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„deren Kosten den Lebensunterhalt von Hunderten armer Familien für lange Zeit hätten sichern können“, so reich ist sie auch an intriganter Inspiration, um Franz Ferdinand für seine Ehe mit der dem Haus Habsburg nicht ebenbürtigen Gräfin Cho- tek büßen zu lassen. Manches wiederum, mit dem der Kaiser in spe den rumorenden Vielvölkerstaat re- formieren will, klingt visionär, etwa seine Idee, „Österreich-Ungarn nach dem Mus- ter der Vereinigten Staaten von Nordame- rika zu föderalisieren“. Dazu müsste man eben Kaiser sein. Im langen Warten darauf macht sich der Thronfolger Feinde über Feinde. Er brüllt und verhärmt – und die Tiere im Wald müssen es büßen. Ludwig Winder teilt mit seinem Prota- gonisten das Schicksal, den ihm gebühren- den Rang nie innegehabt zu haben. Sein 1937 entstandener Roman wurde von der Unheilsgeschichte des letzten Jahrhun- derts ebenso verschluckt wie seine übrigen Werke. Dabei zählte der Prager Feuilleton- redakteur der Zeitung „Bohemia“ einmal zum Kreis um Kafka. Zwei Jahre nach Er- scheinen seines „Thronfolgers“ floh der aus einer jüdischen Familie stammende Autor nach England, wo er 1946 starb. Eine der eindrücklichsten Szenen sei- nes in Österreich sogleich wegen Verlet- zung der Landesehre verbotenen Romans ist das groteske Leichenbegängnis. Wie todgeweiht die gemütliche Donaumonar- chie ist, zeigt sich in der Unbarmherzig- keit, mit der sie die Rangordnung noch an den Toten exekutiert. Kurz darauf beginnt das große Schlachten. Eine schlimme Ge- schichte, ein großer Roman. Ludwig Winder: Der Thronfolger. Roman. Zsolnay Verlag, 575 Seiten, 26 Euro. dem düstere Genealogien wuchern. Franz Ferdinands Großvater, der entmachtete König beider Sizilien, trug den Beinamen Re Bomba, weil er sein Volk brutal zusam- menkartätscht hat. Die gespenstische Mut- ter zog es vor, das Haus Habsburg mit Söh- nen zu bombardieren, einer kränklicher als der andere. Allen voran Franz Ferdinand, ein cholerischer Hänfling, den niemand lei- den kann und der auch selbst niemanden mag. Seine Kom- plexe verbirgt er hinter einem kolossalen Schnurrbart, sei- nen fantastischen Reichtum hinter einem unbarmherzi- gen Geiz und seine politische Ohnmacht hinter einer pa- thologischen Jagdleiden- schaft: „Er schoss an einem Tag dreiundfünfzig Gamsbö- cke. Die Treiber zitterten, wenn er sie anblickte.“ Eine dynastische Laune bestimmt dieses Ekel zum Thronfolger. Und noch er- staunlicher: der Leser wird zu seinem Komplizen. Ge- schickt unterwandert Winder unter Auf- bietung avancierter Darstellungsformen die Zentralperspektive, gegen die ja auch – ins Politische übertragen – der finster sen- dungsbewusste Herrschaftsaspirant re- belliert. Denn so unangenehm der Heraus- forderer, so moribund zeigt sich das kai- serliche „Mumienkabinett“, das er einmal zu beerben trachtet. So schön diese Adels- gesellschaft auch schimmert, in Roben, E s ist nichts.“ Das waren die letzten Worte des österreichischen Thron- folgers Franz Ferdinand, nachdem ihm das Projektil aus der Waffe des natio- nalbewegten serbischen Studenten Gavri- lo Princip die Halsschlagader zerfetzt hat- te. Das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 nahm der habsburgische Kaiser zum Anlass, die unbotmäßigen Südslawen mit einer „kleinen Strafexpedi- tion“ zu überziehen. Der größte Krieg, den die Menschheit bis dahin kann- te, entstand daraus. Er mor- dete Millionen von Men- schen und blies neben vielem anderen die österreichisch- ungarische Monarchie end- gültig von der Landkarte. Mit diesem lapidaren Ausblick endet Ludwig Winders Roman „Der Thronfolger“, der zu den Entdeckungen dieses Ge- denkjahrs gehört. Mit der psychologischen Fantasie eines großen Romanciers und der kritischen Akribie eines nüchter- nen Historikers wird darin literarisch do- kumentiert, wie sich der walzertaumeln- de Herrschaftsflitter der Donaumonar- chie in den leicht entzündlichen Zunder verwandelt, dessen Opfer und Repräsen- tant gleichermaßen der unglückliche Franz Ferdinand gewesen ist. Die historienselige Sissi-Welt hat sich in einen bösen Zaubergarten verwandelt, in Endzeit Der letzte aller Kriege Schatten, Schemen, Verdreckte, Verwilder- te, eher Tier als Mensch: so tappen die fran- zösischen Soldaten morgens aus ihren schlammigen Schlaflöchern, als Henri Bar- busses Roman „Das Feuer“ uns erstmals in die Schützengräben führt. Man kann sich die Erschütterung, die Barbusse bei jenen ausgelöst haben mag, die bis dahin nur das Propagandabild des Frontalltags kannten, gar nicht mehr ausmalen. „Das Feuer“ war der erste schonungslose Bericht über den Grabenkrieg, er erschien bereits 1916. Barbusse (1873–1935) war Kriegsfrei- williger, aber seine Erlebnisse an der Front machten ihm zum Pazifisten und Sozialis- ten. Sein „Tagebuch einer Korporalschaft“, so der Untertitel von „Das Feuer“, handelt von Erschöpfung, Benommenheit, Ver- zweiflung, und die unwirkliche Landschaft der Trichter, Pfützen, Gräben und Trüm- mer wird zum Endzeitgemälde. Hier kann die Menschheit nur entweder völlig unter- gehen oder ganz neu anfangen. Diese Hoffnung mitten im Grauen teilt Henri Barbusse mit vielen anderen Auto- ren, dass der große Krieg notwendig der letzte sein müsse. Nichts liest sich bitterer als diese vermeintliche Gewissheit. tkl Henri Barbusse: Das Feuer. Roman. Aus dem Französischen von Leo von Meyenburg. Tredition, Hamburg. 404 Seiten, 19,90 Euro. Etappenleben Hinter die Front, so schnell es geht Helden bekommen Denkmäler, weil sie selbst nicht mehr erzählen können. Ihre Karriere krönt der Heldentod. Schlump, Soldat des Kaisers, will diese Art Helden- tum vermeiden, wobei ihm das Schicksal kräftig unter die Arme greift. Zunächst wä- re er nämlich naiv genug, willig bis in die vordersten Gräben zu marschieren. Aber der Zufall macht den erst 17-Jährigen für eine Weile und gleich zu Anfang seines Kriegseinsatzes vertretungsweise zum Kommandanten eines kleinen französi- schen Dorfes. Und Schlump gewöhnt sich an die Distanz zum Sterben in den Gräben, ans gute Essen, an die schönen Mädchen und an den Versuch, mit dem unter seiner Fuchtel stehenden Feind zu angenehmen Kompromissen zu kommen, damit das Landleben weitergehen kann. Hans Herbert Grimm (1896–1950), der „Schlump“ 1928 veröffentlichte, mischt Elemente des Schelmenromans mit aller Härte der Weltkriegsliteratur. Als Schlump wirklich einmal an die Front muss, erlebt er in Kürze all das, wovon andere Romane ausschließlich erzählen: das pure Grauen. Dieser Unkriegerische verdrückt sich als- bald nach hinten. Die Nazis begriffen sol- che Literatur als Wehrkraftzersetzung und haben sie gehasst und verbrannt. Schlumps unheldische Überlebenskunst ist pure Not- wehr. Aber die Etappenoffiziere rundum, die andere in den Tod schicken, erscheinen hier als miese Verbrecher. tkl Hans Herbert Grimm: Schlump. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 348 Seiten, 19,99 Euro. Bergkampf Urgeschichte der Gewalt Die Berge gelten gemeinhin als das Erhabe- ne, an dem der Mensch seine moralische Autonomie gegen die Herausforderung der Natur behauptet. Davon lebt der Alpinis- mus ebenso wie das touristische Sehn- suchtsbild der Bergidylle. Doch entlang einer der malerischsten Alpenkulissen, die man sich vorstellen kann, den Dolomiten, verlief im Ersten Weltkrieg eine erbittert umkämpfte Frontlinie, an der nicht nur Tausende österreichischer und italieni- scher Soldaten zuschanden wurden, son- dern auch der Glaube an eine wie auch im- mer geartete moralische Integrität. Der intellektuelle Einzelkämpfer Uwe Nettelbeck hat 1976 in seiner Material- montage „Der Dolomitenkrieg“ den Front- verlauf aus Fragmenten zeitgenössischer Propaganda, Kriegsberichterstattung und Heldenkitsch nachgezeichnet und dabei die Demarkationslinie zwischen Barbarei und Zivilisation neu vermessen – so lange und so gründlich, bis von ihr nichts mehr übrig blieb. Mit historischen Fotos ver- sehen ist sein Bericht nun neu erschienen. Wegen strategisch belangloser Geländege- winne belagern sich alpine Stoßtrupps in lebensfeindlichster Umgebung und unter- höhlen Gletscher und Berge mit ameisen- hafter Beharrlichkeit, nur um die Stollen- systeme sogleich mit immer gewaltigeren Sprengladungen wieder in die Luft zu ja- gen. Der Phrasenstaub auf der Wendung von der Absurdität des Kriegs wird von die- sem aus höchsten Regionen niedergehen- den Springquell der Vernichtung reinge- waschen. Größer als die Berge ist nur der Wahnsinn der Menschen. kir Uwe Nettelbeck: Der Dolomitenkrieg. Mit einem Nachwort versehen von Detlev Claussen. Berenberg Verlag, 152 Seiten, 20 Euro. Grabenkrieg Zerrieben im Trommelfeuer Die Soldaten des Ersten Weltkriegs lagen nicht einfach hingeduckt in Dreck und Ku- gelhagel. Sie lagen in einem gigantischen Mörser, dessen Stößel die Idee vom Wert des Individuums zerrieb. Das begreift man wieder sehr deutlich, wenn man „Golgatha“ von Peter Schmitz (1887–1938) liest, der 1935 erstmals im deutschsprachigen Bel- gien erschienen ist. Als der 26-jährige Künstler und Kunst- händler Schmitz 1914 als Freiwilliger in den Krieg zog, war seine Heimatstadt Eupen wieder einmal Teil von Deutschland. Aber in seinem stark autobiografisch geprägten Roman wird die Begeisterung für Erobe- rungszüge, die auch in oft die Herren wech- selnden Grenzgebieten vorkommt, nur nebenbei erwähnt. Früh schon sind die Sol- daten von Skepsis geprägt, vom schlichten Wunsch, halbwegs heil heimzukommen. Die Zweiklassengesellschaft von Front- schweinen und Etappenoffizieren, die Ohnmacht im Trommelfeuer, die Mono- tonie des äußersten Entsetzens, die der Todesgefahr die letzte Würde der Extrem- situation nimmt, indem sie aus ihr einen industriell herstellbaren Dauerzustand macht, womit sich der Mensch schlicht als fehlkonstruiertes, zu schwaches Teil der neuen Welt erweist – die schildert Schmitz so gut wie nur einer. Dass es ihm an sprach- lichem Protz fehlt, macht ihn authentisch. Hier müht sich einer mit dem nicht Be- schreibbaren, ohne es in die Distanz des polierten Kunsthandwerks zu rücken. tkl Peter Schmitz: Golgatha. Roman. Donat Verlag, Bremen. 336 Seiten, 16,80 Euro. Jäger und Opfer Wiederentdeckung Ludwig Winder zeichnet in seinem Roman „Der Thronfolger“ ein grandioses Psychogramm. Von Stefan Kister Der Funke, der die Welt entzündet Weltkrieg Am 28. Juni jährt sich zum hundertsten Mal der Tag des Attentats von Sarajevo. Eine Buchseite zum Thema. Die Illustrationen sind dem Band „Der Erste Weltkrieg in 100 Objek- ten“ (Theiss Verlag, 24,95 Euro) entnommen, erschienen zur Aus- stellung „1914–1918“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin (bis zum 30. November). Großes Bild: Gasmaske M 1917. Daneben von oben nach unten: Chirurgisches Lazarettbesteck; Armprothese; Maschinengewehr M 1908. Fotos: Verlag Großer Krieg 1914–1918 Erinnerung an die Urkatastrophe eines Jahrhunderts 34 Nr. 139 | Freitag, 20. Juni 2014 STUTTGARTER ZEITUNG DAS BUCH

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„deren Kosten den Lebensunterhalt vonHunderten armer Familien für lange Zeithätten sichern können“, so reich ist sie auch an intriganter Inspiration, um Franz Ferdinand für seine Ehe mit der dem HausHabsburg nicht ebenbürtigen Gräfin Cho­tek büßen zu lassen.

Manches wiederum, mit dem der Kaiserin spe den rumorenden Vielvölkerstaat re­formieren will, klingt visionär, etwa seine Idee, „Österreich­Ungarn nach dem Mus­ter der Vereinigten Staaten von Nordame­rika zu föderalisieren“. Dazu müsste maneben Kaiser sein. Im langen Warten daraufmacht sich der Thronfolger Feinde über Feinde. Er brüllt und verhärmt – und dieTiere im Wald müssen es büßen.

Ludwig Winder teilt mit seinem Prota­gonisten das Schicksal, den ihm gebühren­den Rang nie innegehabt zu haben. Sein 1937 entstandener Roman wurde von derUnheilsgeschichte des letzten Jahrhun­derts ebenso verschluckt wie seine übrigenWerke. Dabei zählte der Prager Feuilleton­redakteur der Zeitung „Bohemia“ einmalzum Kreis um Kafka. Zwei Jahre nach Er­scheinen seines „Thronfolgers“ floh der auseiner jüdischen Familie stammende Autornach England, wo er 1946 starb.

Eine der eindrücklichsten Szenen sei­nes in Österreich sogleich wegen Verlet­zung der Landesehre verbotenen Romansist das groteske Leichenbegängnis. Wie todgeweiht die gemütliche Donaumonar­chie ist, zeigt sich in der Unbarmherzig­keit, mit der sie die Rangordnung noch anden Toten exekutiert. Kurz darauf beginntdas große Schlachten. Eine schlimme Ge­schichte, ein großer Roman.

Ludwig Winder: Der Thronfolger. Roman. Zsolnay Verlag, 575 Seiten, 26 Euro.

dem düstere Genealogien wuchern. FranzFerdinands Großvater, der entmachtete König beider Sizilien, trug den BeinamenRe Bomba, weil er sein Volk brutal zusam­menkartätscht hat. Die gespenstische Mut­ter zog es vor, das Haus Habsburg mit Söh­nen zu bombardieren, einer kränklicher alsder andere. Allen voran Franz Ferdinand,ein cholerischer Hänfling, den niemand lei­

den kann und der auch selbstniemanden mag. Seine Kom­plexe verbirgt er hinter einemkolossalen Schnurrbart, sei­nen fantastischen Reichtumhinter einem unbarmherzi­gen Geiz und seine politischeOhnmacht hinter einer pa­thologischen Jagdleiden­schaft: „Er schoss an einemTag dreiundfünfzig Gamsbö­cke. Die Treiber zitterten,wenn er sie anblickte.“

Eine dynastische Launebestimmt dieses Ekel zumThronfolger. Und noch er­staunlicher: der Leser wirdzu seinem Komplizen. Ge­

schickt unterwandert Winder unter Auf­bietung avancierter Darstellungsformendie Zentralperspektive, gegen die ja auch –ins Politische übertragen – der finster sen­dungsbewusste Herrschaftsaspirant re­belliert. Denn so unangenehm der Heraus­forderer, so moribund zeigt sich das kai­serliche „Mumienkabinett“, das er einmal zu beerben trachtet. So schön diese Adels­gesellschaft auch schimmert, in Roben,

Es ist nichts.“ Das waren die letztenWorte des österreichischen Thron­folgers Franz Ferdinand, nachdem

ihm das Projektil aus der Waffe des natio­nalbewegten serbischen Studenten Gavri­lo Princip die Halsschlagader zerfetzt hat­te. Das Attentat von Sarajevo am 28. Juni1914 nahm der habsburgische Kaiser zumAnlass, die unbotmäßigen Südslawen miteiner „kleinen Strafexpedi­tion“ zu überziehen. Dergrößte Krieg, den dieMenschheit bis dahin kann­te, entstand daraus. Er mor­dete Millionen von Men­schen und blies neben vielemanderen die österreichisch­ungarische Monarchie end­gültig von der Landkarte.

Mit diesem lapidarenAusblick endet LudwigWinders Roman „DerThronfolger“, der zu den Entdeckungen dieses Ge­denkjahrs gehört. Mit derpsychologischen Fantasieeines großen Romanciersund der kritischen Akribie eines nüchter­nen Historikers wird darin literarisch do­kumentiert, wie sich der walzertaumeln­de Herrschaftsflitter der Donaumonar­chie in den leicht entzündlichen Zunderverwandelt, dessen Opfer und Repräsen­tant gleichermaßen der unglücklicheFranz Ferdinand gewesen ist.

Die historienselige Sissi­Welt hat sich ineinen bösen Zaubergarten verwandelt, in

Endzeit

Der letzte aller KriegeSchatten, Schemen, Verdreckte, Verwilder­te, eher Tier als Mensch: so tappen die fran­zösischen Soldaten morgens aus ihren schlammigen Schlaflöchern, als Henri Bar­busses Roman „Das Feuer“ uns erstmals indie Schützengräben führt. Man kann sichdie Erschütterung, die Barbusse bei jenenausgelöst haben mag, die bis dahin nur dasPropagandabild des Frontalltags kannten, gar nicht mehr ausmalen. „Das Feuer“ warder erste schonungslose Bericht über denGrabenkrieg, er erschien bereits 1916.

Barbusse (1873–1935) war Kriegsfrei­williger, aber seine Erlebnisse an der Frontmachten ihm zum Pazifisten und Sozialis­ten. Sein „Tagebuch einer Korporalschaft“,

so der Untertitel von „Das Feuer“, handeltvon Erschöpfung, Benommenheit, Ver­zweiflung, und die unwirkliche Landschaft der Trichter, Pfützen, Gräben und Trüm­mer wird zum Endzeitgemälde. Hier kanndie Menschheit nur entweder völlig unter­gehen oder ganz neu anfangen.

Diese Hoffnung mitten im Grauen teiltHenri Barbusse mit vielen anderen Auto­ren, dass der große Krieg notwendig derletzte sein müsse. Nichts liest sich bittererals diese vermeintliche Gewissheit. tkl

Henri Barbusse: Das Feuer. Roman. Aus dem Französischen von Leo von Meyenburg.Tredition, Hamburg. 404 Seiten, 19,90 Euro.

Etappenleben

Hinter die Front, so schnell es gehtHelden bekommen Denkmäler, weil sieselbst nicht mehr erzählen können. IhreKarriere krönt der Heldentod. Schlump,Soldat des Kaisers, will diese Art Helden­tum vermeiden, wobei ihm das Schicksalkräftig unter die Arme greift. Zunächst wä­re er nämlich naiv genug, willig bis in dievordersten Gräben zu marschieren. Aberder Zufall macht den erst 17­Jährigen füreine Weile und gleich zu Anfang seines Kriegseinsatzes vertretungsweise zum Kommandanten eines kleinen französi­schen Dorfes. Und Schlump gewöhnt sich an die Distanz zum Sterben in den Gräben,ans gute Essen, an die schönen Mädchenund an den Versuch, mit dem unter seinerFuchtel stehenden Feind zu angenehmenKompromissen zu kommen, damit dasLandleben weitergehen kann.

Hans Herbert Grimm (1896–1950), der„Schlump“ 1928 veröffentlichte, mischtElemente des Schelmenromans mit allerHärte der Weltkriegsliteratur. Als Schlumpwirklich einmal an die Front muss, erlebt erin Kürze all das, wovon andere Romaneausschließlich erzählen: das pure Grauen.Dieser Unkriegerische verdrückt sich als­bald nach hinten. Die Nazis begriffen sol­che Literatur als Wehrkraftzersetzung undhaben sie gehasst und verbrannt. Schlumpsunheldische Überlebenskunst ist pure Not­wehr. Aber die Etappenoffiziere rundum, die andere in den Tod schicken, erscheinenhier als miese Verbrecher. tkl

Hans Herbert Grimm: Schlump.Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 348 Seiten, 19,99 Euro.

Bergkampf

Urgeschichte der GewaltDie Berge gelten gemeinhin als das Erhabe­ne, an dem der Mensch seine moralischeAutonomie gegen die Herausforderung derNatur behauptet. Davon lebt der Alpinis­mus ebenso wie das touristische Sehn­suchtsbild der Bergidylle. Doch entlangeiner der malerischsten Alpenkulissen, die man sich vorstellen kann, den Dolomiten,verlief im Ersten Weltkrieg eine erbittert umkämpfte Frontlinie, an der nicht nurTausende österreichischer und italieni­scher Soldaten zuschanden wurden, son­dern auch der Glaube an eine wie auch im­mer geartete moralische Integrität.

Der intellektuelle Einzelkämpfer UweNettelbeck hat 1976 in seiner Material­montage „Der Dolomitenkrieg“ den Front­verlauf aus Fragmenten zeitgenössischerPropaganda, Kriegsberichterstattung undHeldenkitsch nachgezeichnet und dabeidie Demarkationslinie zwischen Barbarei und Zivilisation neu vermessen – so langeund so gründlich, bis von ihr nichts mehrübrig blieb. Mit historischen Fotos ver­sehen ist sein Bericht nun neu erschienen.Wegen strategisch belangloser Geländege­winne belagern sich alpine Stoßtrupps inlebensfeindlichster Umgebung und unter­höhlen Gletscher und Berge mit ameisen­hafter Beharrlichkeit, nur um die Stollen­systeme sogleich mit immer gewaltigerenSprengladungen wieder in die Luft zu ja­gen. Der Phrasenstaub auf der Wendungvon der Absurdität des Kriegs wird von die­sem aus höchsten Regionen niedergehen­den Springquell der Vernichtung reinge­waschen. Größer als die Berge ist nur derWahnsinn der Menschen. kir

Uwe Nettelbeck: Der Dolomitenkrieg. Mit einem Nachwort versehen von DetlevClaussen. Berenberg Verlag, 152 Seiten, 20 Euro.

Grabenkrieg

Zerrieben im TrommelfeuerDie Soldaten des Ersten Weltkriegs lagennicht einfach hingeduckt in Dreck und Ku­gelhagel. Sie lagen in einem gigantischenMörser, dessen Stößel die Idee vom Wertdes Individuums zerrieb. Das begreift manwieder sehr deutlich, wenn man „Golgatha“von Peter Schmitz (1887–1938) liest, der1935 erstmals im deutschsprachigen Bel­gien erschienen ist.

Als der 26­jährige Künstler und Kunst­händler Schmitz 1914 als Freiwilliger in denKrieg zog, war seine Heimatstadt Eupenwieder einmal Teil von Deutschland. Aberin seinem stark autobiografisch geprägtenRoman wird die Begeisterung für Erobe­rungszüge, die auch in oft die Herren wech­selnden Grenzgebieten vorkommt, nurnebenbei erwähnt. Früh schon sind die Sol­daten von Skepsis geprägt, vom schlichten Wunsch, halbwegs heil heimzukommen.

Die Zweiklassengesellschaft von Front­schweinen und Etappenoffizieren, dieOhnmacht im Trommelfeuer, die Mono­tonie des äußersten Entsetzens, die derTodesgefahr die letzte Würde der Extrem­situation nimmt, indem sie aus ihr einenindustriell herstellbaren Dauerzustandmacht, womit sich der Mensch schlicht alsfehlkonstruiertes, zu schwaches Teil derneuen Welt erweist – die schildert Schmitzso gut wie nur einer. Dass es ihm an sprach­lichem Protz fehlt, macht ihn authentisch. Hier müht sich einer mit dem nicht Be­schreibbaren, ohne es in die Distanz des polierten Kunsthandwerks zu rücken. tkl

Peter Schmitz: Golgatha. Roman. DonatVerlag, Bremen. 336 Seiten, 16,80 Euro.

Jäger und OpferWiederentdeckung Ludwig Winder zeichnet in seinem Roman „Der Thronfolger“ ein grandioses Psychogramm. Von Stefan Kister

Der Funke, der die Welt entzündetWeltkrieg Am 28. Juni jährt sich zum hundertsten Mal der Tag des Attentats von Sarajevo. Eine Buchseite zum Thema.

Die Illustrationen sind dem Band „Der Erste Weltkrieg in 100 Objek­ten“ (Theiss Verlag, 24,95 Euro) entnommen, erschienen zur Aus­stellung „1914–1918“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin ( bis zum 30. November). Großes Bild: Gasmaske M 1917. Danebenvon oben nach unten: Chirurgisches Lazarettbesteck; Armprothese;Maschinengewehr M 1908. Fotos: Verlag

Großer Krieg1914–1918 Erinnerung an

die Urkatastrophe eines

Jahrhunderts

34 Nr. 139 | Freitag, 20. Juni 2014STUTTGARTER ZEITUNGDAS BUCH