von Stö­ßen und Püffen angefeuert, begleitete ich die dunklen Krieger.

Es mußte sich um einen der Stämme han­deln, die den Blutdschungel unsicher mach­ten, wie etwa die Dalazaaren, die Grendts, die Keenies. Dieser Stamm war mir noch unbekannt.

Bewaffnet waren die Krieger mit lang­schäftigen Speeren aus Hartholz. Die Spit­zen waren über dem Feuer angekohlt wor­den, das machte sie noch härter. Gleiches galt für die Pfeilspitzen und die hölzernen Messer. Ich hütete mich, diese Waffen zu unterschätzen.

Langsam marschierten wir durch den Blutdschungel. Die Krieger sagten kein Wort, und auch ich schwieg. Vielleicht ge­hörte eisernes Schweigen zum Ehrenkodex dieses Stammes.

»Laßt mich los!« kreischte plötzlich je­mand. »Zu Hilfe! Atlan, zu Hilfe!«

Das war der Gipfel der Dreistigkeit. Zu­nächst suchte der Feigling das Weite, ohne mich zu warnen – und dann erwartete er von mir, daß ich ihm half.

Er wurde herangeschleppt, tretend, um sich schlagend und vor Angst so weiß im Gesicht, daß man ihn als Leuchtquelle hätte benutzen können.

Die Krieger behandelten ihn nicht sehr

grob. Offenbar schienen sie sehr schnell her­ausgefunden zu haben, was von Feigling zu halten war.

Der Bursche besaß noch die Dreistigkeit, mir zuzugrinsen, dann wurden wir voneinan­der getrennt. Im Gänsemarsch ging es durch den Dschungel.

Die Krieger waren vorsichtig, sehr vor­sichtig sogar, obwohl sie von den Siedlun­gen anderer Stämme eigentlich sehr weit entfernt sein mußten. Auf der anderen Seite konnten solche Angaben nur mit großem Vorbehalt gemacht werden – wer und was sich in diesem Dschungel wirklich herum­trieb, war für mich wie die meisten Pthorer ein Geheimnis. Nicht ohne Grund war der Blutdschungel ein übelbeleumundeter Be­reich Pthors.

Eine der Quellen für diesen schlechten Ruf waren die Stämme, die den Dschungel unsicher machten.

Bei einigen der Krieger sah ich Macheten im Gürtel, und ich glaubte auch zu wissen, aus welcher Quelle diese im Dschungel sonst unüblichen Waffen stammten. Wahr­scheinlich hatte dieser Stamm einige kleine, aber erfolgreiche Unternehmungen gegen Orxeya gestartet.

»Gesindel!« schimpfte Feigling hinter mir. »Strauchdiebe, Buschräuber, Waldha­lunken, Urwaldbanditen!«

Die Krieger gingen auf diese Beschimp­fungen nicht ein. Sie marschierten immer tiefer in den Blutdschungel hinein.

Wäre nicht der unheilverkündende Ge­sichtsausdruck der Krieger gewesen, hätte ich mit dem Marsch sogar zufrieden sein können. Wenn mich mein Orientierungsver­mögen nicht im Stich ließ, marschierten wir ziemlich genau auf die Feste Grool zu, mein ursprüngliches Ziel. Und die Eingeborenen kannten sich im Blutdschungel erheblich besser aus als ich. Sie brauchten sich ihren Weg nicht erst mühsam zu bahnen, sie gin­gen auf Pfaden, die vermutlich schon Jahr­zehnte existierten. Auf diesen Fährten ka­men wir einigermaßen rasch und sicher vor­wärts.

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Sicher? kommentierte der Logiksektor meinen Gedankengang spöttisch.

Hinter mir zeterte und keifte Feigling na­hezu ununterbrochen. Das Ein-Wort-Stadium unserer ersten Unterhaltun­gen hatte er offenbar ein für allemal hinter sich gelassen.

7.

Wir erreichten das Ziel am späten Abend. Die Krieger hatten Fackeln angezündet, in

deren Flackerlicht wir marschierten. Lange, bevor es wirklich dunkel über Pthor wurde, drang kein Lichtstrahl mehr durch das dichte Blätterdach des Blutdschungels.

Mit dem Beginn der Dämmerung war das Leben im Blutdschungel zur Gänze erwacht.

Tiere huschten durch das Unterholz, wühlten in den Morästen. Sie ließen Äste geheimnisvoll knacken, bohrten sich mit lei­sem, unheilverkündendem Trommeln in die Stämme hundertjähriger Bäume. Andere lugten mit leuchtenden Augen aus dem Ge­äst und knurrten und fauchten uns an. Flap­pend bewegten sich Fledertiere durch die hereinbrechende Dunkelheit, Insekten surr­ten bösartig.

Das lauteste Geräusch kam von den Men­schen. Es war das gleichmäßige Stampfen der Füße, das sich je nach Bodenbeschaffen­heit änderte. Oft genug wurde ein Schmat­zen und Platschen daraus, dann nämlich, wenn wir einen Morast zu durchqueren hat­ten, aus dessen Schlamm Faulgase geräusch­voll in die Höhe quollen.

Feigling war – wie hätte es anders sein können – sehr still und blaß geworden. Die Szenerie hatte wirklich etwas Gespensti­sches. Eine verhaltene Drohung lag in der Luft und bestimmte unser Denken.

Das Ziel entpuppte sich als Tempelruine. Im Licht der Fackeln sah ich die aufra­

genden Stümpfe der Säulen, die Figuren und Statuen, denen die Zeit die Gesichter zer­fressen hatte, als wären sie von Skrofeln be­fallen gewesen.

Die Eingeborenen hatten in der Nähe die-

Peter Terrid

ses Tempels ihre Hütten gebaut, ziemlich kümmerliche Gebilde, aus Zweigen geformt, die mit Blattwerk bedeckt wurden. In diesen Unterkünften hausten die Eingeborenen. Sämtliche Bewohner der kleinen Siedlung schienen sich versammelt zu haben, als wir eintrafen. Trotz der späten Abendstunde wimmelten die Kinder durch die Beine der Erwachsenen, die uns so stumm empfingen, wie uns die Krieger begleitet hatten.

Auf einem hölzernen Schemel saß ein Mann von extremer Körperfülle, fast ein Wunder angesichts der Lebensverhältnisse. Offenbar war dieser Fettwanst der Häuptling des Stammes.

Es war wohl mehr Neugierde als Respekt, daß sich der Häuptling erhob und auf uns zukam. Ich staunte aber nicht schlecht, als er auf Feigling zuging und dabei sehr verwun­dert dreinsah.

Feigling zitterte am ganzen Leib. Gehetzt sah er um sich, offenbar auf der Suche nach Kochtöpfen oder ähnlichen Gerätschaften.

Der Altar in der Mitte der Tempelruine schien ihm zu entgehen. Dafür fiel der Altar mir auf, und die Tatsache, daß dieser Altar schwarz von geronnenem Blut war. Wurden hier Menschenopfer gebracht?

Der Häuptling blieb vor Feigling stehen. Aufmerksam sah er den Gefangenen an.

»Wer bist du?« fragte er dann. »Laßt uns frei«, antwortete Feigling zag­

haft in seinem merkwürdig gefärbten Pthora. Der Häuptling riß die Augen auf und wich

einige Schritte zurück. Die Krieger ließen Feigling los, und aus der Menge erklang ein Murmeln, das ich zwar nicht verstehen, aber als respektvoll deuten konnte.

»Oh Herr!« sagte der Häuptling. »Oh Herr!«

Feigling machte ein säuerliches Gesicht. Er schien nicht zu wissen, ob er gerade ver­albert werden sollte oder nicht. Auch mir war unbehaglich zumute. Das Verhalten des Häuptlings entsprach nicht dem, was ich er­wartet hatte.

»Laßt uns frei«, bat Feigling noch einmal. Der Häuptling gab seinen Kriegern einen

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energischen Wink. Zu meiner grenzenlosen Verwunderung traten sie fast schon demütig an Feigling heran und lösten seine Fesseln. Der Bursche setzte ein dünnes Grinsen auf. Ganz wohl war ihm nicht in seiner Haut, das war deutlich zu sehen.

Was hatten die Eingeborenen vor? Hatten sie Feigling befreit, um ihn auf dem Altar opfern zu können? Ich konnte ihm in keiner Weise zu Hilfe kommen, meine Hände wa­ren mit soliden Stricken gefesselt, und hinter mir standen drei oder vier Krieger mit ge­fällten Speeren.

Feigling sollte nicht geopfert werden. Im Gegenteil. Mit allen Zeichen des Respekts bat der

Häuptling meinen merkwürdigen Reisebe­gleiter, auf dem hölzernen Schemel Platz zu nehmen. Feigling reagierte auf seine Art. Nun, da die Gefahr für ihn vorüber war, wurde er dreist. Er setzte sich auf den Sche­mel, grinste und deutete auf seinen Mund.

Der Häuptling klatschte in die Hände, und wenig später traten drei junge Frauen vor. Worauf sich Feiglings gieriger Blick bezog – die Frauen, oder deren Fracht: Früchte, Fleisch und Wasser –, konnte ich nicht er­kennen.

»Und was ist mit mir?« rief ich, bevor ich in Vergessenheit geriet.

Der Häuptling trat zu mir und funkelte mich böse an.

Feigling sah mißtrauisch zu uns herüber. Da wußte ich, daß ich von diesem Halunken keinerlei Hilfe zu erwarten hatte. Er hatte gesehen, daß der Häuptling mir keineswegs wohlgesinnt war, und – wie es seine unver­kennbare Art war – dachte nicht im Traum daran, seine Position dadurch zu gefährden, daß er ein gutes Wort für mich einlegte.

»Und wer bist du?« fauchte mich der Häuptling an.

»Diese beiden gehören nicht zusammen«, warf einer der Krieger ein. »Wir fanden sie weit voneinander entfernt am Rand des Dschungels.«

Nicht nur, daß der elende Angsthase das Weite gesucht hatte, jetzt hatte er den Vor­

teil davon, und ich durfte die negativen Aspekte durchkosten.

»Ich bin sein Freund«, erklärte ich und deutete, so gut ich konnte, auf Feigling. Mich hatte die Wut gepackt. Wenn ich schon gefangen war, dann sollte der Bursche mithängen – keine sehr edle Geisteshaltung, das gab ich zu, aber in meiner Lage überaus verständlich.

Wieder funkelte mich der Häuptling an. Der Wind hatte sich ein wenig gedreht und trug den Geruch zu mir, der von dem Altar aufstieg. Es roch widerlich.

Ich wußte, daß das Gebiet des Blutd­schungels die wenigen Reste einer Kultur barg, über deren Entstehung und Schöpfer die Zeit den Mantel des Vergessens gebreitet hatte. War es mir beschieden, in den Resten dieser Kultur elend zu verröcheln?

»Stimmt das?« fragte der Häuptling. Er hatte sich herumgedreht und sah Feig­

ling an. Der Bursche wäre am liebsten im Erdboden verschwunden, das war ihm anzu­sehen. Er leckte sich nervös die Lippen. Was der Häuptling nicht sehen konnte, war der Blick, mit dem ich Feigling bedachte. Dieser Blick verhieß meinem Begleiter Martern al­ler Arten, wenn ich ihn zu fassen bekam und er mich jetzt verleugnete.

Der Blick wirkte. Feigling nickte zaghaft. Der Häuptling wandte sich wieder mir zu.

Er rümpfte die Nase, offenbar war er mit Feiglings Auskunft nicht sehr zufrieden. Mit einer Geste gab er seinen Kriegern Befehl, mich ebenfalls loszuschneiden.

»Du bist frei«, knurrte er. »Besten Dank«, sagte ich höflich.

*

»Ihr treibt also Handel mit der Feste Grool?« fragte ich.

»Ab und zu«, gestand der Häuptling der Nedolks. Sehr viel freundlicher war er in den zwei Tagen nicht geworden, die wir bei dem kleinen Stamm verbracht hatten.

Hinter mir saß Feigling und schmatzte vernehmlich. Seit achtundvierzig Stunden

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tat er nichts anderes. Er aß und trank, und aß wieder.

»Wann«, wollte ich wissen, »werdet ihr das nächste Mal den Weg zur Feste Grool bereisen?«

Der Häuptling zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht«, sagte er mürrisch. Vor Feigling hatten die Nedolks einen ge­

hörigen Respekt. Mich behandelten sie weit weniger zuvorkommend. Immerhin, es ging mir nicht ans Leben, ich bekam zu essen und zu trinken, und nachts hatte ich ein Dach über dem Kopf.

Außerdem hatte ich dafür gesorgt, daß wir wieder Kleidung bekamen. Ich trug eine höchst romantische Gewandung aus leichten Fellen, dazu einen Gürtel, in dem eine Ma­chete steckte. Der Bewohner von Orxeya, dem die Waffe einmal gehört haben mochte, war jetzt vermutlich längst tot.

Auch Feigling war neu eingekleidet wor­den, auch er trug – so seltsam sich das anhö­ren mochte – eine Waffe, ebenfalls eine Ma­chete. Was er damit anfangen wollte, war mir ein Rätsel. Daß ich mich im Ernstfall nicht auf diesen Recken verlassen konnte, stand für mich fest.

»Ich will die Feste möglichst bald errei­chen«, informierte ich den fetten Häuptling. Er sah sehr verdrossen aus. Offenbar war es seine Pflicht gewesen, Feigling Platz zu ma­chen – auch wenn ich die Gründe für diese Handlungsweise nicht kannte und mir nicht einmal im Traum vorstellen konnte. Inzwi­schen schien der Häuptling erkannt zu ha­ben, daß Feigling offenbar nicht die Art Per­sönlichkeit war, auf die die besagte Vor­schrift sich bezog. Seine Leute jedenfalls be­gegneten Feigling in Demut, so absurd das auch auf mich wirken mochte. Ich hatte im­mer wieder Mühe, mir das Lachen zu ver­beißen.

»Vielleicht«, sagte der Häuptling zögernd, »können wir eine Karawane zusammenstel­len, die zur Feste Grool zieht.«

Er warf einen scheelen Blick auf Feigling, der sich gerade eine Kalebasse voll Frucht­saft zu Gemüte führte.

Peter Terrid

Ich konnte den Häuptling verstehen. War ich erst einmal außer Sichtweite, hatte der Häuptling der Nedolks vermutlich leichteres Spiel, den ihm lästigen Feigling auszuschal­ten – wobei nicht auszuschließen war, daß es Feigling dabei buchstäblich an den Hals ging.

»Das wäre sehr erfreulich«, sagte ich lä­chelnd.

*

Am nächsten Morgen stand der Trupp be­reit.

Es waren sechs Männer, schwarzhaarig wie alle Nedolks, aggressiv und mit harten Gesichtern. Ich wunderte mich nicht, daß die Nedolks von den anderen Stämmen des Blutdschungels gemieden wurden – wie üb­rigens die Nedolks ihrerseits ebenfalls den Kontakt zu anderen Stämmen scheuten.

Die sechs waren bewaffnet – mit Keulen, Hartholzschwertern, Bogen, Speeren, einem recht beeindruckenden Arsenal. Außerdem trug jeder der sechs einen Ballen – ein großes, schweres Bündel, das mit großflä­chigen Blättern umwickelt war. Was sich in den Ballen befand, entzog sich meiner Kenntnis.

»Fertig?« fragte ich. Der Anführer des Begleitkommandos nickte. Im Hintergrund stand der alte Häuptling mit säuerlicher Mie­ne.

»Dann los!« Wir verließen das Dorf der Nedolks. Ich

für mein Teil tat es nicht ungern; ganz ge­heuer waren mir die Eingeborenen nicht. Ich hatte herausfinden können, daß die anderen Stämme ihnen magische Fähigkeiten nach­sagten, und ich hatte gelernt, solche Berichte nicht sofort als inhaltsleeres Geschwätz ab­zutun.

Wieder marschierten wir hintereinander. Dieses Verfahren hatte den Vorteil, daß wir auch auf sehr schmalen Pfaden vorwärtska­men – und daß wir nicht so leicht angegrif­fen werden konnten.

Wir hatten noch keinen Kilometer zurück­

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gelegt, als es hinter uns laut wurde. Ich gab den Befehl zu halten. »Nehmt mich mit!« gellte hinter uns eine

Stimme, hell wie die eines Knaben. »Laßt mich nicht zurück.«

»Feigling«, seufzte ich unwillkürlich. Dieses Organ war nicht zu verkennen.

Es war Feigling, und er hatte sich gespu­tet, uns zu erreichen. Er mußte kurz nach un­serem Verschwinden aus dem Dorf losge­rannt sein, und er rannte noch immer, bis er mir buchstäblich in die Arme torkelte.

»Nimm mich mit«, keuchte er. »Ich will bei dir bleiben!«

Hatte er Vertrauen zu mir gefaßt? Es er­schien mir unwahrscheinlich, denn er hatte sich kaum von der Anstrengung des Laufens erholt, als er auch schon damit begann, mit allen Zeichen der Ängstlichkeit meine Be­gleiter und diesen Bereich des Blutdschun­gels zu beäugen.

»Warum bleibst du nicht bei den Ne­dolks?« fragte ich ihn. »Haben sie dich nicht wie ihren Häuptling behandelt?«

»Das haben sie«, gab Feigling zu. »Aber …«

Ich wartete. »Nun ja«, sagte Feigling. »Ich will bei dir

bleiben.« Kein falsches Vertrauen, warnte der Lo­

giksektor. Wenn es ihm einen Vorteil in ei­ner Gefahr bringt, wird er dir ohne Zögern die Gurgel durchschneiden.

Daran hatte ich nie gezweifelt. »Es könnte gefährlich werden«, erinnerte

ich ihn. »Sehr gefährlich sogar.« Feigling verzog das Gesicht. Er wand sich

in inneren Qualen. Es mußte ziemlich schwierig für ihn sein, sich zwischen den einzelnen Gefahren hindurchzuschlängeln. Auf der einen Seite die Feste Grool mit noch unbekannten Gefahren, auf der anderen Sei­te die wesentlich handgreiflichere Bedro­hung, die von den Nedolks ausging.

»Ich bleibe bei dir«, sagte Feigling. »Darf ich?«

»Selbstverständlich«, antwortete ich. Was hätte ich sonst sagen sollen? Im entscheiden­

den Augenblick wurde ich immer wieder weich, obwohl ich mir an den Fingern aus­rechnen konnte, daß Feigling für mich nur eines bedeutete – nämlich einen Risikofak­tor mehr, den ich künftig ins Kalkül zu zie­hen haben würde.

»Vorwärts!« befahl ich. »Und du, Feig­ling, du gehst voran!«

Er stieß ein leises Wimmern aus, aber un­ter der stummen Drohung meiner Augen fügte er sich ohnmächtig in sein Schicksal.

*

Der Marsch ging präzise in Richtung Nordnordost zu Nord. Das Wegesystem der Blutdschungelstämme war zwar sehr verwir­rend, aber die Eingeborenen fanden sich in diesem Dschungel erstaunlich gut zurecht. Sie waren hier geboren und aufgewachsen, die gründliche Kenntnis des Dschungels war für sie elementares Lebensinteresse. Wer in diesem Urwald erwachsen werden wollte, mußte auf der Hut sein, gewitzt und geris­sen.

Diese Eigenschaften waren bei den Ne­dolks stark ausgeprägt. Sie waren, wie ich außerdem hatte feststellen können, auch au­ßerordentlich zäh. Das Tempo, das sie bei ihrem Marsch einschlugen, war sehr hoch. Mir machte das nicht viel aus, der Zellakti­vator ersetzte das, was mir an natürlicher Begabung für solche Gewaltmärsche fehlte.

Anders lag der Fall bei Feigling. Er hatte den Marsch in einem Zustand an­

getreten, für den es nur die Bezeichnung vollgefressen geben konnte. Dementspre­chend hatte er sich auf den ersten Teil­strecken anstrengen müssen, und das hatte seine ohnehin nicht überragenden Körper­kräfte sehr beansprucht.

Der vergleichsweise kleine Mann mit den hellen Haaren – er maß nur einhundertfünf­undsechzig Zentimeter, schätzungsweise – war für Gewaltmärsche denkbar schlecht ge­rüstet. Er war zu klein, zu mager, zu schwächlich. Schließlich war er nicht ohne Grund das, was sein Name ausdrückte.

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In den ersten Tagen hatte er sich noch wacker gehalten – wenn auch nur, weil er befürchten mußte, daß wir ihn erbarmungs­los am Wegesrand zurücklassen würden, den Tieren des Dschungels zum Fraß. Dann aber hatte sich mehr und mehr Erschöpfung bei ihm breitgemacht.

Sein Ansehen bei den Nedolks, die uns begleiteten, hatte er sehr schnell eingebüßt, was mich nicht wunderte. Es war mir aller­dings nur sehr unvollkommen gelungen, Feiglings Autoritätsverlust durch eigenen Zugewinn wettzumachen. Immerhin hatte ich mir aber so viel Einfluß auf die dunklen Jäger erobern können, daß sie meinem Wunsch gefolgt waren und etwas langsamer marschierten.

Helfen konnte das nicht viel – denn das Tempo war auch dann noch hoch genug. Zum anderen verfielen die Nedolks früher oder später doch wieder in ihren Schnelltritt zurück – nicht einmal aus Böswilligkeit, sondern einfach nur aus Gewohnheit.

»Ich kann nicht mehr!« Ich griff Feigling unter die Arme. Er war

wirklich am Rand des Zusammenbruchs an­gekommen. Ich mußte zugeben, daß er sich als zäher erwiesen hatte, als ich ursprünglich angenommen hatte.

Der Atem Feiglings ging schwer. Seine Glieder zitterten, ausnahmsweise nicht vor Angst.

»Ich helfe dir«, sagte ich. Das war recht großzügig gesprochen,

denn so kraftvoll war ich nicht, als daß ich Feigling hätte in dem gleichen Tempo schleppen können, in dem die Nedolks mar­schierten.

»Haltet an!« rief ich ihnen zu, aber sie hörten nicht auf uns. Offenbar waren wir ih­nen lästig geworden. Sie schienen froh über diese günstige Gelegenheit, uns zurückzu­lassen – zwei Männer, von denen einer hochgradig erschöpft und ebenso hochgradig feige war. Als Waffen standen uns nur die beiden Macheten zur Verfügung – unter die­sen Umständen eine Ausrüstung von recht zweifelhaftem Wert.

Peter Terrid

»Feiglinge!« Dieser Kommentar stammte nicht von

mir. Ich mußte grinsen. So gut ich konnte, half ich Feigling, auf

den Beinen zu bleiben. Er taumelte vor Schwäche, aber er kam vorwärts. Ich über­legte einen Augenblick lang, ob ich ihn tra­gen sollte, verwarf den Gedanken dann aber. Das hätte uns nur kurzfristig schneller vor­angebracht. Danach wäre dann ich zu ge­schwächt gewesen. Es gab keine andere Wahl, wir mußten die Nedolks davonziehen lassen.

»Pssst!« machte Feigling plötzlich. Ich blieb stehen. Schwer lastete Feigling auf meiner Schulter.

»Hörst du nichts?« flüsterte er leise. Ich lauschte.

Voraus, dort wo die Nedolks sich von uns entfernten, war Geschrei zu hören.

Kampfgeschrei! Ich konnte Männer schreien hören, das

Klirren von Metallwaffen schallte bis zu uns herüber.

Feigling warf sich sofort auf den Boden. Ich zögerte einen Augenblick lang, dann

ging ich ebenfalls in Deckung. Es hätte keinen Sinn gehabt, wäre ich los­

gerannt, um den Nedolks zu helfen. Zum einen wäre ich höchstwahrscheinlich zu spät gekommen, zum anderen hätte ich Feigling zurücklassen müssen, der in diesem Zustand nicht die geringste Überlebenschance besaß. Ich kannte die Kampfkraft der Dschungel­stämme, vielleicht hatten sich die Nedolks aus eigener Kraft helfen können. Es waren erfahrene Krieger.

Wir warteten, bis der Kampflärm verklun­gen war, dann setzten wir unseren Marsch fort.

Die Spuren der Nedolks, die uns vorange­gangen waren, konnte ich mühelos erken­nen. Wir folgten diesen Spuren, langsam al­lerdings und mit größter Vorsicht.

Wir brauchten eine Stunde, bis wir den Platz erreicht hatten, an dem die Nedolks überfallen worden waren.

Eine weitere halbe Stunde brauchte ich,

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um mir die Spuren genau anzusehen und zu analysieren.

Nach dieser halben Stunde wußte ich ge­nug.

Irgendwelche Krieger hatten die sechs Nedolks angegriffen, aber ohne den er­wünschten Erfolg. Die Nedolks hatten sich geschickt verteidigt und drei ihrer Angreifer verletzt, einen davon schwer. Die Angreifer hatten sich daraufhin damit begnügt, den Nedolks die Warenballen abzunehmen und sie auseinanderzujagen.

Unsere Reisebegleiter hatten sich irgend­

wohin in den Dschungel verkrochen. Wir würden sie mit Sicherheit nicht wiederfin­den können. Zum Glück konnte die Feste Grool nicht mehr weit entfernt sein.

»Es geht weiter«, sagte ich zu meinem Begleiter. »Steh auf und komm – du … Feigling!«

Er grinste nur.

ENDE

E N D E