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Der Joker

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Edgar Wallace

Der Joker

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Aus einer Seitenstraße in der einsamsten Gegend Londons kommen plötzlich drei Männer. »Schnell, rufen Sie das Überfallkommando!« flüstert Kriminalinspektor Jim Carlton seiner Begleiterin zu. Gleich darauf nähert sich ihm einer von den dreien. »Packt ihn!« schreit jemand. Daß gleichzeitig der Millionär Stratford Harlow auftaucht, erscheint dem Inspektor durchaus nicht als ein Zufall. Er war Harlow nämlich auf die Spur gekommen...

ISBN 3-442-00159-5 The Joker

Aus dem Englischen übertragen von Eise Baronin Werkmann Made in Germany • 7/80

Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München

Umschlagfoto: Eyke Volkmer

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Stratford Harlow war sehr wohlhabend. Er haßte jede Eile, und neben seinem Sinn für Ruhe und Gemächlichkeit zeichnete ihn besonders eine unstillbare Neugierde aus.

Harlow, ein ausgezeichneter Beobachter, konnte sich sogar für das nichtigste, alltäglichste Ereignis interessieren. Er litt nicht im geringsten unter zu großer Feinfühligkeit, die bekanntlich ein genaues Erfassen der Tatsachen beeinträchtigt.

So einer war auch Leonardo da Vinci gewesen, der, den blutgetränkten Boden des Schafotts als Staffelei benutzend, in aller Seelenruhe die Todesqualen gemarterter Delinquenten auf dem Zeichenpapier festhalten konnte. Harlow, der für Maler sonst nichts übrig hatte, schätzte Leonardo. Auch er konnte in aller Seelenruhe Bilder in sich aufnehmen, an denen die meisten anderen Menschen schaudernd vorbeigehastet wären. Selbst wenn er es eilig hatte, blieb er stehen, um das Farbenspiel eines herbstlichen Sonnenunterganges in sich aufzunehmen, aber bei Gott nicht, um sich an dem herrlichen Schauspiel zu erfreuen, sondern nur, um sozusagen die Menge der Schönheit zu berechnen.

Er war ein blonder, großer Mann von achtundvierzig Jahren und hatte einen Anflug von Glatze. Sein tadellos rasiertes Gesicht wies keine besonderen Züge, seine Haut keinen Makel auf. Blaßblaue Augen werden für gewöhnlich nicht als schön angesehen. Harlows Augen aber waren so blaßblau, daß empfindsame Menschen, die ihm zum ersten Male in die Augen sahen, zurückschraken; sie mußten ihn für blind halten. Seine starke und lange Nase war von der Stirn bis zur Spitze gleichmäßig dick. Der Mund war im Paß als ›voll‹ beschrieben; die Lippen waren auffallend rot und wulstig. Ein rundliches Kinn mit einem Grübchen in der Mitte und ungewöhnlich kleine

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Ohren ergänzten das Bild dieses Mannes. Sein mächtiger Wagen hielt, die äußeren Räder auf dem

Rasen, am Straßenrand. Die Hände am Steuer, sah Harlow zu, wie sich auf dem Feld Männer in Reihen zusammenschlossen. In solchen Augenblicken träumerischer Versunkenheit gebar sein Geist große Ideen; aus dem wesenlosen Nichts tauchten die Umrisse gewaltiger Pläne auf. Und merkwürdig – gerade Gefängnisse befruchteten seinen Geist am meisten.

Die Männer zogen jetzt über das Feld. Ein schmächtiger Gefangenenaufseher, das Gewehr unter dem Arm, führte sie, ein zweiter ging am Schluß der Kolonne. Die Gefangenen waren frische, sonnenverbrannte Gesellen in gestreiften Jacken und Hosen.

Sie hatten jetzt die Straße erreicht und kamen auf ihn zu. Der Aufseher an der Spitze warf dem gutangezogenen Fremden einen mißtrauischen Blick zu, aber die Gefangenen warfen den Kopf in den Nacken, als wären sie sich bewußt, ein ungewöhnliches Schauspiel zu bieten. Die ersten Reihen blinzelten ihm zu und grinsten recht freundlich, in der dritten Reihe aber war ein Mann, der weder nach rechts noch nach links sah. Sein Blick war düster, seine dünnen Lippen waren höhnisch geschürzt. Er zuckte mit der einen Schulter. Der Beobachter deutete dies als Ausdruck einer Verachtung, die weniger ihm persönlich als der Welt freier Menschen gelten sollte, die Harlow repräsentierte.

Sich auf seinem Sitz umwendend, gewahrte er, wie die kleine Kolonne durch das ›Tor der Verzweiflung‹ marschierte und hinter dem Eisengitter verschwand.

Der Autofahrer drückte auf den Anlasser. Geduldig manövrierte er dann so lange, bis der Wagen in der Richtung nach Princetown stand. Tavistock und Ellenbury mochten einen Tag warten – auch eine Woche, wenn es nicht anders sein konnte. Denn in seinem Gehirn war ein Gedanke aufgeblitzt, der

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hier ausgearbeitet und in die Tat umgesetzt werden mußte. Geräuschlos hielt Harlows Wagen vor dem Hotel ›Duchy‹ .

Der Portier stürzte die Stufen herab. »Was ist denn geschehen, mein Herr?« »Nichts. Ich habe es mir überlegt: will noch einen Tag

dableiben. Kann ich noch mein Appartement haben? Wenn nicht, dann irgendein anderes Zimmer.«

Das Appartement war, wie man ihm sagte, noch nicht vermietet. Sein kleiner Koffer wurde die Treppe hinaufgetragen.

Ihm fiel ein, daß Ellenbury, der nicht weit von hier war, ganz gut übers Moor kommen könnte. So ersparte er sich einen langweiligen Tag in Tavistock.

Er setzte sich ans Telefon. Nach fünf Minuten meldete sich mit ängstlicher Stimme Ellenbury.

»Kommen Sie doch nach Princetown herüber«, sagte Harlow. »Ich wohne im ›Duchy‹ . Aber lassen Sie sich's nicht anmerken, daß Sie mich kennen. Wir werden erst nach dem Essen in der Halle miteinander bekannt werden.«

Harlow verzehrte sein bescheidenes Mahl an einem Tisch, von dem aus man den Platz vor dem ›Duchy‹ übersah.

Da kam auch schon Ellenbury: ein kleiner, hagerer, nervöser Mann mit dem Anflug eines weißen Backenbartes. Der Neuankömmling betrat das Speisezimmer, warf einen raschen Blick um sich, stellte fest, wo Harlow saß, und nahm dann an einem Tisch in dessen Nähe Platz.

Im Speisezimmer waren nur wenige Tische besetzt. Die Mitglieder zweier Autogesellschaften, die von Torquay gekommen waren, aßen plaudernd in den einander gegenüberliegenden Ecken des Zimmers. An einem dritten Tisch saßen ein ältlicher Mann und seine dicke Frau, wieder an einem anderen ein Mädchen, das offenbar allein bleiben wollte.

Frauen interessierten Harlow nur, wenn sie Gegenstand eines

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Problems oder eines Versuches waren; da es aber zu seinen Gepflogenheiten gehörte, alles und jeden zu klassifizieren, stellte er in seiner kühlen, sachlichen Art fest, daß sie hübsch und ungewöhnlich aussah. Darin unterschied sie sich von den meisten Menschen, denen man sogleich die kleine Vorortstraße, in der sie lebten, oder das steingraue Geschäftsviertel, in dem sie arbeiteten, anmerkte.

Ihre Augen konnte er nicht sehen; was aber von ihr zu sehen war, konnte vollkommen genannt werden. Wenn ihn nicht alles trog, so war ihr Teint makellos. Ihr Haar war unter einem kleinen schwarzen Hut verborgen. Die Art, wie sie sich ihrer Hände bediente, gefiel ihm. Er sah in der Bewegung von Händen eine Entschleierung des Geistes. Ihre Gestalt – wie sollte man die nennen? Sein Wortschatz war nüchtern, sachlich, gar nicht blumenreich. Vielleicht konnte man ›anmutig‹ sagen. Er schürzte seine Lippen. Ja, anmutig – aber warum sollte man ›anmutig‹ sagen? Wie er so nachsann, hob sie leicht den Kopf und blickte ihn an. Ihr Profil war hübsch gewesen, aber jetzt... Sie ist schön, gestand sich Stratford Harlow, aber wahrscheinlich hat sie eine Stimme, die durch Mark und Bein geht.

Nichtsdestoweniger wollte er eine Enttäuschung riskieren. Sein Interesse an ihr war ein ganz unpersönliches. In seinem Leben hatten zwei Frauen, die eine alt, die andere jung, eine wichtige Rolle gespielt. Trotzdem konnte er an sie ganz sachlich denken. Er liebte sie nicht, noch haßte er sie, wie man ja auch ein Kunstwerk weder liebte noch haßte. Man bewunderte es. Nützlich aber war es nicht.

Der Kellner kam und nahm die Platte weg. Auf Harlows Frage antwortete er leise: »Fräulein Rivers. Sie

kam heute früh an und fährt mit dem letzten Zug nach Plymouth zurück. Sie besucht hier jemanden.«

Er warf Harlow einen vielsagenden Blick zu, worauf dieser

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seine buschigen Augenbrauen hochzog. »Eingesperrt?« fragte Harlow. Der Kellner nickte. »Ihr Onkel – Arthur Ingle, der bekannte

Schauspieler.« Nun nickte Harlow. Undeutlich entsann er sich des Namens.

Ingle...? Er begann die Bruchstücke seiner Erinnerung zusammenzusuchen und zusammenzufügen. Er hatte einer Verhandlung des Gerichtshofes damals beigewohnt... Jetzt erinnerte er sich. Ingle! Ein asketisches Gesicht, das die Wut entstellte. Ingle, der Schauspieler, der gefälscht und betrogen hatte, bis er schließlich erwischt worden war. Stratford Harlow lachte in sich hinein: Er erinnerte sich nicht nur des Namens, sondern auch des Mannes, und er hatte ihn heute vormittag gesehen. Das war der Mann, der mit der Schulter gezuckt hatte, als er hinter den anderen einhergetrottet war. Das also war Ingle? Und Schauspieler war er auch.

Harlow war nach Princetown zurückgekehrt, um herauszubringen, wer der Sträfling war.

Als er wieder aufblickte, verließ das Mädchen eben raschen Schrittes den Raum. Nun erhob auch er sich, um ihr zu folgen. Die große Halle war leer. Er setzte sich in die entlegenste und verborgenste Ecke und bestellte sich Kaffee und Zigarren. Im nächsten Augenblick kam auch Ellenbury herein. Aber Harlows Gedanken weilten anderswo. Durch das Fenster sah er, wie Fräulein Rivers den Platz in der Richtung des Postamtes überquerte. Auch er ging hinaus und betrat das Postamt. Sie kaufte gerade Briefmarken. Es freute ihn, zu entdecken, daß ihre Stimme allen seinen Wünschen entsprach.

Mit achtundvierzig Jahren hatte man schon seine gewissen Vorrechte. Leichter als ein Achtundzwanzigjähriger fand man eine Anknüpfungsmöglichkeit. »Guten Morgen, mein Fräulein. Wohnen Sie nicht auch drüben im Hotel?«

Er sagte das mit einem Lächeln, das man ›väterlich‹ nennen

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mochte. Sie warf ihm einen Blick zu und lächelte ebenfalls. Das Lachen fiel ihr so leicht, daß ihr der Besuch im Zuchthaus nicht allzu nahegegangen sein konnte.

»Ich habe im ›Duchy‹ gegessen, aber ich bin dort nicht abgestiegen. Die Stadt ist fürchterlich klein und langweilig!«

»Auch sie hat ihre Schönheiten«, widersprach Harlow. Er reichte sechs Pence zum Schalter hinein und kaufte einen Lokalfahrplan. Er wartete noch, bis das Mädchen mit dem Zählen des Wechselgeldes fertig war, und blieb an ihrer Seite, als sie das Gebäude verließ.

»Und auch ihre romantischen Seiten«, fuhr er fort. »Nehmen Sie nur einmal ›Feathers Inn‹ .«

Von dem Platz, wo sie standen, war nur die Spitze von einem der hohen Schornsteine des Gefängnisses zu sehen. Sie gewahrte, daß er dorthin sah und den Kopf schüttelte.

»Das da allerdings, das ist furchtbar – furchtbar! Ich habe es versucht, mich zu überwinden und hineinzugehen, aber ich bringe es nicht fertig.«

»Haben Sie...?« Sie beendete die Frage nicht. »Einen Freund – ja. Er war mir vor vielen Jahren ein sehr guter Freund, aber der arme Teufel konnte nicht auf dem rechten Wege bleiben. Ich habe ihm halb und halb versprochen, ihn zu besuchen, aber ich schrecke davor zurück.« Harlow hatte in keinem Gefängnis einen Freund. Sie sah ihn nachdenklich an. »Es ist gar nicht so fürchterlich. Ich war gerade erst drinnen«, sagte sie ohne jede Verlegenheit. »Mein Onkel ist dort.«

»Wirklich?« Seine Stimme hatte gerade die richtige Mischung von Mitgefühl und Verstehen.

»Es war mein zweiter Besuch in vier Jahren. Das ist natürlich nichts für mich, und ich werde froh sein, wenn die Geschichte vorüber ist. Ein solcher Besuch ist immerhin – peinlich.«

Sie schritten jetzt langsam dem Hotel zu. »Natürlich muß es

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für Sie äußerst peinlich sein. Die armen Teufel tun Ihnen gewiß leid.«

»Ihr Schicksal bedrückt mich nicht allzusehr. Das mag sehr gefühllos klingen, aber es ist nun einmal so.« Sie zögerte ein wenig. »Zwischen meinem Onkel und mir herrscht keine große... große Zuneigung. Aber ich bin seine einzige Verwandte, und ich kümmere mich notgedrungen um« – wieder schien sie den passenden Ausdruck zu suchen – »seine Angelegenheiten und sein Geld. Aber es ist ihm nicht leicht recht zu machen.«

Harlow interessierte das alles ganz ungemein; der Besuch zeigte sich in einem unerwarteten Licht.

»Es wäre schrecklich, wenn ich ihn gern hätte oder er mich liebte«, fuhr sie fort, wobei sie am Fuß der Hoteltreppe stehenblieb. »Doch wie die Dinge nun einmal liegen, besprechen wir nur rein Geschäftliches. Das ist alles. Nicht mehr.«

Mit einem freundlichen Nicken verabschiedete sie sich von ihm und trat ins Hotel. Harlow blieb lange auf der Schwelle stehen. Sein Blick suchte kein bestimmtes Ziel, aber sein Geist arbeitete fieberhaft. Dann kehrte er zu seinem kalt gewordenen Kaffee zurück und fing mit dem nervösen kleinen Mann, der auf ihn gewartet hatte, ein Gespräch über das Wetter und die Ernte an.

Die beiden waren nun ganz allein. Die Autogesellschaften waren unter Lärm und Trubel aufgebrochen; der alte Herr und die dicke Dame traten einen Spaziergang an, als Harlow in die Halle kam.

»Alles in Ordnung, Ellenbury?« »Ja, Herr Harlow«, sagte der kleine Mann eifrig. »Alles ist so,

wie es sein soll. Ich habe die Klage der französischen Versicherungsgesellschaft gegen die ›Rata‹ aus der Welt geschafft, und –«

Jäh brach er ab. Er starrte durch das Fenster. Harlows Augen

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folgten seinem Blick. Acht Sträflinge marschierten durch die Straßen dem Bahnhof

zu, aber diese waren, anders als die Leute, die er am Morgen gesehen hatte, mit Ketten aneinandergeschlossen. Harlow wies mit dem Finger auf sie.

»Kein sehr erfreulicher oder angenehmer Anblick«, sagte er. Wenn er gerade gesprächig war, konnte seine Stimme voll und angenehm klingen. »Immerhin einer, an den die abgestumpften Einwohner von Princetown schon gewöhnt sein dürften. Ich denke mir, daß diese Leute in ein anderes Zuchthaus kommen. Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie Sie sich fühlen würden, wenn Sie, in Ketten wie ein wildes Tier, an der Spitze eines solchen Trupps marschieren müßten?«

»Um Gottes willen, hören Sie auf!« krächzte der kleine Mann. »Sprechen Sie nicht so! Sprechen Sie nicht davon!« Er bedeckte seine Augen mit den zitternden Händen. Mit einer Stimme, die kaum vernehmlich war, sagte er: »Mir graute hierherzukommen. Noch nie war ich hier – der Wagen fuhr an dem fürchterlichen Torbogen vorbei, und ich wurde fast ohnmächtig.«

Harlow lächelte nachsichtig, während er mit einem Auge noch immer nach der Tür schielte. »Sie haben nichts zu fürchten, mein lieber Ellenbury«, sagte er in väterlichem Ton. »Ich habe Ihnen Ihr Vergehen in gewissem Sinn vergeben. In gewissem Sinn«, betonte er noch einmal. »Ob ein Richter ebenso dächte, weiß ich nicht. Sie kennen die Gesetze besser als ich. Das eine ist gewiß: Sie sind frei. Ihre Schulden sind bezahlt, das Geld, das Sie Ihren Klienten gestohlen haben, ist ersetzt, und Sie haben ein Einkommen, das man ganz zufriedenstellend nennen darf.«

Der kleine Mann nickte und schluckte. Er war weiß bis in die Lippen, und als er sein Glas erfassen wollte, zitterte seine Hand so, daß er es wieder niederstellen mußte.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte er. »Sehr, sehr dankbar. –

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Wie mich das mitnimmt! Es war ein bedrückender Eindruck.« »Natürlich«, murmelte Harlow. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche, öffnete es recht

umständlich und schrieb etwas hinein. Der kleine Anwalt sah ihm zu. Dann riß Harlow das Blatt aus dem Büchlein und schob es über den Tisch.

»Ich möchte alles über diesen Arthur Ingle wissen«, sagte er. »Wann seine Strafe zu Ende geht, wo er in London oder sonstwo lebt, seine Mittel und vor allem die Ursache seines Grolles gegen die Gesellschaft und das Leben. Ich kenne die Ursache nicht, möchte aber annehmen, daß sie tief und groß ist. Ich würde auch gerne wissen, wo seine Nichte angestellt ist. Sie werden ihren Namen mit einem Fragezeichen dahinter auf dem Blatt finden. Ich möchte wissen, wer ihre Freunde sind, welche Vergnügungen sie liebt, wie ihre finanzielle Lage ist. Das ist mir besonders wichtig.«

»Ich verstehe.« Ellenbury steckte das Blatt mit großer Sorgfalt in eine abgegriffene Brieftasche. Und dann sagte er ganz unvermittelt, wie er es gerne tat: »Ich habe etwas vergessen, Herr Harlow. Am vergangenen Montag habe ich in meinem Büro in Lincoln's Inn einen Besuch der Polizei bekommen.« Er sagte das in gewissermaßen entschuldigendem Ton, als ob er für seine Besucher verantwortlich wäre.

Harlow wandte seine blassen Augen dem Tischgenossen zu und forschte lange in dessen Zügen. Dann erst fragte er: »In welchem Zusammenhang?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Ellenbury, dessen Gesicht alle Gemütsbewegungen, die er beschrieb, auszudrücken pflegte. »Es war sehr beunruhigend.« Er verzog sein Gesicht zu einem Ausdruck der Bestürzung. »Sie wissen ja, Herr Carlton kam zu keinem Ergebnis.«

»Carlton?« murmelte Harlow vor sich hin. »Ist das der Mensch, der im Auswärtigen Amt Dienst macht?« Ellenbury

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nickte. »Und?« »Es handelte sich um den Kautschukbrand – die Feuersbrunst

in der ›United Continental. Er wollte wissen, ob die ›Rata‹ die verbrannten Vorräte versichert hätte. Natürlich sagte ich ihm, daß wir die Vorräte, soviel ich wüßte, nicht versichert hätten.«

»Sagen Sie nicht wir«, widersprach Harlow freundlich. »Sagen Sie: das Rata-Syndikat hätte keine Versicherung laufen. Sie sind doch ein Anwalt, der im Auftrag anonymer Gesellschafter handelt. Weiter!«

»Sonst nichts«, antwortete Ellenbury. »Carlton war in seinen Reden sehr unbestimmt und dunkel.«

»Er ist immer unbestimmt und dunkel«, unterbrach Harlow mit einem schwachen Lächeln, »und er ist niemals von Skrupeln beschwert – denken Sie daran, vergessen Sie das nicht, Ellenbury! Inspektor James Carlton ist der skrupelloseste Mensch, den es bei Scotland Yard jemals gegeben hat. Er wird eines Tages unfehlbar erledigt oder befördert werden. Ich bewundere ihn sehr. Ich kenne keinen Menschen, dessen Verstand, Scharfsinn und – Skrupellosigkeit ich höher einschätzen würde. Er hat eine geradezu merkwürdige Kombinationsgabe, und er kombiniert richtig. Die Fähigkeit, richtige Schlüsse zu ziehen, ist die seltenste von allen menschlichen Eigenschaften. Für gewöhnlich weiß man ja nicht, was ein Mensch im nächsten Augenblick unternimmt. – Das klingt beinahe wie ein Epigramm, Ellenbury, was? Notieren Sie es, damit Sie Material haben, wenn Sie jemals aufgefordert werden sollten, meine Lebensgeschichte zu schreiben.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich werde am Freitag um elf Uhr abends in der Park Lane sein und stehe Ihnen dort zehn Minuten zur Verfügung«, sagte er.

Ellenbury machte ein unglückliches Gesicht. »Ist das nicht gefährlich – für Sie, meine ich«, platzte er heraus. »Vielleicht rede ich dumm daher, ich kann aber nicht begreifen, warum

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Sie... Bei all Ihrem Geld...« Harlow lehnte sich im Sessel zurück; in seinen blassen Augen

blitzte es belustigt auf. »Wenn Sie Millionen besäßen was würden Sie tun? Natürlich sich zur Ruhe setzen. Ein schönes Haus bauen oder kaufen – und dann?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Ältere ausweichend. »Man könnte auf Reisen gehen...«

»Der Engländer kennt nur zwei Arten von Glück: Der eine reist, der andere bleibt still daheim. Rennen oder rasten! Ich könnte heiraten, will mich aber nicht verheiraten. Ich könnte mir einen großen Stall halten, ich habe aber für Rennen nichts übrig. Ich könnte mir eine Jacht kaufen, ich verabscheue jedoch die See. Aber brauche nicht auch ich meine Sensationen? Ja, gewiß. Die Kunst zu leben ist auch die Kunst zu siegen. Notieren Sie das! Ist in Karten, Pferden, im Golf, bei den Frauen das Glück zu finden? Ich werde es Ihnen sagen, was Glück ist. Den besten Mann in seinem Fach zu schlagen. Worin besteht eigentlich der Genuß beim Alpinismus, bei Forschungsreisen, bei wissenschaftlichen Erfindungen? Darin, daß man etwas Größeres vollbringt, als je ein Mensch vollbracht hat – daß man weiter, höher kommt, daß man seinen Fuß dem nächstbesten auf den Nacken setzt.«

Er blies eine Rauchwolke durch das offene Fenster und sah zu, wie der Wind den Rauch in Fetzen und schließlich in nichts zerblies.

»Wenn man Millionär ist, dann zieht man sich entweder in sich selbst zurück und wird ein Tier, oder man wirkt nach außen und wird seinen Mitmenschen zur Qual. Ist man wie Napoleon veranlagt, dann wird man dem Machtgelüst frönen, ist man ein Leonardo, dann wird man seine Befriedigung in Kunst und Wissenschaft suchen – der Preis ist gleichgültig, das Spiel, der Kampf, das Ringen allein zählt. Jede Leistung bedeutet einen Nervenkitzel, eine Sensation – ob man nun beim Golf den Ball

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weiter schlägt als der Mitspieler, oder ob man die flandrischen Ebenen mit den Leichen seiner Feinde bedeckt. Meine Ansprüche an Sensationen sind schwerer zu befriedigen als die der meisten anderen Menschen. Ich bin Millionär. Das Pfund, der Dollar – das sind meine Soldaten. Ich habe das Recht, meine eigenen Regeln für den Krieg aufzustellen, meine Beutezüge nach eigenem Gutdünken zu unternehmen. – Fragen Sie mich nichts mehr!«

Er deutete mit der Hand zur Tür, womit Ellenbury verabschiedet war.

Gleich danach fuhr dessen Taxi den Hügel hinauf, am Tor des Zuchthauses vorüber. Ellenbury sah krampfhaft nach der anderen Seite.

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Ungefähr acht Monate später ereignete sich am Embankment in London ein Autounfall. Das Mädchen in dem gelben Regenmantel und der Mann, der in dem Auto saß, hatten es beide eilig – allerdings aus verschiedenen Gründen. Es war ein leichter Nebel, der am Abend wohl undurchdringlich werden würde. Durch die diesige Luft sickerte ein feiner Regen, der die spiegelnde Oberfläche der Straße noch glatter machte.

Der Kotflügel des alten Fords erwischte Aileen Rivers gerade unter dem linken Ellbogen. Sie wirbelte in einigen Pirouetten herum, die sie sich gar nicht zugetraut hätte, und dann stieß ihre Nase auf einen schimmernden weißen Knopf. Im nächsten Augenblick schon glitt sie vor einem Schutzmann in geradezu romantischer Weise auf die Knie. Der hob sie auf, sah sie an, stellte sie neben sich auf die Beine und schritt nun auf den Platz zu, wo die Scheinwerfer des Wagens einen verbogenen Laternenpfahl beleuchteten.

»Was fällt Ihnen ein!« sagte er ernst. Und schon griff er nach seinem Notizbuch.

Der junge Mann, der aus dem Auto gestiegen war, wischte sein beschmutztes Gesicht mit dem Handrücken ab, was nur dazu beitrug, daß er den Schmutz noch mehr verschmierte.

»Ist dem Mädchen etwas geschehen?« fragte er rasch. »Kümmern Sie sich nicht um das Mädchen, zeigen Sie mir

lieber Ihren Führerschein!« Ungeachtet dieser amtlichen Aufforderung ging der junge

Mann zu Aileen hin, die mittlerweile einigen älteren Damen, die sich um sie versammelt hatten, versicherte, daß sie nicht verletzt sei.

Der große junge Mann – der im Licht der Straßenlampe gar

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nicht so jung aussah – drängte sich zur Mitte der Gruppe von Neugierigen vor.

»Sind Sie verletzt?« fragte er besorgt. »Es tut mir furchtbar leid – wirklich! Ich sah Sie erst, als Sie dicht vor meinem Wagen waren.«

Eine Stimme aus dem Hintergrund gab Ratschläge und Ermahnungen. »Diese jungen Leute sollten besser achtgeben! Man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher!«

»Wollen Sie mir nicht Ihren Namen nennen?« Er griff in seine Tasche und fand dort einen alten Briefumschlag.

»Das ist ja gar nicht nötig. Mir ist nicht das mindeste geschehen«, sagte sie nachdrücklich.

Aber er gab nicht nach. Er notierte ihren Namen und ihre Adresse. Kaum war er damit fertig, da hatte sich auch schon der Schutzmann durch die Menge gedrängt.

»Sie!« sagte er in einem Ton, der Ärger und Tadel verriet. »Sie haben nicht wegzulaufen, wenn ich mit Ihnen spreche, mein Freund! Bleiben Sie ruhig stehen und zeigen Sie mir Ihren Führerschein.«

»Haben Sie die blaue Limousine gesehen?« fragte der junge Mann. »Sie war gerade vor mir, als ich an den Laternenpfahl fuhr.«

»Kümmern Sie sich nicht um blaue Limousinen«, wies ihn der Beamte wütend zurecht. »Ihren Führerschein will ich sehen!«

Der junge Mann zog etwas aus der Tasche und hielt es in der Hand. Es sah einem Führerschein zwar ähnlich, war aber doch etwas anderes.

»Was soll das sein?« fragte der Schutzmann unwirsch. Er schlug das leinengebundene Büchlein auf und knipste seine Taschenlampe an. »Hm«, sagte er. »Entschuldigen Sie, Sir.«

»Schon gut«, gab Inspektor James Carlton von Scotland Yard zurück. »Ich werde jemanden herschicken, um die Trümmer

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wegzuräumen. – Haben Sie die Limousine gesehen?« »Ja, Sir – gerade vor Ihnen. Der Kühler war eingedrückt.« »Auch das haben Sie gesehen? Ich werde Sie daran erinnern.

Man sollte eigentlich das Mädchen in einem Taxi nach Hause schicken – nein, ich werde sie selbst mitnehmen.«

Aileen hörte das durchaus ohne Begeisterung. »Ich würde es vorziehen, zu gehen«, sagte sie mit fester Stimme.

Er führte sie von der Menge weg, die der Schutzmann jetzt zerstreute. Und mit ihr halbwegs allein, stellte er sich vor. »Ich bin Polizeibeamter«, erklärte er.

Sie riß erstaunt die Augen auf. Er sah gar nicht wie ein Polizist aus – auch nicht im Nebel, der einem leicht einen Possen spielen konnte. Er glich eher einem Taxichauffeur, aber keinem, der gute Geschäfte zu machen schien. Er trug eine Sportmütze und einen Anzug, der wohl einmal bessere Tage gesehen hatte; die Handschuhe, die er unter dem Arme hielt, waren voller ölflecke.

»Trotzdem!« sagte er, als ob sie ihrem Erstaunen laut Ausdruck verliehen hätte. »Ich bin Polizeibeamter. Aber kein gewöhnlicher Schutzmann – ich bin Inspektor.«

»Warum erzählen Sie mir das alles?« Er hatte bereits ein Auto herbeigewinkt und öffnete die Tür.

»Sie könnten etwas gegen die Begleitung durch einen gewöhnlichen Polizisten einzuwenden haben.«

Zwischen Weinen und Lachen stieg sie in den Wagen. Ihr Ellbogen schmerzte mehr, als sie zugeben wollte.

»Rivers – Aileen Rivers«, murmelte er, als der Wagen langsam an der Themse entlangfuhr. »Es liegt mir auf der Zunge, was ich von Ihnen weiß, aber es will mir nicht einfallen, woher ich den Namen kenne.«

»Wenn Sie in der Kartei von Scotland Yard nachsehen wollten...?« spottete sie, um ihn zu strafen.

»Ich habe schon daran gedacht«, antwortete er ganz ruhig.

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»Aileen Rivers?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, es will mir nicht einfallen.«

Natürlich war es ihm bereits eingefallen. Er wußte, daß sie die Nichte Arthur Ingles war, der seinerzeit in Shakespeare-Dramen aufgetreten war und jetzt wegen Betruges und Fälschung fünf Jahre abzusitzen hatte.

»Fotheringay Mansions.« Er fingerte an seinem schmutzigen Kinn herum. »Wie großartig!«

Sie wandte sich ihm in plötzlich aufflammendem Zorne zu. »Ich habe Ihre Begleitung angenommen, Herr –« Sie machte eine beleidigende Pause.

»Carlton«, murmelte er, »Stiefbruder des Hotels, doch nicht verwandt mit dem Club. Sie sagten...?«

»Ich wollte sagen, daß es mir lieb wäre, wenn Sie schwiegen. Sie haben Ihr möglichstes getan, mich zu töten. Lassen Sie mich jetzt wenigstens in Frieden sterben.«

Er starrte durch die vom Nebel beschlagenen Scheiben. »An der Westminster-Brücke verkauft eine alte Frau Blumen. Wir könnten halten und ein paar kaufen.« Und dann rasch: »Entschuldigen Sie. Ich wollte über Ihr plutokratisches Heim nichts fragen und nichts sagen.«

»Ich wohne nicht hier«, antwortete sie wie zur Verteidigung. »Ich komme manchmal her, um nachzusehen, ob alles gut instand gehalten wird. Das Haus gehört einem... einem... Verwandten, der auf Reisen ist.«

»Monte Carlo?« murmelte er. »Ein hübscher Ort. Rien ne va plus! Faites votre jeu, Messieurs et Mesdames! Ich für meine Person ziehe allerdings San Remo vor. Blauer Himmel, blaues Meer, grüne Hügel, weiße Häuser – ganz wie ein Eisenbahnplakat.« Dann ging er auf ein anderes Gesprächsthema über. »Und da wir schon von Bläue sprechen: Sie können von Glück sagen, daß Sie nicht von der blauen Limousine überfahren wurden. Sie war viel schneller als mein

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alter Ford. Allerdings hatte sie bessere Bremsen. Ich fuhr ihr im Nebel in den Kühler hinein, aber auch das veranlaßte sie nicht, anzuhalten.«

Sie kräuselte ihre Lippen. »Ein Verbrecher, der sich der Gerechtigkeit entzieht – könnte man denken! Wie romantisch!«

Der junge Mann kicherte. »Falsch gedacht! Es war ein Millionär, der zu einem Bankett in der City fuhr. Und das einzige Verbrechen, das ich ihm vorwerfen kann, ist, daß er brillantene Hemdknöpfe trägt, was aber mehr meinem Geschmack als den Gesetzen Englands zuwiderläuft.«

Der Wagen fuhr langsamer, der Chauffeur beugte sich hinaus, um zu sehen, wo er halten solle.

»Da sind wir«, sagte Carlton. Er öffnete die Wagentür und sprang hinaus, während das Auto noch in Bewegung war.

Das Taxi hielt vor dem Portal der Fotheringay Mansions. »Sehr liebenswürdig, daß Sie mich heimgebracht haben«,

sagte Aileen einfach und höflich. Und boshaft fügte sie hinzu: »Ihr Geplauder hat mir viel Vergnügen bereitet.«

»Da sollten Sie erst meine Tante hören«, gab der junge Mann zurück. »Bei ihr ist alles Poesie.«

Er sah ihr nach, bis der Nebel sie verschlang, dann kehrte er zum Wagen zurück.

»Scotland Yard«, befahl er kurz angebunden, »und riskier etwas, mein Freund! Dein Tangoschritt macht mich krank. Etwas mehr Jazz!«

Der Chauffeur riskierte etwas und landete trotzdem ohne Zwischenfall vor dem düsteren Eingang von Scotland Yard. Jim Carlton winkte dem Sergeanten am Eingang freundschaftlich zu und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. So kam er zu seinem kleinen Büro. Im allgemeinen machte er sich nichts aus seiner äußeren Erscheinung, aber als er sich jetzt in dem kleinen Spiegel über seinem Waschbecken sah,

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war er doch nicht gerade erbaut. Er beeilte sich nun, sein Gesicht zu waschen.

Da tauchte das melancholische Gesicht des Inspektors Elk in der Tür auf. »Wollen Sie ausgehen?« fragte er wehmütig.

»Nein«, ließ sich Jim durch den Seifenschaum vernehmen. »Ich wasche mich oft.«

Elk schnüffelte, setzte sich auf den Rand eines Stuhles und durchsuchte seine Taschen langsam und gründlich.

»Sie sind in der Innentasche meines Rockes«, sprudelte Carlton hervor. »Nehmen Sie eine; ich habe sie gezählt.«

Elk seufzte schwer, als er die Ledertasche herauszog, eine Zigarre aussuchte und anzündete.

»Zigarren sind nicht mehr, was sie einmal waren, als ich noch jung war«, sagte er, die Zigarre geringschätzig betrachtend. »Für sechs Pence konnte man damals eine echte Havanna bekommen. In New York raucht jeder Zigarren. Aber die bezahlen auch die Polizei anständig; die können es sich leisten.«

Carlton sah über sein Handtuch hinweg. »Ich habe Sie noch niemals eine Zigarre kaufen sehen«, sagte er nachdrücklich. »Billiger als umsonst können Sie Zigarren unmöglich bekommen.«

Inspektor Elk war durchaus nicht beleidigt. Er fuhr fort: »Ich habe in meinem Leben schon manche gute Zigarre geraucht. Als ich noch zu Gordons Zeiten im Büro des Staatsanwaltes war... Er war der Mann, der die ›Frösche‹ erledigte – er und ich, um genau zu sein«, berichtigte er sich.

»Die ›Frösche‹ ? Ach ja, ich erinnere mich. Gordon hatte also gute Zigarren?«

»Ganz gute«, meinte Elk vorsichtig. »Ich möchte nicht sagen, daß die Ihren schlechter sind, aber besser sind sie auch nicht.« Und dann im gleichen Ton: »Haben Sie Stratford Harlow festgenommen?«

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Jim Carlton machte eine abweisende Geste. »Sagen Sie mir, weshalb ich ihn festnehmen könnte.«

»Er ist nach allen Berichten zehnfacher Millionär«, antwortete Elk. »Nennen Sie mir jemanden, der zehn Millionen auf ehrliche Weise erworben hat.«

Carlton wandte seinem Kollegen sein sauberes, nasses Gesicht zu. »Er erbte drei von seinem Vater, zwei von einer Tante, eine von einer anderen Tante; die Harlows waren schon immer eine reiche Familie. Und in Amerika hatte er einen Bruder, der ihm acht Millionen Dollar hinterlassen hat.«

Elk seufzte und kratzte sich die schmale Nase. »Er steckt auch in der ›Rata‹ drin«, sagte er mit schmerzlicher Miene., »Natürlich steckt er auch in der ›Rata‹ !« fuhr Jim los. »Ellenbury verbirgt das, aber auch wenn er das nicht täte, ließe sich nichts Kriminelles finden. Und wenn er ihr als Gesellschafter angehörte, wäre auch nichts zu machen.«

»Oh!« seufzte Elk. Mit diesem ›Oh!‹ wollte er andeuten, daß er nicht derselben Meinung sei.

Beim Rata-Syndikat gab es keine Heimlichkeiten. Es war im Handelsregister eingetragen und hatte in der City, im Westshire House in der Old Broad Street, und in New York, in der Wall Street, seine Büros. Das Rata-Syndikat veröffentlichte regelmäßig seine Bilanz und hatte zehn Angestellte, von denen drei als Direktoren der Gesellschaft Tantiemen bezogen. Den Vorsitz im Aufsichtsrat führte ein pensionierter Infanterieoberst. Das Stammkapital war merkwürdig bescheiden, aber die Mittel des Syndikates waren doch gewaltig. Als die ›Rata‹ Kautschuk aufkaufte, liefen durch ihre Bankverbindungen Schecks in der Höhe von fünf Millionen Pfund; alles Gold, das bei dieser riesigen Transaktion ins Rollen kam, erschien in den Büchern – ausgenommen die fünfzigtausend Dollar, die jemand an Lee Hertz und seine zwei Freunde gezahlt hatte.

Lee kam eines Freitagnachmittags aus New York an. Sonntag

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früh gingen die Lager der ›United Continental Rubber Company‹ in Flammen auf. Nahezu achtzehntausend Tonnen Kautschuk wurden bei diesem Brand vernichtet. Die Kautschukpreise gingen innerhalb vierundzwanzig Stunden um achtzig Prozent sprunghaft in die Höhe und um zweihundert Prozent innerhalb einer Woche. Waren doch die ungeheuren Vorräte, die den Markt stabilisierten, verschwunden, und das zum Nutzen der ›Rata‹ .

Von der New Yorker Polizei war damals folgende Nachricht an Scotland Yard gegeben worden:

Lee Hertz, Jo Klein und Philipp Serrett, als Brandstifter bekannt, sollen in London sein. Siehe mit Personenbeschreibung am 7. Oktober abgesandten Bericht NY 9514. Zusammenhang mit ›United Continental‹ -Feuersbrunst möglich.

Scotland Yard stellte fest, daß Lee zu jener Zeit in seiner wohlbekannten Rolle als amerikanischer Gentleman, der sich für Sehenswürdigkeiten interessierte, in Paris war.

»Die Geschichte will mir nicht gefallen«, sagte Elk, während er gewaltige Rauchwolken vor sich hinblies. »Die ›Rata‹ kauft Kautschuk ohne die geringste Aussicht auf ein Steigen der Preise. Und plötzlich – biff! – ist ein Viertel der Kautschukreserven in England verbrannt, und natürlich steigen die Preise und der Kurs der Aktien, die die ›Rata‹ schon seit Monaten aufgekauft hat. Wußten die Leute, daß die ›United‹ zum Teufel gehen würde?«

»Ich habe immer geglaubt, daß es sich um ein zufälliges Zusammentreffen verschiedener Umstände handelte«, sagte Jim, der natürlich niemals dergleichen gedacht hatte.

»Zufall – ja, Schnecken!« meinte Elk, ohne sich aber im geringsten zu erregen. »Die Magazine waren an drei Stellen angezündet worden. Die Feuerwehr stellte Petroleum fest. Ein Mann, auf den die Personenbeschreibung Jo Kleins paßt, hat am Tage vorher mit dem Nachtwächter getrunken, und dieser

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Nachtwächter schwört, den Vogel niemals wieder gesehen zu haben. Aber natürlich kann es auch sein, daß er lügt. Zehn Millionen! Und wenn Harlow hinter der ›Rata‹ steckt, kann er bei der Kautschukgeschichte noch mehr als das gemacht haben. Überall Kautschuk aufkaufen! Toronto, Rio, Kalkutta, wo nur ein bißchen Kautschuk auf dem Markt war. Dann die Feuersbrunst, und alles ist weg! Ich denke mir, daß –«

In diesem Augenblick läutete schrill das Telefon. Jim Carlton nahm den Hörer ab.

»Es wünscht Sie jemand zu sprechen, Herr Inspektor«, sagte der Beamte in der Zentrale.

»Kann ich Herrn Carlton sprechen?« »Ja, Fräulein Rivers.« »Ah, Sie sind es?« Aus der Stimme sprach Erleichterung.

»Könnten Sie nicht schnell in die Fotheringay Mansions Nummer 63 kommen?«

»Ist irgend etwas geschehen?« fragte er rasch. »Ich weiß es nicht, aber eines der Zimmer ist abgesperrt, und

ich möchte schwören, daß jemand darin ist.«

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Als die beiden Männer aus dem Fahrstuhl stiegen, stand das Mädchen in der offenen Wohnungstür. Sie schien ein wenig betreten, als sie Inspektor Elk sah. Aber Jim Carlton stellte ihn als seinen Freund vor und gab ihr durch eine Geste zu verstehen, daß seine Anwesenheit vollkommen belanglos sei.

»Ich glaube, ich hätte einen Schutzmann rufen sollen, aber es gibt... es gibt gewisse Gründe, warum ich es nicht tat«, sagte sie.

Jim hätte es nicht für möglich gehalten, daß sie so aufgeregt sein könnte. Die Entdeckung, daß die Tür verschlossen war, hatte sie ganz aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie war ganz verwirrt, als sie erzählte: »Ich kam her, um die Post für meinen Onkel abzuholen. Er ist im Ausland. Sein Name ist Jackson. Jeden Donnerstag kommen zwei Frauen her, die die Wohnung reinigen. Ich selbst habe keine Zeit dazu, denn ich arbeite in einem Büro.«

Elk war auf dem Gang vor einem Stich stehengeblieben. Das vereinfachte die Sache.

»Fräulein Rivers, Ihr Onkel heißt Arthur Ingle«, bemerkte Jim freundlich. Sie wurde rot. »Ich begreife vollkommen, daß Sie das nicht an die große Glocke hängen wollen, aber ich hielt es für richtig, Ihnen zu sagen, daß ich es weiß, denn das erspart Ihnen viel unnötiges...« Er schwieg und schien nach dem passenden Wort zu suchen.

›»Lügen‹ ist das Wort, das Sie meinen«, sagte sie freimütig. »Ja, Herr Ingle wohnt hier, aber er wohnt hier unter dem Namen ›Jackson‹ . Wußten Sie das?« fragte sie besorgt.

Er nickte. »Das ist die Tür«, bemerkte sie mit einer entsprechenden

Handbewegung.

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Die Wohnung hatte eine ungewöhnliche Einteilung. Sie bestand aus einem großen Eßzimmer mit niedriger getäfelter Decke und getäfelten Wänden. Drei Türen führten aus diesem Raum – die eine in die Küche, die beiden anderen in Arthur Ingles Schlafzimmer und in ein leeres Gemach, eine Art Abstellkammer. Es war die Tür der Kammer, auf die das Mädchen wies.

Jim drückte auf die Klinke. Die Tür war verschlossen. Er bückte sich, lugte durch das Schlüsselloch und sah in ein offenes Fenster.

»Sind diese Türen für gewöhnlich offen?« »Immer«, antwortete sie mit Nachdruck. »Manchmal kommen

die Putzfrauen vor mir her. Heute sind sie spät und ich sehr früh daran.«

»Wohin führt die andere Tür?« »In die Küche.« Sie öffnete die Tür und betrat vor ihm den kleinen Raum. Die

Küche war peinlich sauber gehalten und hatte ein Fenster in gleicher Höhe mit dem, das er durch das Schlüsselloch im Nebenzimmer gesehen hatte. Er trat an das Fenster und warf einen Blick in die Tiefe. Unmittelbar unter dem Fenster war ein schmaler Sims. Er schwang ein Bein über das Fensterbrett.

Da packte das Mädchen ihn am Arm. »Das dürfen Sie nicht tun. Sie werden hinunterstürzen!« stieß sie erschrocken hervor.

Er lachte geschmeichelt; die Gefahr war nicht sehr groß, »Ich gebe schon acht«, beruhigte er sie. Im nächsten Augenblick schwang er sich hinaus, packte das Fensterbrett des nächsten Fensters und zog sich in das Zimmer.

Nur undeutlich konnte er die Umrisse von drei aufeinandergestellten Koffern sehen. Er schaltete das Licht ein und musterte das Gerumpel. Alte Schachteln und Koffer, früher wahrscheinlich ordentlich aufgestapelt, waren in die Mitte des

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Zimmers geschleppt worden, um dem Einbrecher größere Bewegungsfreiheit zu verschaffen. In der einen frei gemachten Wand war ein eingebauter Tresor zu sehen, dessen Tür offenstand. Auf dem Boden lag eine Metallscheibe, die der Einbrecher mit Hilfe des zurückgelassenen kleinen Sauerstoffgebläses aus der Tür herausgeschweißt hatte. Sie war noch heiß, als Jim sie anfaßte.

Er schloß die Zimmertür auf und ließ Elk und das Mädchen eintreten.

»Gute Arbeit«, bemerkte Elk, die Geschicklichkeit des Einbrechers bewundernd. »Die Kasse ist leer! Nicht einmal mehr ein Zigarettenpapier drinnen. Gute Arbeit! Das kann nur Toby Haggitt oder Lew Jakobi gemacht haben. Das sind die beiden einzigen in London, die solche Arbeit leisten.«

Aileen Rivers starrte mit weitaufgerissenen Augen die ›gute Arbeit‹ an. Sie war sehr bleich. Jim bemerkte es und mißverstand die Ursache.

»Was war in dem Tresor?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht – ich wußte nicht

einmal, daß ein Tresor in diesem Zimmer war. Er wird wütend sein!«

Carlton ahnte, daß sie den abwesenden Ingle damit meinte. »Er wird es ja eine Weile nicht erfahren«, begann er.

Aber sie unterbrach ihn: »Mittwoch wird er freigelassen.« Elk kratzte sich nachdenklich das Kinn. »Jemand hat von dem

Tresor gewußt«, sagte er. »Ingle hatte aber doch nie Komplicen?«

Arthur Ingle arbeitete tatsächlich immer allein. Zwölf Jahre lang hatte er das Fälscherhandwerk betrieben, ohne daß auch nur seine besten Freunde Verdacht geschöpft hätten. Den Mitgliedern seiner Schauspieltruppe war er als schlechter Zahler und skrupelloser Direktor bekannt. Keines von ihnen ahnte, daß

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dieser gute Charakterdarsteller gleichzeitig Inhaber der Firma Lobber & Syne, Juweliere in Clerkenwell, und Besitzer einträglicher Geschäftshäuser war.

»Es ist ja nicht Ihre Schuld!« bemerkte Jim und klopfte dem Mädchen auf die Schulter. »Machen Sie sich darüber nur keine Sorgen.«

Elk nahm das Sauerstoffgebläse unter der Lampe in Augenschein. »Ich wette, es war Toby«, sagte er und trat ans Fenster. »Das ist seine Arbeit. Simse sind für ihn breite LandStraßen. Er ist imstande, auf drei Zoll breitem verwittertem Sandstein stehenzubleiben und sich die Nägel zu maniküren.« Die Persönlichkeit des Einbrechers interessierte Jim weniger. Hundert Möglichkeiten und Erklärungen für das Verbrechen schossen ihm durch den Kopf, aber keine befriedigte ihn. Wenn... Harlow war auf dem besten Wege, zu einer fixen Idee bei ihm zu werden. Aber aus der Entdeckung von Geheimnissen eines bestraften Betrügers war ja nicht viel Geld zu machen. Er nahm nicht einen Augenblick lang an, daß sich in dem Tresor Geld befunden haben könnte. Ingle war nicht der Typ des Verbrechers, der sein Vermögen in einem Tresor verstecken würde. Er traute ihm viel eher zu, daß er ein Dutzend Bankkonten auf falschen Namen besaß.

Sie gingen wieder in das Speisezimmer mit den getäfelten Wänden zurück. Die Wohnung interessierte Jim. Sie war luxuriös und mit erlesenem Geschmack eingerichtet. Die Einrichtung mußte Tausende von Pfund gekostet haben. Und dann erinnerte sich Jim, daß Ingle nur wegen dreier Verstöße gegen die Gesetze verurteilt worden war. Für seine anderen Vergehen, die ihm riesige Gewinne eingebracht haben mußten, waren wahrscheinlich die Beweise gar nicht oder nur sehr unvollkommen zu erbringen gewesen. Diese Wohnung allein verriet aber, daß Ingle weit mehr Betrügereien begangen haben mußte als die, für die er eingesperrt worden war. »Kennen Sie Ihren Onkel gut?«

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Sie schüttelte den Kopf. »Vor vielen Jahren, als er noch Schauspieler war, bevor er – hm – reich wurde, habe ich ihn besser gekannt. Ich bin seine einzige lebende Verwandte.« Sie hob den Kopf und lauschte. Jemand hatte an die Wohnungstür geklopft. »Das werden die Putzfrauen sein«, bemerkte sie, ging den Gang entlang und öffnete die Tür.

Ein Mann stand draußen, eine hochgewachsene, gebieterische" Gestalt, eine elegante Erscheinung. Unter seinem durchdringenden Blick schrak sie etwas zusammen. Ein unerklärliches, ein seltsames Gefühl bemächtigte sich ihrer, als stände sie einer übernatürlichen, sie erdrückenden Macht gegenüber. Dasselbe hätte sie wohl empfunden, wenn ihr ein Tiger begegnet wäre. »Mein Name ist Harlow – wir trafen uns in Dartmoor«, sagte er und zeigte lächelnd zwei Reihen gleichmäßiger Zähne. »Darf ich eintreten?«

Sie konnte nicht sprechen, aber jemand antwortete für sie. »Kommen Sie nur herein, Harlow«, rief Jim Carlton. »Ich

möchte gerne hören, welchen Eindruck Sie von Dartmoor empfangen haben. Herrscht dort wirklich so viel Leben, wie die Leute sagen?«

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Das Mädchen bewunderte Harlows Verhalten diesem unverschämten Menschen gegenüber. Er war freundlich, fast wohlwollend, und schien James Carlton nicht ernst zu nehmen. Und er war doch der große Harlow, von dem sie schon so viel gehört hatte.

Wenn man in der City arbeitete, mußte man von Harlow, seinen Geschäften und Erfolgen gehört haben. Große Bankleute sprachen mit Respekt von ihm. Geld war allerdings in seiner Hand zu leichtflüssig, als daß man es ihm gerne anvertraut hätte; es strömte einmal hierhin, einmal dorthin, und die goldenen Fluten, deren Schleusen er öffnete, richteten nicht selten arge Verwüstungen an. Manchmal schienen sie in unterirdischen Hohlräumen zu verschwinden, nur, um bald wieder in noch mächtigerem Schwall hervorzubrechen und niederzureißen, was so manche Lebensarbeit erbaut hatte, so daß wenn sie vorbeigerauscht waren – nichts übrigblieb als Schutt und Ruinen.

Und natürlich hatte sie auch schon von ›seinem‹ Polizeigebäude gehört. Als Harlow sich für das öffentliche Wohl zu interessieren begann, tat er es gründlich. Seine Briefe an die Presse über Strafrechtspflege gehörten zum Besten, was über dieses Thema je in Zeitungen abgedruckt worden war. Er quälte Minister und Polizeidirektoren mit seinen Plänen für ein vorbildliches Polizeistationsgebäude. Als er überall auf Ablehnung stieß, tat er, was noch kein Menschenfreund vor ihm getan hatte. Er kaufte in der Evory Street – keinen Steinwurf von der Park Lane entfernt – ein Grundstück, baute für eine riesige Summe sein vorbildliches Polizeigebäude und schenkte es dem Staat. Es war wirklich in jeder Hinsicht vorbildlich. Selbst die Zellen wiesen einen gewissen Komfort auf. Tagelang

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sprach man von nichts anderem als von diesem ›Geschenk Harlows an die Nation‹ . Die Witzblätter wurden es nicht müde, darüber zu spotten, und die Karikaturisten gossen die Lauge ihres bissigen Humors über die Regierung aus.

In der City hielt man ihn nicht nur für exzentrisch, sondern auch für gerissen, und man stellte – zu seinen Ungunsten – Vergleiche mit seinem Vater an. Man fürchtete sich ein wenig vor ihm.

Er nickte Jim Carlton lächelnd zu, fixierte den unglücklichen Elk und sagte dann zu Aileen: »Ich wußte nicht, daß Sie meinen Freund Carlton kennen.« Und in verändertem Ton fuhr er fort: »Ich störe doch nicht?«

Seine ganze Haltung drückte aus: ›Ich nehme an, daß es sich hier um einen Besuch der Polizei handelt, der den bekannten Übeltaten Ihres Onkels zu danken ist.‹

Das Mädchen verstand ihn. Auch Jim. Dieser sagte daher in verändertem Ton: »Es wurde hier eingebrochen, und Fräulein Rivers rief uns.«

Harlow murmelte ein paar Worte des Bedauerns. »Ich gratuliere Ihnen, daß Sie sich den geschicktesten Beamten der Polizei gesichert haben«, sagte er freundlich zu dem jungen Mädchen. »Und ich gratuliere der Polizei«, fuhr er zu Jim gewandt fort, »daß. sie Sie wieder vom Auswärtigen Amt zurückgeholt hat, wo Ihre Fähigkeiten brachgelegen haben wenn ich überhaupt eine Meinung äußern darf.«

»Ich bin noch immer im Auswärtigen Amt«, entgegnete Jim. »Das hier ist nur eine Arbeit für meine Mußestunden. Auch Polizeibeamte dürfen doch ihr Vergnügen haben. Übrigens wie gefällt Ihnen Dartmoor?«

Harlow lächelte betrübt. »Sehr eindrucksvoll, sehr traurig«, sagte er. »Ich spreche natürlich von Princetown, wo ich einige Nächte zugebracht habe.«

Aileen war neugierig auf den Grund seines Besuches. Warum

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war dieser gesellschaftlich so bedeutende Mensch in die Wohnung eines Zuchthäuslers gekommen?

Er ließ seine Blicke langsam von ihr zu den beiden Männern wandern. Jim verstand seinen Wunsch, warf Elk einen Blick zu und ging mit diesem in die Kammer zurück.

»Es fiel mir ein, daß ich Ihnen vielleicht in Ihrem Fortkommen ein wenig behilflich sein könnte«, begann Harlow. »Mein Name dürfte Ihnen wohl nicht ganz unbekannt sein. Ich bin Stratford Harlow.«

Sie nickte. »Ich weiß.« »Hat man Ihnen das im Hotel gesagt?« Er schien glücklich zu

sein, daß sie ihn wiedererkannt hatte. »Es ist sonderbar – aber seit unserer ersten Begegnung mußte

ich immer wieder daran denken, daß es mir vielleicht möglich wäre, Ihnen einen guten Posten zu verschaffen. Ihre Lage – verzeihen Sie, wenn ich es ausspreche – ist ein wenig tragisch. Beziehungen zu – hm – Verbrechern oder zu Leuten mit dunkler Vergangenheit haben eine niederdrückende Wirkung selbst auf die vortrefflichsten Menschen.«

Sie lächelte. »Mit anderen Worten, Herr Harlow: Sie haben den Eindruck, daß es mir recht schlecht geht, und möchten mir gern das Leben ein wenig erleichtern?« bemerkte sie ruhig.

Er strahlte. »So ist es«, rief er. »Das ist sehr freundlich von Ihnen – äußerst freundlich«, sagte

sie aufrichtig. »Aber ich habe eine sehr gute Stellung im Büro eines Rechtsanwalts.«

Er senkte den Kopf und sah sie freundlich an. »Herr Stebbings ist immer sehr gut zu mir...« »Herr – Richard Stebbings?« Er neigte den Kopf zur Seite.

»Doch nicht von Stebbings und Stebbings? Das waren bis vor wenigen Jahren meine Anwälte.«

Sie wußte auch das.

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»Ganz nette Leute, aber ein bißchen altmodisch«, meinte er. »Dann haben Sie Herrn Stebbings von mir sprechen hören?«

»Nur einmal«, gestand sie. »Er ist ein sehr verschwiegener Mensch, der niemals über seine Klienten spricht.«

Harlow biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Ein ganz hervorragender Mann! Ich habe mich oft gefragt, ob

es nicht falsch von mir war, ihm meine Angelegenheiten zu entziehen. Sagen Sie ihm das doch, wenn Sie mit ihm sprechen. – Ich dachte, Sie arbeiteten im Büro des New-Library-Syndikats?«

Sie lächelte. »Es ist merkwürdig, daß Sie das sagen. Diese Büros sind auch in Lincoln's Inn, aber nebenan.«

»Ah, jetzt verstehe ich, wie dieser Irrtum möglich war«, meinte er. »Ein Freund von mir, der Sie auch kennt, sah Sie in ein Büro gehen und irrte sich offensichtlich.«

Er sagte ihr nicht, wer dieser gemeinsame Bekannte war. Sie aber interessierte es nicht so sehr, daß sie danach fragte.

Es klopfte wieder, doch dieses Mal lauter. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte sie. »Es

sind meine Putzfrauen. Die eine möchte mir gerne ihre Sorgen anvertrauen; Sie werden vielleicht ein wenig warten müssen.«

Sie eilte aus dem Zimmer. Er hörte, wie sie die Tür öffnete. Dann kamen Jim und Elk ins Speisezimmer zurück. »Eine reizende junge Dame«, bemerkte Harlow. »Ja, sehr«, stimmte Jim kurz bei.

»Frauen interessieren mich nicht besonders«, fuhr Harlow fort und streifte einen winzigen Faden von seinem Mantel. »Es fällt mir schwer, ihren Gedankengängen zu folgen. Sie sind mir zu sentimental, lassen sich von augenblicklichen Gefühlsregungen und Befürchtungen beherrschen...«

Vom Gange drangen Stimmen herein. Eine hohe, schrille klagte: »Bei dem Nebel, Fräulein, ist es ein Glück, daß wir

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überhaupt hergefunden haben...« Zwei schäbiggekleidete Gestalten gingen, von Aileen gefolgt,

an der offenen Tür vorbei. »Sie kennen Ingle wohl nicht, Herr Harlow?« Jim betrachtete

die Fotografie auf dem Kamin. »Er ist ein berüchtigter Betrüger, überaus gerissen, hat außerdem ein Rädchen zuwenig im Kopf, träumt von Revolutionen und allem, was dazu gehört, von Blut, Guillotinen und Karren voll Opfern –« Etwas bewog ihn, sich umzudrehen.

Stratford Harlow stand in der Mitte des Zimmers und stützte sich auf den Rand eines kleinen Tisches, um sich aufrecht zu halten. Sein Gesicht war bleich, verzerrt; aus seinen Augen sprach ein Entsetzen, wie Jim Carlton es noch nie bei einem Manne gesehen hatte. Elk sprang vor, packte den Schwankenden und führte ihn zu einem großen Sofa. Stratford Harlow sank darauf nieder und vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Oh, mein Gott!« kam es von seinen Lippen. Er schwankte und fiel zu Boden.

Der große Harlow war ohnmächtig geworden.

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»Nur ein kleiner Herzanfall«, sagte Harlow, indem er lächelnd das Wasserglas niederstellte. »Ich bedauere ungemein, Ihnen soviel Scherereien verursacht zu haben, Fräulein Rivers. Ich hatte schon seit Jahren keinen Anfall mehr.«

Er war immer noch bleich, aber seine Selbstbeherrschung war so groß, daß die Hand, die das Glas niederstellte, nicht im geringsten zitterte.

»Uff!« Mit einem seidenen Taschentuch trocknete er sorgfältig seine Stirn und erhob sich dann ohne ein Zeichen von Schwäche.

Elk, der gerade der prosaischen Beschäftigung nachging, den Staub von seinen Knien abzubürsten, blickte auf.

»Sie würden gut daran tun, sich von mir nach Hause begleiten zu lassen, Herr Harlow«, riet er.

Aber Stratford Harlow schüttelte den Kopf. »Danke vielmals, aber das ist ganz überflüssig, wirklich ganz überflüssig«, lehnte er ab. »Ich habe meinen Wagen vor dem Haus stehen, und ich kenne ein ausgezeichnetes Heilmittel für nervöse Zustände wie diesen. – Und es ist nicht etwa eine Medizin!« fügte er lächelnd hinzu.

Trotzdem begleitete ihn Elk bis zum Auto. »Würden Sie bitte meinem Chauffeur sagen, er soll mich zum

Elektrizitätswerk in der Charing Cross Road fahren?« ersuchte er den überraschten Elk, der, lange nachdem der Wagen im Nebel verschwunden war, noch immer auf dem Bürgersteig stand und sich verwundert fragte, was denn der Multimillionär in dem Werk zu tun haben mochte.

Dort schien man Harlow jedoch gut zu kennen; jedenfalls fand man nichts Besonderes an seinem Besuch. Der Ingenieur, der

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rauchend am Eingang stand, trat zurück, um ihn in die große Maschinenhalle einzulassen, und rückte ihm einen Stuhl zurecht. Auf diesem blieb Harlow eine halbe Stunde sitzen, um den rhythmischen Lärm auf sich wirken zu lassen. Das Surren der Dynamos und die Kolbenschläge der großen Dampfmaschinen waren Beruhigungsmittel für seine erregten Nerven.

Er war schon oft hierhergekommen. In dieser Atmosphäre reiften seine größten Pläne. Die majestätische Kraft der großen Räder, der Rhythmus der riesigen, ruhelos umlaufenden Treibriemen, das abgeblendete Licht der Lampen über der marmornen Schalttafel, die – wenn man so sagen kann – lärmende Stille des weiten Raumes regten ihn wie nichts anderes an. Hier sah er das Spiel unwiderstehlicher Kräfte vor sich, das seinem Geist so sehr zusagte: die unvermeidlichen Wirkungen unvermeidlicher Ursachen. Das Gefühl, dem Herzen einer ungeheuren Kraftquelle so nahe zu sein, daß er ihren Pulsschlag deutlich hören konnte, bedeutete für ihn eine Anregung und Eingebung. Die hohe Maschinenhalle war ihm ein Tempel seiner ureigensten Gottheit.

Eine halbe Stunde, eine Stunde verging, dann erhob er sich, tief Atem holend. Ein leises Lächeln erhellte sein Gesicht..

»Ich danke Ihnen, Harry, danke vielmals!« Er schüttelte dem Betriebsleiter die Hand und ließ etwas Hartes in die rauhe Hand des Ingenieurs gleiten.

Einige Minuten später fuhr er über den hellerleuchteten Piccadilly Circus. Freundlich nickte er dem flimmernden, strahlenden Glanz zu, dessen Ursprung er eben gesehen hatte.

Man mußte Stratford Harlow gut kennen, um ihn zu verstehen. Es hatte fünf lebende Mitglieder der Familie gegeben, als

Stratford Selwyn Mortimer Harlow geboren wurde. Alle waren ungeheuer reich gewesen. Die Mutter starb eine Woche nach seiner Geburt, der Vater drei Jahre später. Das Kind wurde gemäß dem letzten Willen der Eltern von seiner Tante Mercy in

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Obhut genommen, einer alten Jungfer, die selbst die nachsichtigsten Verwandten ›eigenartig‹ nannten. Er wurde nie in eine öffentliche Schule geschickt, weil er etwas kränklich war, und erhielt die erste Erziehung durch seine Tante. Als ungeheuer reiche Frau, die sonst kein Interesse am Leben hatte, unterzog sie sich ihrer Aufgabe mit eifersüchtiger Hingabe. Jeder Versuch der Familie, sich irgendwie in die Erziehung des Knaben einzumengen, löste bei ihr einen Wutanfall aus. Der einzige Besuch, den ihr ihre beiden Schwestern abstatteten, als der Junge sieben Jahre alt war, endete mit einer Szene, die für Fräulein Alice, die jüngere von beiden, noch jahrelang den Hauptgesprächsstoff abgab.

Die wichtigste Folge des Streites zwischen Fräulein Mercy und ihren altjüngferlichen Schwestern war die, daß sie Kravelly Hall zusperrte und mit ihrer Zofe, Frau Edwins, in eine kleine Villa bei Teignmouth übersiedelte, wo sie, unbelästigt von ihren Verwandten, sieben Jahre verlebte. Dann zog sie für drei Jahre nach Scarborough und von dort nach Bournemouth. Mit großer Regelmäßigkeit schrieb sie monatlich einmal ihren zwei Schwestern und ihrem unverheirateten Bruder in New York. Der Inhalt ihrer Briefe war jedesmal haargenau derselbe:

Fräulein Mercy Harlow empfiehlt sich bestens und erlaubt sich mitzuteilen, daß der Knabe sich guter Gesundheit erfreut und nicht nur den notwendigen Unterricht in allen Hauptfächern erhält, sondern auch streng nach den Grundsätzen des protestantischen Glaubens erzogen wird.

Sie hatte, wie sie einmal ihrem Bruder, mit dem sie nicht verzankt war, mitteilte, einen aus der Universität Oxford hervorgegangenen bärtigen jungen Mann namens Marling als Erzieher aufgenommen. Bald darauf kam Tante Alice ein Gerücht zu Ohren, das dazu angetan war, Herrn Marling als Erzieher wenig geeignet erscheinen zu lassen. Es hatte in Oxford einen kleinen Skandal um ihn gegeben. Alice fühlte sich verpflichtet, ihre Schwester zu benachrichtigen, von der erst

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nach längerer Zeit nachstehende Antwort einlief: Fräulein Mercy Harlow beehrt sich, Fräulein Alice Harlow für

ihre Mitteilung bestens zu danken und festzustellen, daß sie die gegen Herrn Saul Marling gerichteten Anschuldigungen einer genauen Überprüfung unterzogen hat, aus der hervorging, daß Herr Marling sich sehr ehrenwert betragen und niemals etwas getan hat, was ihm zum Vorwurf gereichen oder ihn als ungeeignet erscheinen lassen könnte, die Erziehung des Knaben zu leiten.

Das ereignete sich ein Jahr vor dem Tode Fräulein Mercys. Als sie starb, eilte Fräulein Alice sofort nach Bournemouth, wohin ihre Schwester vor Jahren gezogen war. In einer kleinen, einsamen Villa fand sie einen großen, ernsten jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren in einem schlechtsitzenden schwarzen Anzug. Er hatte keine Tränen in den Augen, ja seine Tante vermutete nicht mit Unrecht, daß er sich eher herzlich darüber freute, der strengen Zucht Fräulein Mercys endlich entkommen zu sein.

Der bärtige Erzieher hatte, wie die weinende Zofe, Frau Edwins, berichtete, das Haus schon ungefähr vierzehn Tage vor dem Tode ihrer Herrin verlassen.

»Wenn das nicht schon der Fall wäre«, meinte Fräulein Alice mit aufeinandergepreßten Lippen, »so hätte ich jedenfalls kurzen Prozeß mit ihm gemacht. Der arme Junge ist offenbar arg unterdrückt worden. Er traut sich ja kaum, ein Wort zu sagen!«

Es wurde ein Familienrat abgehalten. Daran nahm auch der alte Rechtsanwalt der Harlows teil, der bei dieser Gelegenheit den jungen Stratford zum erstenmal kennenlernte. Man kam überein, dem ›Knaben‹ eine Wohnung in der Park Lane einzurichten und ihm als Erzieher einen älteren Herrn beizugeben, der Weltkenntnis mit frommer Gesinnung verbinden sollte. Ein solcher wurde in John Barthurst, Magister der schönen Künste, gefunden. Frau Edwins wurde entlassen

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und mit einer Rente abgefunden, der Beginn von Stratfords unabhängigem Leben aber mit einem Festessen gefeiert, nach dem alle Eingeladenen einer Vorstellung von ›Charleys Tante‹ beiwohnten. Während der ganzen Aufführung, die alle übrigen Zuschauer mit den lautesten Heiterkeitsausbrüchen begleiteten, blieb der junge Mann mit einem steinernen, ernsten Gesicht sitzen.

Die Bevormundung durch den Erzieher dauerte nur ein Jahr, dann erwachte in dem stillen jungen Mann plötzlich ein ganz ungewohntes Geltungsbedürfnis. Er entließ seinen weltgewandten und frommen Gesellschafter, stillte dessen Trennungsschmerz mit einer Tausendpfundnote, rief Frau Edwins zurück und stellte sie als seine Haushälterin an, kaufte das Palais des Herzogs von Greenhart in der Park Lane und ließ es für seine Bedürfnisse und nach seinem Geschmack umbauen. Von diesem Augenblick an begann der Name ›Harlow‹ in den Berichten über große geschäftliche Transaktionen aufzutauchen. Die Vermögen der Familienmitglieder fielen ihm eines nach dem anderen in den Schoß. Fräulein Mercy war fabelhaft reich gewesen und hatte ihm ihr ganzes Hab und Gut hinterlassen – mit Ausnahme eines Legates von hundert Pfund, das Frau Lucy Edwins, in Anerkennung treuer Dienste und in der Hoffnung, daß sie in Anbetracht der ihr in früheren Jahren zuteil gewordenen großen Zuwendungen die Summe nicht für unangemessen finden werde, vermacht war. Dann starb Fräulein Henriette, und unserem jungen Freund fielen nach Abzug aller Erbschaftssteuern wieder fast zwei Millionen Pfund zu. Fräulein Alice hinterließ noch mehr. Der unverheiratete Onkel in New York starb demgegenüber wie ein Bettler, das heißt, die Erbschaft trug Stratford nur Sechshunderttausend Pfund ein.

Harlows Haus war ein fast häßlich zu nennendes dreistöckiges Gebäude; es stand jedoch ganz frei auf einem Baugrund, der wahrscheinlich der teuerste in der ganzen Park Lane war. Das Haupttor führte allerdings nicht auf die vornehmste Straße

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Londons, sondern in eine Seitengasse. Harlow schloß das Tor mit einem Schlüssel auf, den er in der

Tasche trug, betrat die Halle und ging in die dem Eingang gegenüber gelegene Bibliothek. Er fand auf dem Tisch einige Briefe, sah sie rasch durch, öffnete aber nur den einen, der von Ellenbury kam. Harlow war über Ellenbury gerade etwas verstimmt. Dieser hatte ihm eine unrichtige Auskunft über Aileen geliefert und dadurch verschuldet, daß er sich lächerlich gemacht hatte.

Er las den Brief genau durch, warf ihn dann ins Kaminfeuer und sah zu, wie er verkohlte.

Ein recht verwendbarer Mensch, nur um eine Spur zu ängstlich. Es war vielleicht ein Fehler von mir, ihn so knapp zu halten; ich werde die Zügel etwas nachlassen müssen, entschied Harlow. Er hielt es für notwendig, seinem Helfer ein wenig von seiner eigenen Zuversicht einzuimpfen. Es war nämlich Ellenburys Fehler, daß er allzusehr darauf aus war, seinen Brotgeber zufriedenzustellen. Deshalb bangte ihm vor jeder Möglichkeit eines Mißerfolges.

Harlow drückte auf einen Knopf, setzte sich an seinen Schreibtisch, griff nach der Wand, schob ein bewegliches Feld der Holztäfelung zur Seite und holte aus dem kleinen Wandschrank, der nun sichtbar wurde, eine Flasche Whisky, Sodawasser und ein Glas hervor. Er goß sich gerade nur so viel von dem Whisky ein, daß der Boden des Glases bedeckt war, und füllte dieses dann bis zum Rand mit Sodawasser. Er hatte das Glas zur Hälfte geleert, als seine Haushälterin ohne anzuklopfen eintrat. Sie war eine hochgewachsene Frau mit gelblichem, fahlem Teint und funkelnden schwarzen Augen. Man merkte bei ihr nichts von der Schwerfälligkeit und Gebrechlichkeit, die sonst mit einem Alter von beinahe siebzig Jahren verbunden zu sein pflegen.

»Bitte?«

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Die frühere Zofe Fräulein Mercys hatte eine Stimme, die so scharf und klar wie eine Trompete klang.

Sie blieb, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, den Blick fest auf ihn gerichtet, vor dem Schreibtisch stehen.

Nochmals einen Blick auf seine ungeöffnete Post werfend, fragte er: »Alles in Ordnung?«

»Alles.« Es kam schmetternd hervor wie ein Trompetenstoß. »Könnten

wir nicht doch einen Diener ins Haus nehmen?« fuhr sie dann fort. »Ich kann nicht immer so lange aufbleiben. Gestern bin ich wieder erst um ein Uhr ins Bett gekommen, und um sieben muß ich aufstehen, um das Personal einzulassen.«

Es war nämlich eine Merkwürdigkeit des Hauses Park Lane Nr. 704, daß niemand von den Angestellten im Hause schlief. Sicherlich gab es in ganz England keinen anderen Haushalt von solcher Größe, dessen sämtliche Dienstboten, vom Butler bis zum letzten Abwaschmädchen, außerhalb schliefen. Seinen Freunden gegenüber begründete Harlow diese Wunderlichkeit damit, daß ihm der Raum in seinem Hause zu kostbar sei, um ihn mit Dienstbotenzimmern auszufüllen. In krassem Widerspruch dazu stand, daß er eigens ein ziemlich teueres Wohnhaus in der Charles Street gemietet hatte, um sie dort unterzubringen.

»Nein, ich halte es nicht für nötig«, sagte er, die Lippen schürzend. »Ich glaubte, daß das klar wäre.«

»Ja, aber ich könnte eines Nachts sterben oder plötzlich" krank werden«, meinte Frau Edwins gelassen. »Was würde dann werden?«

Er lächelte. »Wer stirbt, braucht sich keine Sorgen mehr zu machen«, antwortete er gut gelaunt. »Hat sich gar nichts ereignet?«

Sie überlegte eine Weile, ehe sie antwortete: »Doch. Es war

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ein Besucher da, aber ich werde das später erzählen.« Belustigt meinte er: »Na, Besucher sind doch nichts so

Seltenes. Aber meinethalben soll's bei der Geheimniskrämerei bleiben!«

Er erhob sich und verließ das Zimmer. Sie folgte ihm. In der Halle befand sich ein kleiner Aufzug, dessen Kabine gerade zwei Personen aufzunehmen vermochte, aber sie weigerte sich, mit ihm einzusteigen.

»Ich gehe lieber zu Fuß hinauf«, sagte sie. Er lächelte und hielt ihr, während er die Gittertür des Aufzugs

schloß, mit gutmütigem Spott vor: »Was soll dann die Klage über Müdigkeit?«

Er drückte auf den Knopf. Der Fahrstuhl setzte sich rasch und lautlos in Bewegung und hielt im dritten Stock, wo Harlow auf einen teppichbelegten Treppenabsatz hinaustrat, auf den zwei Türen mündeten. Er blieb, leise vor sich hinpfeifend, stehen und wartete, bis Frau Edwins erschien.

»Eine richtige Bergsteigerin«, scherzte er, dann zog er den Schlüsselbund hervor, den er an einem Kettchen befestigt in der Tasche trug, wählte einen kleinen Schlüssel aus und öffnete die Tür zu seiner Linken.

Das Zimmer, das er betrat, war ein großer, mit künstlerischem Geschmack eingerichteter Wohnraum, den Wandleuchten und zwei rotbeschirmte Stehlampen erhellten. In einer Ecke stand ein chinesisches Lackbett, das auf rotem Grund reiche Goldmalerei aufwies. An einem zierlichen Empireschreibtisch neben einem der durch schwere Vorhänge verhüllten Fenster saß ein Mann. Er war fast so groß wie Harlow. An seiner Erscheinung fielen eine gewölbte, mächtige Stirn und ein goldblonder Bart auf, in dem sich trotz seines Alters er mußte mindestens so alt sein wie Harlow – kein einziges graues Haar entdecken ließ.

Die Wange in eine seiner mageren Hände gestützt, las er in

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einem Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Er blickte erst auf, als Harlow ihn sanft anrief: »Hallo, Marling!«

Der Mann lehnte sich zurück und schlug das Buch zu, nicht ohne mechanisch die Stelle, wo er gelesen hatte, durch Einschieben eines dünnen Brieföffners mit Schildpattgriff zu bezeichnen.

»Guten Abend«, sagte er nur. »Zeit für dich, spazierenzugehen. Meinst du nicht auch?« Im Zimmer befand sich eine zweite Tür, auf die Harlow mit

einem Blick wies. »Ja, ich glaube«, sagte der Mann, sich erhebend. Er trug eine kurze Hausjacke aus dunkelblauem Samt und

Pantoffeln aus rotem Saffianleder. Seine Blicke kehrten zu dem zugeschlagenen Buch zurück, als kostete es ihn Überwindung, sich von ihm loszureißen.

»Die Oden des Horaz«, sagte er. »Eine Übersetzung; leider voller Fehler.«

»Schön, schön«, erwiderte Harlow lächelnd. »Aber es ist schon etwas spät, sich noch mit Horaz zu beschäftigen.«

Die Frau war in strammer Haltung, die Hände vor sich gefaltet, an der Tür stehengeblieben und blickte mit ihren dunklen Augen unentwegt auf ihren Herrn.

»Weißt du, wer du bist, mein Freund?« fragte Harlow. Der bärtige Mann fuhr sich mit der weißen Hand an die Stirn.

»Ich bin Saul Marling, Student der Universität Oxford«, brachte er endlich hervor.

Harlow nickte. »Und was weißt du sonst noch?« fragte er eindringlich.

Wieder fuhr die Hand an die hohe Stirn. »Ich vergesse immer, was ich mir merken soll... Wie albern! Aber es war etwas, das ich gesehen habe, nicht wahr?« fragte er.

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»Etwas, das du gesehen hast, knapp bevor Fräulein Mercy starb«, stimmte ihm Harlow zu.

Der andere seufzte tief. »Sie starb ganz plötzlich. Sie war immer so gut zu mir. Dann starb sie ganz plötzlich! Sie pflegte nach dem Abendessen noch bei Tisch sitzen zu bleiben und mit dir zu plaudern. Eines Abends fiel sie plötzlich vom Sessel.«

»Ganz recht. Auf den Fußboden«, ergänzte Harlow mit zufriedener Miene. »Aber du hast noch etwas gesehen, nicht wahr?« ermunterte er den anderen. »War da nicht ein Fläschchen mit einer blauen Flüssigkeit auf dem Tisch? Wach auf, Marling! Entsinnst du dich des Fläschchens mit der blauen Flüssigkeit?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nur sehr undeutlich... Es muß gewesen sein, ehe ihr, du und Frau Edwins, mich wegführtet. Ich trank das Wasser mit den weißen Pulvern. Sie sprudelten wie Brausepulver. Und dann...«

»Dann brachten wir dich aufs Land.« Harlow lächelte. »Du warst krank, armer alter Junge, und wir mußten dir ein Beruhigungsmittel geben. Fühlst du dich jetzt wohl?«

»Mein Kopf ist etwas wirr...«, begann der Mann, aber Harlow lachte, faßte ihn geradezu liebevoll am Arm, öffnete die schmale Tür und führte ihn über eine steile Treppe empor. An deren Ende befand sich eine zweite Tür, die er aufschloß. Sie traten auf das flache Dach des Palais Greenhart hinaus, eine weite, asphaltierte Plattform, die von einem brusthohen Geländer eingesäumt war. Eine halbe Stunde lang gingen sie Arm in Arm auf und ab. Harlow sprach dabei fortwährend.

Dichter Nebel lag über der Stadt, die Straßenlaternen tief drunten erschienen nur wie matte gelbe Lichtflecken.

»Was, dir ist kalt? Ich habe dir doch gesagt, du sollst deinen Schal mitnehmen, du dummer Kerl!« Harlow tat gut gelaunt, obgleich er sich über die Unfolgsamkeit des anderen ärgerte. »Komm, wir wollen hinuntergehen.«

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Im Zimmer unten angelangt, schloß er zunächst die Tür ab; dann sah er sich mit Wohlgefallen in dem behaglichen Raum um. Auf einem Tisch lagen acht dicke Bände. Sie waren erst an diesem Tag eingetroffen. Er hob einen auf.

»Ich glaube, daß du die Lektüre dieser Geschichte des Zeitalters des Augustus etwas mühsam finden wirst. – Gute Nacht, Marling. Schlafe recht gut!«

Er trat mit Frau Edwins auf den Treppenabsatz hinaus und versperrte die Tür. Die strengen Augen der Frau starrten ihn unverwandt an ; sie schwieg aber, bis er zu sprechen begann.

»Es ist alles in Ordnung mit ihm«, sagte er. »Wirklich?« Ihre harte Stimme klang unangenehm. »Wie kann

man alles in Ordnung finden, wenn er nicht nur liest, sondern auch schreibt?«

»Er schreibt?« fragte Harlow rasch. »Was denn?« »Oh, bloß irgend etwas über die Römer, aber es liest sich ganz

vernünftig.« Harlow nahm die Mitteilung mit einem Stirnrunzeln zur

Kenntnis. »Das hat nichts zu sagen. Sonst macht er keine Schwierigkeiten?«

»Nein«, antwortete sie kurz. »Ich bin der Sache wohl manchmal recht überdrüssig, aber er gibt wenigstens Ruhe. -Doch jetzt: Wer ist Herr Carlton?«

Harlow holte rasch Atem. »Ist er hiergewesen?« Sie nickte. »Jawohl, heute nachmittag. Er fragte mich, ob ich

die frühere Zofe des Fräuleins sei – obgleich er kaum auf der Welt gewesen sein kann, als sie starb.«

»Nun, er ist älter als er aussieht. Aber was sonst noch?« »Er sagte dann – und das berührte mich etwas seltsam -, daß er

den Auftrag habe, einen gewissen Saul Marling ausfindig zu machen.«

»Auftrag? Von wem?«

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»Das weiß ich nicht«, sagte sie achselzuckend. »Aber er zeigte mir das diesbezügliche Schreiben... Er stammte aus Eastbourne. Ich sagte ihm, Marling sei gestorben, worauf er mich fragte, wo. In Südamerika, erklärte ich.«

»In Pernambuco«, prägte ihr Harlow ein, »während der großen Choleraepidemie. Hm, der Kerl ist geschickt und rücksichtslos! – Ich danke Ihnen.«

Sie sah zu, wie er in den Fahrstuhl stieg, und wartete, bis dieser verschwunden war, dann trat sie in das zweite an dem Treppenabsatz gelegene Zimmer. Auch dieses war sehr nett eingerichtet. Sie schaltete das Licht ein, setzte sich nieder, öffnete einen Arbeitsbeutel, zog einen Strickstrumpf heraus und brachte die Nadeln in Ordnung. Und während ihre geschickten Finger zu arbeiten begannen, murmelte sie mehrmals vor sich hin : »Pernambuco... Während der großen Choleraepidemie.«

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6

Aileen Rivers wohnte in Bloomsbury, das den Vorteil bot, in der Nähe ihrer Arbeitsstätte zu liegen. Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich; auch der Tag ließ sich nicht sehr angenehm an. Herr Stebbings, ihr unmittelbarer Vorgesetzter, war wegen einer Erkältung dem Büro ferngeblieben, und sein jüngerer Geschäftsteilhaber, mit dem sie infolgedessen an diesem Tage fortwährend zu tun hatte, war ein unangenehmer, mürrischer Mann, der die üble Gewohnheit hatte, wichtige Dokumente zu verlegen und dann die nächste Person, die ihm unterkam, für das Verschwinden zur Rechenschaft zu ziehen. Sie war daher recht froh, als sie um sechs Uhr nachmittags ihren Schreibtisch absperren und sich auf den Heimweg machen konnte. Sie wollte nur ein ganz leichtes Abendbrot zu sich nehmen und so früh wie möglich ins Bett kriechen. Von ihrem Fenster aus hatte sie einen kleinen Wagen vor dem Hause warten sehen. Sie hatte gedacht, er gehöre irgendeinem Klienten, und war daher ein wenig überrascht und unangenehm berührt, als sie, die Vortreppe des alten Hauses, in dem sich das Büro befand, hinabsteigend, einen jungen Herrn mit gezogenem Hut auf sich zutreten sah.

»Ach, Sie!« sagte sie etwas ungnädig. »Jawohl, ich!« antwortete Jim Carlton. »Da aber Ihr Gruß

keine sehr große Freude verrät, muß ich Sie schon fragen, ob Ihnen vielleicht Herr Elk lieber wäre. Einer von uns hätte sie nämlich jedenfalls zu irgendeiner Stunde des Tages über verschiedene Dinge befragen müssen, und da hielt ich es für rücksichtsvoll, Sie jetzt zu erwarten.«

»Aber was soll ich Ihnen denn um Gottes willen erzählen?« fragte sie ungeduldig. »Sie wissen ja doch schon alles über den Einbruch, nicht? Und das ist es wohl, was Sie zu mir führt.«

»Freilich«, antwortete Jim. »Das eine ist mir klar: Sie machen

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sich von uns Polizisten keine rechte Vorstellung. Sie denken sich wohl, Scotland Yard sagt in einem solchen Falle: ›Hallo, in Victoria ist eingebrochen worden! Wie interessant! Da aber niemand etwas Näheres weiß, wollen wir die Sache auf sich beruhen lassen.‹ Da irren Sie sich jedoch!«

»Ich bin viel zu hungrig, um jetzt ein Plauderstündchen mit Ihnen zu halten.«

»Das kann ich mir denken«, antwortete er. »Aber ich kenne ein Restaurant am King's-Cross-Bahnhof, wo die ›Sole à la Bonne Femme‹ so vorzüglich zubereitet wird, daß wirklich nur die Reinen im Herzen ihrer würdig sind.«

Sie zögerte einen Augenblick. »Na, meinetwegen«, sagte sie dann, immer noch ein wenig ungnädig. »Ist das Ihr Wagen? Wie komisch!«

»Ich finde nichts Komisches an meinem Wagen«, wies er sie würdevoll zurecht. »Übrigens ist es gar nicht mein Wagen, ich habe ihn nur ausgeliehen.«

Es war ein klarer, frostiger Abend; Aileen genoß die kurze Autofahrt in hohem Maß, obgleich sie es um keinen Preis zugegeben hätte. Sie fuhren beim Seiteneingang eines großen Restaurants vor, das schon voll von Leuten war, die sich allerlei gastronomischen Genüssen hingaben.

»Ich habe mir einen Tisch reservieren lassen«, sagte er, sie zwischen den Tischen der speisenden Gäste hindurch in die stille Ecke eines Nebenraumes führend.

Ein wirklich behaglicher Raum, sagte sie sich. Das durch 39 rote Schirme gedämpfte Licht der Tischlampen übte eine besänftigende Wirkung auf sie aus. Sie konnte ihren Tischgenossen in aller Muße betrachten. An jenem Unglückstag war sie so gereizt gewesen, daß sie sich nicht genau erinnern konnte, wie er aussah. Daß er nichts Abstoßendes an sich hatte, wußte sie; eine undeutliche Erinnerung sagte ihr sogar, daß er recht gut aussah und nur seine Nase etwas zu kurz war. Bei

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näherer Betrachtung fand sie nun, daß auch diese angemessen lang war. Er hatte blaue Augen und war doch wohl etwas älter, als sie gedacht hatte. Auch das war erfreulich. Ihre Geringschätzung für ihn war nämlich auch darauf zurückzuführen gewesen, daß er ihr allzu jung vorgekommen war.

»Jetzt können Sie alle Ihre schrecklichen Fragen stellen«, sagte sie, ihre Handschuhe abstreifend.

»Erstens«, begann er: »Was für einen Antrag hat Ihnen Harlow gesternd abend gemacht, als ich mich so überaus diskret zurückzog?«

»Das hat zwar nichts mit dem Einbruch zu tun«, antwortete sie, »aber da ich der Sache keine Wichtigkeit beimesse, kann ich's Ihnen ja sagen: Er hat mir eine Stellung angetragen.«

»Bei wem?« fragte er rasch. Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. So weit sind wir

gar nicht gekommen. Ich sagte ihm, daß ich mit meinem Posten bei Herrn Stebbings vollkommen zufrieden sei, der nebenbei gesagt – früher der Rechtsanwalt der Familie Harlow war.«

»Haben Sie ihm das gesagt?« Er beugte sich vor. »Nein. Wieso? Er hat es mir gesagt. Freilich wußte ich es

schon. Er erinnerte sich sofort, als ich den Namen ›Stebbings‹ erwähnte.«

»Hat es einen sichtlichen Eindruck auf ihn gemacht?« fragte Jim nach einer Weile.

Sie lachte. »Wie komisch Sie mir vorkommen! Wirklich, Herr... Herr...« Sie hielt herausfordernd inne.

»Carlton«, ergänzte er. »Ein Stiefbruder des Hotels, aber gar nicht verwandt mit dem gleichnamigen Club.«

»Diesen guten Witz haben Sie schon gestern abend angebracht«, meinte sie ein wenig schnippisch.

»Und ich werde ihn so oft wiederholen, wie Sie sich den

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Anschein geben, meinen Namen vergessen zu haben! Jedenfalls liegt darin schon das Eingeständnis einer krassen Unwissenheit, die bei einer modernen jungen Dame kaum entschuldbar ist. Ich bin nämlich einer der meistgenannten Männer in ganz London.«

»Ich glaube, auch das aus Ihrem Munde schon gehört zu haben«, log sie. »Aber jetzt sagen Sie mir allen Ernstes,- Herr Carlton –«

»Sehen Sie, jetzt haben Sie sich's schon gemerkt!« »Jetzt sagen Sie mir allen Ernstes, was Sie von mir über den

Einbruch noch wissen wollen.« »Eigentlich nichts«, lautete die unverschämte Antwort.

»Tatsächlich habe ich Ihnen allerlei Unannehmlichkeiten erspart, indem ich selbst dem zuständigen Beamten alle Auskünfte erteilte, die er wünschte. – Ihr Onkel kommt morgen heraus. Wissen Sie das schon?«

»Morgen schon?« wiederholte sie in einem leisen Ton der Sorge.

»Ja. Und Elk wird ihm entgegenfahren und versuchen, seinen Zorn einigermaßen zu besänftigen. Denn er wird sich doch sehr ärgern, glauben Sie nicht?«

»Ganz fürchterlich wütend wird er sein«, bestätigte das Mädchen. Dann fügte sie mit einem kleinen Seufzer hinzu: »Ich werde schrecklich froh sein, wenn er einmal ›herausgekommen‹ sein wird, wie Sie es nennen. Er zahlt mir wohl zwei Pfund wöchentlich für meine Mühewaltung, aber auf die will ich gerne verzichten, wenn ich die Sorge loswerde.«

»Arthur Ingle sollte sich schämen, Sie nicht vor solchen Unannehmlichkeiten bewahrt zu haben«, sagte er. »Ich möchte nur noch eines über ihn wissen, und vielleicht werden Sie mir diese Auskunft geben können: War Ihr Onkel ein großer Spekulant?«

»Ich glaube nicht. Aber ich weiß es wirklich nicht. Er sprach

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nie mit mir über seine Kapitalanlagen. Und das meinen Sie doch?«

»Ja, das meinte ich«, antwortete Jim. Es fiel ihm schwer, weiter in sie zu dringen, ohne sie zu beleidigen. »Sie haben ihn aber doch mehrmals aufgesucht und dabei gewiß auch Geschäftliches mit ihm besprochen. Ich bin ein Scheusal, von Ihnen zu verlangen, mir seine Geheimnisse zu verraten, und denke nicht im entferntesten daran, daß Sie es tun werden. Doch das eine werden Sie mir vielleicht sagen können: Hat er Ihnen niemals etwas von todsicheren ausländischen Wertpapieren gesagt, etwa von amerikanischen Eisenbahnaktien oder Aktien argentinischer Elektrizitätswerke?«

Sie schüttelte den Kopf, noch ehe er den Satz vollendet hatte. »Niemals«, sagte sie. »Ich glaube auch gar nicht, daß er etwas

von diesen Dingen versteht. Ich erinnere mich, daß er mir während meines ersten Besuches in Dartmoor sagte, er wolle sein Geld nicht in Aktien anlegen. Natürlich ist es mir nicht entgangen, daß er Geld besaß. Aber das wissen Sie ja sicherlich auch. Und ich denke mir, es ist gestohlenes Geld, das er irgendwo –«

»- versteckt hat. Freilich«, fiel ihr Jim ins Wort. Er war sehr ernst geworden. So sah sie ihn zum erstenmal, und

er gefiel ihr mit diesem Gesichtsausdruck noch besser. »Nur noch eine Frage: Wissen Sie, ob er mit einer Firma

namens ›Rata‹ in Verbindung steht?« Nachdem sie ihm versichert hatte, daß sie niemals etwas von

einem Unternehmen dieses Namens gehört hätte, verflog sofort auch wieder sein Ernst.

»So, das ist der ganze Fragebogen, den ich Ihnen vorzulegen hatte. Jetzt wollen wir es uns schmecken lassen.«

Er beugte sich zur Seite, um dem etwas beleibten Kellner zu gestatten, die Platte auf den Tisch zu stellen.

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»›Sole à la Bonne Femme‹ wird einer müden jungen Sekretärin entschieden sehr gut tun.«

Er wurde dann wieder sehr gesprächig. Des Onkels wurde keine Erwähnung mehr getan, dafür erzählte er um so mehr von sich. Und wenn er dabei auch ein wenig ins Fachsimpeln geriet, so war es doch sehr unterhaltend, denn es gab ja kaum eine interessantere Tätigkeit als die bei Scotland Yard. Er war während des Krieges als Abwehroffizier dem Generalstab zugeteilt gewesen und dann erst von Scotland Yard übernommen worden, war also einer der wenigen Beamten dort, die nicht von der Pike auf gedient hatten. Seine Wohnung hatte er im Club.

»Ich werde Ihnen aber doch meine Telefonnummer aufschreiben. Vielleicht brauchen Sie mich einmal.«

Er kritzelte seine Adresse und die Nummer auf die Rückseite der Speisekarte, riß das Stück Papier ab und überreichte es ihr.

»Warum sollte ich Sie braudien?« »Das weiß ich nicht. Mein Empfinden sagt mir nur, daß es der

Fall sein wird. Ich bin eine Art Hellseher, müssen Sie wissen. Vorahnungen ersetzen, was mir an Wissen fehlt, und die Telepathie hat sich geradezu zu einem sechsten Sinn bei mir entwickelt. Und ich habe eine Ahnung... Vielleicht ist sie falsch; ich hoffe, sie ist falsch!«

Ein- oder zweimal hatte er, wie sie bemerkte, verstohlen auf die Uhr geschaut, doch schien er bereit, um ihretwillen seine Verabredung nicht einzuhalten, denn er ließ sich mit seinem Kaffee Zeit und blieb sitzen, bis sie selbst dem netten Abend ein plötzliches Ende bereitete, indem sie die Handschuhe anzuziehen begann.

Als sie wieder im Wagen saßen, um die Heimfahrt anzutreten, sagte er unvermittelt: »Ich habe Sie nicht viel nach Ihrer eigenen Person gefragt, denn das kommt mir immer als eine Unverschämtheit vor. Aber ich glaube aus Ihren Worten

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entnommen zu haben, daß Sie unverheiratet und wohl auch noch nicht verlobt sind?« Er sah sie dabei gespannt an.

»Ich habe nicht einmal einen Freund«, sagte sie ohne jede Verlegenheit, »und ich hoffe, daß dieses Geständnis auch einer eroberungslustigen Polizeimacht nicht als Ermutigung erscheinen wird!«

Er kicherte eine ganze Minute lang. »›Eroberungslustige Polizeimacht‹ ist gut gesagt«, brachte er schließlich heraus. »Wird für künftige Verwendung bei besonderen Anlässen in Vormerkung genommen. Aber Sie sind die erste Frau –«

»Nicht! Nicht!« fiel sie ihm, sich die Ohren zuhaltend, ins Wort.

»- bei der ich wirklich Sinn für Humor gefunden habe«, vollendete er den Satz. »Ich bedauere, Sie zu enttäuschen.«

»Ich bin gar nicht enttäuscht, fürchtete nur, eine Banalität zu hören. Mein Haus ist das dritte links. – Danke vielmals!«

Sie stieg rasch aus dem Wagen und streckte ihm ihre Hand hinein. Als sie sah, daß er an ihr vorbei nach der Haustür schielte, sagte sie: »Die Hausnummer ist 163. Aber Sie brauchen wirklich nicht zu schreiben, außer wenn Sie etwas Dienstliches von mir wollen. Gute Nacht!«

Jim Carlton lächelte während des ganzen Weges nach Whitehall Gardens vor sich hin. Seine Fröhlichkeit hielt auch noch an, als der Diener ihn in das Arbeitszimmer Sir Joseph Laytons, des Außenministers, führte.

Als Jim eintrat und mit einer knappen Verbeugung vor ihm stehenblieb, blickte er ihn über seine mächtige Hornbrille hinweg an.

»Nehmen Sie Platz, Carlton.« Er trocknete den Brief, den er geschrieben hatte, mit dem

Löscher ab, faltete ihn mit peinlicher Genauigkeit, steckte ihn in einen Briefumschlag und schrieb mit großen Zügen die Adresse

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darauf, ehe er weitersprach. »Ich bin eben erst aus dem Parlament gekommen. Haben Sie

mich schon gesucht?« »Nein, Sir.« »Hm!« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, legte die Fingerspitzen

aneinander und musterte den Detektiv abermals über seine Brille hinweg.

»Na, was gibt's Neues?« fragte er, sogleich hinzufügend: »Die Depeschen, die Sie mir sandten, habe ich durchgesehen. Sonderbar – wirklich sehr sonderbar! Haben Sie sie aufgefangen?«

»Ja, aber es sind nur einige wenige. Ein großer Teil der Geschäftskorrespondenz des Rata-Syndikats geht durch andere Kanäle. Jedenfalls aber beweisen schon diese Depeschen, daß die ›Rata‹ einen großen Coup vorhat. Ich glaube, daß die großen Maklerfirmen der ganzen Welt heute ähnliche Weisungen erhalten haben.«

Sir Joseph schloß eine Schublade seines Schreibtisches auf, zog sie heraus und entnahm ihr mehrere Aktenbündel. Er blätterte eine Weile darin, dann sagte er: »Ich glaube, das ist die wichtigste.«

Es war eine an die Niederlassung des Rata-Syndikats in der Wall Street gerichtete Depesche: ›Nachfolgende Papiere bereithalten zu sofortigem Verkauf. 15 Prozent Kursverlust zulässig.‹ Es folgte dann eine zwei Seiten lange Liste von Aktien.

»Wirklich sehr merkwürdig«, sagte Sir Joseph, nachdenklich über sein weißes Schnurrbärtchen streichend. »Höchst sonderbar! Wie Sie in Ihrem Bericht ganz richtig ausgeführt haben, sind das alles Papiere, die bei der leisesten Kriegsgefahr sofort große Kursverluste erleiden würden. Aber wie, zum

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Teufel, sollte es zu einem Krieg kommen? Europa war noch nie so ruhig wie jetzt! Sie haben doch meine gestrige Rede im Unterhaus gelesen?«

Jim nickte. »Auf mein Wort«, fuhr Sir Joseph fort, »ich glaube, darin

jeden unangebrachten Optimismus aufs sorgfältigste vermieden zu haben. Aber auch wenn ich den politischen Horizont von China bis Peru absuche – ich kann keine einzige drohende Wolke entdecken.«

»Besteht nicht irgendeine Differenz mit Amerika? Ich glaube etwas über eine Meinungsverschiedenheit wegen der amerikanischen Mandatsgebiete in der Südsee gelesen zu haben.«

Sir Joseph lächelte überlegen. »Mit Amerika wird es ganz bestimmt nie zu ernsthaften Differenzen kommen«, sagte er. »Wir werden wahrscheinlich stets unsere Pressefehden haben, aber in Wirklichkeit besteht zwischen der Mentalität der Amerikaner und der unseren nicht mehr Unterschied als zwischen der der Konservativen und Liberalen bei uns oder zwischen Republikanern und Demokraten drüben. Wir werden sowenig jemals begeisterte Freunde Amerikas sein wie die Republikaner und die Demokraten in den Vereinigten Staaten miteinander. Aber tatsächlich gibt es zwischen uns doch keine wesentliche Meinungsverschiedenheit; wir betrachten nur alles von verschiedenen Gesichtspunkten.«

Jim Carlton griff nach den Papieren und sah sie durch. »Ich glaube«, fuhr der Außenminister fort, »Sie haben sich in

den Kopf gesetzt, es müsse irgendwo eine teuflische Verschwörerbande geben, die die Welt in einen neuen Krieg stürzen will. Sie sehen im Geiste Agenten mit geheimen Plänen handeln und sich an versteckten Orten mit allmächtigen Diplomaten treffen. Habe ich nicht recht?«

»Gar so romantisch bin ich wohl nicht veranlagt«, erwiderte

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Jim lächelnd. »Und Erfahrungen habe ich schließlich auch gesammelt. Ich weiß, wie Kriege gemacht werden, oder vielmehr, daß sie überhaupt nicht gemacht werden. Sie brechen plötzlich aus, wie Stürme aus den Nebeln entstehen, die über sumpfige Niederungen und um Berggipfel ziehen. Ihre Ursachen wären bildlich vielleicht am besten als sich zusammenballende Wolken nationaler Vorurteile zu bezeichnen.«

»Na schön! Aber jetzt sagen Sie mir einmal aufrichtig, lieber Carlton, wen Sie eigentlich für den Verschwörer gegen den Frieden der Völker halten? Ich glaube es zu wissen. Sie denken, daß Harlow hinter der ›Rata‹ steht und irgendeinen teuflischen Plan verfolgt, die Völker durcheinanderzubringen, nicht wahr?«

»Ich denke, Harlow steckt so ziemlich hinter jeder größeren Unruhe, die unsere Börse erschüttert«, antwortete Jim bedächtig. »Er hat einfach zuviel Geld. Könnten Sie ihm nicht einiges abzapfen?«

»Wir tun, was wir können«, sagte der Außenminister trocken, »aber Harlow ist einer der wenigen Menschen, die niemals zucken, sosehr auch die Steuerschraube angezogen wird.«

Jim begab sich nach Scotland Yard zurück, wo er Elk zu treffen hoffte. Er erfuhr jedoch, daß dieser am Abend nach Devonshire gefahren war. Er sollte Ingle bei seiner Entlassung aus dem Zuchthaus in Empfang nehmen und nach der Stadt begleiten. Dieser Auftrag Elks hatte durchaus nichts mit der Sorge um Aileen zu tun; sicherlich hatte ihn zu dieser Reise auch nicht die menschenfreundliche Absicht bewogen, dem Sträfling die Nachricht von dem Einbruch in seine Wohnung schonend beizubringen.

Vielmehr war man zuerst der irrigen Ansicht gewesen, daß irgendein tieferer Grund für das Verbrechen bestanden haben müßte und bei dem Einbruch doch etwas von sehr hohem Wert entwendet worden sein könnte. Carlton war überzeugt, daß das plötzliche Auftauchen Harlows in der Wohnung kurz nach dem

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begangenen Verbrechen in einem Zusammenhang mit dem Einbruch stand. Harlow hätte um diese Zeit eigentlich bei einem Bankett in der City sein müssen; das wußte Jim, der ihn den ganzen Tag überwacht hatte. Der Millionär war sogar in den Morgenblättern unter den Gästen genannt. Und doch war Harlow knapp eine Stunde nach dem Unfall am Embankment in den Fotheringay Mansions aufgetaucht, ohne sein Fernbleiben von dem Festessen erwähnt zu haben. Dabei wußte er bestimmt – dessen war Jim ganz sicher -, daß er von früh bis abends beschattet worden war.

Zeitig am Morgen stand Inspektor William Elk fröstelnd auf dem windigen Bahnsteig der kleinen Station Princetown. Der Frühzug nach London war schon da, aber es waren erst sehr wenige Leute eingestiegen: ein oder zwei Arbeiter und ein Handlungsreisender, den offenbar seine Geschäfte über Nacht festgehalten hatten. Es fehlte nur noch eine Minute bis zur Abfahrtszeit, und Elk dachte schon, daß er umsonst so früh aufgestanden sei, als er zwei Männer auf den Bahnsteig treten sah. Der eine war ein Gefängnisaufseher, der andere ein magerer Mann in einem schlechtsitzenden blauen Anzug. Der Aufseher trat an den Schalter und kam bald darauf mit einer Fahrkarte zurück, die er dem anderen überreichte.

»Glückliche Reise, Herr Ingle!« sagte der Beamte, dem Mann seine Hand hinhaltend, in die dieser mürrisch einschlug.

Er stieg in ein Abteil und war eben im Begriff, die Tür zu schließen, als Elk ihm folgte. Arthur Ingle erkannte den Inspektor sofort wieder; seine scharfen Augen blickten mißtrauisch.

»Hallo! Was wollen denn Sie?« fuhr er ihn barsch an. »Ach, das ist ja Herr Ingle!« brachte Elk keuchend hervor, als

wenn er gerannt wäre, um den Zug noch zu erreichen. »Man möchte gar nicht glauben, daß es schon fünf Jahre her ist...«

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»Was wollen Sie von mir?« fragte Ingle nochmals. »Ich? Nichts! Gar nichts! Ich war nur oben in der Strafanstalt,

weil ich einen der Häftlinge um Auskünfte über einen seiner Freunde ersuchen wollte. Aber Sie wissen ja, wie diese Vögel sind; es war natürlich vergebliche Liebesmüh'«, erklärte Elk, sich eine Zigarre anzündend und auch seinem Reisegefährten eine anbietend.

Ingle nahm die Zigarre, biß gierig das Ende ab und zündete sie an dem Feuer an, das ihm der Detektiv reichte. In diesem Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung, so daß sie sicher waren, nicht gestört zu werden.

»Da fällt mir gerade etwas ein. Ich habe gestern von Ihnen sprechen hören... Was war es denn nur?« Elk griff sich an die Stirn. Er bot ein Bild angestrengtesten Nachsinnens. »Richtig«, rief er endlich aus, »in Ihre Wohnung ist eingebrochen worden! Das war's!«

Ingle fiel die Zigarre aus der Hand. »Ein Einbruch? Bei mir?« schrie er laut auf. »Was ist denn dabei gestohlen worden?«

»Jemand hat den Safe in der Abstellkammer aufgebrochen...« Ingle sprang auf; seine Augen funkelten gefährlich. »Den

Safe!« Er stieß die Worte förmlich brüllend hervor. »Den Safe hat man aufgesprengt! Gottverdammte Kerle! Nicht genug, daß man mich fünf Jahre ins Kittchen steckt, will man mich gleich wieder hops nehmen! Nicht wahr?«

Elk ließ ihn ruhig austoben, bis seine Stimme vor Wut ganz heiser war, so daß sie nur mehr wie ein Röcheln klang.

»Ich hoffe, Sie haben dabei nicht zu viel Geld verloren«, meinte er dann teilnahmsvoll.

»Geld!« knurrte Ingle. »Sehe ich aus wie ein Mann, der sein Geld im Safe aufbewahrt? Warum fragen Sie so dumm? Sie wissen doch ganz genau, was man mir gestohlen hat!« Er wies anklagend mit dem Finger auf den Beamten. »Ihr habt es doch

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getan, ihr feinen Herrn! Darum sind Sie ja auch da oder nicht? Sie wollen mich gleich beim Verlassen des Gefängnisses wieder verhaften, nicht wahr?«

»Mein lieber, guter Herr!« beschwichtigte ihn Elk mit einer Miene, als wäre er aufs tiefste betrübt. »Was reden Sie da nur für Zeug daher? Sie wissen wohl selbst nicht, was Sie sagen! Ihnen droht so wenig eine Verhaftung wie mir selbst. Sie könnten jeden Augenblick als freier Mann dieses Abteil verlassen, wenn der Zug nicht gerade in Bewegung wäre.« Dann fragte er unvermittelt: »Was ist Ihnen denn abhanden gekommen?«

Es brauchte eine gute Weile, bis der andere sich erholt hatte. Dann sagte er: »Wenn Sie es wirklich nicht wissen, dann werde ich es Ihnen ganz bestimmt nicht sagen. Sie und Ihresgleichen haben mich einen Betrüger genannt.« Er knirschte mit den Zähnen, und seine Augen glühten fanatisch. »Man hat mich gebrandmarkt und ins Gefängnis gesteckt, hat mich von denen getrennt, zu denen ich gehörte, hat einen Paria und Aussätzigen aus mir gemacht! Weshalb? Weil ich ein wenig von der Sahne abgeschöpft habe, die andere beiseite geschafft hatten! Weil ich den Blutsaugern ein wenig von dem Geld abgenommen habe, das andere im Schweiße ihres Angesichtes für sie verdienen mußten; von dem Geld, an dem das Blut der Armen klebte, das sie unbekümmert um gebrochene Herzen an sich gerissen hatten! Es gehörte von Rechts wegen mir!« Er schlug sich mit der knochigen Faust auf die Brust. Seine Augen blitzten. »Mir gehörte das Geld! Mir und meinen Genossen, den Menschen da drinnen!« Er wies nach hinten, wo sich hinter einer Bodenwelle das düstere Gebäude der Strafanstalt erhob. »Ich habe es mit vollem Recht den feisten Blutsaugern abgenommen und freue mich, es getan zu haben! Es bedeutet ein Schmuckstück weniger für ihre gräßlichen Weiber, ein Auto weniger zu waschen für ihre Sklaven!«

»Hervorragender Gedanke!« murmelte Elk beifällig.

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»Sie sagen das? Wer sind Sie denn? Ein elender Lakai der bevorrechtigten Klasse sind Sie«, fauchte Ingle. »Ein gedungener Folterknecht! Ein Zutreiber für die Gefängnisse!«

»Ganz richtig«, murmelte Elk. »Wenn ihr diese Papiere gefunden hättet, so hättet ihr

wenigstens etwas zum Nachdenken gehabt. Verstehen Sie mich? Das hätte den fetten Herrn die Nachtruhe gestört! Und wenn man sie für aufrührerisch gehalten hätte, so wäre ich dafür gern wieder zurück ins Gefängnis gewandert.«

Elk schlug plötzlich die Augen auf. »Das also war's!« meinte er enttäuscht. »Revolutionsgefasel?«

Ingle nickte nur. »Schade! Ich habe gedacht, es handelte sich um etwas, das zu

wissen wirklich der Mühe wert wäre«, fuhr Elk verärgert fort. »Aber das sind doch Dummheiten, Ingle!«

»Für Sie vielleicht, für mich nicht«, erwiderte der andere gereizt. »Ich hasse England! Ich hasse die Engländer! Ich hasse die besitzende Klasse, hasse die schmierigen, dünkelhaften Bourgeois! Ich lernte sie hassen, als ich noch ein halbverhungerter Schauspieler war und sie mit ihren feisten Fratzen grinsend in ihren Logen lümmeln sah –« Seine Stimme überschlug sich.

Elk fiel ihm ins Wort: »Eigentlich ließe sich zur Verteidigung der fetten Leute eine ganze Menge sagen. Was halten Sie zum Beispiel von Harlow? Man kann ihn zwar nicht gerade dick nennen, aber –«

»Harlow?« höhnte der andere. »Der ist auch einer von euren vergoldeten Götzen!« Dann hielt er jedoch plötzlich inne, als wäre ihm etwas eingefallen.

»Einer von den vergoldeten Götzen, meinten Sie«, trachtete der Beamte ihn wieder auf den Gegenstand des Gespräches zurückzubringen.

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»Ich weiß nicht recht«, meinte der Mann kopfschüttelnd. »Vielleicht ist er doch anders. Dort drinnen« – er wies wieder mit dem Kopf nach hinten – »sagt man, daß er bis ins Mark ein Spitzbube sei. Aber er bestiehlt wenigstens nicht die Armen. Er nimmt nur den dicken Schweinen die fetten Bissen gleich trogweise weg.«

»Wenn dem so ist, so finde ich an ihm nichts auszusetzen, denn er hält sich dabei im Rahmen der Gesetze«, erwiderte Elk voll Sanftmut. »Ein Mann, der dem Staat eine vorbildlich eingerichtete Polizeistation zum Geschenk macht, kann kein Bösewicht sein.«

Als der Zug den Bahnhof von Plymouth erreichte, war Polizeiinspektor Elk bereits zur Erkenntnis gelangt, daß von seinem Reisegefährten nichts mehr zu erfahren sei. Er ging aufs Telegrafenamt und sandte ein kurzes, vielsagendes Telegramm an Jim Carlton ab: Revolutionäre Schriften. Nichts von Bedeutung.

Mit dem gleichen Zug wie Ingle fuhr er nach London weiter, kehrte aber nur noch auf eine halbe Stunde in dessen Abteil zurück, nachdem der Zug Bath passiert hatte. Anscheinend war er Herrn Ingle durchaus nicht unwillkommen, denn dieser begann sofort wieder zu sprechen.

»Haben Sie meine Nichte gesehen oder gesprochen? Weiß sie von dem Diebstahl? Ich glaube, Sie haben mir schon etwas darüber gesagt, aber die Nachricht hat mich so erregt, daß ich nur mit halbem Ohr zuhörte.«

Nachdem ihm Elk alle bekannten Einzelheiten mitgeteilt hatte, fuhr er fort: »Harlow? Warum ist der in meine Wohnung gekommen? Sagten Sie nicht, er habe Aileen in Princetown kennengelernt?« Er dachte stirnrunzelnd nach und schlug sich dann plötzlich aufs Knie. »Jetzt erinnere ich mich des Burschen. Er saß behaglich in seinem Auto, als wir an jenem Tag von der Feldarbeit zurückkehrten. Das also war Harlow! Verkehrt er mit

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meiner Nichte?« fragte er mißtrauisch. »Ich weiß nur, daß sie sich in Princetown kennengelernt

haben.« Ingle zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich läuft er ihr nach.

Sie ist ein hübsches Ding. Und bei einem solchen Menschen spielt ja das Geld keine Rolle. Aber sie ist alt genug, für sich selbst zu sorgen. Um die brauche ich mich nicht zu kümmern.«

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Ingle hatte von Plymouth aus seine Nichte telegrafisch ersucht, ihn abends in seiner Wohnung zu besuchen. Als sie kam, hatte er gerade sein selbst bereitetes Abendessen verzehrt.

Auf ihre erste besorgte Frage antwortete er: »Ja, ich habe von dem Einbruch bereits gehört. Gott sei Dank haben sie bei mir nichts gefunden, was für sie auch nur einen Schilling wert wäre! Warum hast du denn gleich die Polizei gerufen?«

Ihre trotzige Antwort bewies ihm, daß sie sich sehr verändert hatte.

»Wen hätte ich denn sonst rufen sollen?« fragte sie. »Vielleicht einen Arzt? Was tut man denn für gewöhnlich, wenn irgendwo eingebrochen wird?« fuhr sie trotzig fort. »Man läßt die Polizei kommen. Das habe ich natürlich auch getan!«

Er starrte sie wütend an, aber sie zuckte mit keiner Wimper. Schließlich mußte er seine Blicke senken.

»Na, es macht ja nichts«, sagte er. »Du kennst Harlow?« »Ja, ich habe ihn in Princetown getroffen.« »Ist er dein Freund?« »Ebensowenig wie du«, antwortete sie. Es war schon der

zweite Hieb, den er abbekam. »Ich habe durchaus nicht die Absicht, mit dir zu streiten, und

verstehe nicht, warum du so frech bist«, fuhr er sie an. »Du hast dich mir nützlich erwiesen, aber ich habe mich dafür auch großzügig gezeigt. Bist du mit Harlow befreundet?«

»Ich sagte dir schon, daß ich ihn in Princetown kennengelernt habe«, antwortete sie, ohne sich den in ihr.aufsteigenden Ärger anmerken zu lassen. »Dann kam er am Abend nach dem Einbruch hierher, um mir eine Stellung anzutragen.

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Wahrscheinlich, weil er dachte, daß es mir schwer werden würde, eine zu finden, nachdem meine Verwandtschaft mit dir bekannt geworden ist.«

Er brummte etwas Unverständliches. Sie hatte ihn eingeschüchtert, ohne daß es Ihre Absicht gewesen wäre.

»Ich werde deiner Dienste nicht mehr bedürfen.« Er zog seine Brieftasche hervor, öffnete sie und entnahm ihr eine Banknote. »Nimm das als Abfindung. Ich habe nicht die Absicht, dir noch weiterhin eine Zulage zu gewähren.«

Er erwartete, daß sie das Geld zurückweisen würde, und hatte sich darin nicht geirrt.

»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?« fragte sie, ohne auch nur einen Blick auf das Geld zu werfen.

»Alles.« Sie drehte sich mit einem Nicken um und ging zur Tür. »Die Putzfrauen werden heute abend noch kommen«, sagte sie

von der Schwelle aus. »Vielleicht wäre es gut, wenn du gleich mit einer ausmachen würdest, daß sie auch weiterhin kommt. Aber ich denke mir, du wirst dir schon deine eigenen Pläne zurechtgelegt haben.«

Ehe er antworten konnte, war sie fort. Er hörte noch die Haustür hinter ihr zufallen, dann nahm er das Geld, um es wieder in seine Brieftasche zu stecken. Das ersparte Geld freute Herrn Arthur Ingle, denn er war, um der Wahrheit die Ehre zu geben, trotz seiner weitherzigen politischen Ansichten ein ausgesprochener Geizhals.

Nun gab es für ihn eine Menge zu tun: Er mußte alte Kisten und Schachteln öffnen, ihren Inhalt ordnen und verschiedene Schriftstücke und Aufzeichnungen aus allerlei seltsamen Verstecken hervorsuchen. Das Oberteil des großen Sofas, auf dem Aileen so oft gesessen und gewartet hatte, bis die

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Putzfrauen ihre Arbeit beendet hatten, ließ sich wie ein Deckel aufklappen. Der dadurch frei werdende Kasten war voll von Papieren. In einer Stahlkassette befand sich eine Sammlung falscher Pässe.

Ingle war ein Mann von weitreichender politischer Wirksamkeit. Kein Parteimann, denn er fand keine Partei, deren Ansichten sich vollkommen mit den seinen gedeckt hätten, sondern einer jener leidenschaftlichen Grübler, die so oft, sich selbst unbewußt, zum Kern einer Bewegung werden. Sein Groll gegen die Welt war aufrichtig. Er sah in den einfachsten Beziehungen von Ursache und Wirkung das Walten einer großen Ungerechtigkeit. Nicht, daß ihn seine Weltanschauung zum Verbrecher gemacht hätte; sie rechtfertigte nur in seinen Augen die Mißachtung der Gesetze und aller Pflichten gegen die menschliche Gesellschaft. Das Gefängnis hatte ihn weder besser noch schlechter gemacht, sondern ihn nur in seinen Theorien bestärkt. Mit einem seltsamen Mangel an Folgerichtigkeit verachtete er dabei seine Zuchthausgenossen, weil sie nach seiner Ansicht Menschen waren, die sich bei ihren Verbrechen nicht von denselben hohen Beweggründen leiten ließen wie er.

Ingle war vielleicht der einzige Mann in dem Zuchthaus, der von Herzen froh war, wenn sich die Zellentür hinter ihm schloß und abgesperrt wurde. Er konnte an die Verworfenheit der alten Lumpen im Zuchthaus, an ihre rohen Gespräche und prahlerischen Scherze, an die gräßlichen, nicht zu beschreibenden Dinge, die sich da ereigneten, nicht zurückdenken, ohne daß ihm übel wurde. In Wahrheit hätte er – wenn es ihm auch möglich gewesen wäre – keinen Finger gerührt, um diese Leute aus den Gefängnissen zu befreien, obgleich es zu seinem politischen Glaubensbekenntnis gehörte, den Abschaum der Menschheit als Opfer der Gesellschaft anzusehen.

Nach getaner Arbeit zündete er sich eine Zigarette an, die er

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behutsam in eine Bernsteinspitze gesteckt hatte. Er rückte die Kissen zurecht, legte sich auf das Sofa nieder, rauchte in aller Behaglichkeit und überließ sich seinen Gedanken, bis ihn das Klingeln des Telefons aufschreckte.

Die Stimme, die ihm ans Ohr schlug, klang ihm völlig unbekannt. »Ist dort Herr Ingle?«

»Ja«, antwortete er kurz. »Wären Sie bereit, einmal Ihren Grundsätzen untreu zu

werden?« lautete die überraschende Entgegnung darauf. Ingle lächelte säuerlich. »Unter Umständen sogar allen, die ich

noch besitze. Sie müssen mir nur sagen, was Sie eigentlich wünschen?«

Er dachte, es würde ein in Not geratener Bekannter sein, der ihn um Geld angehen wollte. In diesem Falle wäre die Unterhaltung sehr kurz ausgefallen, denn Herr Arthur Ingle war gegen törichte Regungen von Nächstenliebe gefeit.

»Wären Sie geneigt, mit mir heute abend auf dem Weg unmittelbar gegenüber der Horse Guards Parade zusammenzutreffen?«

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte Ingle erstaunt. »Ich will Ihnen gleich im vorhinein sagen, daß es mir nicht einfällt, auf Wunsch eines Fremden heute noch einmal auszugehen. Ich bin sehr, sehr müde.«

»Mein Name ist – Harlow.« Unwillkürlich stieß Ingle einen Ruf des Erstaunens aus.

»Stratford Harlow?« fragte er ungläubig. »Jawohl, Stratford Harlow.« Es dauerte eine ganze Weile, bis Arthur Ingle die Sprache

wiederfand. »Es ist ein sehr ungewöhnliches Verlangen, das Sie an mich stellen, aber Ihr Name sagt mir, daß es sich nicht um eine unwichtige Sache handeln kann. Wie soll ich jedoch wissen, daß ich wirklich mit Herrn Harlow spreche?«

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»Rufen Sie mich nach zehn Minuten in meinem Hause an und lassen Sie mich ans Telefon bitten«, sagte die Stimme. »Wären Sie bereit, meinen Wunsch zu erfüllen?«

Wieder zögerte Ingle. »Ja, wenn ich mich überzeugt haben werde, daß Sie Herr Harlow sind. Um welche Zeit soll ich mich dann einfinden?«

»Punkt zehn Uhr. Ich werde Ihnen in dieser kalten Nacht keinen langen Aufenthalt im Freien zumuten. Sie können zu mir in meinen Wagen steigen; wir machen dann eine kleine Spazierfahrt.«

Ingle hängte etwas verdutzt den Hörer auf. Er war ein vorsichtiger Mann und rief nach zehn Minuten wirklich Harlows Nummer an, die er im Telefonbuch gefunden hatte.

Es antwortete ihm dieselbe Stimme, die er vorher gehört hatte. »Sind Sie jetzt beruhigt?«

»Ja. Ich werde um zehn Uhr zur Stelle sein.« Er hatte noch zwei Stunden vor sich. Die Putzfrauen erschienen erst um neun Uhr, da Aileen

absichtlich diese späte Stunde festgesetzt hatte. Sie waren schon am Morgen dagewesen; Aileen hatte es für richtig gefunden, sie erst nach dem Abendessen wiederkommen zu lassen. Ingle erteilte ihnen einige Weisungen, traf seine Anordnungen für den nächsten Tag und ging dann wieder in das Eßzimmer, um über das seltsame Verlangen Stratford Harlows nachzudenken. Und je mehr er darüber nachdachte, desto weniger ratsam erschien es ihm, die Verabredung einzuhalten. Er trat an seinen Schreibtisch, zog ein Blatt Briefpapier hervor und schrieb darauf:

Sehr geehrter Herr Harlow! Ich bedaure sehr, Ihnen eine Enttäuschung bereiten zu müssen.

Als eben erst entlassener Sträfling befinde ich mich aber in einer so heiklen Lage, daß ich die allergrößte Vorsicht walten lassen

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muß. Ich will Ihnen ganz aufrichtig sagen: Ich fürchte, in eine mir von meinen Freunden von der Polizei gestellte Falle zu gehen, wenn ich den angeblich von Ihnen geäußerten Wunsch erfülle. Es wäre von mir eine unverzeihliche Dummheit, wenn ich mich in die Sache weiter einließe, ohne den Zweck der Zusammenkunft zu kennen oder doch wenigstens von Ihnen die schriftliche Bestätigung erhalten zu haben, daß wirklich Sie es waren, der heute an mich herangetreten ist.

Hochachtungsvoll Arthur Ingle Er steckte das Blatt in einen Briefumschlag, schrieb die

Adresse darauf und in eine Ecke: ›Persönlich zu übergeben! Dringend!‹ Doch auch damit war er noch nicht zufrieden. Er ging. ans Telefon, um einen Dienstmann herbeizurufen. Aber er nahm den Hörer nicht ab – seine Neugierde war plötzlich erwacht. Es drängte ihn, zu erfahren, was Stratford Harlow veranlaßt haben konnte, eine geheime Zusammenkunft mit dem doch eben erst aus Dartmoor entlassenen Arthur Ingle zu vereinbaren. Ein Mann in Harlows Position hätte ihn doch ruhig auch in sein Haus kommen lassen können, ohne sich damit etwas zu vergeben. Plötzlich reifte ein Entschluß in ihm. Er warf den Brief auf den Tisch, ging in sein Schlafzimmer und legte einen dunklen Anzug an.

Die zwei Putzfrauen arbeiteten in der Küche. Er öffnete die Tür, um sie von seinem Fortgehen zu verständigen.

»Ich gehe aus. Sie brauchen nicht auf mich zu warten. Machen Sie nur Ihre Arbeit zu Ende, und finden Sie sich morgen früh vor acht Uhr wieder ein«, bellte er sie an.

Dann warf er die Tür ins Schloß. Die Aussicht auf ein Abenteuer hatte ihn förmlich verjüngt.

Als die Uhr an der Kaserne der ›Horse Guards‹ die dritte Viertelstunde schlug, erreichte er eben den Birdcage Walk. Er bog dann ab und folgte dem einsamen Fußpfad am Rand des weiten Paradeplatzes. Er hatte keine Eile und schritt daher

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gerade nur so rasch aus, daß ihn nicht fror. Ein Schutzmann begegnete ihm. Das erinnerte ihn in unangenehmer Weise daran, daß er sich noch nicht beim Polizeirevier seines Wohnbezirks gemeldet hatte. Im stillen verfluchte er die Ordnung der Dinge, die es mit sich brachte, daß er noch immer mit einer ganz feinen Kette an Dartmoor gefesselt war.

Er war zu der Ansicht gekommen, daß es sich nicht um eine Falle handeln könne. Ein Mann von Harlows Art hätte sich bestimmt nicht zu einem solchen Komplott hergegeben.

Unter einer Straßenlaterne warf er einen Blick auf seine Taschenuhr: Es fehlten noch fünf Minuten an zehn Uhr. Langsam machte er sich auf den Rückweg. Gegenüber dem Torbogen der Kaserneneinfahrt blieb er stehen. Im gleichen Augenblick kam eine Limousine langsam und geräuschlos angerollt. Sie blieb knapp vor ihm stehen. Die Wagentür ging auf.

»Bitte steigen Sie ein, Herr Ingle«, sagte eine leise Stimme. Er leistete der Aufforderung Folge, zog die Tür hinter sich zu

und ließ sich auf den weichen Rücksitz sinken. In dem Mann an seiner Seite erkannte er sofort den berühmten Harlow, dessen Name sich sogar bei den Leuten in Dartmoor mit dem Begriff unermeßlichen Reichtums deckte.

Der Wagen setzte sich sogleich in Bewegung, bog in die Pall Mall ein, fuhr um den Buckingham-Palast herum und dann in den Hyde Park hinein. Dort ging der Chauffeur, ohne eine Weisung abzuwarten, mit der Geschwindigkeit herunter. Stratford Harlow begann zu sprechen.

Etwa eine Stunde lang fuhr der Wagen gemächlich im Kreise herum. Regen hatte eingesetzt, der Park war fast vollständig menschenleer. Wie ein Träumender lauschte Ingle den überraschenden Vorschlägen seines Begleiters.

Er konnte wenigstens in aller Behaglichkeit zuhören. Inspektor Jim Carlton, der in einer höchst unbequemen Lage auf dem

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Koffergestell kauerte, hatte es nicht so gut wie er und wurde für seine Mühe nicht belohnt. Durchnäßt und halb erfroren, mußte er feststellen, daß das kleine Mikrophon, das er mit Hilfe einer Gummihaftscheibe an der Rückwand des Wagens befestigt hatte, nicht imstande war, ihn das Gespräch mithören zu lassen, das da drinnen geführt wurde.

Arthur Ingle kehrte bald nach elf Uhr in seine Wohnung zurück. Er braute sich einen Kaffee, ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und begann sich Aufzeichnungen zu machen. Einmal erhob er sich, um in sein Schlafzimmer zu gehen, das Licht über seinem Toilettentisch einzuschalten und volle fünf Minuten lang sein Spiegelbild anzustarren. Diese Selbstbetrachtung schien ihn mit einer gewissen Zufriedenheit zu erfüllen, denn er kehrte lächelnd zu seiner Arbeit zurück.

Das Lächeln blieb auf seinen Zügen. Einmal lachte er sogar laut auf. Offenbar hatte sich etwas ereignet, das ihn mit köstlichem Glücksgefühl erfüllte.

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›Könnte ich Sie heute während der Mittagspause sprechen? -Aileen Rivers.‹ Jim Carlton starrte nachdenklich auf diese Mitteilung. Ein Dienstmann hatte sie in Scotland Yard abgegeben.

Er machte sich sofort auf den Weg und stand gerade vor der Tür des Büros, als das Mädchen herauskam. Sie schien sehr erfreut, ihn zu sehen.

»Ich fürchte«, sagte sie, »Sie werden mir zürnen, weil ich Sie wegen einer Kleinigkeit bemüht habe – wo Sie doch so beschäftigt sind. Aber –«

»Ich werde Ihnen gewiß nicht sagen, was ich fühle«, unterbrach er sie. »Sie würden mich für unaufrichtig halten.«

»- aber Sie sind eben der einzige Polizeibeamte, den ich kenne. Ich kenne Sie zwar noch nicht sehr gut, aber ich habe mir gedacht, Sie würden es mir doch nicht allzusehr übelnehmen. Frau Gibbins ist nämlich verschwunden; sie kam weder vorgestern noch gestern nach Hause.«

»Das ist überaus spannend«, meinte er mit dem ernstesten Gesicht der Welt. »Und ihr Mann ist natürlich voller Sorge?«

»Sie hat keinen Mann; sie ist Witwe. Ihre Hauswirtin kam heute morgen zu mir. Sie war ganz außer sich.«

»Wer ist denn diese Frau Gibbins?« »Wenn ich Ihnen das sage, werden sie wohl sehr böse auf

mich sein«, antwortete sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Frau Gibbins ist nämlich eine von den beiden Putzfrauen, die meines Onkels Wohnung instand halten. Ein armseliges Geschöpf mit dem ungepflegtesten Haar, das ich je gesehen habe. Aber ich nehme Anteil an ihr, weil ich glaube, daß sie ein unglücklicher Mensch ist, der keinen Freund hat. Gleich heute

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morgen suchte ich meinen Onkel in seiner Wohnung auf. Er war fast höflich und sagte mir, daß sich Frau Gibbins weder gestern noch heute früh habe sehen lassen.«

»Vielleicht ist ihr ein Unfall zugestoßen«, war die erste Vermutung, die Jim Carlton äußerte.

»Ich habe alle großen Krankenhäuser angerufen, aber nirgends wußte man etwas von einer Frau Gibbins. Ich möchte Sie nur bitten, mir zu sagen, was ich jetzt noch tun könnte. Es ist eine so geringfügige Angelegenheit, daß ich demütig jede spitze Bemerkung hinnehmen würde, mit der Sie sich für die Belästigung vielleicht rächen wollen.«

Das spurlose Verschwinden eines Menschen ist in einer Großstadt etwas so wenig Aufregendes, daß ihn der Fall eigentlich nicht interessieren konnte. Aber Aileen schien die Sache so nahezugehen, daß er ein Unmensch gewesen wäre, wenn er sich geweigert hätte, die Nachforschungen selbst in die Hand zu nehmen. Und da er gerade seinen freien Nachmittag hatte, machte er sich gleich nach dem Mittagessen auf den Weg nach Stanmore Rents, einer Mietskaserne in Lambeth, dem schmutzigen Stadtteil an der Themse.

Die unordentliche Hauswirtin gab an, Frau Gibbins wohnte seit fünf Jahren bei ihr. Sie wäre eine gutmütige, ehrliche Person, die niemals ausginge, keine Bekanntschaften hätte und in der Hauptsache von der Zuwendung irgendeines entfernten Verwandten lebte, die ihr vierteljährlich ausgezahlt würde und ungefähr ein Pfund die Woche betrüge. Zufällig wäre diese Zahlung am kommenden Montag wieder fällig. Sie hätte pünktlich jeden Monat die Miete bezahlt und niemals Anlaß zu einer Klage gegeben.

»Würden Sie gestatten, daß ich ihr Zimmer durchsuche?« Die Vermieterin war damit einverstanden; sie war stolz, einer

solchen Amtshandlung als Zeugin beiwohnen zu dürfen.

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Sie führte ihn daher bereitwilligst in ein kleines, peinlich sauber gehaltenes Hofzimmer, in dem ein Bett, eine Kommode und in einer Ecke ein rohgezimmerter Schrank standen. In diesem hing die bescheidene Garderobe der verschwundenen Frau: ein paar Kleider, ein leichter Sommermantel, dessen beste Tage längst vorüber waren, und ein Hut. Jim wandte sich der Kommode zu. Eine Schublade war versperrt. Aber schon der erste Schlüssel, den er aus seinem Bund hervorsuchte, öffnete zum Erstaunen der Hauswirtin das Schloß. In der Schublade waren offenbar die Schätze der armen Frau verwahrt: ein Postsparkassenbuch mit einem Guthaben von 27 Pfund, vier neue Einpfundnoten und ein abgenütztes Handtäschchen mit gebrochenem Verschluß. In diesem befanden sich einige armselige Gegenstände, die bezeugten, daß eine Frau in keiner Lebenslage der Eitelkeit ganz zu entsagen vermag: eine alte Puderdose, ein Lippenstift und einige billige Anhänger. Zwischen dem Futter und der Außenhülle des Täschchens entdeckte jedoch der Detektiv etwas, das sich wie Papier anfühlte. Es konnte nicht durch Zufall dahingelangt sein, denn es war sorgfältig eingenäht. Jim nahm sein Ta schenmesser, trennte die Stiche auf und holte zwei zusammengefaltete Blätter hervor.

Die Hauswirtin reckte den Hals, um einen Blick auf das Geschriebene zu erhäschen, aber Jim wußte diesem Versuch zu begegnen.

»Würden Sie so gut sein«, bat er mit betonter Höflichkeit, »hinabzugehen und nachzusehen, ob Sie nicht in der Mülltonne einen an Frau Gibbins adressierten Briefumschlag finden?«

Bis sie von ihrer vergeblichen Suche zurückkehrte, waren die Papiere längst verschwunden. Jim Carlton saß, eine Zigarre im Mund, auf dem schmalen Fensterbrett. Er betrachtete den abgenützten Teppich mit so gesammelter Aufmerksamkeit, daß die Hauswirtin sicher war, er habe irgendwelche Blutspuren entdeckt.

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»Wie bitte?« fuhr er aus tiefem Nachdenken auf. »Sie können ihn nicht finden? Oh, das ist bedauerlich! Was habe ich Sie denn nur zu suchen gebeten? Ach richtig, den Briefumschlag! Danke vielmals für Ihre Bemühungen – ich habe ihn bereits in dem Handtäschchen gefunden.«

Er verschloß die Schublade, sah sich nochmals im Zimmer um und trat dann auf die lebensgefährliche Treppe hinaus.

»Glauben Sie, daß sie sich ertränkt hat?« fragte die Vermieterin mit zitternder Stimme.

»Nein. Weshalb fragen Sie das? Hat sie jemals Selbstmordabsichten geäußert?«

»Das nicht gerade, aber das arme Ding war in der letzten Zeit meist recht niedergeschlagen.«

Die Frau wischte sich eine Träne von der Wange. Jim bemerkte, daß die von der Schürze berührte Stelle sichtlich reiner geworden war.

»Ich glaube nicht, daß sie Selbstmord begangen hat«, sagte er. »Vielleicht taucht sie von selbst wieder auf. Wenn das der Fall sein sollte, so bitte ich Sie, mich sofort anzurufen.«

Er kritzelte seinen Namen und eine Nummer auf ein Blatt, das er seinem Notizbuch entnahm.

»Ich dachte mir gleich, daß etwas nicht in Ordnung sei«, ließ die weinerliche Dame nicht locker, »daß es sich um irgendeinen Gaunerstreich handeln müsse. Sie hat sich Stoff für ein Kleid gekauft. Ich habe ihn noch in meiner Küche – er wurde erst vorgestern abend abgegeben.«

»Meine Schwester kam gestern her, um ihr beim Zuschneiden behilflich zu sein«, fuhr die Frau fort, »aber Frau Gibbins kam nicht heim. Das beunruhigte mich gleich, denn es sah ihr nicht ähnlich, meine Schwester unnütz herzubemühen. Die lebt nämlich drüben in Peckham, und es ist ein weiter Weg bis hierher –«

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»Freilich, freilich, das kann ich mir denken«, schnitt ihr Jim geistesabwesend das Wort ab.

Er eilte hinaus, stieg in seinen kleinen Wagen und fuhr langsam über die Westminster-Brücke nach Scotland Yard.

Elk war nicht dort, aber wenn das auch der Fall gewesen wäre, so hätte er in diesem Augenblick gar keine Lust gehabt, ihn einzuweihen. Er breitete die Papiere, die er in dem Handtäschchen von Frau Gibbins gefunden hatte, auf dem Tisch vor sich aus, las sie genau durch, machte sich einige Notizen, faltete die Blätter wieder zusammen und steckte sie in seine Brieftasche. Die nächste Stunde verbrachte er damit, verschiedene Briefe an Leute zu diktieren, von denen man am allerwenigsten angenommen hätte, daß sie mit dem Verschwinden der Putzfrau in irgendeinem Zusammenhang stehen könnten.

Aileen hatte nicht erwartet, Jim Carlton an diesem Tag nochmals zu Gesicht zu bekommen, und war sehr angenehm überrascht, als er sich bei ihr anmelden ließ. Sie war gerade im Begriff fortzugehen. Der Laufbursche, der ihr den Besuch meldete und selbst schon gern Feierabend gemacht hätte, legte die Röte, die ihr in die Wangen stieg, vollkommen falsch aus.

»Sie werden mich noch ins Gerede bringen, Herr Carlton«, sagte sie, während sie gemeinsam auf die Straße hinaustraten.

»Habe ich Ihnen noch nicht gesagt, daß ich mit Vornamen, je nachdem, was Sie vorziehen, ›Jim‹ oder ›James‹ heiße?« fragte er. »Sollen wir nicht einmal ein etwas originelles Lokal aufsuchen? Ich kenne eins in Soho..«

»Nein, danke! Ich werde lieber nach Hause gehen.« »Ich wollte Ihnen doch von Frau Gibbins erzählen«, sagte er in

scherzendem Ton, obgleich ihm gar nicht spaßhaft zumute war, »und ich habe meinen Leuten gesagt, daß sie mich in dem Restaurant finden könnten, wenn etwas los wäre.«

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»Haben Sie denn etwas erfahren?« fragte sie, und er glaubte aus dem schuldbewußten Ton ihrer Worte entnehmen zu können, daß sie die arme Putzfrau bereits ganz vergessen hatte. Jedenfalls sträubte sie sich nicht mehr, sich von ihm in den kleinen Wagen helfen zu lassen. Sie nahm auch seine Einladung in das Restaurant an, das zwar wie eine Spelunke aussah, aber wegen seiner guten Küche berühmt war.

Sie waren gerade im Begriff einzutreten, als Jim seinen Namen rufen hörte. Er drehte sich um und sah einen Mann von Scotland Yard vor sich.

»Kurz nach Ihrem Fortgehen eingelaufen, Sir.« Jim las die hastig gekritzelte Meldung. »Ich werde in einer Stunde wieder im Amt sein«, sagte er,

dann folgte er dem Mädchen, das im Vestibül auf ihn wartete. Sie nahmen Platz. »Sagen Sie«, fragte er seine Begleiterin, »war Frau Gibbins an

dem Abend, an dem der Safe Ihres Onkels erbrochen wurde, in der Wohnung?«

Sie dachte eine Weile nach. »Nein, sie war nicht dort; wenigstens hätte sie nicht dort sein sollen. Sie kam, wie Sie ja wissen, erst später. Ich machte noch die Tür auf, um sie einzulassen. Sie glauben doch nicht, daß sie den Einbruch verübt hat?«

»Nein, das nicht«, sagte er so ernst, daß sie ihn unwillkürlich fragend ansah. »Erzählen Sie mir etwas von ihr. Was war sie für ein Mensch?«

»Nun, sie war recht ungebildet. Sie hat mir manchmal etwas aufgeschrieben, und ich konnte es kaum entziffern. Ihre Orthographie war zumindest eigenartig.«

»Jaja«, sagte er nach einer Weile nachdenklich. »Wahrscheinlich wird ihr nicht einmal Ihr Onkel trotz seiner wohlbekannten Menschenliebe eine Träne nachweinen. Sie war

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ein Nichts, ein Niemand – ein Strohhalm, den der Wind entführt und irgendwo hingeweht hat. Und das Leben geht weiter. Wer sollte sich da um eine Frau Gibbins kümmern?« Noch vor einer Minute war er so fröhlich gewesen; jetzt hatte sich tiefer Ernst seiner bemächtigt. »Das Verschwinden so einer armen Frau bedeutet nichts in einer großen Stadt. – Auf einmal aber ist es zu einer großen Sache geworden, Aileen!« sagte er, sie anblickend und den Finger erhebend, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Weil man nämlich Frau Gibbins niedergeschlagen und in den Regent's Canal geworfen hat!«

Sie machte Miene, aufzuspringen, aber er hielt sie zurück. »Ich habe Ihnen wohl den Appetit auf das Abendessen

verdorben«, sagte er; »aber mir ist er auch vergangen.« »Ist sie tot?« flüsterte sie. Er nickte nur. »Ermordet?« »Ich glaube. Man hat sie einige Minuten, bevor ich das Amt

verließ, aus dem Wasser gezogen, und es haben sich Spuren gefunden, die darauf schließen lassen, daß sie zuerst durch Hiebe auf den Kopf betäubt und dann in den Kanal geworfen wurde. Diese Nachricht ist mir eben erst zugegangen. Was mochte sie nur in der Nähe der Edgware Road oder, sagen wir, im Regent's Park zu suchen gehabt haben?«

Der Kellner trat heran und blieb in Erwartung der Bestellung neben Carlton stehen.

Das Mädchen aber schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts essen.«

»Ein paar Omeletten werden wir uns aber doch machen lassen«, erwiderte Jim. »Eine Kleinigkeit müssen Sie schon essen.«

Arthur Ingle mußte die Unannehmlichkeit polizeilicher Nachforschungen über sich ergehen lassen, aber er wußte

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wirklich nichts über Frau Gibbins, wußte noch viel weniger als seine Nichte.

»Ich habe die Frau zwar gesehen, würde sie aber bestimmt nicht wiedererkennen.«

Auch die Vermieterin in Lambeth wußte nicht mehr zu sagen, als sie schon am Vortage Inspektor Carlton erzählt hatte.

Jim selbst suchte dann nochmals diese würdige Dame auf. Er hatte einen besonderen Grund: Der Brief mit der vierteljährlichen Zahlung für Frau Gibbins, der sonst angeblich immer so pünktlich eintraf, war diesmal ausgeblieben. Die Hauswirtin war deswegen in höchster Aufregung.

»Nein, Herr Inspektor, die Briefe kamen nie eingeschrieben. Deshalb sehe ich mich auch in einer so unangenehmen Lage. Die Leute könnten ja denken... Aber Sie können ja den Briefträger selbst fragen!«

»Den habe ich bereits gefragt«, entgegnete Jim lächelnd. »Sagen Sie: Woher kamen die Briefe immer? Sie haben doch sicher einmal auf den Poststempel gesehen.«

Sie beteuerte, daß sie das niemals getan hätte; sie sei nicht neugierig, betrachte das Bespitzeln des lieben Nächsten als eines der Laster, das die Skandalblätter den Menschen beigebracht hätten. Sie ließ sich auf keine nähere Beleuchtung des Zusammenhanges zwischen Boulevardblättern und Neugierde ein, sondern sprach davon wie von einer feststehenden, allgemein bekannten Tatsache.

Der Polizeiinspektor des Bezirkes hatte alles Eigentum der Verschwundenen aus dem Schrank und der Kommode an sich genommen, auch das Handtäschchen.

»Ich sagte ihm, Sie hätten ein Papier in dem Täschchen entdeckt, aber er konnte es trotz eifrigen Suchens nicht finden.«

»Es war auch gar kein Papier zu finden«, sagte Jim, die Wahrheit zugleich aussprechend und verschleiernd.

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Er hatte sich nämlich in eine heikle Lage gebracht – hatte ein wichtiges Beweisstück beiseite geschafft. Dabei konnte der Fall noch viel Staub aufwirbeln. Es blieb ihm nur eins zu tun übrig, und das tat er auch.

Er eilte nach Scotland Yard zurück, bat um eine Unterredung mit seinem höchsten Vorgesetzten, setzte ihm offen auseinander, welchen Verdacht er hegte, und bat, das Beweisstück, das sich in seinem Besitz befand, vorläufig nicht zu nennen. Die Beratung führte nicht gleich zum Ziel. Es mußte auch noch ein Vertreter der Staatsanwaltschaft hinzugezogen werden. Schließlich setzte Jim aber doch seinen Willen durch. Und als die gerichtliche Leichenschau der Annie Maud Gibbins stattfand, fällten die Geschworenen einen sogenannten ›offenen Wahrspruch‹ , das heißt, sie begnügten sich festzustellen, daß die Verstorbene ›tot aufgefunden‹ worden sei, ohne sich über die Todesursache auszulassen. Die Verhandlung wurde sodann vertagt.

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Aileen Rivers ärgerte sich, und da der Gegenstand ihres Zornes in demselben Zimmer wohnte wie sie selbst, ja sogar – um ein oft gebrauchtes Bild zu verwenden – in ihrer Haut steckte, war die Lage sehr unangenehm. Sie ärgerte sich nämlich, weil sie Herrn James Carlton schon eine Woche lang nicht gesehen hatte, war aber vollends wütend auf sich selbst, weil sie sich darüber ärgerte. Herr Stebbings, der vertrocknete Rechtsanwalt, hatte bereits ein Alter erreicht, in dem man die Stimmungen weiblicher Wesen nicht mehr beachtet; dennoch bemerkte selbst er, daß mit seinem Liebling unter den Angestellten etwas nicht ganz in Ordnung war. Er fragte sie, ob sie sich nicht ganz wohl fühle, und schlug ihr vor, eine Woche Urlaub zu nehmen und nach Margate zu fahren. Daß er ihr gerade Margate empfahl, hatte weiter nichts zu bedeuten; es war ihm einfach zur Gewohnheit geworden, gegen jedes körperliche oder seelische Leiden einen Aufenthalt in dieser reizenden Stadt zu verordnen, seitdem er dort einmal vor langer, langer Zeit vom Keuchhusten geheilt worden war. Es war aber durchaus nicht das richtige Wetter für Margate, und Aileen hatte auch etwas ganz anderes im Sinn als dorthin zu fahren.

»Ich erinnere mich« – an Herrn Stebbings Kinn zogen sich mehrere seiner fleischigen Falten auseinander, als er besinnlich nach der Decke blickte -, »daß ich vor mehreren Jahren einmal Fräulein Mercy Harlow vorgeschlagen habe, nach Margate zu gehen. Aber die haben Sie ja wohl nicht gekannt...«

Er dachte sich, daß ohne persönliche Bekanntschaft mit der Dame die ganze Geschichte Aileen nicht interessieren würde. Er war sich nicht bewußt, wie allgemein bekannt der Name des lebenden Harlow geworden war.

»Haben Sie nicht einmal das Vermögen der Familie Harlow

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verwaltet, Herr Stebbings?« knüpfte jedoch Fräulein Rivers sogleich an.

»Tja«, meinte Herr Stebbings bedächtig. »Es war aber eine sehr verantwortungsvolle Sache, und ich war gar nicht traurig, als der junge Stratford sich einen anderen Rechtsbeistand suchte.«

Er sagte nicht mehr als dies, was für Herrn Stebbings ohnehin schon sehr viel war. Aber dank einem jener seltsamen Zufälle, wie sie einem so häufig begegnen, wurde Aileen bald darauf wieder an die Familie Harlow erinnert.

Herr Stebbings hatte mit einer Feststellungsklage zu tun. Irgendein Testament war von einem entfernten Verwandten des Erblassers angefochten worden. Das Gericht wollte die Frage beantwortet haben, ob der Erblasser wirklich einer der vielen in seinem Letzten Willen bedachten Personen im Frühling des Jahres 19.. einen bestimmten Geldbetrag ausgezahlt habe, um sie zum Verlassen des Landes zu bewegen. Aileen wurde beauftragt, im Kassenbuch nachzusehen, da behauptet worden war, daß die Zahlung durch den Rechtsanwalt Stebbings geleistet worden sei. Sie fand ohne Mühe eine darauf bezügliche Eintragung. Da sie aber gewissenhafterweise nachsehen wollte, ob nicht vielleicht noch eine zweite zu finden sei, fuhr sie mit dem Zeigefinger das Register entlang. Da stieß sie plötzlich wieder auf den Namen ›Harlow‹ . Es stand da: ›Harlow, Mercy Mildred. – Harlow, Stratford Selwyn Mortimer‹

Sie hätte ein ganz ungewöhnlicher Mensch sein müssen, wenn sie nicht die betreffenden Eintragungen nachgeblättert hätte. Etwa eine Viertelstunde lang beschäftigte sie sich mit der Durchsicht der Abrechnung für das längst verstorbene Fräulein Mercy, diese strenge und wunderliche alte Jungfer. Dabei fand sich ein Posten: ›An Frau L. Edwins, 125 Pf.‹ Vier Monate später hieß es dann wiederum: ›An Frau L. Edwins, 183 Pfund, 17 Schilling und 4 Pence.‹

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Sie wußte von Frau Edwins. Sie hatte auch eine Abschrift des Letzten Willens Fräulein Mercys in der Hand gehabt, die sie eigens nach dem Zusammentreffen mit Harlow in Princetown hervorgesucht hatte. Es hatte sie damals interessiert, etwas über den Multimillionär zu erfahren.

Sie wandte sich dann der Abrechnung mit Stratford zu. Diese war sehr kurz; offenbar hatte Herr Harlow nur sehr selten Zahlungen durch seinen Rechtsanwalt leisten lassen. Gern hätte sie Herrn Stebbings noch um weitere Auskünfte über die Familie gebeten. Wahrscheinlich wäre ihr aber keine Auskunft zuteil geworden.

Da ihr die Harlows keine Ablenkung mehr bieten konnten, war Aileen zu ihrer Hauptbeschäftigung zurückgekehrt: sich über die Beziehungen von Fräulein Aileen Rivers zu Herrn James Carlton zu wundern und sie entschieden zu mißbilligen. Er kannte ihre Adresse; sie hatte ihm ausdrücklich die Hausnummer angegeben. Allerdings hatte sie ihm gleichzeitig aufgetragen, ihr nur aus dienstlichen Anlässen zu schreiben. Sie war erstaunlicherweise bei der Leichenschau nicht als Zeugin vernommen worden und konnte das mit Recht seinem Einfluß zuschreiben. Aber auch das vermochte sie nicht mit der Tatsache auszusöhnen, daß er sie eine volle Woche vollkommen vernachlässigt hatte.

Lächerlich, hielt sie sich vor, er kennt dich ja kaum! Weil er höflich zu dir war und dich zweimal zum Abendessen eingeladen hat, noch dazu beide Male aus mehr oder weniger dienstlichen Anlässen, kannst du doch nicht gleich erwarten, daß er sich dir gegenüber wie ein Bräutigam benimmt!

Die unverbesserliche Aileen Rivers nahm sich aber diese Predigt nicht zu Herzen, warf nur den Kopf in den Nacken und schämte sich nicht im geringsten.

Sie hätte ihm freilich schreiben können; an Ausreden hätte es ihr nicht gefehlt. Tatsächlich begann sie auch einen Brief an ihn.

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Aber die Unziemlichkeit eines solchen Verhaltens kam Aileen sogleich zum Bewußtsein, und sie verbrannte das begonnene Schreiben.

Sonnabend und Sonntag gingen vorbei. Sie blieb an beiden Tagen zu Hause, für den Fall...

Da, am Sonntagabend, als sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte – oder, sagen wir, seinen Besuch schon nicht mehr erwartete -, erschien er plötzlich.

»Ich war die ganze Zeit auf dem Lande«, erzählte er. Sie hatte ihn im Salon empfangen, den ihr ihre Hauswirtin für

solche Anlässe zur Verfügung stellte. »Könnten wir nicht zusammen ausgehen? Haben Sie schon zu

Abend gegessen?« Ja, sie hatte schon zu Abend gegessen. »Dann lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen; die Nacht ist

so schön! Wir könnten irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.« Es wäre eigentlich ihre Pflicht gewesen, ihm zu sagen, daß er

ein wenig kühn sei, aber sie unterließ es, lief in ihr Zimmer hinauf, zog sich einen Mantel an, setzte einen Hut auf und war in der denkbar kürzesten Zeit zum Ausgehen bereit.

Als sie über den Bloomsbury Square spazierten, sagte er zu ihr: »Ich bin eigentlich ein wenig beunruhigt – Ihretwegen.«

»So, wirklich?« Ihre Überraschung war ehrlich. »Ja, ein wenig. Erzählten Sie mir nicht einmal, daß Frau

Gibbins Ihnen gern von ihren Sorgen erzählte? Oder meinten Sie damals die andere Frau?« Echte Besorgnis lag in seiner Stimme.

»Nein, ich sprach von Frau Gibbins. Sie war manchmal sehr mitteilungsbedürftig.«

»Hat sie Ihnen jemals etwas von ihrer Vergangenheit erzählt?« »O nein«, antwortete Aileen rasch. »Sie sprach nur oft von

ihrer Mutter, die vor ungefähr vier Jahren gestorben war.«

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»Nannte sie Ihnen jemals ihren Vornamen – ich meine, den der Mutter?«

»Die Mutter hieß Luisa«, erwiderte das Mädchen sofort. »Aber Sie tun ja fürchterlich geheimnisvoll, Herr Carlton! Was hat denn dies alles mit dem Tod der armen Frau Gibbins zu tun?«

»Nichts weiter, als daß die Geldsendungen an sie immer an eine Frau Luisa Gibbins, Birmingham, Kenneth Road 14, adressiert waren und von dem dortigen Postamt nach London weitergeschickt wurden, während sie doch ›Annie Maud‹ hieß. Heute morgen ist wieder ein solcher Brief eingetroffen.«

»Armes Ding!« meinte das Mädchen mit leichter Trauer in der Stimme.

»Das war sie wirklich.« Es war erstaunlich, wie gut sie ihn schon kannte, obgleich sie

erst so kurz miteinander verkehrten. Wenn seine Stimme um einen halben Ton höher wurde, wußte sie zum Beispiel gleich, daß er an etwas ganz anderes dachte.

»Ist es nicht sonderbar?« fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Die Mutter von Frau Gibbins hat also ›Luisa‹ geheißen! Diese Entdeckung – ich hätte Sie gar nicht erst zu fragen brauchen, denn ich wußte es ohnedies schon – beweist zwei Dinge: erstens, daß Frau Gibbins vor etwa fünfzehn Jahren ein Verbrechen begangen hat, und zweitens, daß sie jetzt zum zweitenmal gestorben ist!« Er wurde plötzlich wieder heiterer und lachte leise. »Sagen Sie mir nicht, was Sie in diesem Augenblick von mir denken; ich weiß ganz genau, daß Sie mich mit einer weltbekannten Figur aus Kriminalromanen vergleichen! Aber die ganze Geschichte ist wirklich überaus verwickelt. – Sagten wir ›Abendessen‹ oder ›Kaffee‹ ?«

»Wir sagten ›Kaffee‹«, antwortete sie.

Die kleine Konditorei, die sie aufsuchten, war überfüllt, so daß

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sie sie bald wieder verließen. Sie gingen gerade durch die Coventry Street, als eine große

Limousine langsam an ihnen vorbeirollte. Der Mann am Steuer war im Abendanzug; sie sahen seine brillantenen Hemdknöpfe funkeln. Er rauchte eine Zigarre.

»Niemand anderer als Harlow der Prächtige vermag so zu strahlen«, bemerkte Jim. »Was mag er nur zu dieser Stunde ausgerechnet an dieser Stelle von London suchen?«

Der Wagen bog nach rechts auf den Leicester Square ein und fuhr dann in gemächlichem Tempo die Orange Street hinab. Es war, als bildete er die Spitze einer großartigen Prozession. Beiden kam bei seinem Anblick derselbe Gedanke.

»Er sollte wirklich nicht ohne eine Musikkapelle durch die Stadt ziehen!« sagte Jim.

»Ich habe mir eben dasselbe gedacht«, lachte das Mädchen. »Er hat mich übrigens an dem Abend, als er mich in Onkels Wohnung aufsuchte, ganz fürchterlich erschreckt, als ich ihm die Tür öffnete. Ich bin nicht so leicht zu erschrecken, aber er sah gar so groß und mächtig und unbarmherzig aus, daß ich mir ihm gegenüber ganz klein und hilflos vorkam!«

Sie gingen über den verlassen daliegenden Long Acre; für die Marktkarren, die sich sonst in der Nacht hier zu versammeln pflegten, war es noch zu früh; die Straße war vollkommen menschenleer. Ohne daß sie wußte, wie das geschah, fühlte Aileen plötzlich, daß ihre Hand lose in der Jim Carltons lag. Er schwang sie hin und her, wie es Kinder tun, wenn sie Hand in Hand Spazierengehen. Das zur Strenge neigende Wesen in Fräulein Aileen Rivers' zwiespältiger Seele drückte ausnahmsweise beide Augen zu und tat so, als ob es nichts bemerkte.

»Ich bin Ihnen wirklich gut«, brachte Jim etwas heiser hervor. »Ich weiß nicht, warum, aber es ist nun einmal so. Und wenn Sie mir wieder etwas von einer ›eroberungslustigen

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Polizeimacht‹ sagen würden, so könnte ich Ihnen das nicht mehr, verzeihen.«

Aus einer Seitengasse waren plötzlich drei Männer hervorgekommen. Sie sprachen lärmend und heftig gestikulierend und kamen den beiden langsam näher. Jim sah sich um; der einzige Mensch, der sonst noch in Sicht war, entfernte sich in der entgegengesetzten Richtung. Er war vor etwa einer Minute an ihnen vorbeigegangen.

»Ich glaube, wir werden gut daran tun, auf die andere Straßenseite zu gehen«, sagte er, seine Schritte beschleunigend und sie förmlich mit sich ziehend.

Daraufhin machten die drei Streitenden halt. Jim blieb stehen und flüsterte seiner Begleiterin zu: »Ich bitte Sie, bis ans Ende des Long Acre zurückzulaufen und einen Schutzmann herbeizuholen. Wollen Sie das tun? Aber laufen Sie bitte!«

Sie machte gehorsam sofort kehrt und eilte davon. Gleich darauf kam einer der drei sprungbereit auf ihn zugeschlichen.

»Was erlauben Sie sich denn?« schrie er Jim an. »Dürfen wir uns vielleicht nicht zanken, solange es uns gefällt? Was haben Sie sich einzumengen?«

»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind, Donovan«, erwiderte Jim. »Ich kenne Sie und weiß ganz genau, was Sie beabsichtigen!«

»Packt ihn!« schrie eine Stimme. Aber schon hatte Jim Carlton den Totschläger aus der Tasche

gezogen und damit nach dem Mann geschlagen, der ihm am nächsten war. Dieser fiel wie vom Blitz getroffen zu Boden. In der nächsten Sekunde sprangen die beiden Spießgesellen des Niedergeschlagenen auf den Detektiv los. Der wußte, daß es um sein Leben ging.

Wieder schlug er mit dem Totschläger zu, und ein zweiter Mann wälzte sich auf dem Boden. Im gleichen Augenblick kam auch schon ein Taxi mit einem Schutzmann auf jedem Trittbrett

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über den Long Acre dahergesaust. »Nein, nicht zur Bow Street«, sagte Jim; »bringt sie nach der

Cannon Row.« Aileen saß in dem Taxi; sie sah durchaus nicht wie eine Heldin

aus, war vielmehr dem Weinen nahe. »Ich wußte gleich, was sie beabsichtigten«, meinte Jim, als sie

nach Hause fuhren. »Es ist einer der ältesten und beliebtesten Kniffe solcher Mordgesellen, eine Rauferei vorzuspiegeln, um ihr Opfer zur Einmischung zu verleiten und dann gemeinsam über den Genarrten herzufallen.«

»Aber warum hatten sie es auf Sie abgesehen? Waren es alte Feinde von Ihnen?« fragte sie, noch immer ganz fassungslos. »Einer von ihnen, ein gewisser Donovan«, sagte er, es geschickt vermeidend, die erste Frage zu beantworten.

Das Auftauchen Harlows erschien ihm jetzt durchaus nicht mehr als Zufall. Dieser hatte den Anschein erweckt, als führe er zum ›Vira Club‹ , aber durch eine Seitengasse hatte er offenbar über die St. Martin's Lane das Ende des Long Acre erreicht, noch ehe die Spaziergänger dort anlangen konnten. Jedenfalls hatte Jim jetzt Klarheit darüber erlangt, daß das Mädchen und er unter Beobachtung standen und daß er an diesem Abend offenkundig schon vom Augenblick des Verlassens seines Clubs an verfolgt worden war.

Die Ursache des Überfalls war nicht schwer zu erraten, selbst wenn man die entfernte Möglichkeit eines Zusammenhanges mit dem Fall Gibbins ausschließen wollte.

Carlton brachte das Mädchen in dessen Wohnung zurück und begab sich dann nach Scotland Yard, wo er folgendes Telegramm der Kriminalpolizei von Birmingham vorfand:

Betreffend Ihrer Anfrage Nr. 793. Frau Luisa Gibbins starb bereits vor fünf Jahren. Die Briefe, die regelmäßig jedes Vierteljahr für sie einliefen und vom Postamt an Frau Gibbins in Lambeth, Stanmore Rents, weitergeleitet wurden, trugen

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jedesmal den Poststempel Norwood. Tatsache durch Aussage Hauswirtin der verstorbenen Gibbins hier festgestellt. Der richtige Name der Annie Maud Gibbins ist Smith. Heiratete vor sechzehn Jahren Schienenleger der Midland-Eisenbahn William Smith. Gatte gestorben.

Hooge Viele von diesen Angaben kannte Jim Carlton bereits. Die

Mitteilungen, daß die Briefe stets den Poststempel Norwood getragen hatten, war ihm jedoch überaus wertvoll, denn in dieser Vorstadt Londons lebte Ellenbury.

Doch noch ehe er dieser neuen Spur nachgehen konnte, sollte seine Aufmerksamkeit von dem seltsamen Gebaren Arthur Ingles vollständig in Anspruch genommen werden.

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Während der folgenden Tage war Jim Carlton ein überaus beschäftigter Mann, so daß er in der ganzen Woche nur einmal Zeit fand, Aileen aufzusuchen. Bei dieser Gelegenheit berichtete sie ihm über eine neue kleine Unannehmlichkeit, die ihr das Leben erschwerte.

Ein neuer Mieter, ein athletisch gebauter junger Mann, war in die Pension eingezogen, in der sie wohnte. Er hatte das Zimmer neben dem ihren bezogen und schien eine gewisse Bewunderung für sie zu hegen, die sich vorläufig allerdings nur darin äußerte, daß er ihr jeden Morgen in achtungsvoller Entfernung bis zu ihrer Arbeitsstätte folgte.

»Ich könnte mich damit vielleicht abfinden, wenn er es dabei bewenden ließe«, meinte Aileen, »aber er lungert auch immer in der Nähe des Büros herum, wenn ich während der Mittagspause ausgehe oder wenn ich abends heimkehre.«

»Hat er Sie schon einmal angesprochen oder sonstwie belästigt?« fragte Jim interessiert.

»Das nicht. Er benimmt sich immer sehr korrekt.« »Da müssen Sie eben Geduld mit ihm haben«, meinte Jim mit

einem verschmitzten Lächeln. »Wenn man halbwegs gut aussieht, muß man sich stumme Bewunderung schon gefallen lassen.«

Jim hatte daraufhin eine Unterredung mit dem neuen ›Verehrer‹ des Mädchens, wobei er ihm sagte: »Zum Beschatten scheinen Sie bei Ihrer soliden Bauart nicht sehr geeignet zu sein, mein lieber Brown. Sie sollten das Mädchen etwas unauffälliger bewachen, sonst wird sie kopfscheu.«

»Ich werde versuchen, es besser zu machen, Herr Inspektor«, erwiderte Sergeant Brown, und tatsächlich war seine

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Überwachung von da an dem Mädchen weniger fühlbar. Dagegen fiel es Jim Carlton auf, daß er bei seinen täglichen

Gängen niemals mehr Herrn Arthur Ingle sah, obgleich er geflissentlich alle Gaststätten und Lokale aufsuchte, die dieser früher bevorzugt hatte. Sicherlich bewegen ihn nicht Scham oder Scheu vor dem Zusammentreffen mit rechtschaffenen Bekannten aus früherer Zeit, diesen Lokalen auszuweichen. War er doch stolz auf seine Taten, die ihn in seinen eigenen Augen zu einem Wohltäter der Menschheit gestempelt hatten! Schon seit einiger Zeit hatte ihn niemand mehr gesehen; selbst seine Kumpane, mit denen er so gern in den schmutzigen Schenken von Soho zusammentraf, um ihnen aufreizende Reden zu halten, hatte er seit langem nicht mehr mit seiner Gegenwart beehrt.

»Es scheint fast, daß er zu den Kapitalisten übergegangen ist«, meinte einer von ihnen.

»Ich habe aber nicht bemerkt, daß an der Piccadilly geflaggt ist«, erwiderte Jim.

Eines Nachts, als der Inspektor wieder durch die Straße hinter den Fotheringay Mansions ging, bemerkte er, daß in einem Zimmer hinter den herabgelassenen grünen Jalousien besonders grelles Licht brannte. Es war leicht festzustellen, daß es in Ingles Wohnung war.

Elk begleitete ihn. Jim mußte daher diesem wenig begeisterungsfähigen Mann seine Absichten mitteilen.

»Er wird in alle Welt hinausschreien, daß die Polizei ihn unberechtigterweise verfolge«, warnte Elk.

Aber Jim ließ sich nicht beirren, und obgleich ihm auch der Hauswart abriet, fuhr er mit dem Aufzug zur Wohnung Ingles empor.

»Ich glaube nicht, daß Herr Jackson« – das war der Name, unter dem der alte Verbrecher im Hause bekannt war – »zu Hause ist«, sagte der Hauswart. »Vor ungefähr einer Stunde war nämlich ein Herr da, der ihn besuchen wollte und mehrmals

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klingelte; es wurde ihm aber nicht geöffnet.« »Vielleicht kann ich laut genug klopfen«, erwiderte Jim. Aber er bekam keine Antwort, soviel er auch klingeln und

pochen mochte. Und doch hätte er schwören mögen, jemand in der Wohnung umherschleichen gehört zu haben, als er am Briefeinwurf gelauscht hatte, um sich zu vergewissern, daß die Klingel läutete. Warum versteckte sich der alte Fuchs?«

Möglich, daß er sich mit den Vorbereitungen zu einem neuen Gaunerstreich beschäftigte. Aber die Erfahrung hatte Jim Carlton gelehrt, daß Betrüger für gewöhnlich dann am wenigsten heimlich tun, wenn sie einen Coup im Sinn haben.

Er beugte sich abermals vor und lauschte. Da vernahm er einen rätselhaften Ton: ein dauerndes Surren wie von einem großen Kreisel. Er hatte schon oft ein ähnliches Geräusch gehört, war aber augenblicklich nicht imstande, es zu erklären. Es war sehr leise, als dringe es durch eine geschlossene Tür.

Er sah den erleuchteten Fahrstuhl emporkommen und trat an den Schacht heran. Der Aufzug fuhr ins Stockwerk über ihm, setzte dort seinen Fahrgast ab und blieb bei der Rückfahrt vor ihm stehen.

»Er hat wohl auch Sie nicht gehört?« meinte der Hauswart mit der Genugtuung eines Menschen, dessen Voraussage sich erfüllt hat. »Er will schon seit einiger Zeit keinen Menschen mehr sehen. Ja er geht nicht einmal aus, um seine Mahlzeiten einzunehmen.«

»Hat er eigentlich Personal?« »Nein, nur eine Putzfrau kommt zu ihm«, erklärte der Mann

geringschätzig, während sie langsam hinabfuhren. »Früher kamen zwei, aber die eine von ihnen...« Er erzählte die Geschichte der armen Frau Gibbins. »Die andere kommt jeden Morgen, bleibt aber für gewöhnlich höchstens eine Stunde in der Wohnung. Dann erledigt sie die Einkäufe, und dann geht sie heim, um erst am nächsten Tag wieder aufzutauchen. – Ich

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glaube, Herr Jackson beschäftigt sich mit einer ganz ungewöhnlichen Liebhaberei«, fügte er hinzu, als sie die Halle erreichten und er die Tür öffnete.

»Was stellen Sie sich darunter vor?« Der Mann kraulte sich den Hinterkopf. »Ich weiß selbst nicht

recht, was ich denken soll, aber vor ungefähr vier Tagen kam ein Mann mit einem langen, schwarzen Holzkasten zu ihm, der aussah wie die Behälter, in denen man eine Filmleinwand transportiert...«

Filme! Jetzt ging Jim Carlton ein Licht auf; das Geräusch, das er gehört hatte, war das eines Projektionsapparates!

»Er fuhr mit dem Kasten hinauf und ließ ihn oben. Ich fragte ihn, ob Herr Jackson sich mit der Vorführung von Schmalfilmen beschäftige; er antwortete mir aber nicht – der Mann, der den Kasten brachte, meine ich...«

Jim ließ das Geschwätz über sich ergehen, ohne ihm recht zuzuhören. Er war wie vor den Kopf geschlagen und wußte sich auf seine Entdeckung keinen Reim zu machen. Jeder Mensch hat sein Steckenpferd, und er hätte Herrn Ingle so manche Verschrobenheit zugetraut, aber einer so ausgesprochenen Leidenschaft für die Flimmerleinwand hätte er ihn doch nicht für fähig gehalten.

Elk erwartete ihn draußen, einen Zigarrenstummel zwischen den Zähnen und einen großen, zusammengerollten Regenschirm unter dem Arm. Jim erzählte ihm in kurzen Worten, was er erfahren hatte.

»Also Bildchen schaut sich der alte Knabe an!« bemerkte Elk, mißbilligend den Kopf schüttelnd. »Hätte nicht gedacht, daß er so bald kindisch werden würde! Aber es ist merkwürdig: Alle diese geriebenen Gauner verfallen irgendeiner dummen Schwäche. Ich kannte einen Mann, der der geschickteste Kasseneinbrecher ganz Europas war und alles um sich herum vergaß, wenn er Ping Pong spielte. Ein anderer Kerl namens

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Moss, der die gerissensten Betrügereien ausführte –« »Wir wollen wieder auf die Rückseite gehen und sie

beobachten«, unterbrach Jim ganz rücksichtslos die Erinnerungen des anderen.

Das grelle Licht war noch immer zu sehen, erlosch jedoch gleich darauf. Sobald sich aber Jims Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, bemerkte er, daß der Schein eines anderen, matteren Lichtes durch die Ritzen drang. Offenbar beschäftigte sich Herr Ingle in diesem Zimmer mit seiner neuen Liebhaberei.

Es war nur natürlich, daß Jim sich gleich für die Feuerleiter interessierte. Um dahin zu gelangen, mußte zunächst eine Mauer überstiegen oder, was vielleicht weniger anstrengend war, das Tor zum Hof des Hauses mit einem seiner Nachschlüssel aufgeschlossen werden. Doch auch das war nicht nötig: Das Tor stand offen. Sie betraten den kleinen gepflasterten Hof, von dem aus eine eiserne Leiter bis zum Dach emporführte. Ihr Fuß war mit einem eisernen Geländer umgeben, dessen Zweck nicht leicht zu erraten war, da man sowohl darüber als auch darunter hinweg zur Leiter konnte.

»Vielleicht soll es einen luftdichten Abschluß herstellen«, meinte Elk mit seinem trockenen Witz, »oder die Leute abhalten, ins brennende Gebäude einzudringen. Wollen Sie hinauf?«

Jim nickte nur, und Inspektor Elk folgte ihm von Sprosse zu Sprosse, bis sie das Stockwerk erreichten, in dem Ingles Wohnung lag. Jim Carlton schwang sich, ohne ein Wort zu verlieren, nach der Seite, faßte auf dem schmalen Steinsims Fuß und tastete sich an der Wand entlang weiter, bis er das nächste Fensterbrett fassen konnte. Für einen Mann mit seinen Nerven war das Weiterkommen vor den Fenstern nicht schwer, in den Zwischenräumen aber eine recht kitzlige Sache; da mußte er sich ganz auf seinen Gleichgewichtssinn und seine Seiltänzerkunst verlassen. Elk sah ihm ängstlich zu, wie er sich,

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an die Wand gepreßt, Zoll um Zoll weiterschob. Endlich gelangte er auf diesem halsbrecherischen Weg bis zu dem Fenster, aus dem das ununterbrochene Surren des Projektionsapparates drang.

Am Ziel angelangt, erkannte Jim sofort, daß seine Mühe umsonst gewesen war. Durch die Ritzen der Jalousie blendete ihn das Licht des Apparates, während die Leinwand nicht sichtbar war. Dagegen konnte er Arthur Ingle deutlich sehen, da dieser von dem zurückgeworfenen Schein beleuchtet wurde. Er stand am Apparat und starrte aufmerksam auf die Leinwand. Das erste, was dem Detektiv auffiel, war, daß Ingle dringend eines Friseurs bedurft hätte, denn sein Gesicht war von weißen Stoppeln bedeckt, und das graue Haar hing ungekämmt von seinem Schädel.

Aber was mochte der Film zeigen, den der einstige Zuchthäusler mit so gespannter Aufmerksamkeit betrachtete? Jim renkte sich fast den Hals aus, um einen Blick auf die Leinwand zu erhäschen, aber es war nicht möglich, weil zur linken Seite des Fensters die Jalousie ganz an den Fensterrahmen anstieß. Es blieb ihm nichts übrig, als umzukehren.

Er hatte kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er einen großen Schreck bekam. Er fühlte, wie der Stein unter seinem einen Fuß locker wurde; ein Teil des Simses bröckelte ab und fiel in den Hof hinab. In der Hoffnung, daß vielleicht nur dieses eine Stück verwittert war, setzte er seinen Weg, wenn auch sehr vorsichtig, fort. Er wußte, daß ihn nichts vor dem sicheren Tod bewahren konnte, wenn der Sims unter seinem Gewicht nachgab, während er sich an der glatten Wand zwischen zwei Fenstern befand; er zwang sich aber, nicht daran zu denken.

Er hatte eben das der Feuerleiter zunächst gelegene Fenster erreicht und war im Begriff, sich mit einem Fuß vorzutasten und einen festen Stand zu suchen, als ganz plötzlich das Stück des Simses, auf dem er stand, nachgab und in die Tiefe polterte. Es

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gelang ihm gerade noch, sich am hölzernen Fensterbrett zu halten, aber seine Beine baumelten frei über dem Abgrund. Er hörte Elks aufgeregtes Flüstern und sah, daß dieser ihm den Griff seines Regenschirmes reichen wollte. Trotz größter Anstrengung konnte er ihn aber nicht erreichen.

Es blieb ihm nur eine Hoffnung. Er nahm mit einer Hand seinen weichen Filzhut vom Kopf, stülpte ihn über die Hand und schlug damit die Scheibe des Fensters ein. Die Wucht des Stoßes hätte ihn beinahe des Halts seiner anderen Hand beraubt, aber er ließ sofort den Hut fallen und nahm gleich wieder die zweite Hand zu Hilfe. So konnte er sich doch noch festhalten. Vorsichtig entfernte er einige Glasscherben, dann suchte er einen festen Halt am Fensterrahmen, an dem er sich emporzog. Nun hatte er gewonnenes Spiel. Es gelang ihm ohne allzugroße Mühe, den Riegel zu öffnen und den Fensterflügel aufzustoßen. In der nächsten Sekunde schon war er im Zimmer. Lauschend blieb er eine Weile stehen. Der durch das Einschlagen der Fensterscheiben verursachte Lärm hatte die Wohnungsinhaber anscheinend nicht aufgestört, was er dem höchst aufgeregten Elk sofort mitteilte.

»Ich habe keine Ahnung, wer hier wohnt«, flüsterte er. »Erwarten Sie mich vor dem Haus.«

Auf den Zehenspitzen durch das Zimmer schleichend, tastete er nach dem Lichtschalter. Er fand ihn und schaltete das Licht ein. Der Raum, in dem er sich befand, war ein kleines Schlafzimmer, das offenbar schon geraume Zeit nicht aufgeräumt worden war. Auf den Möbeln lag fingerdick der Staub. Doch war der Raum recht nett und in einem der Wohnung Ingles entsprechennden Stil eingerichtet. Offenkundig befand er sich in einem Zimmer des alten Schauspielers, das er bei seinem ersten Besuch nicht betreten hatte.

Er öffnete behutsam die Tür. Das Eßzimmer lag im Dunkel; von der Abstellkammer her hörte man das Surren des Projektionsapparates.

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Sollte er es wagen, seine Neugierde zu befriedigen? Es erschien ihm der Mühe wert. Während er noch überlegte, klingelte das Telefon im Eßzimmer, worauf er sich geräuschlos zurückzog und die Tür hinter sich schloß. Er hörte das Knipsen des Schalters, als Ingle Licht machte.

»Hallo? – Ja, hier Jackson – Ach, Sie sind's? Ich hoffe, Sie haben von einer Fernsprechzelle aus angerufen. – Na, Gott sei Dank! – Ja, alles in Ordnung – Ja, ich habe ihn auch sprechen hören, aber nur im Rundfunk. Werde noch zu irgendeiner Versammlung gehen müssen, in der er auftritt – Was? Ein guter Redner ist er? Das bin ich auch! Die Leute pflegen wie verzückt an meinen Lippen zu hängen. – Lachen Sie nur! Es ist doch so! Ich habe es erlebt, daß einmal viertausend Menschen zwei Minuten lang vor Begeisterung schrien, als ich auftrat. -Deshalb brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. – Nein, danke, ich habe Geld genug.«

Der Hörer wurde geräuschvoll aufgelegt, das Licht gelöscht und die Tür zur Kammer geöffnet.

Arthur Ingle als bestrickender Redner? Wer sollte das Opfer seiner Beredsamkeit werden?

Jim wartete, bis der Apparat wieder in Gang gesetzt wurde, dann schlich er auf Zehenspitzen in den Flur. Noch immer fühlte er sich versucht, einen Blick auf die Leinwand zu werfen, aber er überlegte sich's doch, denn dabei hätte er doch gesehen werden müssen.

Rasch leuchtete er mit seiner Taschenlampe den Tisch im Flur ab. Vielleicht lag da etwas, das ihm einen Anhaltspunkt bot. Er sah einen dicken Briefumschlag mit dem Firmenaufdruck der Schiffahrtsgesellschaft ›Cunard Line‹ . Er war noch nicht geöffnet, aber Jim konnte den Inhalt leicht erraten. Herr Ingle hatte offenbar die Absicht, eine Reise nach den Vereinigten Staaten oder vielleicht nach Kanada zu unternehmen.

Das Geräusch des Projektionsapparates hörte auf. Er schlich

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sich zur Tür, öffnete sie und zog sie geräuschlos hinter sich wieder zu. Der Fahrstuhl war gerade in Aufwärtsfahrt begriffen, als er über die Treppe hinabeilte, was ihm ersparte, eine Erklärung für seine Anwesenheit im Haus geben zu müssen. Vor der Tür stieß er auf den geduldigen Elk, der hin und her stapfte, um sich warm zu halten, und verzweifelt an dem letzten Zentimeter seiner Zigarre zog.

Glücklicherweise war Jims Club nur eine Viertelstunde entfernt. Während sie durch den Park eilten, fragte Elk: »Sie sind doch in der Wohnung des alten Fuchses Ingle gewesen, nicht wahr?«

»Sie haben es erraten.« »Wer gefällt ihm denn so gut: die Garbo oder der Douglas

Fairbanks?« fuhr Elk zu fragen fort. »Ich schäme mich, es einzugestehen, aber es interessiert mich, denn ich gehe oft ins Kino. Kann nämlich nirgends so gut schlafen wie dort. Oder hat er sich vielleicht die Wochenschau angesehen?«

»Ich gäbe alles mögliche dafür, wenn ich das wüßte«, erwiderte Jim, worauf er das belauschte Telefongespräch wiedergab.

»Ich bin so ziemlich am Ende meiner Weisheit und kann mir keinen Reim auf Ingles seltsames Gebaren machen«, meinte Jim endlich. »Was denken Sie?«

»An Bier«, antwortete Elk geistesabwesend, während sie die Vortreppe zum Clubgebäude emporstiegen. Dann aber fuhr er, ernster werdend, fort: »Es sieht mir ganz danach aus, als ob er sich vorbereitete, den Dummen rasch einen Haufen Geld abzunehmen. Aber die Gedanken eines Ingle zu erraten ist wahrhaftig kaum möglich. Dazu ist er auch noch Schauspieler, das erschwert die Sache in hohem Maße. Aber vielleicht will er nur einen Vortrag halten, etwa mit dem Thema: ›Meine fünf Jahre in der Hölle.‹ Das ist große Mode bei den Herren.«

Jim schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wenn ich nur wüßte, wie

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ich mir seine plötzliche närrische Leidenschaft für private Filmvorführungen erklären oder auslegen soll.«

»Verfall der Geisteskräfte«, meinte Elk lakonisch. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß alle diese Vögel früher oder später einmal kindisch werden.«

Sie hatten sich mittlerweile im Rauchzimmer niedergelassen, und der Kellner trat an ihren Tisch.

»Bier«, verlangte Elk mit großem Nachdruck. Die Nacht war bitter kalt. Jim war froh, das schützende Dach

seines Clubs erreicht zu haben. Er hatte auch nicht mehr die Absicht, nochmals nach Scotland Yard zu gehen. Gerade wollte er sich von Elk an dem nach der Pall Mall führenden Portal verabschieden, da meldete ihm der Portier, daß er dringend am Telefon verlangt würde. Er ging in die Zelle und fand sich mit einem der Chefinspektoren von Scotland Yard verbunden.

»Ich habe den ganzen Abend vergeblich versucht, Sie zu erreichen«, sagte der hohe Beamte. »Einer von den Parkwächtern hat die Stelle gefunden, wo Frau Gibbins in den Kanal geworfen worden sein dürfte. Ich habe den Mann gerade wieder hier am Apparat. Er meint, Sie sollten sich mit ihm vor dem Gebäude der Zoologischen Gesellschaft treffen.«

»Sagen Sie ihm, daß ich hinkommen werde«, antwortete Jim. Dem wartenden Elk erzählte er den Inhalt des Gespräches. »Daß diese verdammten Amateurdetektive ihre Entdeckungen

nicht machen können, solange Gottes liebe Sonne scheint!« brummte Elk. »Halb zehn ist's und eklig kalt; da soll ein Mensch noch an gefrorenen Kanälen herumschnüffeln!«

Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, seinen jüngeren Kollegen zu begleiten.

»Sie könnten etwas übersehen«, knurrte er, als sich das Taxi in Bewegung setzte. »Sie haben nicht meine Beobachtungsgabe. Allerdings bin ich ziemlich sicher, daß wir nur unsere Zeit

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vergeuden. Wahrscheinlich werden sie uns das Loch im Eis zeigen, in dem sie verschwunden ist.«

»Der Kanal ist ja erst später zugefroren.« Jim lächelte. »Erst am Tag nach der Auffindung der Leiche.«

Elk brummte noch etwas in seinen Bart. Jim konnte jedoch nicht verstehen, ob er das Wetter oder den nächtlichen Eifer des Parkwächters verfluchte.

Es war kein Parkwächter, sondern der Inspektor des Parkes in eigener Person, der sie vor dem Gebäude der Zoologischen Gesellschaft erwartete. Der Wächter hatte die Entdeckung schon am Nachmittag gemacht, sie aber erst am späten Abend gemeldet. Der Inspektor stieg zu ihnen in den Wagen; sie fuhren nun ein Stück bis zu dem Punkt zurück, wo über den Kanal eine Brücke zur Avenue Road führt. Zwischen der Kanalböschung und dem um den Park laufenden Weg lag hier ein etwa fünfzehn Meter breiter, mit Bäumen bestandener Rasenstreifen, der im Sommer von den Kindern gern als Spielplatz benutzt wurde. Zu dem steilen Kanalufer hin grenzte ihn ein zwischen starken Pfosten gespannter Drahtzaun ab, der ein nicht zu überkletterndes Hindernis bildete. Zum Spielplatz gelangte man von der Straße durch ein breites Gittertor, das, wie der Parkinspektor den beiden Detektiven erklärte, nachts stets geschlossen war.

»Manchmal freilich vergißt ein Wächter, das Tor abzusperren«, erklärte der Inspektor. »Gerade am Abend nach dem Verschwinden der Frau wurde mir gemeldet, daß es am Morgen offenstehend gefunden worden sei.«

Er führte die beiden zum Drahtzaun hinüber. An diesem entlang führte ein schmaler Fußsteig über steinhart gefrorenen Boden.

»Einer der Parkwächter hatte heute nachmittag den Auftrag, den Zaun zu untersuchen«, erklärte der Parkinspektor, »und fand dabei, daß einer der Pfosten aus dem Boden gerissen worden

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war. Man hatte ihn dann offenbar wieder in das Loch hineingesteckt und es so geschickt gemacht, daß wir bis heute nichts davon merkten.«

Sie waren mittlerweile an die Stelle gekommen und konnten im Licht einer starken Taschenlampe die Beschädigung des Drahtzaunes erkennen. Ein Pfosten war ausgebrochen worden, so daß man mit einem Fußtritt ein ziemlich großes Stück des Zauns gegen den Kanal zu umlegen konnte. Ohne große Schwierigkeit erreichte man hierauf das eigentliche Kanalufer.

»Der Wächter meinte, die Beschädigung sei von übermütigen größeren Kindern verursacht worden; er wurde jedoch anderer Ansicht, als er den Hut fand.«

»Was für einen Hut?« fragte Jim rasch. »Ich ließ ihn am Fundort liegen, damit Sie Ihre Schlüsse

daraus ziehen können.« Der Beamte suchte mit seiner Taschenlampe ein Gebüsch ab.

Der Lichtstrahl fiel auf einen zerdrückten Gegenstand, der sich zwischen zwei Ästen verfangen hatte. Jim löste ihn aus dem Gesträuch. Es war ein schmutziger, alter brauner Filzhut, der wahrscheinlich bei einem Ringkampf vom Kopfe gerissen und wegen seiner Farbe bisher nicht bemerkt worden war.

»Und hier ist noch etwas«, bemerkte der Parkinspektor. »Sehen Sie es? Das war das erste, wonach ich mich umsah, aber zweifellos werden die Herren daraus noch viel mehr entnehmen können als ich.«

Es war der in dem gefrorenen Boden erhaltengebliebene Abdruck eines Schuhabsatzes. Daneben war noch eine seltsam flache Fußspur mit zahllosen sich kreuzenden Linien.

»Das war jemand mit Gummisohlen«, sagte Elk, sich auf die Knie niederlassend. »Hier hat es einen Kampf gegeben. Sehen Sie nur, wie schief sich der Absatz eingedrückt hat! Und –«

»Was ist denn das?« fragte da Jim plötzlich.

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Der Lichtkegel seiner Taschenlampe war auf eine kleine zugefrorene Pfütze gerichtet. Elk sah nichts als ihre gräulichweiße Oberfläche. Jim aber war schon auf den Knien, hatte sein Taschenmesser hervorgezogen und begann die Eisschicht wegzukratzen. Da sahen auch seine Begleiter, was seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte: ein Stück Papier, ein Briefumschlag, der offenbar in den Boden getreten worden war. Als er das noch immer von Eis überzogene Papier freigelegt hatte, zeigte es deutlich den Abdruck des Absatzes, der es in den Boden gestampft hatte. Jim säuberte es behutsam von Eis und

Schmutz, bis zwei Zeilen sichtbar wurden. Die eine war ein mehrfach unterstrichener Vermerk in der linken oberen Ecke: ›Persönlich zu übergeben! Dringend! ‹

Von der Adresse war nur eine Zeile zu entziffern, aber der Name ›Harlow‹ war ganz deutlich zu lesen.

Die Männer trugen ihren Fund ins Büro des Parkinspektors und ließen das Papier am Feuer auftauen. Sobald es so weit war, öffnete Jim behutsam die Klappe des Umschlages, um den Inhalt herauszunehmen. Auf dem Briefbogen stand folgendes:

Sehr geehrter Herr Harlow! Ich bedaure sehr, Ihnen eine Enttäuschung bereiten zu müssen.

Als eben erst entlassener Sträfling befinde ich mich aber in einer so heiklen Lage, daß ich die allergrößte Vorsicht walten lassen muß. Ich will Ihnen ganz aufrichtig sagen: Ich fürchte, in eine mir von meinen Freunden von der Polizei gestellte Falle zu gehen, wenn ich den angeblich von Ihnen geäußerten Wunsch erfülle. Es wäre von mir eine unverzeihliche Dummheit, wenn ich mich in die Sache weiter einließe, ohne den Zweck der Zusammenkunft zu kennen oder doch wenigstens von Ihnen die schriftliche Bestätigung erhalten zu haben, daß wirklich Sie es waren, der heute an mich herangetreten ist.

Hochachtungsvoll Arthur Ingle Die beiden Detektive blickten einander vielsagend an.

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»Das ist doch zu toll!« sagte Elk. »Was halten Sie davon, Carlton?«

Jim stand vor dem Kamin, mit dem Rücken gegen das Feuer, den Brief in der Hand.

»Ich weiß wirklich nicht... Lassen Sie mich ein wenig nachdenken... Harlow hat Ingle um eine Zusammenkunft ersucht; das wußte ich bereits. Ingle versprach zu kommen, besann sich dann eines Besseren und schrieb diesen Brief, der aber von Harlow nicht geöffnet worden ist und ihm auch nicht vor ihrem Zusammentreffen übergeben worden sein kann, denn ich weiß – und es hat mich einen ordentlichen Schnupfen gekostet, diese Gewißheit zu erlangen -, daß die beiden Ehrenmänner sich auf der Straße an der Horse Guards Parade trafen und dann fast eine Stunde lang im Hyde Park spazierenfuhren. Und nun angenommen, daß Harlow wirklich irgend etwas mit dem Mord an dieser armseligen Frau zu tun hatte, was mir kaum denkbar erscheint – würde er dann den ungeöffneten Brief bei sich tragen und ihn ausgerechnet am Tatort verlieren, damit er ja dem ersten besten Polizisten in die Hände fällt?«

Er setzte sich, stützte den Kopf in beide Hände und schwieg eine Weile. Dann rief er plötzlich mit vor Erregung funkelnden Augen: »Ich hab's! Das heißt, ich weiß noch nicht alles, aber ich weiß wenigstens das eine: Die arme Frau Gibbins war sehr verliebt in William Smith, den Schienenleger!«

Elk starrte ihn entgeistert an. »Mir scheint, Sie sind übergeschnappt, mein Lieber«, brummte er kopfschüttelnd.

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Aileen Rivers wollte ihren Onkel besuchen. Sie rief ihn an und fragte, ob sie zu ihm kommen dürfte.

»Warum denn?« lautete die wenig einladende Antwort. Nur eine dringende Angelegenheit hatte vermocht, das

Mädchen zu dem Anruf zu bewegen, und das brachte sie in ihrem nächsten Satz auch deutlich zum Ausdruck.

»Man hat mir eine hohe Rechnung über Arbeiten in deiner Wohnung geschickt. Du wirst dich wohl erinnern, daß du sie veranlaßt hast. Die Firma erklärt mich nun für haftbar –«

»Schick mir nur ruhig die Rechnung, ich werde sie schon begleichen«, fiel er ihr ins Wort.

»Ich weiß nur nicht, ob auch alle darin angeführten Arbeiten richtig ausgeführt worden sind«, fing sie von neuem an.

»Das tut nichts zur Sache«, unterbrach er sie wieder. »Sende mir nur die Rechnung, ich werde schon alles in Ordnung bringen. Guten Morgen.«

Sehr erfreut über die schroffe Abfertigung, legte sie den Hörer auf; damit war sie der moralischen Verpflichtung enthoben, sich noch weiter um ihren Verwandten kümmern zu müssen.

Es gab Zeiten, wo Aileen dem Schicksal dafür dankbar war, daß kein Tropfen Ingleschen Blutes in ihren Adern rollte. Sie waren eigentlich nur sehr weitläufig verwandt; aus bloßer Höflichkeit nannte sie ihn ›Onkel‹ . Er hatte nur eine Base ihrer Mutter geheiratet.

Sie empfand das Bedürfnis, dies Jim Carlton ausdrücklich zu sagen, als er sie an diesem Abend aufsuchte. Der Besuch bereitete ihr große Freude, wenn auch der Detektiv gleich zu erkennen gab, daß er nicht nur um des Vergnügens an ihrer Gesellschaft willen gekommen war.

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Er wollte noch einiges über Frau Gibbins wissen; doch er fragte so viel ihr nebensächlich Erscheinendes, daß sie darin nur einen Vorwand für sein Kommen sah. Besonders war er begierig, mehr über die Eigenschaften der armen Frau zu erfahren: ob sie eine geschickte Arbeiterin gewesen sei, ob sie gern Aufträge übernommen habe, die im allgemeinen nicht zu den Pflichten einer Putzfrau gehörten, und dergleichen mehr. Sie beantwortete alle seine Fragen genau und wohlüberlegt.

Nachdem er aber damit am Ende war, erkundigte sie sich nun ihrerseits: »Ich will Sie gar nicht erst fragen, warum Sie dies alles wissen wollen, denn ich bin überzeugt, daß Sie triftige Gründe für Ihre Nachforschungen haben. Aber ist denn der Fall noch nicht erledigt?«

Er schüttelte den Kopf. »Ein Mordfall ist nie ›erledigt‹ , ehe der Täter nicht erwischt ist«, antwortete er einfach.

Sie erschauerte. »War es also doch ein Mord?« »Ich glaube es – Elk ist jedoch nicht meiner Ansicht. Es

besteht immerhin noch die entfernte Möglichkeit, daß es sich um einen Unfall handelt.« Dann fragte er unvermittelt: »Und wie benimmt sich in letzter Zeit Ihr aufmerksamer Zimmernachbar?«

»Oh – Herr Brown?« meinte sie lächelnd. »Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist, aber ich habe ihn kaum mehr gesehen, seit ich Sie das letztemal sprach. Er wohnt aber noch im Hause.«

Die Kürze seines Besuches enttäuschte sie sehr. Sie hätte ihm eigentlich dafür dankbar sein müssen, da sie sich aus dem Büro so viel Arbeit nach Hause mitgenommen hatte, daß sie bis weit nach Mitternacht zu tun hatte. Herr Stebbings stellte nämlich seine Jahresabrechnung fertig. Dennoch war es ihr schmerzlich, daß Jim Carlton sehr bald wieder aufbrach. Obgleich sie gar keine rechte Lust zum Arbeiten hatte, blieb sie bis ein Uhr an ihrem Schreibtisch sitzen. Dann öffnete sie das Fenster, um sich hinauszubeugen und noch ein wenig kalte Nachtluft zu atmen,

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ehe sie sich zu Bett begab. Die Nacht war frostig, der Himmel wolkenlos. Von dem Nebel, den die Abendblätter angekündigt hatten, war nichts zu bemerken. Die Coram Street lag ganz besonders friedlich da. Von Zeit zu Zeit wurde das Geräusch von Autos hörbar, die durch die Theobald Street rasten, sonst aber unterbrach kein Laut die friedliche Stille. Es war eine der ruhigen Nächte Londons. Sie blickte die Straße hinab und hinauf. Der verlassene Gehsteig lockte sie gewaltig. Durch das lange Sitzen steif geworden, empfand sie das Bedürfnis, sich noch ein wenig Bewegung zu machen. Ein viertelstündiger Spaziergang konnte nichts schaden. Sie legte Mantel und Hut an, öffnete die Tür ihres Zimmers und schlich lautlos auf die Treppe zu, da sie die anderen Bewohner des Hauses nicht stören wollte.

Auf dem Treppenabsatz angelangt, erlebte sie eine große Überraschung. Die Zimmertür des sie bewundernden Hausgenossen stand weit offen. Er saß, die Pfeife im Mund und die Hände höchst unromantisch auf dem Bauch gefaltet, eingenickt in seinem Sessel. Das schwache Geräusch ihrer Schritte genügte jedoch, ihn sofort auffahren zu lassen.

»Hallo!« krächzte er mit der heiseren Stimme eines eben dem Schlummer entrissenen Menschen. »Sie wollen ausgehen?«

Die Unverschämtheit des Mannes raubte ihr den Atem. »Ich habe eben selbst daran gedacht, noch einen kleinen

Spaziergang zu machen«, fuhr er fort, sich mit sichtlicher Unlust erhebend. »Ich habe hier viel zuwenig Bewegung.«

»Ich gehe nur einen Brief einwerfen«, sagte sie, sich zu einer wenig glaubhaften Notlüge erniedrigend, indem sie unter seinen wachsamen Blicken die Treppe hinunterging und so tat, als ließe sie einen Brief in den Schlitz des Sammelkastens gleiten, der in der Halle an der Wand hing.

Sie rauschte an dem Mann vorüber, der, seiner neuentzündeten Pfeife mächtige Rauchwolken entlockend, auf der Schwelle

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seines Zimmers stand, und lief förmlich in ihr Zimmer zurück. Sie war unzufrieden mit sich selbst. Wie hatte sie sich über eine solche Kleinigkeit ärgern können!

Beim Frühstück sah sie den Mann nicht, aber als sie die Vortreppe zu dem Haus emporstieg, in dem sich Herrn Stebbings Kanzlei befand, und sich umschaute, bemerkte sie zu ihrem Verdruß, daß er an der Ecke des Platzes stand und anscheinend ganz in die Betrachtung eines schönen alten, im Queen-Ann-Stil erbauten Gebäudes versunken war.

Dieser Tag sollte Aileen Rivers aber noch manche Gemütserregung bescheren. Sie war gerade im Begriff, ihren Schreibtisch in Ordnung zu bringen, um sich auf den Heimweg zu machen, als die Klingel sie in Herrn Stebbings Arbeitszimmer rief. Sie griff nach Bleistift und Stenogrammblock und trat ein.

»Nein, nein, es handelt sich nicht um einen Brief, vielmehr um ein recht eigentümliches Ansinnen«, sagte er, ohne ihr ins Gesicht zu blicken. »Ein merkwürdiges und doch wieder verständliches Ansinnen. Einer meiner alten Klienten – sein Sekretär hat Halsweh oder sonst etwas – hat angefragt, ob Sie nicht nach Tisch zu ihm kommen könnten, um ein paar Briefe nach seinem Diktat zu schreiben.«

»Warum nicht, Herr Stebbings?« fragte sie, etwas erstaunt, daß er diesen Wunsch so verlegen vorgebracht hatte.

»Das heißt, er ist eigentlich gar nicht mehr mein Klient, wie ich Ihnen schon einmal gesagt zu haben glaube«, fuhr der sonst so selbstsichere Herr Stebbings fort, ohne seine Blicke von der Lampe auf seinem Schreibtisch losreißen zu können. »Und ich weiß nicht einmal, ob es mir erwünscht wäre, wenn er mich wieder mit seiner Vertretung betraute. Nur –«

»Handelt es sich am Ende gar um Herrn Harlow?« fragte sie. Da endlich wagte er es, ihr in die Augen zu blicken. »Ja, um

Herrn Harlow, Park Lane 704. Ist Ihnen das unangenehm?«

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Sie schüttelte den Kopf. »Durchaus nicht«, sagte sie nach einem kurzen inneren Kampf. »Selbstverständlich werde ich hingehen. Wann soll ich mich denn bei ihm einfinden?«

»Er schlug neun Uhr vor. Ich sagte ihm wohl, das schiene mir ein wenig spät, aber er antwortete, er hätte eine Verabredung zum Abendessen und könnte nicht früher daheim sein. – Und es schien ihm sehr viel daran zu liegen«, fuhr Stebbings fort, indem er an der getäfelten Zimmerdecke einen Ruhepunkt für seine Augen suchte, »daß die Sache geheim bleibe.«

»Welche Sache?« fragte sie verdutzt. »Das weiß ich selbst nicht« – Stebbings verstand es

ausgezeichnet, auszuweichen -, »aber ich denke mir, er wird den Inhalt der Briefe gemeint haben. Vielleicht soll niemand erfahren, daß er wichtige Briefe zu schreiben gehabt hat, die es ihm notwendig erscheinen ließen, eigens eine besonders vertrauenswürdige Stenotypistin ins Haus zu rufen. Ich habe ihm natürlich gesagt, daß er sich auf Ihre Verschwiegenheit vollkommen verlassen kann. – Ich danke Ihnen vielmals; das ist alles, was ich Ihnen zu sagen hatte.«

In ihr kleines Zimmer zurückgekehrt, fühlte sie sich einigermaßen bedrückt bei dem Gedanken, daß sie zugesagt hatte, eine Stunde ganz allein mit einem Mann zu verbringen, der sie bei ihrem letzten Zusammentreffen geradezu erschreckt hatte. Sie fragte sich, ob sie nicht Jim Carl.ton verständigen sollte, fürchtete aber, sich lächerlich zu machen, wenn sie ihm über jede Kleinigkeit in ihrem Dasein, über jedes Kommen und Gehen Bericht erstattete. Dabei wußte sie, daß er Harlow nicht leiden konnte, daß er ihn sogar verdächtigte, den Überfall auf ihn bestellt zu haben; sie wollte auch seinen Vorurteilen keine neue Nahrung geben. Bei aller Freundschaft für Jim schien es ihr nämlich, daß er ein wenig dazu neigte, in allem und jedem eine Sensation zu erblicken.

Sie verständigte ihn also nicht und klingelte um neun Uhr an

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der Haustür Harlows, den sie seit seinem Besuch in der Wohnung ihres Onkels nicht mehr gesehen hatte. Er war lediglich damals in seinem Wagen an ihnen vorbeigefahren.

Aileen war daher recht neugierig, ob er auf sie wieder den gewaltigen Eindruck machen würde wie am Abend seines Besuches, ob wieder ein leises Angstgefühl ihre Pulse schneller schlagen lassen würde. Vielleicht schrumpfte aber auch er bei häufigeren Begegnungen zu einem Mann zusammen, der wohl eine nicht alltägliche Erscheinung, aber doch kein Übermensch war.

Es überraschte sie, daß Harlow selbst ihr die Tür öffnete. Er hatte einen schwarzen Rock an. Sie bemerkte auf den ersten

Blick die weiteren Einzelheiten seiner etwas eigenartigen Kleidung: den steifen weißen Kragen, die Krawatte aus schwerer schwarzer Seide, die zweireihige Weste, über die sich in weitem Bogen eine goldene Uhrkette spannte. Wo blieb der überwältigende Eindruck...? Unbewußt schüttelte sie den Kopf. Er war entschieden eine imponierende Persönlichkeit, der man ein ungeheures Selbstbewußtsein und die Gewohnheit zu befehlen ansah, aber doch durchaus kein Übermensch. Sie war fast enttäuscht und doch wieder froh, denn wer weiß, ob sie das Haus zu betreten gewagt hätte, wenn ihr wirklich der Harlow gegenübergetreten wäre, den ihre Phantasie geschaffen hatte.

»Überaus gütig von Ihnen, daß Sie kommen!« Er half ihr beim Ablegen ihres Mantels. »Und sehr liebenswürdig von Herrn Stebbings, daß er meine Bitte befürwortet hat! Mein Sekretär ist nämlich an Grippe erkankt, und ich lasse mir nicht gern die erste beste Hilfskraft ins Haus schicken.«

Er öffnete die Tür zu seiner Bibliothek und ließ Aileen den Vortritt. Sie glitt auf dem spiegelglatten Parkettboden aus und wäre wahrscheinlich der Länge nach hingefallen, wenn er sie nicht mit einem erstaunlich kräftigen Griff am Arm gepackt hätte. Als sie sich von ihrem Schreck erholt hatte und ihm

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gegenüberstand, bemerkte sie einen Ausdruck des Entsetzens in seinen Augen.

»Dieser Fußboden ist gräßlich«, brachte er gepreßt hervor. »Die Leute von Herrans hätten schon längst den Teppich legen sollen.«

Sie stammelte eine unzusammenhängende Entschuldigung wegen ihrer Ungeschicklichkeit, die er jedoch nicht gelten lassen wollte.

»Nein, nein, es ist wirklich nur der Parkettboden; man muß sich erst an seine Tücken gewöhnen.«

Sein Schreck war offenbar echt gewesen, aber er erholte sich sehr bald davon und sagte: »Ich habe einen sehr wichtigen Brief zu schreiben – einen überaus wichtigen Brief. Und ich kann nicht mehr selbst schreiben. Es ist eine böse Sache, wenn man sich ans Diktieren gewöhnt hat; man wird einfach zum Sklaven seines Sekretärs!«

Seine Art war am ehesten wohlwollend brüsk zu nennen. Es fiel Aileen auf, daß er sich so gar keine Mühe gab, Eindruck auf sie zu machen. Sie vermißte an ihm das einschmeichelnde Lächeln und die großtuerischen Gebärden, womit sonst Geschäftsleute in mittleren Jahren auf eine neue, hübsche Stenotypistin zu wirken versuchen. Er war kurz angebunden, aber doch immer liebenswürdig. Sie hatte das Gefühl, daß er ihr ganz genau den ihr zukommenden Platz anwies.

»Haben Sie einen Stenogrammblock bei sich? – Schön. Wollen Sie bitte an meinem Tisch Platz nehmen. Ich gehöre zu der Art von Menschen, die beim Diktieren fortwährend herumlaufen müssen. Sitzen Sie bequem? – Ja? Dann wollen wir an die Arbeit gehen...«

Er buchstabierte einen Namen und gab die dazugehörige Adresse an. Der Brief war an einen Oberst Harry Mayburgh, Wall Street 903, gerichtet.

Er begann: »Mein lieber Harry!« Von da an diktierte er

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langsam, aber deutlich und fließend weiter. Es fehlte ihm nie das richtige Wort, und er verirrte sich auch nie in ein Gewirr von Nebensätzen.

Gegen Ende des Briefes diktierte er: »... Die europäische Lage ist nach wie vor durchaus beruhigend, und es besteht alle Hoffnung auf eine ausgiebige Wiederbelebung des Handels in den nächsten Monaten. Ich für mein Teil kann durchaus nicht daran glauben, daß eine so unbedeutende Sache wie die Kölner Affäre die guten Beziehungen zwischen uns und den Franzosen jemals ernstlich trüben könnte.«

Alleen erinnerte sich, von dem Zwischenfall gelesen zu haben; es handelte sich um einen Wortwechsel zwischen einem Unteroffizier der französischen Armee und einem etwas scharfen britischen Oberst, der Köln besucht hatte. Der Zwischenfall war so nichtssagend, daß das ganze Unterhaus zu lachen begann, als ein besonders wichtigtuerischer Abgeordneter deshalb eine Interpellation einbrachte. Es kam dem Mädchen etwas merkwürdig vor, daß ein Mann von der Stellung Harlows es der Mühe wert fand, der Sache Erwähnung zu tun.

Er hielt inne, fuhr sich über das Kinn und sah zerstreut auf sie herab. Sie begegnete dem Blick seiner hellen Augen, und es kam ihr vor, als hätte sich seine ganze Erscheinung plötzlich verändert.

Die hellen Augen schienen ihr nun tiefer zu liegen, und zwei kleine Falten hatten sich unter ihnen gebildet, die früher in der sonst vollkommen glatten Haut seines Gesichtes nicht zu bemerken gewesen waren. Vielleicht hatte sie sich aber geirrt und jetzt bei näherer Betrachtung Einzelheiten entdeckt, die ihr bei dem überraschenden Zusammentreffen in den Fotheringay Mansions entgangen waren.

»Ja«, brachte er langsam hervor, als beantwortete er eine selbstgestellte Frage. »Ich glaube, es ist recht so. Wollen Sie die

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Güte haben, mir das Schreiben vorzulesen?« Sie las ihm den Brief nach ihrem Stenogramm vor. Als sie geendet hatte, meinte er lächelnd: »Vorzüglich! Ich

beneide Herrn Stebbings, daß er eine so tüchtige Gehilfin hat.« Er trat an ein Tischchen, nahm eine Schreibmaschine und trug

sie auf den Schreibtisch. »Brief- und Durchschlagpapier werden Sie in der obersten

Schublade rechts finden. Und darf ich Sie bitten, nachher hier auf mich zu warten? Ich werde höchstens zwanzig Minuten ausbleiben.«

Zum Schreiben des Briefes brauchte sie nur ganz kurze Zeit. Dann lehnte sie sich, die Hände müßig im Schoß gefaltet, auf ihrem Stuhl zurück, um ihre Blicke im ganzen Raum umherschweifen zu lassen.

Die Einrichtung des Zimmers verkündete in auffälliger Weise den Glanz des Hauses Harlow. Sie war im Empirestil gehalten, auch die Bücherschränke an den Wänden. Der Raum atmete gediegenen Reichtum; er hatte trotz des Kristallüsters und der schweren Damastvorhänge nichts Protziges an sich.

Während sie so Umschau hielt, fielen ihre Blicke auch auf den Kamin, in dem rote Glut im Erlöschen war. Auf den weißen Kacheln vor der Feuerstelle sah sie ein zusammengeballtes Stückchen Papier liegen, das offenbar jemand weggeworfen hatte.

Sie blickte unwillkürlich näher hin und entzifferte das Wort ›Marling‹ . Und dann tat sie etwas, was sie sofort als ungehörig empfand. Sie bückte sich, hob das Papier auf, glättete es und las rasch die daraufstehenden Zeilen, als gälte es, ihre Neugierde zu befriedigen, ehe noch ihr Anstandsgefühl die Oberhand gewann:

Ich muß dich wirklich bitten, mir Schreibmaterial zu geben. Bitte, laß mir doch dieses eine. Wie soll ich sonst meine Weltgeschichte schreiben?

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Marling Die Türklinke bewegte sich. Sie ließ das zerknüllte Papier

rasch in ihre auf dem Tisch liegende Handtasche gleiten und fand gerade noch Zeit, sie zuzuklappen, als auch schon Frau Edwins mit steinernem Gesicht das Zimmer betrat.

Sie näherte sich – die großen, hageren Hände vor dem Leib gefaltet – dem Tisch, an dem Aileen saß, und sagte in mißbilligendem Ton: »Sie sind also dieses junge Mädchen?«

»Jawohl, ich bin dieses junge Mädchen«, erwiderte lächelnd Aileen, die fand, daß es immerhin besser sei, ein junges Mädchen zu sein, als eine alte, garstige Hexe. Dennoch wurde ihr unter den scharfen, musternden Blicken der Alten etwas unheimlich zumute.

»Sie sind Stenotypistin?« »Ja, ich bin Stenotypistin. Ich bin die Sekretärin von Herrn

Stebbings.« »Stebbings?« Die Stimme von Frau Edwins klang merkwürdig rauh und

laut; der Ausdruck ihres Gesichtes hatte sich vollkommen geändert. Augen und Mund weit aufgerissen, starrte sie das Mädchen erstaunt an.

»Was? Rechtsanwalt Stebbings hat Sie hergeschickt?« Einen Moment schwieg Aileen ganz verdutzt, dann erklärte

sie: »Ja. Herr Harlow hat ihn darum ersucht. Sein Sekretär ist doch erkrankt...«

»Freilich, freilich!« meinte die Alte sichtlich erleichtert. Da kam dem Mädchen blitzartig die Erleuchtung, daß dies

Frau Edwins sein müsse, jene Frau Edwins, die im Testament des verstorbenen Fräuleins Mercy Harlow genannt war.

Vielleicht vermochte die alte Frau dank einer durch ihre Nervosität gesteigerten Feinfühligkeit die Gedanken der jüngeren zu lesen, denn sie sagte unvermittelt: »Ich bin Lucy

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Edwins, Herrn Harlows Haushälterin.« Aileen murmelte eine Höflichkeitsphrase vor sich hin. Was

würde jetzt folgen? Aber es ereignete sich nichts Bemerkenswertes, denn Frau Edwins segelte, die Hände noch immer gefaltet, zur Tür hinaus und überließ Aileen ihrer Reue und ihren Selbstvorwürfen. Denn diese blieben ihr nicht erspart. Ein neugieriges Küchenmädchen, das fremde Briefe las und in den Geheimnissen versperrter Schubladen herumschnüffelte, so sagte sie sich, war noch ein Muster an Tugend im Vergleich zu jemand, der sich einbildete, eine Dame zu sein, und es doch nicht lassen konnte, einen fortgeworfenen Brief eines fremden Menschen zu lesen. Sie war schon nahe daran, das Blatt Papier ins Feuer zu werfen, fand aber für die Unterlassung doch eine Entschuldigung. Diese Entschuldigung bot ihr der Gedanke an Jim Carlton, der ihr schon einmal etwas von einem ›Marling‹ erzählt hatte.

Nach zehn Minuten kam Herr Harlow langsam ins Zimmer. Er wandte ihr den Rücken zu, als er die Tür schloß. Dann stand er auf demselben Platz vor ihr, von dem aus vorhin Frau Edwins sie gemustert hatte.

»War nicht meine Haushälterin hier?« fragte er. »Ja.« Gespannt wartete sie, was jetzt kommen würde. »Meine Haushälterin«, begann er sehr langsam, »ist das

zerfahrenste Frauenzimmer, das ich je gekannt habe! Sie ist das mißtrauischste Wesen, das mir je vorgekommen ist, und wahrscheinlich das lästigste Weibsbild, das ich je kennenlernen werde.« Sein Blick haftete an ihrem Antlitz. »Ich fragte mich, ob Sie eigentlich wissen, warum ich Sie zu mir gebeten habe.«

Die Frage verblüffte sie in hohem Maße. »Sagen Sie nicht, es sei geschehen, um Sie einen Brief

schreiben zu lassen«, fuhr er überlegen lächelnd fort. »Ich wollte gar keinen Brief geschrieben haben; das war nur ein Vorwand, der mir die Gelegenheit verschaffen sollte, mit Ihnen plaudern

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zu können. Und daß Sie angesichts dieser Eröffnung weder bleich geworden sind noch irgendein Zeichen von Aufregung erkennen lassen, gereicht mir zu großer Freude. Denn dann hätte ich Ihnen höflich gute Nacht gewünscht und Ihnen die Tür geöffnet.«

Er wartete auf eine Erwiderung. »Ich verstehe nicht recht, was Sie eigentlich wollen, Herr

Harlow«, sagte sie. »Wirklich nicht? Das ist gut! Ich habe gefürchtet, Sie würden

glauben, mich zu verstehen – und mich falsch verstehen!« Er lief in der Bibliothek auf und ab, die Hände in den

Rocktaschen, den Kopf zurückgelegt, als interessiere ihn einzig und allein der gemalte Fries.

»Ich möchte neue Gesichtspunkte gewinnen«', sagte er, »und das ist im Verkehr mit alltäglichen Menschen nicht möglich. Sie sind kein alltäglicher Mensch. Aber Sie sind – verzeihen Sie meine Aufrichtigkeit – auch durchaus kein Genie. Sie sind eine Frau – vielleicht eine verliebte Frau, vielleicht auch nicht. Das weiß ich nicht. Aber Sie sind ein vernünftiger Mensch, und Sie haben kein Interesse, mir zu Gefallen zu reden.« Er hielt plötzlich inne, blickte sie fest an und wies auf die Tür. »Die Tür ist versperrt. Außer uns beiden und meiner Haushälterin ist niemand im ganzen Hause. Das Telefon dort zu Ihrer Rechten ist abgeschaltet. Und – ich liebe Sie!« Wieder brach er ab, dann nickte er befriedigt. »Ein wenig errötet das kommt vom Ärger. Kein Zittern – aber das kann sich noch einstellen. Wollen Sie so gut sein, auf den Knopf dort zu drücken? – Ja, das ist er.«

Sie hatte ihm mechanisch gehorcht, und fast unmittelbar nach dem Klingeln öffnete sich die Tür, und ein Diener trat ein.

»Ich möchte, daß Sie im Dienerzimmer warten, bis diese junge Dame gegangen ist, Thomas. Sie müssen noch einen Brief zur Post tragen.«

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Der Mann verbeugte sich und verschwand. Harlow lächelte. »Das beweist, daß zwei meiner

Behauptungen unrichtig waren: Die Tür war nicht versperrt, und wir waren nicht allein im Haus. Jetzt aber glaube ich, Sie wirklich zu kennen! Ich war vorher meiner Sache nicht so sicher. Und natürlich bin ich auch nicht in Sie verliebt, obgleich ich Sie wirklich liebgewonnen habe. Wenn Sie aber James Carlton anrufen wollen, so bitte ich Sie, sich nur des Telefons neben Ihnen zu bedienen; es ist selbstverständlich nicht abgeschaltet.«

»Wollen Sie mir nicht endlich freundlichst sagen, worauf Sie hinauswollen?« fragte sie ihn ganz gelassen.

Er stand jetzt am Schreibtisch, und seine weißen Finger trommelten einen Wirbel auf der Tischplatte.

»Ich kenne Sie jetzt«, erwiderte er. »Darum war es mir zu tun. Jetzt kann ich ganz offen mit Ihnen reden. Wären Sie bereit, gegen Zusicherung einer sehr hohen Summe einen Mann zu heiraten, an dessen Schicksal ich den lebhaftesten Anteil nehme?«

Sie schüttelte nur den Kopf, aber auch diese Ablehnung schien ihn zu entzücken.

»Ausgezeichnet! Sie taten weder beleidigt, noch sagten Sie, daß Sie unmöglich einen Mann nur um seines Geldes willen heiraten könnten. Sie haben sich, mit einem Wort, nicht nach dem in Romanen und Filmen üblichen Klischee benommen!

. Es hätte mich sehr enttäuscht, wenn Sie es getan hätten.« Da machte Aileen eine Entdeckung, die sie an ihrer Vernunft

zweifeln ließ: Der Mann gefiel ihr! Sie glaubte an seine Ehrlichkeit. Er mochte in geschäftlicher Beziehung ein gerissener Gauner sein, das entzog sich ihrer Beurteilung, als Mensch aber erschien er ihr vollkommen vertrauenswürdig. Sie hatte in seiner Gesellschaft ein seltsames Gefühl der Geborgenheit und fühlte sich dadurch ein wenig aus dem

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seelischen Gleichgewicht gebracht, wie es immer der Fall ist, wenn man sich gezwungen sieht, ein lange gehegtes Vorurteil zu verwerfen.

Er hatte das Gesicht eines Materialisten. Seine hellen Blauaugen waren, wie ihr Jim gesagt hatte, von der Art, die großen Feldherrn und großen Mördern eigen ist. Die dicken Lippen und die fleischige Nase mißfielen ihr – aber sie lebte ja in einer sehr unvollkommenen Welt voll von gewöhnlichen Männern und Frauen, und nur noch in altmodischen Dramen gab es völlig gute und völlig schlechte Menschen, dachte sie bei sich.

»Ich glaube zu wissen, was jetzt in Ihrem Köpfchen vorgeht« sagte er unvermittelt.

Es wurde ihr ein wenig bange, als sie seiner unheimlichen Gabe, die Gedanken der Menschen zu lesen, innewurde.

»Sie fragten sich eben selbst«, fuhr er fort, »ob ich wirklich der große Schurke sei, als den mich die Leute vom Schlage Carltons hinstellen. Wie wollen Sie den richtigen Maßstab an mich anlegen? Es ist sehr schwer – nicht, weil ich selbst eine Größe bin, sondern weil die Leinwand, auf der ich meine Künstlerschaft betätige, eine ungeheuere ist. – Fräulein Rivers, ich hoffe, Ihr Herz ist noch frei.«

»Ich glaube, das ist der Fall«, antwortete sie. »Wenn Sie von ›glauben‹ reden, weiß ich auch schon, daß es

nicht mehr der Fall ist. Ich hätte Sie so gerne mit jemand verheiratet gesehen, den ich liebe – mit dem sanftesten, liebenswürdigsten Geschöpf auf Erden. Mit einem Wesen, das ich aus Wirrsal und Chaos, aus glänzendem Licht und geheimnisvollen Tönen selbst geschaffen habe. Ich rede, als wenn ich eine Gottheit wäre, aber was ich sage, ist wahr! Und seit Jahren schon habe ich nach einer Frau für dieses Wesen gesucht.« Er beugte sich über den Tisch, seine Stimme wurde leiser. »Soll ich Ihnen etwas sagen?«

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Sie antwortete weder durch Worte noch Zeichen, konnte aber ihre Neugierde doch nicht verhehlen.

»Wenn Sie ja gesagt hätten, wäre mein Lebenswerk vollendet gewesen. Ich müßte Ihnen also für ihre Ablehnung dankbar sein, denn wenn Sie ja gesagt hätten, wäre all dies, wäre der ganze Glanz ›Harlows des Prächtigen« in Staub zerfallen, wäre von ihm nichts übriggeblieben als die Erinnerung an ein trotz aller Erfolge verfehltes Leben!«

Einen Augenblick dachte sie, er sei betrunken und sie habe es nur bisher nicht bemerkt. Aber er war vollkommen nüchtern und sogar sehr vernünftig.

»Seltsam, nicht? Ich habe Sie gern. Und ich kann auch Carlton sehr gut leiden; er ist ein etwas rücksichtsloser, aber sonst sehr netter Bursche. Übrigens erwartet er Sie draußen vor der Haustür. Er und einer Ihrer Hausgenossen, der Ihnen gefolgt ist, ein gewisser Herr Brown.«

Sie riß den Mund vor Erstaunen auf. »Jaja! Der ist auch Detektiv. Carlton läßt Sie von ihm

bewachen, weil er in Sorge um Sie ist; er traut mir die schwärzesten Absichten zu.« Sein Kichern klang überaus musikalisch. »Vielleicht kann ich einmal etwas für Sie tun. Ich würde Ihnen nur allzugern eine Million schenken, um zu sehen, was Sie damit anfangen.«

Er hielt ihr seine Hand hin, in die sie ohne Zögern einschlug. »Sie haben mir aber gar nicht gesagt, wen ich eigentlich

heiraten sollte?« »Einen Mann mit einem goldenen Bart. Das ist alles, was ich

Ihnen sagen kann«, antwortete er lachend. »Verzeihen Sie meinen kleinen Scherz!«

Damit geleitete er sie zur Haustür. Sie trat, noch immer verwirrt, aus dem Hause, blieb aber mit

einem Aufschrei des Erstaunens auf der Vortreppe stehen.

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Wirklich stand Jim Carlton auf dem Gehsteig vor ihr und neben ihm ihr Hausgenosse, Herr Brown!

Harlow wartete, bis sich die Tür hinter seiner Besucherin geschlossen hatte, und begab sich dann zum Fahrstuhl. Als er eben einsteigen wollte, kam aus dem Speiseraum der Dienerschaft seine Haushälterin geräuschlos herangeschlichen.

»Was wollte das Mädchen?« fragte sie. »Handlungsfreiheit!« antwortete er. »Ich verstehe das wieder einmal nicht«, klagte sie. »Ich für

mein Teil wäre aber gar nicht erstaunt, wenn sie sich als Spionin entpuppte.«

»Wieso?« fragte Harlow, die Hand auf den Türknauf des Fahrstuhls legend.

»Mir gefällt schon ihr Gesicht nicht.« »Mir dagegen sehr«, erwiderte er, ihr gutmütig Rede und

Antwort stehend. »Ich habe sie sogar gebeten zu heiraten.« »Wen?« schrie die Frau auf. »Nicht mich.« Er deutete mit dem Kopf nach oben und beugte

dem drohenden heftigen Redefluß vor, indem er sie anfuhr: »Ich bin kein Narr! Ich bin sehr klug und weiß schon, was ich tue. Ich vermag der Wahrheit ins Auge zu blicken und das ist das Klügste, was ein Mensch tun kann. – Jetzt fahre ich zu Saul Marling hinauf.«

Ihre schrille Stimme schallte hinter ihm her durch den Aufzugsschacht: »Phantastischer Unsinn das! Zeitvergeudung...«

Er zog die Tür von Marlings Zimmer hinter sich zu und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung in einen tiefen Sessel sinken. Der bärtige Mann, der, den Kopf in die Hand gestützt, dasaß und las, drehte sich halb zu ihm um.

»Nicht wahr, sie hat heute ihren bösen Tag?« meinte er mit einem Kopfnicken. »Sie ist auch mir geradezu grob gekommen,

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als ich mich über den Fisch beklagte.« »Was? Sie war frech zu dir? Zum Teufel, das muß anders

werden!« Harlow hatte den Oberkörper aufgeriditet und sich auf die Armlehnen gestützt, als wollte er aufstehen, besann sich aber dann doch eines Besseren. »Es muß alles geschehen, was du wünschst, mein lieber Saul, sonst werde ich ihr einen Höllentanz machen. – Was liest du denn gerade?«

»›Die Auslegung der Träume.‹« »Was, ein psychoanalytisches Buch? Das solltest du lieber in

den Papierkorb werfen«, meinte Harlow geringschätzig. »Ich verstehe es auch gar nicht«, gestand der andere. »Ein Mann, der anderer Menschen Träume auszulegen

vermag, vermag auch ihre Gedanken zu lesen«, fuhr Harlow fort. »Ich habe für dich geträumt, Saul Marling. Ich habe eine Frau für dich erträumt, aber sie wollte nichts davon wissen.«

»Eine Frau für mich?« fuhr Marling auf, und seine Hände zitterten. »Du weißt doch, daß ich keine Frau haben will!«

Harlow zündete sich eine Zigarre an. »Na, dessen bin ich nicht so ganz sicher. Leider aber weiß ich,

daß sie keinen Mann will! Es gibt eben Träume, die Träume bleiben müssen!«

Er lachte, während ihn der andere neugierig betrachtete. »Träumst du denn überhaupt jemals?« fragte Marling mit einer

gewissen Scheu. »Ich? Ja, ich träume von neuen Spaßen!« Marling konnte das nicht verstehen. Der große, starke Mann

vor ihm sprach so oft von ›Späßen‹ , aber wenn sie gelungen waren, schien sich außer Harlow niemand darüber amüsiert zu haben.

Es war eine Eigentümlichkeit des englischen Verbrechers, daß er nie nach tönenden Bezeichnungen für seine Taten suchte. Jedes Verbrechen, besonders aber jedes Verbrechen gegen den

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lieben Nächsten, war für ihn einfach ein ›Joke‹ , ein ›Spaß‹ . Der Mann, der einen Bankboten überfiel, hatte seinen Spaß mit ihm gehabt. Der Betrüger ›machte einen Spaß‹ mit seinem Opfer. Ein Warenhausdiebstahl würde auch als ein besonderer ›Spaß‹ bezeichnet werden.

Stratford Harlow hatte einmal diese Bezeichnung für Verbrechen gehört. Seither ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Der Ausdruck aus dem Rotwelsch der Gauner entsprach so gut der Einstellung seines eigenen Geistes bei Abwicklung seiner großen Geschäfte: Das Gelingen eines großen Coups wirkte auf seinen Geist und Körper wie ein guter Spaß.

Einmal hatte er einer großen Gummiimportfirma vorgeschlagen, ihr den ganzen Vorrat zu einem Preis abzukaufen, der für den Verkäufer einen sehr ansehnlichen Gewinn abgeworfen hätte. Die Firma und der hinter ihr stehende Konzern glaubten, daß es sich um einen Zwangskauf handle, und trieben den Gummipreis künstlich in die Höhe. Er wartete drei Monate und kaufte während dieser Zeit überall, nur nicht bei dem Konzern, Gummi auf. Und dann kam ein Tag, an dem die Lagerhäuser des Konzerns lichterloh brannten.

Das war ein wirklich guter ›Spaß‹ gewesen. Herr Harlow kicherte drei Tage lang, aber nicht etwa, weil er dabei ein Vermögen verdient hatte – das freute ihn gewiß auch, aber ohne den gelungenen ›Spaß‹ hätte das Geld keinen Reiz für ihn gehabt.

»Mir gefallen deine Spaße nicht«, meinte Marling ernst. »Ich hätte sie dir auch gar nicht erzählen sollen«, antwortete

Harlow, ein Gähnen unterdrückend, »aber ich habe keine Geheimnisse vor dir, Saul Marling. Und es ist mir ein Bedürfnis, die Güte meiner Spaße an deiner prächtigen Ehrlichkeit zu erproben. Wenn du darüber lachtest wie ich, wäre ich zu Tode betrübt und enttäuscht. – Aber jetzt komm mit aufs Dach, deinen Gesundheitsspaziergang machen. Ich will dir den größten und

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besten Spaß erzählen, den ich je ersonnen habe. Die Geschichte fängt mit einem Festessen in diesem Hause an und endet damit, daß jemand zwanzig Millionen verdienen wird, um fröhlich weiterzuleben, bis er stirbt.«

Nicht ohne Selbstüberwindung rang sich Aileen zu dem Entschluß durch, Jim das Blatt Papier zu zeigen, das sie in Harlows Bibliothek gefunden hatte. Sie hatte das unangenehme Gefühl, daß Harlow ihr sein Vertrauen geschenkt, daß sie ihn aber betrogen hatte. Sie war in ihren eigenen Augen unendlich tief gesunken. Harlow mochte all das sein, was Jim von ihm behauptete, aber in seiner Art war er doch ein großer Mann.

Als sie zu dieser Feststellung gekommen war, fühlte sie, daß sie das Papier ihrem Freund ausliefern mußte.

»Ich suche gar nicht erst nach einer Entschuldigung für mein Vergehen«, gestand sie offenherzig. »Was ich getan habe, erscheint mir selbst höchst verächtlich. Ich kann nicht einmal sagen, daß ich dabei an Sie gedacht habe; nein, es war ganz gewöhnliche Neugierde, die mich dazu veranlaßt hat.«

Sie blieben unter einer Straßenlaterne stehen. Er entfaltete das Papier und las.

»Marling!« rief er aus. »Großer Gott!« Die Wirkung, die diese wenigen hingekritzelten Worte auf

ihren Begleiter ausübten, erregte in hohem Maß ihre Verwunderung. Er faltete das Papier sorgfältig zusammen und steckte es in die Tasche.

»Marling, Ingle, Frau Gibbins«, sagte er in der ihm eigenen scherzhaften Art. »Das reinste Vexierspiel! Versuchen Sie einmal, die einzelnen Stücke zusammenzusetzen, so daß sich ein Sinn daraus ergibt: diesen Herrn Marling, der sein Schreibzeug zu behalten wünscht; Ihren ehrenwerten Herrn Onkel, der plötzlich eine ihn vollkommen ausfüllende Leidenschaft für den Film verrät; Frau Gibbins und ihren geliebten Schienenleger, Herrn William Smith; einen gewissen Brief, der niemals

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abgegeben worden ist und schließlich in einer zugefrorenen Pfütze entdeckt wird! Versuchen Sie es nur einmal, ein Bild daraus zu fügen, das sinnvoller ist als das eines Futuristen, und ich erkenne Sie als meinen Meister an!«

»Was in aller Welt reden Sie denn da zusammen?« fragte sie hilflos.

Er schüttelte den Kopf. »Sie wissen es nicht. Elk weiß es nicht. Auch ich weiß nicht, ob ich wirklich etwas weiß. Das eine aber ist sicher: Ich werde recht, recht froh sein, wenn die nächsten zehn Tage einmal vorüber sein werden!«

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Aileen war – sie wußte nicht, warum – in gereizter Stimmung. »Sind Sie sich eigentlich dessen bewußt, was für ein gräßlicher

Geheimniskrämer Sie sind?« fragte sie ihn etwas unwirsch. »Ich dachte immer, daß nur die Detektive in den Kriminalromanen so dargestellt werden, weil die Leser Überraschungen lieben.«

»Alles Geheimnisvolle ist nur ein Auswuchs der Phantasie«, sagte er überlegen, aber etwas unverständlich.

Sie erreichten die Oxford Street. »Haben Sie schon einmal einer Sitzung des Unterhauses

beigewohnt?« fragte er sie plötzlich. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Dann kommen Sie mit mir. Sie werden ein Schauspiel

genießen, das viel unterhaltender ist als ein Film, aber Sie werden wenig zu hören bekommen, was nicht schon anderswo besser gesagt worden wäre.«

Das Haus tagte nämlich noch. Sie wußte dies allerdings nicht, denn sie gehörte zu den vielen, die sich für Politik von Jahr zu Jahr immer weniger interessierten. Jim dagegen war über alle politischen Angelegenheiten sehr gut unterrichtet und beglückte sie mit einem kurzen Vortrag.

Der alte starre, kampfesfrohe Parteigeist sei im Aussterben, sagte er. Die Wählermassen seien zu beweglich geworden, um sich dauernd in bestimmte Gruppen einteilen zu lassen. Bei den letzten Nachwahlen sei diese Erscheinung, die den führenden Männern der Parteien soviel Kopfzerbrechen bereite, wieder einmal besonders deutlich zutage getreten. Man habe daraus ersehen können, daß die gegenwärtige Regierung trotz ihrer noch gewaltigen Mehrheit doch schon aus dem letzten Loch pfeife. Es bestünden innerhalb der Regierung selbst arge

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Meinungsverschiedenheiten; die Regierungspartei würde von allerlei Eigenbrötlern unterwühlt.

Eigentlich interessierte sie das alles nur wenig. Aber schon der Eingang des Parlamentsgebäudes machte auf sie einen großen Eindruck. Die hohe Vorhalle, die breiten Treppen und das weite Foyer, in dem die Schritte der unablässig hin und her eilenden Menschen widerhallten, sowie, die große Tür, hinter der sich gewaltige Geheimnisse zu verbergen schienen, versetzten sie in eine merkwürdig feierliche Stimmung.

Jim verschwand einen Augenblick von ihrer Seite, kehrte jedoch bald mit zwei Einlaßkarten zurück. Sie stiegen die breite Treppe empor und wurden zu Galeriesitzen geführt.

Zuerst war sie von dem sich bietenden Anblick ein wenig enttäuscht; das Haus kam ihr viel kleiner vor, als sie es sich vorgestellt hatte. Ein Abgeordneter hielt gerade eine Rede. Es war ein bleicher, kahlköpfiger Herr, der mit eintöniger Stimme klagte, daß die Regierung in der Frage des Basingstoke-Kanals noch immer nichts getan habe. Es waren nur ein paar Dutzend Abgeordnete anwesend, und auch diese unterhielten sich miteinander, ohne dem Redner die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Auf der vordersten Bank saßen drei ältere Herren, die die Köpfe zusammensteckten und sich eifrig berieten. Der Präsident des Unterhauses, der ›Speaker‹ , schien der einzige Mensch zu sein, der dem Redner ungeteilte Aufmerksamkeit widmete.

Bald jedoch begann sich das Haus zu füllen. Ein ununterbrochener Zug von Männern strömte durch die Türen herein. Jeder strebte seinem Sitz zu, aber die meisten konnten es nicht unterlassen, mit dem einen oder anderen der bereits Sitzenden noch ein Wort zu wechseln. Der Redner aber fuhr unbeirrt in seiner Jérémiade fort. Da faßte Jim Aileen plötzlich am Arm und wies mit dem Kopf nach einer Stelle des Saales.

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Hinter dem Stuhl des Vorsitzenden war ein Mann aufgetaucht, in dem sie sofort Sir Joseph Layton, den Außenminister, erkannte. Er ließ sich auf der Regierungsbank nieder, zog den winzigen weißen Schnurrbart mit einer charakteristischen liebkosenden Gebärde durch die schmalen Finger und wartete, während die letzten Abgeordneten auf ihre Plätze eilten. Jemand erhob sich von einer der vorderen Bänke und stellte eine Frage, die das Mädchen nicht verstand. Da schnellte Sir Joseph mit einem Ruck empor. Seine Hände faßten die Aufschläge seines Jacketts und zogen sie nach vorn. Den Kopf hielt er wie ein neugieriger Sperling zur Seite geneigt. Er begann zu sprechen; sie lauschte seiner Antwort, konnte aber auch diese nicht recht verstehen. Seine Stimme klang etwas heiser, doch sein Tonfall und seine Gebärden waren so manieriert, daß ihn nur zu beobachten schon unterhaltsam war. Plötzlich berührte Jim ihre Hand.

»Ich gehe hinunter, um mit ihm zu sprechen. Würden Sie die Güte haben, im Foyer auf mich zu warten?« flüsterte er.

Sie nickte. Erst nach zehn Minuten verließ der Außenminister den

Sitzungssaal. Er begrüßte den Detektiv mit einem freundlichen Winken der Hand und faßt ihn unter dem Arm.

»Na, was gibt's denn Neues?« fragte er, als sie sein Privatzimmer im Hause erreicht hatten. »Wieder etwas von Harlow? Sind sie irgendwelchen verruchten Umtrieben der kontinentalen Diplomatie auf die Spur gekommen?«

Er lachte über seinen eigenen Witz, ließ sich an seinem großen Schreibtisch nieder und stopfte seine Pfeife.

»Harlow und immer wieder Harlow!« sagte er mit gutmütiger Ungeduld. »Jeder spricht mir von Harlow! Ich muß doch selbst einmal mit ihm reden. Er gibt am Dienstag ein großes Festessen in seinem Haus, und ich habe ihm versprochen, vorbeizukommen, ehe ich ins Parlament gehe.«

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»Was ist der Anlaß zu diesem Festessen?« fragte Jim eifrig. Der Minister lachte. »Auch er ist insgeheim Diplomat, müssen

Sie wissen. Tatsächlich hat er es verstanden, in einem Balkanstreit, der recht unangenehme Folgen hätte zeitigen können, erfolgreich zu vermitteln. Es handelte sich gewissermaßen um eine Fehde zwischen zwei blutdürstigen Banditen. Jetzt gibt er den Gesandten der beiden Staaten sozusagen ein Versöhnungsfest, bei dem er wohl als Friedenstaube mit dem Ölzweig im Schnabel erscheinen wird. Zum Essen selbst kann ich nicht gehen, aber bei dem darauffolgenden Empfang werde ich kurz anwesend sein. – Doch was haben Sie mir eigentlich zu erzählen?« fragte er dann unvermittelt.

»Ich kam her, um von Ihnen Neuigkeiten zu hören, Sir Joseph«, antwortete Jim, »und nicht, um Ihnen zu berichten. Hat sich die Gewitterwolke bereits verzogen?«

»Bah!« meinte der Minister ein wenig geringschätzig. »Gewitterwolke!«

»Ich meine den Kölner Zwischenfall«, erinnerte Jim, worauf Sir Joseph herausplatzte: »Das ist doch wirklich nicht ein ›Zwischenfall‹ zu nennen! Es war ein einfaches Schimpfduell zwischen einem älteren, aufgeblasenen britischen Stabsoffizier und einem jungen Frechdachs von französischem Unteroffizier! Der junge Mann ist von den Franzosen disziplinarisch bestraft und der Oberst von unserem Kriegsministerium versetzt worden. Damit ist die Sache erledigt.«

Jim gesellte sich bald wieder zu Aileen Rivers, die ihm gestand, daß das Parlament keinen sehr großen Eindruck auf sie gemacht habe. Vielleicht war ihre eigene Laune daran schuld, jedenfalls erschien ihr Jim an diesem Tag recht langweilig. Während des ganzen restlichen Abends, den sie noch mit ihm verbrachte, mußte sie fast allein die Unterhaltung bestreiten, während er nur einsilbig oder überhaupt nicht antwortete. Aber

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sie kannte ihn schon gut genug, um zu ahnen, daß sich etwas ganz Ungewöhnliches ereignet haben mußte, und hänselte ihn nicht wegen seiner offenkundigen Geistesabwesenheit.

Vor dem Tor ihrer Pension fragte er sie noch: »Ich hoffe, Sie haben gegen ein Verbleiben Browns im Hause nichts einzuwenden?«

»Ich wollte auch schon mit Ihnen darüber sprechen«, sagte sie. »Ich stehe also unter Beobachtung, nicht wahr? Oder wie nennt man das?«

»Ist es Ihnen unangenehm?« »Keine Spur!« antwortete sie. »Ich finde es eher lustig.« »Es ist eine großartige Sache, wenn man Sinn für Humor hat«,

erwiderte er, sich verabschiedend. Elk war nicht in Scotland Yard. Jim ging in die Great Eastern

Road, wo der Inspektor wohnte, und war geradezu böse, daß Elk schon alles über das bevorstehende Festessen Harlows wußte.

»Ich habe die Neuigkeit auch erst heute nachmittag erfahren«, beruhigte ihn Elk. »Wenn Sie in Scotland Yard gewesen wären, so hätte ich es Ihnen bestimmt mitgeteilt. Die ganze Sache wurde erst gestern bekannt. Wahrscheinlich hätten wir überhaupt nichts erfahren, wenn nicht Harlow um zwei Schutzleute als Posten vor seinem Haus gebeten hätte. Er geht scharf ins Zeug, dieser Herr Harlow!« Seine Äuglein musterten Jim Carlton mit ernsten Blicken. »Ich werde Ihnen noch etwas sagen, mein Sohn: Die ›Rata‹ hat ein neues Haus in der Morgate Street als Bürogebäude angekauft. Ich vergaß den Namen des früheren Besitzers – es ist ein Jude mit einem irischen Namen. Jedenfalls hat Ellenbury das Haus gestern übernommen, und er ist auch gleich mit verdoppeltem Personal eingezogen. Das ist ein Kerl, den Sie einmal aufsuchen sollten!«

»Das will ich auch tun. Als was gibt er sich derzeit aus: als Rechtsanwalt oder als Börsianer?«

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»Als Rechtsanwalt. Aber er kennt sich auf der Börse mindestens ebenso gut aus wie in Advokatenschlichen. Ich glaube, daß auch er ein geriebener Gauner ist, wenn auch noch nie eine Klage gegen ihn vorgebracht wurde. Einmal jedoch ging ein Gerücht um, daß seine finanziellen Verhältnisse arg zerrüttet seien. In früheren Zeiten hat er recht anrüchige Leute vertreten, und dann hieß es, daß er an der Börse große Verluste erlitten habe.«

»Er ist doch der Mann, der in Norwood lebt?« Elk nickte. »Ja, in Norwood«, sagte er, »dort wo die Briefe an Frau Gibbins aufgegeben wurden. Haben Sie ihn noch nicht kennengelernt? – Nein? Ich auch nicht.« Er dachte eine Weile nach und fuhr dann, sich an der Nase zupfend, fort: »Oh, ich verstehe schon! Harlow soll nicht erfahren, daß Sie auch den Fall Gibbins in Händen haben. Das ist es! Ellenbury kennt Sie also noch nicht, und Sie können daher unter irgendeinem Vorwand zu ihm gehen. Aber dabei heißt's aufpassen!«

»Wie kommt er täglich von Norwood in die City?« Elk schüttelte den Kopf. »Er gehört nicht zu den Leuten, die man im Zug abpassen kann«, sagte er. »Er hat ein Auto zur Verfügung, das ihm die ›Rata‹ hält. Er wohnt im Royalton House, einem alten Gebäude in der Nähe des Kristallpalastes. Er lebt dort mit seiner ewig kranken Frau. Irgendein Laster ist bei ihm noch nicht beobachtet worden, wenn man ihm nicht seine Freundschaft für Harlow als solches anrechnen will. Auch ist er ganz unnahbar. Er arbeitet nicht in Norwood, sondern hat ein kleines Büro in der Theobald Street. Wenn man dort vorspricht, so empfängt einen unfehlbar ein Angestellter mit der Auskunft, Herr Ellenbury könne einen nicht empfangen und könne auch für die nächste Zeit keine Verabredung mit einem treffen. Aber ich glaube, aus Ellenbury wäre immerhin etwas herauszubekommen – wenn man an ihn herankönnte. »Sind Sie sicher, daß Ellenbury für Harlow arbeitet?«

»Daß er mit ihm zusammenarbeitet, meinen Sie?« Elk spuckte

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verächtlich, aber mit unvergleichlicher Treffsicherheit, ins Kaminfeuer. »Ja, dessen bin ich mir todsicher. Sie sind ja – allerdings nur in gewisser Hinsicht – wie Brüder.«

Jim beschloß, die Sache kühl anzugehen, aber er fand den Rechtsanwalt bereits auf seinen Besuch vorbereitet.

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Herr Ellenbury wohnte in einem großen, ziemlich schlecht instand gehaltenen Haus zwischen Norwood und Anerly. Es mußte durch seine Häßlichkeit schon in jener Zeit aufgefallen sein, wo noch würfelförmige, schachtelartige Häuser dem Zeitgeschmack entsprachen und die Baumeister der Viktorianischen Epoche in Stuckverzierungen ein ebenso bequemes wie künstlerisches Mittel sahen, minderwertiges Mauerwerk zu verdecken. An der Straßenseite des Hauses führte eine breite, von Steingeländern eingefaßte Treppe bis zur Tür empor.

Royalton House erhob sich massig in der Mitte eines ungefähr zwei Morgen großen Grundstücks, das noch einen Rasenplatz für das Krocketspiel, einen Gemüsegarten, ein ländliches Gartenhaus und einen etwas wasserarmen Springbrunnen aufwies. Im Garten standen geschmacklose Statuen von Gestalten aus der griechischen Mythologie; sie waren vor vielen Jahren auf einer Ausstellung billig erstanden worden.

In seinen Mußestunden hielt sich Herr Ellenbury in einem in düsteren Farben tapezierten Raum auf, der von seiner Frau das ›Arbeitszimmer‹ , vom Hauspersonal aber das ›Herrenzimmer‹ genannt wurde. Es war ein hohes Gemach von unsinnigen Ausmaßen und vollgestopft mit nicht zusammenpassenden Möbeln: runden Tischen und einem Schreibtisch mit einem aufgesetzten Regal, einem Roßhaarsofa, das quer über eine Ecke stand und zu dem man nur gelangen konnte, wenn man einen schweren Spieltisch zur Seite schob, und dergleichen mehr. In dem im Winter unbehaglich kalten Zimmer war nur gerade so viel Platz, daß Herr Ellenbury sich auf einen Stuhl setzen konnte.

An diesem Dezemberabend saß er denn auch vor seinem mit

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einem Rolladen versehenen Schreibtisch. Er kaute nachdenklich an den Fingernägeln; sein Gesicht trug einen sorgenvollen Ausdruck. Sein Leben, das ein ewiger Kampf um das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben gewesen war, hatte ihn vorzeitig altern lassen. Er war ein großer Pferdenarr, aber sein Sinn stand nicht nach den Pferden anderer Leute, die man nur gelegentlich auf einem Rennplatz zu sehen bekam, sondern er sehnte sich nach eigenen Pferden, die man in seinem eigenen Stall halten konnte, die wiehernd über die Wand ihrer Boxe schauten, wenn sie die wohlbekannte Stimme des Herrn hörten, die man mit funkelndem Geschirr vor einen Wagen spannen und eine Landstraße entlangkutschieren konnte.

Jeder Mensch hat seinen eigenen Traum vom Glück. Herr Ellenbury hatte zwanzig Jahre lang geträumt, daß er einst bei einer Preisverteilung sein eigenes Gespann vorführen werde. Er hatte im Geiste den Beifallsjubel der Zuschauer gehört und sich gesehen, wie er das Gefährt in schönem Bogen aus der Arena lenkte, während die den ersten Preis bezeichnenden farbigen Seidenbänder vom Zaumzeug seines Gespanns flatterten.

Aber er hatte mit seinen Pferden wie mit seiner Ehe Unglück gehabt. Frau Ellenbury war, wie schon gesagt, ewig krank, ohne daß es jemals einem Arzt gelungen wäre, die Art ihres Leidens festzustellen. Ein Spezialist aus dem Westend hatte sie untersucht und geraten, einen anderen zu konsultieren. Der zweite hatte vorgeschlagen, einen dritten zu Rate zu ziehen. Der dritte war gekommen und hatte sie gefragt, ob jemand von ihren Eltern unter Wahnvorstellungen gelitten habe oder die Hysterie in ihrer Familie erblich sei, ob Frau Ellenbury sich denn nicht aufraffen könnte, das Bett täglich wenigstens für eine halbe Stunde zu verlassen.

Es war allerdings für die Ärzte nicht leicht, die Wahrheit zu ergründen, denn es fehlte Frau Ellenbury tatsächlich gar nichts. Sie hatte nur vor etwa zwanzig Jahren beschlossen, im Bett zu bleiben, nachdem sie so ziemlich alles durchgekostet hatte, was

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das Leben den Frauen bot. Sie hatte sich im Hause geplagt und die Dienstboten regiert, hatte kleine Gesellschaften gegeben und andere besucht, hatte Besuche gemacht und empfangen, Theateraufführungen genossen, Krocket und Tennis gespielt und sonst mitgemacht, was auch andere Frauen mitmachten, zum Schlüsse aber herausgefunden, daß doch nichts so angenehm sei, wie eben im Bett zu liegen. Sie war also freiwillig krank geworden. Durch unablässiges Romanlesen war sie zur Erkenntnis der Verworfenheit der Gesellschaft und des traurigen Loses der unverstandenen Frau gelangt. Und diese Erkenntnis hatte sie in dem Entschluß bestärkt, fernerhin nur für sich allein zu leben.

In einem gewissen Sinn war eigentlich Herr Ellenbury mit diesem Zustand recht zufrieden. Vor allem war er froh, daß seine Frau, der er die freundschaftlichste Teilnahme zollte, wenigstens keine Schmerzen litt. Aber es war ihm auch nicht unangenehm, zu seinem Junggesellenleben zurückkehren zu können. Jeden Morgen und jeden Abend betrat er ihr Zimmer, und jedesmal fragte er: »Wie geht's heute?«

»Danke, immer gleich – jedenfalls aber nicht schlechter.« »Das freut mich! Wünschst du etwas?« »Nein, danke – ich habe alles, was ich brauche.« Dieses Frage-

und-Antwort-Spiel war mit seltenen Ausnahmen fast jeden Tag das gleiche.

Ellenbury war nach einem sehr anstrengenden Tag im Büro der ›Rata‹ an diesem Abend recht spät nach Hause gekommen. Gewöhnlich leitete er die Geschäfte des Syndikats von seiner eigenen Kanzlei aus, ja er war bis dahin eigentlich nie öffentlich als Geschäftsführer der Gesellschaft hervorgetreten. Der von Harlow geplante neue Coup machte jedoch Transaktionen von so ungeheurem Umfang notwendig, so daß er das Geheimnis mit anderen teilen mußte. Seine Verbindung mit einem Konzern, dem jede anständige Firma in der City das ärgste Mißtrauen

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entgegenbrachte, wurde bekannt. Das schmerzte Ellenbury. Der Mann, der früher seine Klienten bestohlen, der sich systematischer Betrügereien schuldig gemacht hatte und zur Zeit wahrscheinlich in Dartmoor säße, wenn sich nicht Stratford Harlow für ihn eingesetzt und ihm geholfen hätte, dieser Mann schämte sich bitter, daß seine Zugehörigkeit zu einer in aller Öffentlichkeit als anrüchig verschrienen Firma bekanntgeworden war.

Er war eine Kreatur Harlows, war sein Sklave. Diese seiner Selbstachtung geschlagene Wunde konnte nicht heilen. Es war ihm nachgerade ein Bedürfnis geworden, über die Ungerechtigkeit des Schicksals zu brüten. Er haßte Harlow mit einem inbrünstigen Haß, den niemand dem Mann mit dem milden, vergrämten Gesicht zugetraut hätte.

Für ihn war Harlow die Verkörperung des Bösen auf Erden, ein Teufel aus Fleisch und Blut, der ihn in eherne Fesseln geschlagen hatte. Und seine Träume hatten in letzter Zeit eine ganz neue Richtung genommen. Es waren nur verworrene Bilder, die ihm vorschwebten, Geschichten ohne Anfang und ohne Ende, aber immer handelten sie von einer Demütigung Harlows: Er sah, wie Harlow in Ketten durch den fürchterlichen Torbogen gezerrt wurde, der das Gefängnis bedeutete; sah ihn knapp vor seinem endgültigen Triumph von schwin delnder Höhe herabgestürzt. Und immer spielte er, Ellenbury, eine Rolle dabei: Er wies grinsend und höhnend mit dem Finger auf den Mann, den er ruiniert hatte, oder er flog zu mitternächtlicher Stunde im Flugzeug über den Kanal – eine Tasche auf dem Schoß, die die seinem Zwingherrn geraubten fabelhaften Geldsummen enthielt.

Herr Ellenbury kaute an seinen Fingernägeln. Bald würde Geld in Strömen in die Kassen der ›Rata‹ fließen...

Er würde tagelang nichts anderes zu tun haben, als Schecks einzulösen und Wechsel einzukassieren.

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Man konnte einen Scheck bei einer Bank einreichen, und er verwandelte sich einfach in eine Zahl im Kontobuch, aber man konnte ihn auch an einem Schalter einlösen und Bargeld dafür erhalten. Harlow zog dies manchmal vor; wechselte dann Pfund in Dollars, wechselte diese in Schweizer Franken und diese wieder in Holländische Gulden, bis die Herkunft der ursprünglichen Zahlung vollkommen verschleiert war.

In dem Zimmer über ihm lag seine Frau, völlig versunken in die Beichte einer Romangräfin. Frau Ellenbury besaß ein kleines eigenes Vermögen. Auch das Haus war ihr Eigentum. Und er konnte ihr ja durch vorsichtige Überweisung ein weiteres Einkommen sichern.

Harlow kümmerte sich nie selbst um das Inkasso. Er erließ nur genaue Weisungen, was mit dem Geld zu geschehen habe, auf welche Konten es überwiesen werden müsse. Nach geglückter Durchführung einer Transaktion warf er dann seinem Gehilfen einen oder zwei Tausender hin, wie man einem Hund einen Knochen hinwarf.

Ellenbury war in seinem Leben noch nie so wohlhabend gewesen wie seit seiner Zusammenarbeit mit Harlow. Er konnte jetzt seinem Bankdirektor begegnen, ohne daß er nervös wurde, brauchte nicht mehr zu erschrecken, wenn er einen fremden Menschen durch den Garten auf das Haus zukommen sah, wie einst, wo er in jedem Besucher einen Gerichtsboten gewittert hatte.

Aber er hatte sich rasch an das Wohlleben gewöhnt, und da er anderer Sorgen ledig war, fand sein Geist Muße, sich mit Rachegedanken gegen den Urheber seines Wohlstandes zu beschäftigen.

Er war doch nur ein Sklave – im besten Fall ein Freigelassener. Wenn Harlow mit einem Finger winkte, mußte er zu ihm laufen; wenn ihm Harlow auf einer Autotour telegrafierte, er wünsche ihn an irgendeinem, wenn auch noch so

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unzugänglichen Ort zu treffen, so mußte er alles liegen- und stehenlassen und hineilen. Er, Franklin Ellenbury, Doktor der Rechte, Mitglied der Anwaltskammer, ein überaus feinfühliger und geistreicher Mensch!

Kein Wunder, daß Ellenbury an seinen Fingernägeln kaute und an Schecks und telegrafische Geldanweisungen, an sonnenbeschienene Terrassen und Gemäldegalerien dachte, die er schon längst gern einmal besucht hätte – daß ihm sein Wunschtraum manchmal sogar eine zwischen Florentiner Orangenhainen verborgene Villa mit weißen, von Efeu überwucherten Mauern und grünen Jalousien zeigte, eine Villa, in die er sich zurückziehen konnte, wenn er der Reiselust genug gefrönt hatte.

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen.« Er fuhr, unangenehm berührt, aus seinen Träumen auf. »Jetzt?« Die Uhr auf seinem Schreibtisch zeigte, daß es bereits

nach elf Uhr war. Mit Ausnahme des müden Mädchens lag alles im Hause in tiefstem Schlafe. »Wer sollte mich um diese Stunde noch sprechen wollen? Wer ist es denn?«

»Er wartet draußen in einem großen Wagen.« Er sprang ohne weiteres auf und rannte, wie von Furien

gehetzt, hinaus. Es mußte Harlow sein! Das sah diesem Kerl ähnlich: sich nicht einmal die Mühe zu

nehmen auszusteigen, sondern einfach seinen Sklaven zu seinem Streitwagen zu beordern!

»Sind Sie es, Ellenbury?« Es war in der Tat Harlows Stimme, die aus dem Dunkel des

Wagens sprach. »Jawohl, Herr Harlow.« »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß man bei Ihnen,

wahrscheinlich morgen schon, Nachforschungen wegen dieser

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Frau Gibbins anstellen wird. Carlton wird ganz bestimmt vorsprechen; er hat herausgefunden, daß die Briefe in Norwood aufgegeben wurden. Warum haben Sie das auch nicht in der Stadt besorgt?«

»Ich dachte – ich wollte meine Kanzlei gegen jeden Verdacht schützen...«

»Sie hätten die Briefe dennoch anderswo in der Stadt aufgeben können. Versuchen Sie nicht, die Tatsache abzuleugnen, daß Sie sie abgesandt haben. Geben Sie an, daß Frau Gibbins eine treue alte Hausangestellte Ihrer Familie gewesen sei; Sie erzählten mir doch einmal, daß Sie eine Frau mit ganz ähnlichem Namen in Ihren Diensten hatten.«

»Die ist gestorben –«, begann Ellenbury. »Desto leichter für Sie, zu lügen!« lautete die Antwort. »Ist bei

der ›Rata‹ alles in Ordnung?« »Alles, Herr Harlow.« »Schön!« Der Rechtsanwalt blieb am Fuß der Vortreppe stehen und

blickte dem roten Schlußlicht des Wagens nach. So war Harlow! Er fragte nicht und bat nicht, sondern befahl

nur einfach, sagte bloß: ›Das und das soll geschehen!‹ und hegte niemals den geringsten Zweifel, daß es auch wirklich geschehen würde.

Ellenbury ging langsam in sein Arbeitszimmer zurück, schickte das Mädchen schlafen und beschäftigte sich dann bis zum frühen Morgen mit dem Studium eines Festlandsfahrplans... Paris, München, Madrid, Cordova... Lauter schöne Städte.

Als er an dem Schlafzimmer seiner Frau vorüberging, hörte er sie rufen. Er trat ein.

»Ich fühle mich heute gar nicht wohl«, sagte sie mit ängstlicher Stimme. »Ich kann nicht einschlafen.«

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Er tröstete sie mit gütigem Zuspruch und war nicht sehr beunruhigt, denn er wußte, daß sie noch um zehn Uhr ein Abendessen zu sich genommen hatte, das einem Schwerarbeiter alle Ehre gemacht hätte.

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Harlow hatte mit seiner Warnung recht gehabt; er besaß die Gabe, die Schritte seiner Gegner vorauszusehen. Jim fand sich am nächsten Morgen im Büro des Rechtsanwalts in der Theobald Street ein. Der unerbittliche Sekretär wollte ihn nicht vorlassen, aber der Detektiv zog seine Karte hervor.

»Geben Sie das Herrn Ellenbury. Ich glaube, er wird mich dann empfangen«, sagte er.

Der Sekretär kam schon nach wenigen Sekunden zurück und geleitete ihn in eine Nußschale von Zimmer, das nur wenige Quadratmeter groß war. Ellenbury erhob sich nervös hinter einem kleinen Schreibtisch und reichte dem Eintretenden seine schlaffe, feuchte Hand.

»Guten Morgen, Herr Inspektor«, begrüßte er ihn. »Wir pflegen nicht viele Besuche von Scotland Yard zu erhalten. Was wünschen Sie?«

»Ich bin beauftragt, Nachforschungen im Zusammenhang mit dem Tod einer Frau Gibbins anzustellen«, antwortete der Besucher.

Ellenbury schien gar nicht überrascht. Langsam nickte er. »Sie ist vor einigen Wochen aus dem Regents Kanal gezogen worden; ich erinnere mich des Falles«, sagte er.

»Ihre Mutter, Luisa Gibbins, bezog eine vierteljährliche Rente von dreizehn Pfund, die ihr, soviel ich weiß, von Ihnen angewiesen wurde?«

Das war ein Bluff, der den Mann in Verwirrung bringen sollte, aber zu Jim Carltons Erstaunen nickte Ellenbury nur wieder langsam.

»Ja«, antwortete er, »das ist durchaus richtig. Ich kannte ihre Mutter, eine wirklich brave alte Frau, die einige Zeit bei mir in

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Stellung war. Da sie sehr gut zu meiner Frau war, die schwer leidend ist, zahlte ich ihr schon seit Jahren eine Rente. Ich wußte nicht, daß sie tot ist, bis der Fall der ertrunkenen Putzfrau die Gerichte beschäftigte und auch mich zu Nachforschungen veranlaßte.«

»Die Zahlung ist eingestellt worden, bevor die Tatsachen öffentlich bekanntwurden«, warf Jim Carlton hin, und wieder war er über die Aufnahme seiner Worte verblüfft.

»Die Zahlung wurde aufgeschoben, nicht eingestellt«, erwiderte der Anwalt. »Es war nur ein Zufall, daß das Geld nicht zur üblichen Zeit abgeschickt wurde. Glücklicher- oder unglücklicherweise war ich gerade unpäßlich, als das Geld abgeschickt werden sollte. Am Tage, wo ich wieder ins Büro kam und das Geld anwies, erfuhr ich Frau Gibbins' Tod. Es ist klar, daß die Frau mich von dem Tod ihrer Mutter nicht verständigt, sondern die Tatsache geheimgehalten hatte, um einen finanziellen Vorteil daraus zu ziehen. Wenn sie am Leben geblieben wäre und mir dieser Vorgang bekanntgeworden wäre, hätte ich sie natürlich wegen Unterschlagung belangt.«

Carlton wußte, daß sein Besuch angekündigt und die Geschichte für diesen Fall ausgedacht worden war. Hätte er Ellenbury mit weiteren Fragen zugesetzt, so wäre nur Harlows Argwohn zur Gewißheit geworden. Er konnte seine Erhebungen unauffällig zu einem Abschluß bringen; das tat er auch.

»Ich glaube, das war meine letzte Frage in dieser Angelegenheit«, sagte er mit einem Lächeln. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe, Herr Ellenbury. Sie haben Frau Annie Gibbins nie gesehen?«

»Nie«, antwortete Ellenbury mit solchem Nachdruck, daß Jim von der Wahrheit dieser Versicherung überzeugt sein konnte. »Ich wußte gar nichts von ihrer Existenz.«

Von einem Anwalt zum anderen war nur ein Schritt: Stebbings' Büro war in der Nähe, und dieser Besuch hatte

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wenigstens die angenehme Seite, daß Jim dabei vielleicht Aileen sah.

Sie war ein wenig erstaunt, als er in ihr Zimmer trat. »Herr Stebbings – warum, um Himmels willen...?«Und dann

zerknirscht: »Entschuldigen Sie! Ich bin gar nicht so neugierig, wie es den Anschein hat!«

Stebbings, den nichts überraschen konnte, hörte den Detektiv ohne jede Unterbrechung an.

»Ich sah Herrn Marling ein einziges Mal«, sagte er. »Ein wüster, einigermaßen zügelloser Geselle, der, soviel ich weiß, nach Brasilien ging, von wo er nicht mehr zurückkehrte.«

»Wissen Sie bestimmt, daß er ins Ausland fuhr?« fragte Jim. Herr Stebbings war als Anwalt viel zu vorsichtig, als daß er

irgend etwas bestimmt gewußt hätte. »Er kaufte sich eine Fahrkarte und reiste vermutlich ab; sein

Name stand in der Passagierliste. Fräulein Alice Harlow veranlaßte Nachforschungen; ich glaube, daß sie es gern gesehen hätte, wenn die innige Verbindung zwischen Marling und Herrn Harlow gelöst worden wäre. Das ist, fürchte ich, alles, was ich sagen kann.«

»Was für ein Mensch war eigentlich Marling? Ich weiß, er war wüst und zügellos, aber war er der Typ eines Menschen, der von Harlow beherrscht werden konnte?«

Ein schwaches Lächeln huschte über das herbe Gesicht des Anwalts. »Gibt es jemand auf Erden, den Herr Harlow nicht beherrschen würde?« gab er trocken zurück. »Ich weiß wenig von dem, was sich außerhalb meines Berufes abspielt, aber nach allem, was ich höre, ist Herr Harlow ein Tyrann. – Ich gebrauche das Wort in seinem ursprünglichen, geschichtlichen Sinn«, fügte er hinzu.

Jim machte einen schüchternen Versuch, mehr über Harlow und sein früheres Leben zu erfahren. Aber der Anwalt erwies

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sich als zugeknöpft. Er meinte, daß er alles, was er über seinen früheren Klienten wüßte, sagen würde, wenn die Polizei einen Auftrag des Untersuchungsrichters vorweisen könnte oder irgendeinen anderen umständlichen Gesetzesweg einschlüge sonst aber...

Aileen war nicht da, als er durch ihr Zimmer kam. Er verweilte ein wenig, in der Hoffnung, sie doch noch zu sehen, aber offenbar hatte sie – zu ihrem Ärger, wie gesagt werden muß – im Zimmer des jüngeren Teilhabers zu tun.

Wenig befriedigt verließ er Bloomsbury. An der Ecke des Bedford Place fuhr eine prächtige Limousine

an den Gehsteig heran. Er war so sehr in Gedanken versunken, daß er wohl vorübergegangen wäre, wenn nicht der Mann am Steuer die lange Zigarre aus dem Mund genommen und ihn angerufen hätte. Jim wandte sich jählings um. Er sah die Person, die er zu dieser frühen Stunde am wenigsten in der prosaischen Gegend der Theobald Street zu treffen erwartet hatte.

»So habe ich also doch recht gesehen.« Harlows Stimme klang freundlich. Seine ganze Art war heiter und gut gelaunt. »Das ist ein erfreuliches Zusammentreffen.«

»Für wen von uns?« gab Jim lachend zurück, wobei er seinen Ellbogen auf den Rahmen des offenen Fensters stützte und Harlow ins Gesicht sah.

»Für uns beide, hoffe ich. Steigen Sie doch ein, ich fahre Sie, wohin Sie wollen. Ich habe eine Einladung und einen Vorschlag für Sie.«

Jim machte die Wagentür auf und stieg ein. Harlow war ein ausgezeichneter Fahrer. Er wand sich

geschickt durch das Verkehrsgewühl auf dem Bedford Place. Dann sagte er: »Ist's Ihnen recht, wenn wir zu mir nach Hause

fahren? Vielleicht sparen Sie damit Zeit?« Jim nickte und fragte sich, welcher Vorschlag ihm wohl

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gemacht werden würde. Aber während der Fahrt sprach Harlow nur über ganz gleichgültige Dinge. Anders, sobald sie in die schöne Bibliothek eingetreten waren. Harlow warf seinen Mantel und seinen Hut auf einen Sessel und schob einen anderen für seinen Besucher zurecht.

»Jemand ist Ihnen bis hierher gefolgt«, bemerkte er. »Ich sah ihn. Ein Mann von Scotland Yard! Mein lieber Herr, Sie sind anscheinend der Polizei sehr wertvoll.« Er kicherte bei diesen Worten. »Aber ich trage es Ihnen nicht nach, daß Sie mir nicht trauen. Mein Standpunkt ist: Besser, ein Dutzend unschuldiger Menschen wird von der Polizei überwacht, als daß ein Schuldiger der Festnahme entgeht. Es ist nur manchmal recht bedrückend, zu wissen, daß man unter Beobachtung steht. Ich könnte dem natürlich sogleich ein Ende machen. Der ›Courier‹ ist zu haben – ich könnte diese Zeitung kaufen und euch das Leben recht sauer machen. Ich könnte ein Dutzend Abgeordnete zu einer Anfrage im Parlament bewegen. In der Tat, mein lieber Carlton, es gibt so viele Mittel, euch und euren Chef zu erledigen, daß sie mir im Augenblick gar nicht alle einfallen!«

Und Jim hatte das unbehagliche Gefühl, daß das keine leere Drohung war.

»Ich mache mir aber nicht viel daraus«, fuhr Harlow fort. »Es ist mir etwas lästig, aber noch mehr belustigt es mich. Ich stehe fast über den Gesetzen! Wie dumm das klingt!« Er klatschte mit der flachen Hand aufs Knie, und sein Lachen erfüllte den Raum. »Ich stehe wirklich über den Gesetzen -Sie wissen es! Wenn ich nicht etwas so Dummes anstelle, daß sogar die Polizei die Gesetzesübertretung durchschaut, können Sie mir nichts anhaben!«

Er machte eine Pause, um einen Einwurf abzuwarten, aber Jini war froh, daß sein Gastgeber die Unterhaltung allein bestritt. Ein Diener schob einen Servierwagen herein. Zu Jims Überraschung standen darauf ein Teegedeck, eine Flasche Whisky, Sodawasser und Gläser.

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»Ich trinke nie Alkohol«, erläuterte Harlow. »Wenn ich ›nie‹ sage, so meine ich ›selten‹ . Das Teetrinken dagegen ist mir eine Gewohnheit von früher Jugend an.« Er hob die Flasche. »Sie...?«

»Bitte auch Tee«, antwortete Jim. Harlow neigte den Kopf. Der Diener entfernte sich. Harlow

stellte seine Teetasse auf den Schreibtisch und setzte sich. »Sie sind ein gescheiter junger Mann«, sagte er unvermittelt. Jim lächelte ungläubig. »Ich wünschte, Sie gäben Ihren Verstand zu. Ich kann die

Bescheidenheit nicht leiden, die bis zur Selbstverleugnung geht. Sie sind klug. Ich habe Ihre ganze Laufbahn von allem Anbeginn an mit Interesse verfolgt. Wenn Sie ein gewöhnlicher Polizeibeamter wären, würde ich mich nicht mit Ihnen abgeben. Aber Sie sind etwas anderes.«

Wieder machte er eine Pause, als erwarte er einen Widerspruch. Aber Jim Carlton ließ weder durch eine Geste noch durch ein Wort erkennen, ob er mit diesem Urteil einverstanden war oder nicht.

»Was mich anbetrifft, so bin ich ein reicher Mann«, fuhr Harlow fort. »Ich brauche aber die Hilfe, die gerade Sie mir gewähren können. Sie stehen sich nicht gut, Herr Carlton. Ich nehme an, daß Sie ein jährliches Einkommen von ungefähr zweihundert Pfund haben. Das ist wenig für einen Mann, der früher oder später sein eigenes Heim, seine Familie gründen will...«

Wieder machte er eine Pause, um den anderen zum Sprechen zu bewegen.

Und dieses Mal sprach Jim auch. »Was schlagen Sie vor, um dem abzuhelfen?« fragte er.

Harlow lächelte. »Sie sind sarkastisch. In Ihrer Stimme liegt ein spöttischer Ton. Sie stehen über dem Geld. Sie können es

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sich leisten, darauf zu pfeifen. Aber, mein Freund, Geld ist eine sehr ernste Sache. Ich biete Ihnen fünftausend Pfund jährlich an.«

Er stand auf, um seinem Angebot größeren Nachdruck zu verleihen.

»Und meine Pflichten?« fragte Jim ruhig. Harlow zuckte mit den mächtigen Schultern; tief vergrub er

die Hände in den Hosentaschen. »Meine Interessen wahrnehmen.« Er stieß förmlich keuchend

diese Worte hervor. »Ihren Verstand im Interesse meiner Angelegenheiten verwenden, mich schützen, wenn ich – einen meiner Spaße mache. Ich liebe nun einmal wirklich originelle Späße! Sie sind das einzige, worüber ich lachen kann. Fünftausend Pfund im Jahr und großzügigster Ersatz Ihrer Spesen! Sie sind ein Theaterfreund? Ich will Ihnen ein Stück zeigen, bei dem Sie sich vor Vergnügen wälzen werden! Was haben Sie hierauf zu sagen?«

»Nein«, sagte Jim einfach. »Ich habe für Spaße nichts übrig.«

»Nicht?« Harlow schnitt eine Grimasse. »Wie schade! Eine Million könnte dabei für Sie abfallen. Ich werde Sie gewiß zu nichts zu überreden trachten, was wider Ihre Grundsätze geht – aber schade ist es doch.«

Jims feines Ohr glaubte aus Harlows Worten einen Ton aufrichtigen Bedauerns herauszuhören.

Dieser fuhr rasch fort: »Ich würdige Ihren Standpunkt. Sie haben nicht den Wunsch, in meine Dienste zu treten. Sie haben, sagen wir, etwas gegen mich.«

»Mein Dienst ist mir lieber«, erwiderte Jim. Harlow lächelte wohlwollend. »So habe ich Ihnen nur noch

eines vorzuschlagen: Ich möchte, daß Sie zu dem Dinner und dem Empfang kommen, den ich am kommenden Donnerstag der

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mazedonischen Delegation gebe. Betrachten Sie das als einen Ölzweig!«

Nun lächelte auch Jim. »Ich nehme Ihre Einladung gern an, Herr Harlow«, sagte er. Und dann, ohne eine Pause zu machen: »Wo kann ich Marling finden?«

Kaum waren ihm diese Worte entschlüpft, als er sich wegen dieser Dummheit auch schon verfluchte. Er hatte nicht die leiseste Absicht gehabt, eine, so verrückte Frage zu stellen. Er hätte sich wegen des blöden Einfalls prügeln mögen, der im Bruchteil einer Sekunde den feinen Mechanismus der Nachforschungen in Unordnung brachte.

Nicht ein Muskel in Harlows Gesicht zuckte. »Marling?« wiederholte er. Seine schwarzen Brauen zogen sich zusammen; die blassen Augen blickten ausdruckslos auf den Detektiv. »Marling?« fragte er nochmals. »Wo habe ich nur den Namen schon gehört? Sie meinen doch nicht den Burschen, der mein Erzieher war? Guter Gott! Was für eine Frage! Ich habe seit dem Tage nichts mehr von ihm gehört, da er nach Südafrika oder sonstwohin fuhr.«

»Nach Brasilien«, verbesserte Jim. »Brasilien? Ich weiß nicht recht. Ja, doch – Pernambuco. Er

starb dort an Cholera!« Harlow schob die Unterlippe vor und ging zum Angriff über. »Die Wahrheit ist, daß Marling und ich keine sehr guten Freunde waren. Er behandelte mich wie ein Kind. Ich kann nicht ohne Groll an ihn denken. Marling! Welch unangenehme Erinnerungen dieser Name doch wachruft! Armselige Landhäuser, saubere, nette Gärten – griechische und lateinische Verse – Differential- und Integralrechnung – das ganze Spießrutenlaufen der sogenannten Erziehung, das der armen Jugend nicht erspart bleibt. Warum fragen Sie?«

Jim hatte seine Erklärung schon fertig. Der verlorene Boden war wohl nicht wiederzugewinnen, man konnte aber seine Stellung befestigen, so daß man keinen weiteren Rückzug

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antreten mußte. »Ich hatte in einer einen seiner Kameraden betreffenden

Angelegenheit Nachforschungen anzustellen.« Er nannte einen Namen. Damit befand er sich auf sicherem Grund, denn es war der Name eines Mannes, der gleichaltrig mit Marling und in demselben Semester gewesen war. Jim hatte gerade an diesem Morgen die Hörerverzeichnisse der Universität Oxford durchgelesen. Offenbar sagte Harlow der Name nichts.

»Ich glaube mich zu erinnern, daß Marling von ihm gesprochen hat«, bemerkte er. »Aber zwanzig und etliche Jahre sind eine lange Zeit. Möglicherweise bin ich ganz unbewußt zum Lügner geworden. Soviel ich weiß« – er schüttelte dabei den Kopf -, »ist Marling tot. Aber ich habe keinen sicheren Beweis dafür. Wenn Sie es wünschen, werde ich Nachforschungen anstellen. Die brasilianische Regierung erweist mir fast jeden Gefallen.«

»Sie sind ein glücklicher Mann.« Jim streckte ihm lachend die Hand entgegen.

»Ich frage mich, ob ich es bin.« Harlow sah ihn fest an. »Ich frage mich! Und ich frage mich auch, ob Sie es sind«, fügte er langsam hinzu. »Oder ob Sie es sein werden.«

Jim Carlton vermochte keine Antwort zu geben. Er stand schon auf der Schwelle. Harlow rief ihn noch einmal

zurück. »Ich schulde Ihnen eine Abbitte«, sagte er. Jim vermutete, daß er über das ihm gemachte Angebot

sprechen wollte, aber das war nicht der Fall. »Es war ein hartes und niedriges Geschäft, Herr Carlton aber

ich habe eine Leidenschaft dafür. Solche Methoden waren in den Tagen unserer Väter wirkungsvoll, und ich nahm an, daß sich die menschliche Natur nicht sehr geändert habe.«

Carlton hörte ihm mit wachsendem Erstaunen zu. »Ich

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verstehe Sie nicht ganz...« Harlow zeigte seine Zähne; einen Augenblick leuchteten seine

blassen Augen munter auf. »Nicht Sie waren mir gefolgt – sondern ich Ihnen. Eine garstige Sache. Ich schäme mich.«

Jim hatte schon den halben Weg nach Scotland Yard zurückgelegt, als er die Erklärung für diese geheimnisvolle Entschuldigung fand. Stratford Harlow hatte sein Bedauern wegen des Angriffs seiner gedungenen Strolche auf dem Long Acre ausgedrückt.

Jim blieb stehen und kraulte sich den Kopf. »Dieser Mann macht mir zu schaffen!« sagte er laut.

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Daß Stratford Harlow die mazedonischen Delegierten in seinem Hause an der Park Lane empfing, war keine Sache, die die Londoner Presse besonders interessiert hätte. In einem Absatz von drei Zeilen am unteren Rande einer Spalte wurden Tag und Stunde des Empfangs gemeldet. Jim bedurfte dieser Erinnerung nicht, denn am nächsten Tag brachte ihm die Post ein Schreiben, in dem er um die Ehre seiner Anwesenheit bei dem Empfang gebeten wurde.

»Man hätte Sie auch zum Dinner bitten können«, meinte Elk. »Besonders, da es nichts kostet. Ich möchte wetten, daß diese Vögel ein gutes Kraut rauchen werden.«

»Schreiben Sie und bitten Sie um eine Kiste. Sie werden sie bekommen«, sagte Jim.

Elk seufzte. »Das wäre gegen das Dienstinteresse«, meinte er tugendhaft. »Glauben Sie, ich würde sie bekommen, wenn ich mich auf Sie beriefe?«

»Sie würden die ganze Tabakernte von Havanna bekommen«, sagte Jim. »Am Abend des Empfanges werden übrigens auch für Sie genug Zigarren zu haben sein.«

»Für mich?« Elks Antlitz strahlte. »Er hat mich doch nicht eingeladen.«

»Sie gehen trotzdem«, sagte Jim bestimmt. »Ich möchte gern wissen, was es mit diesem Empfang auf sich hat. Ich denke mir, es muß wunderbar sein, diesen Mazedoniern in den Arm zu fallen, wenn sie einander erschießen wollen. Aber der Grund für diese prunkvolle Veranstaltung ist mir nicht verständlich.«

»Vielleicht hat er ein Mädchen, das er loswerden will«, gab Elk zu bedenken.

»Ihre Gedankengänge sind geradezu armselig«, war Jims

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knappes Urteil. In dieser Woche war Jim in London nicht der einzige Mann,

der schwer zu arbeiten hatte. Jede Nacht ging er mit Elk aus und bezog gegenüber dem neuen Gebäude der ›Rata‹ in der Morgate Street Posten. Jedes Zimmer war hell erleuchtet; Telegrammboten kamen und gingen. Von einem Aushilfsbediensteten, den Jim in das Gebäude gesetzt hatte, erfuhr er, daß Ellenbury, der sonst öffentlich mit dem Unternehmen nicht in Zusammenhang gebracht werden wollte, allnächtlich bis drei Uhr früh in diesem Gebäude arbeitete.

Scotland Yard hatte natürlich Vertrauensmänner in der ganzen Welt. Aus deren Berichten entwickelte sich allmählich ein Bild der Unternehmungen der ›Rata‹ .

»Es ist noch nichts verkauft worden, man schickt sich aber an zu verkaufen«, berichtete Jim seinem Chef. »Es wird das größte Baissemanöver sein, das wir je erlebten.«

Sein Chef war ein Gegner jugendlicher Ubertreibungen. »Wenn es ein Verbrechen wäre, die Kurse hinunterzutreiben,

so würde ich keine Nachbarn mehr haben«, sagte er eiskalt. »Fast jeder Makler hat schon einmal von dieser Frucht genascht. Nach meinen Informationen ist der Markt fest und gesund. Wenn Harlow wirklich etwas mit diesem Coup zu tun hat, dann wird er allem Anschein nach sein Geld verlieren. Warum gehen Sie nicht zu ihm und fragen ihn offen, was er denn damit bezweckt?«

Jim schnitt ein Gesicht. »Ich werde ihn heute abend bei dem großen Empfang sehen«, erwiderte er, »aber ich bezweifle sehr, daß es mir möglich sein wird, mich in sein Vertrauen zu stehlen.«

Elk war kein geselliger Mensch. Es war sein trauriger Ruf, daß es in der ganzen Londoner Polizei keinen Menschen mit weniger Erziehung gab als ihn. Jahr für Jahr war er mit einer geradezu peinlichen Regelmäßigkeit bei der Prüfung durchgefallen, die

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für die Ernennung zum Inspektor notwendig war. Verdienste in der Praxis sicherten ihm schließlich den Rang, den ihm seine theoretischen Kenntnisse nie verschafft hätten.

»Wie werde ich mich ausnehmen?« Er war, für den Empfang festlich gekleidet, zu Jim gekommen

und zeigte sich von hinten und vorn, um den ungewohnten Glanz seiner Abendtoilette wirken zu lassen. Der Frack war zerknittert, die Beinkleider rochen noch nach Benzin. Das Hemd war weich und vom langen Liegen gelb.

»Die weiße Weste macht mir Sorgen«, klagte er. »Mein junges Dienstmädchen sagte mir, weiße Westen trage man nur zur Hochzeit. Aber ich bin überzeugt, die Abendgesellschaft wird sehr elegant werden.«

»Es ist schon recht so, mein Lieber«, meinte Jim begütigend. »Übermäßig elegant sehen Sie allerdings nicht aus, Elk.«

»Man wird mich für einen Kellner halten, das bin ich aber schon gewohnt«, meinte Elk. »Als ich das letztemal bei einer Abendgesellschaft war, ließ man mich Getränke herumreichen.«

»Ich möchte mit Ihnen einen Platz vereinbaren, wo wir uns finden können«, sagte Jim, seinen Frack anlegend. »Das wird vielleicht notwendig werden.«

»Die Bar«, schlug Elk kurz und bündig vor. »Wenn sie es aber Büffet nennen, dann werde ich beim Büffet sein!«

Vor Harlows Haus hatte sich eine kleine Menschenmenge angesammelt. Unter dem gestreiften Zeltdach, unter dem hindurch die Gäste in die blumengeschmückte Vorhalle traten, war eine Gasse frei gehalten. Zum ersten Male sah Jim das Personal des Millionärs in feinen Livreen, mit gepuderten Perücken, seidenen Wadenstrümpfen und Schuhen mit glitzernden Schnallen. Ein riesiger Bursche nahm seine Karte entgegen; er beanstandete nicht das Erscheinen Elks.

»Weiße Westen!« krächzte dieser. »Ich wußte es ja!«

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Die breiten Flügeltüren der Bibliothek öffneten sich. Hier empfing Harlow seine Gäste. Das Dinner war bereits vorüber. Die bevorzugten Gäste, die daran teilgenommen hatten, bildeten einen Halbkreis um ihn. Ein dunkelhäutiger Bulgare mit einem schwarzen Schnauzbart stach am meisten aus der Gruppe hervor.

»Weiße Westen«, murmelte Elk, »und die Bar ist in der Ecke des Zimmers.«

Harlow hatte die beiden bereits erspäht. Obgleich Elk nicht eingeladen war, begrüßte er ihn doch mit aller Herzlichkeit. Seinem Begleiter drückte er warm und fest die Hand.

»Haben Sie Sir Joseph gesehen?« fragte er. Jim hatte den Außenminister nachmittags aufgesucht, um zu

erfahren, ob dieser seine Absichten vielleicht geändert hätte. Sir Joseph war aber bei seinem Entschluß geblieben, nur dem Empfang beizuwohnen. Jim teilte das Harlow mit.

In diesem Augenblick gab es vor der Tür eine lebhafte Bewegung. Er sah den Außenminister eintreten und auf der Schwelle einen Augenblick stehenbleiben, um einem Freund die Hand zu schütteln. Er trug einen Smoking. Die lange schwarze Schleife flatterte künstlerisch auf seiner weißen Hemdbrust. Sir Joseph war als der schlechtest angezogene Mann von London bekannt.

Aber trotz aller äußeren Nachlässigkeit hatte er doch das distinguierte Aussehen eines großen Kavaliers.

Er drückte seinen Kneifer fest und gönnte Jim ein freundliches Lächeln, als er auf den Hausherrn zuging.

»Ich fürchtete schon, nicht kommen zu können«, sagte er mit seiner rauhen Stimme. »Irgendeine dumme Zeitung hat ein lächerliches Gerücht aufgegriffen, das vor Wochen die Runde machte, und ich mußte jetzt im Unterhaus Rede und Antwort stehen.«

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»Für Anfragen ist es aber jetzt schon reichlich spät, Sir Joseph«, meinte Harlow mit einem Lächeln. »Ich dachte immer, daß sie vor der Festlegung der Tagesordnung eingebracht werden müßten.«

Sir Joseph nickte in seiner ruckartigen Weise. »Das schon«, meinte er ein wenig mürrisch, »aber wenn außenpolitische Fragen auftauchen und ein Abgeordneter mich verständigt, daß er die Absicht hat, hierüber eine Anfrage zu stellen, kann sie zu jedem Zeitpunkt vorgebracht werden.«

Mit einer Handbewegung schien er Parlament und lästige Fragen zu verscheuchen.

Jim beobachtete die beiden Männer, wie sie so miteinander sprachen. Sie waren in ein ernstes Gespräch vertieft. Aus Sir Josephs Gesten schloß er, daß der Minister ganz unter dem Eindruck des Themas stand. Dann schritten die beiden durch die Menschenmenge in der Bibliothek und traten ins Vestibül. In geziemendem Abstand folgte ihnen Jim. Er winkte seinen Kollegen vom Büffet herbei. Sich den Schnurrbart wischend, traf Elk mit ihm in dem Augenblick zusammen, als er zur Tür kam.

Noch immer trafen Gäste ein. Das Vestibül war ganz voll von ihnen. Man kam nur langsam vorwärts. Er sah, daß eine Seitentür geöffnet wurde. Wie er über die Köpfe hinweg gewahrte, schlugen Sir Joseph und Harlow die Richtung zu diesem Ausgang ein.

Als der Minister das Haus verlassen hatte, wandte sich Harlow zu den Detektiven um.

»Ein kurzer Besuch«, sagte er, »aber er hat sich gelohnt. Jim trat so rechtzeitig auf die Straße, daß er den Wagen des

Ministers in die Park Lane einbiegen und den Minister mit der Hand winken sah...

»Er war gerade so lange hier, daß eine Notiz in der Zeitung gerechtfertigt ist – und die Mißgünstigen werden glauben, daß

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ich mich nur deshalb um den Besuch bemüht habe. – Sie gehen doch noch nicht?« fragte Harlow.

»Entschuldigen Sie, auch ich habe eine Verabredung – im Parlament«, sagte Jim gut gelaunt.

Harlow lachte. »Ich verstehe. Auch hier waren Sie im Dienst – nicht? Das ist eine weise Vorsicht. Ich weiß jetzt, daß Sie nicht nur ein glücklicher, sondern auch kurzsichtiger junger Mann sind!«

»Wieso?« fragte Jim so scharf, daß Harlow lachte. »Ich werde es Ihnen eines Tages sagen«, gab er zurück. Die zwei Detektive warteten auf ein Taxi, das sie

herbeigerufen hatten; dann fuhren sie zum Parlament, wo gerade im Augenblick ihres Eintreffens der Wagen, der Sir Joseph hierhergebracht hatte, den Parkplatz aufsuchte.

»Ich begreife nicht, Carlton, warum Sie mich von der Gesellschaft losgerissen haben«, brummte Elk. Als aber sein Begleiter schwieg, fragte er besorgt: »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe nur das dunkle Gefühl, daß wir einem Erdbeben entgegengehen – das ist alles«, sagte Jim nachdrücklich.

Dann gingen sie in die Säulenhalle des Unterhauses hinein. Sir Joseph war, wie Ihnen ein Diener sagte, in seinem Büro

und wollte nicht gestört werden. Jim hatte Eintrittskarten. Sie nahmen auf der Galerie Platz.

Das Haus war gut besucht, nur die Bänke der Regierung waren leer. Ein einziger Unterstaatssekretär hatte dort Platz genommen und war in seine Akten vertieft. Augenscheinlich war vor dem Eintreten der beiden Detektive irgendein Antrag eingebracht worden. Der Schriftführer verlas nämlich gerade einen endlosen Abänderungsantrag zu einer Wasser- und Wasserkraft-Gesetzvorlage. In diesem Augenblicke kam Sir Joseph hinter

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dem Sitz des Vorsitzenden hervor und ließ sich schwer auf die Ministerbank fallen. Er rückte seinen horngefaßten Kneifer zurecht und begann ein Bündel von Notizen zu lesen, das er mitgebracht hatte.

Da stand auf den Bänken der Opposition ein Abgeordneter auf. »Herr Vorsitzender, ich möchte an den sehr ehrenwerten Herrn

Außenminister eine Anfrage richten, von der ich ihn schon vorher verständigt habe. Meine Anfrage lautet: Hat der sehr ehrenwerte Herr Minister die Mitteilung im ›Daily Megaphone‹ gelesen, wonach die Beziehungen zwischen der Regierung Seiner Majestät und der französischen Regierung infolge des Kölner Zwischenfalles gespannt sind? Und ist er bereit, uns zu sagen, ob diese Mitteilung mit Wissen und Billigung des Auswärtigen Amtes erschienen ist?«

Sir Joseph erhob sich langsam, nahm seinen Kneifer von der Nase, brachte ihn wieder an seinen Platz, fingerte nervös an den Aufschlägen seines Rockes herum und begann, sich vorbeugend, zu sprechen: »Der sehr ehrenwerte Herr Abgeordnete ist zutreffend unterrichtet.« Stille senkte sich auf das Haus.

In Staunen und Bestürzung sahen die Mitglieder des Unterhauses einander an.

»Zwischen der Regierung Seiner Majestät und der französischen Regierung besteht tatsächlich eine Spannung, die ich als sehr ernst bezeichnen muß. So ernst, daß ich mich verpflichtet gefühlt habe, dem Premierminister zu raten, alle Weihnachtsurlaube in Heer und Flotte rückgängig zu machen, das Empireverteidigungsgesetz wieder in Kraft zu setzen und die Flottenreserve unverzüglich zu mobilisieren.«

Einen Augenblick herrschte Totenstille. Dann wurde wüster Widerspruch laut. Es regnete aufgeregte und entrüstete Fragen. Der Vorsitzende gebot Sille.

Sir Joseph fuhr in seinem ernsten, rauhen Ton fort: »Ich bin nicht geneigt, noch heute nacht weitere Fragen zu beantworten.

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Ich muß die sehr ehrenwerten Mitglieder des Hauses bitten, ihre Stellungnahme auf Montag zu verschieben. Ich hoffe dann, namens der Regierung Seiner Majestät Erklärungen abgeben zu können.«

Und damit wandte er sich trotz aller Zurufe um und verschwand aus dem Saal.

»Guter Gott!« Jim war bis in die Lippen weiß geworden. »Das bedeutet Krieg!«

Elk, der in einen sanften Schlummer verfallen war, erwachte jählings und sah gerade noch, wie sein Kollege von der Galerie eilte. Er folgte ihm durch den Gang zu Sir Josephs Zimmer. Jim klopfte an die Tür. Keine Antwort. Er drückte die Türklinke nieder und trat ein.

Das Zimmer war dunkel und leer. Er raste in den Gang hinaus und bekam einen Diener zu fassen.

»Nein, mein Herr, ich habe Sir Joseph nicht gesehen.« Jini ging in die Säulenhalle zurück. Sie war von den

aufgeregten Mitgliedern des Hauses gefüllt. Der Premierminister befand sich gerade in Westengland; der Erste Lord der Admiralität und der Kriegsminister waren gerade am Nachmittag abgereist, um im Norden Reden zu halten; telefonisch bemühte man sich, die anderen Mitglieder des Kabinetts zu erreichen. Carlton entdeckte niemand, der Sir Joseph nach Verlassen des Saales gesehen hätte. Schließlich stieß er auf einen Schutzmann, der glaubte, er habe den Außenminister aus dem Gebäude herauskommen sehen. Jim überprüfte diese Mitteilung und fand sie bestätigt. Sir Joseph war herausgekommen und hatte vor wenigen Minuten ein Taxi genommen, obgleich sein eigener Wagen auf ihn wartete. Der Detektiv lief zu der Wohnung des Ministers. Dort traf ihn ein neuer Schlag. Der Minister war nicht nach Hause gekommen.

»Sind Sie dessen ganz sicher?« fragte Jim ungläubig. Er vermutete, daß der Butler alle Besucher abweisen sollte.

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»Bestimmt, mein Herr. – Doch warum – was ist denn los?« fragte der Mann, der nun seinerseits unruhig wurde.

Jim hielt sich nicht mit einer Antwort auf. Er und Elk fanden in Whitehall einen Wagen und rasten mit unerlaubter Geschwindigkeit in die Park Lane. Es war ja immerhin möglich, daß sich der Außenminister wieder zu Harlow begeben hatte. Als sie sich dem Haus näherten, schlugen ihnen die Klänge einer Jazzband entgegen. Der Tanz war in vollem Gange, sowohl in der Bibliothek als auch in dem Gesellschaftszimmer, von dem aus man die Park Lane überschaute.

Nach einigem Suchen fanden sie Harlow. Er schien von allen Menschen am erstauntesten zu sein.

»Natürlich ist er nicht hierher zurückgekehrt. Er sagte mir, er wolle ins Parlament und dann zu Bett gehen. Was ist denn geschehen?«

»Sie werden es in den Morgenblättern lesen!« antwortete Jim kurz angebunden.

Er fuhr zum Parlament zurück. Die Abgeordneten strömten eben aus dem Saal. Die Sitzung war vertagt worden.

Während er gerade mit einem ihm bekannten Abgeordneten sprach, kam ein Wagen angefahren. Der Mann, der ausstieg, wurde sogleich stürmisch begrüßt. Es war der Schatzkanzler, ein breitschultriger Mann von gebeugter Haltung, das angesehenste Mitglied des Kabinetts.

»Ja, ich habe bereits alles gehört«, sagte er mit seiner dünnen, kratzbürstigen Stimme. »Wo ist Sir Joseph?«

Er winkte den ihm bekannten Jim Carlton heran. Sich einen Weg durch die den Gang füllenden Menschen bahnend, begab er sich mit ihm in sein Büro.

»Waren Sie im Hause, als Sir Joseph sprach?« fragte er. Jim bejahte. »Erzählen Sie mir, was sich ereignet hat.«

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Kurz, fast wörtlich gab Jim Carlton die merkwürdige Rede wieder.

»Er muß wahnsinnig geworden sein«, erklärte der Schatzkanzler. »An der ganzen Geschichte ist nicht ein wahres Wort! Irgend etwas muß sich mit ihm zugetragen haben, seit ich ihn das letztemal gesehen habe.«

»Kann ein Dementi ausgegeben werden?« Herr Kirknoll biß sich auf die Lippen. »In Abwesenheit des

Premierministers sollte ich es wohl tun, ich kann es aber nicht, ehe ich nicht Sir Joseph gesprochen habe.«

Ein Gedanke schoß Jim durch den Kopf. »Er ist doch nicht krank?«

»Nichts weniger als das«, antwortete der Schatzkanzler. »Er ist der gesündeste Mensch, den ich je gesehen habe. – Ist sein Sekretär im Hause?«

Er läutete und sandte einen Diener auf die Suche, während er sich bemühte, mit den abwesenden Ministern eine telefonische Verbindung herzustellen.

Das Sekretariat in der Downing Street versuchte dasselbe. Aber bis ein Uhr früh gelang es niemand, den Chef der

Regierung zu erreichen. »Daß das in die Zeitungen kommt, ist wohl nicht mehr zu

verhindern?« »Es steht schon drinnen«, gab der Schatzkanzler lakonisch

zurück. »Ich habe soeben ein Exemplar einer Frühausgabe gesehen. Warum er das tat, weiß nur der Himmel! An die Folgen wage ich gar nicht zu denken.«

»Was, glauben Sie, wird die erste Folge von Sir Josephs Rede sein?«

»Die Börse wird natürlich verrückt werden, aber das interessiert uns weniger als die Stimmung in Frankreich. Unglücklicherweise befindet sich der französische Botschafter

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auf einem kurzen Urlaub in Paris.« Jim verließ den Schatzkanzler, der mit Paris ein langes

Gespräch führte. Um drei Uhr früh las er einen Bericht über Sir Joseph Laytons unglaubliche Rede. Die späteren Ausgaben brachten die folgenden Zeilen in fetten Lettern:

Der Schatzkanzler hat uns mitgeteilt, daß der Kölner Zwischenfall im Kabinett niemals erörtert wurde und nicht die geringste Bedeutung hat. Der Schatzkanzler weiß sich Sir Joseph Laytons ungewöhnliche Mitteilung im Unterhaus nicht zu erklären.

Die ganze Nacht hindurch saß Jim auf den Stufen des Hauses des Außenministers. Er wartete – ohne große Hoffnung – auf die Rückkehr Sir Josephs. Er erfuhr, daß der Premierminister mit einem Flugzeug zurückkäme und daß eine Regierungserklärung ausgegeben worden sei, die die Behauptungen des Außenministers dementierte.

Bei Öffnung der Börse kam es an diesem Morgen zu Szenen, wie sie seit dem Ausbruch des Krieges keine Wiederholung mehr gefunden hatten. Durch den Zeitunterschied war es noch zu früh, zu wissen, wie die New Yorker Börse reagiert hatte. Erst um vier Uhr nachmittags erfuhr man, was in Wall Street geschehen war. Alles verkaufte – selbst erstklassige Papiere waren entwertet; der Zusammenbruch einer großen Maklerfirma und ein oder zwei Selbstmorde waren die ersten von der Presse gemeldeten Folgen der Vorgänge an der Börse. In Frankreich war die Börse zu Mittag geschlossen worden, aber auf der Straße wurde weiter verkauft. Ein ausgezeichnetes südafrikanisches Papier, das für den Markt das Barometer abzugeben pflegte, war auf den tiefsten je erreichten Stand gesunken.

Um fünf Uhr nachmittags veröffentlichte die Presse ein von den Premierministern Großbritanniens und Frankreichs unterzeichnetes Kommunique folgenden Inhalts:

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An der Behauptung, daß zwischen den beiden Staaten eine Spannung bestehe, ist kein wahres Wort. Der Kölner Zwischenfall ist vom ersten Tage an als ein ganz belangloses Ereignis aufgefaßt worden. Der britische Außenminister kann seine bekannte Erklärung nur in momentaner Geistesverwirrung abgegeben haben.

Jims Sorgen galten an diesem Tag nicht der Börse mit ihren Kursstürzen, auch nicht dem Vermögen Harlows und seiner Agenten, das mit jeder Minute ins Riesenhafte wachsen mußte. Sein ganzes Interesse galt der Aufhellung des geheimnisvollen Verschwindens Sir Joseph Laytons.

An dem Empfang bei Harlow hatten sehr viele bekannte Persönlichkeiten teilgenommen, darunter auch persönliche Freunde des vermißten Ministers. Sie alle erklärten mit allem Nachdruck, daß er nicht in die Park Lane zurückgekommen sei. Mit ebensolcher Bestimmtheit behaupteten sie, daß Harlow, nachdem Sir Joseph sich verabschiedet hatte, das Haus nicht verlassen habe. Auch die zwei Polizeiposten vor der Tür waren sicher, daß Sir Joseph nicht zurückgekommen war. Man dachte daran, daß sich der Minister in sein in Cheshire gelegenes Landhaus begeben haben könnte. Bald wurde jedoch festgestellt, daß das Haus und die Jagd an einen reichen Amerikaner verpachtet waren.

Nach der Rückkehr des Premierministers aus Paris – er war gleich nach seiner Ankunft in London dorthin geflogen – hatte Jim mit ihm eine Unterredung. Der Chef der Regierung war ebenso müde wie verärgert.

»Sir Joseph Layton muß gefunden werden!« befahl er, mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Ich sage Ihnen das, Carlton, wie ich eben Ihren Vorgesetzten gesagt habe, daß Sir Joseph diese unwahren Behauptungen nur aufstellen konnte, wenn er verrückt geworden ist! Haben Sie Harlow gesehen?«

»Ja, Sir«, antwortete Jim.

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»Hat er Ihnen gesagt, was er mit dem Minister gesprochen hat? Über den Kölner Zwischenfall?«

»Harlow sagte mir, er habe mit dem Außenminister während der wenigen Minuten, die dieser in seinem Hause zubrachte, über Mazedonien und nichts anderes gesprochen. Und wirklich, ich wüßte nicht, wie sie eine längere Unterredung gehabt haben könnten; sie waren nur ein paar Minuten beisammen. Offenbar ging Sir Joseph in ein kleines Zimmer, das Harlow für vertrauliche Konferenzen zu benützen pflegt. Dort mag er ein Glas Wein getrunken haben. Sie sprachen dann über den Empfang, und Sir Joseph beglückwünschte Harlow zu dem Erfolg, die mazedonischen Streitigkeiten beigelegt zu haben. Nach Harlows Mitteilungen muß das Gespräch ganz uninteressant gewesen sein.«

Der Premierminister ging, das Kinn auf der Brust, mit langen Schritten auf und ab.

»Ich verstehe das nicht, ich verstehe das nicht!« murmelte er. Und dann plötzlich: »Finden Sie Sir Joseph Layton!«

Damit war Jim entlassen. Er war verstört, schwer verstört. Gegen seine Unruhe kannte er

nur ein Beruhigungsmittel. Er rief Aileen Rivers in ihrem Büro an und bat sie, mit ihm im Automobilclub eine Tasse Tee zu trinken.

Aileen hatte sich natürlich vom ersten Augenblick an gedacht, daß Jim mit der Aufhellung des Rätsels, das die ganze Welt interessierte, betraut werden würde. Sie erriet auch, warum er sich mit ihr verabredet hatte; der Gedanke, daß sie ihm vielleicht helfen könnte, erfüllte sie mit Genugtuung.

Kaum saßen sie beisammen, so begann Jim auch schon von seinen Sorgen zu erzählen.

»Er kann natürlich entführt worden sein; ich möchte sogar sagen, daß das sehr wahrscheinlich ist. Wir haben uns bemüht, den Chauffeur ausfindig zu machen, der ihn vom Parlament

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weggefahren hat, aber niemand hat sich bisher gemeldet.« »Vielleicht wurde auch der Chauffeur entführt?« warf sie ein. »Vielleicht«, bestätigte er trostlos. »Ich wollte, daß sich

Außenminister nicht so gottähnlich fühlten, daß sie immer allein fahren! Wenn er nur ein paar Minuten gewartet hätte, wäre ich schon bei ihm gewesen.« Dann mit einem Lächeln: »Ich wollte mein Sorgenbündel auf Ihre Schultern legen, aber auch Sie lassen den Kopf hängen.«

»Nicht doch!« widersprach sie mit fester Stimme. Sie überlegte einen Augenblick und fragte dann: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Er sah sie erstaunt und belustigt an. »Wie, um Himmels willen, könnten Sie mir helfen? Ich bin ein Tölpel, ich weiß es, aber ich begreife nicht...»

Dieser Zweifel bekümmerte sie mehr, als er sie kränkte. »Es ist wahrscheinlich recht anmaßend, der Polizei meine

Hilfe anzubieten«, sagte sie mit leisem Spott, »aber ich denke mir, was Sie jetzt brauchen, ist – wie soll ich nur sagen – eine neue Spur?«

»Ehrlich gestanden, ich brauche mehrere neue Spuren«, bekannte er reuevoll.

»Dann will ich Ihnen einen Rat geben. Haben Sie meinen Onkel gesehen?«

Das Kinn fiel ihm herab. Er hatte Arthur Ingle ganz vergessen. Hatte ihn nie mit dem Verschwinden des Ministers in Zusammenhang gebracht.

»Wie dumm ich bin!« stöhnte er. Sie betrachtete ihn aufmerksam, wie wenn sie überlegte, ob sie

zustimmen sollte oder nicht. In Wirklichkeit waren aber ihre Gedanken woanders.

»Ich bin auf meinen Onkel nur gekommen, weil er mich heute früh angerufen hat«, erklärte sie. »Jedenfalls wartete er auf

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mich, als ich zum Frühstück ging. Ich sah ihn zum ersten Male seit der Nacht, als er von Devonshire zurückkam.«

»Was wollte er von Ihnen?« Sie lächelte leise. »Er machte mir den ganz merkwürdigen

Vorschlag, ihm die Wirtschaft zu führen. Dabei bot er mir weit mehr, als ich bei Stebbings bekomme. Er würde übrigens nichts dagegen haben, wenn ich tagsüber meiner bisherigen Beschäftigung nachginge.«

»Sie haben natürlich abgelehnt?« »Ich habe natürlich abgelehnt. Das brachte ihn aber durchaus

nicht aus dem Häuschen. Ich habe ihn noch nie in einer so milden und nachsichtigen Stimmung getroffen..«

»Wie sieht er aus?« fragte Jim; er erinnerte sich des unrasierten Gesichtes, das er durch das Fenster gesehen hatte.

»Sehr gut«, war die überraschende Antwort. »Er erzählte mir, daß er sich damit unterhalten habe, sich alle neuen Schmalfilme von Bedeutung anzusehen, die während seiner Gefängniszeit gedreht worden seien. Er habe sie sich ausgeliehen und einen kleinen Vorführapparat gekauft. – Wie ich weiß, hatte er für den Film immer viel übrig«, fuhr das Mädchen fort, »aber sich tagelang einzuschließen, um sich Filme anzusehen, das ist doch etwas sonderbar. Er hat auch nach Ihnen gefragt.« Sie nickte. »Sie werden sich natürlich fragen, warum er sich nach Ihnen erkundigt hat. Das frage ich mich auch. Er scheint anzunehmen, daß ich eine sehr gute Freundin von Ihnen bin. Er wollte wissen, wie unsere Bekanntschaft zustande gekommen sei. Ich erzählte von Ihrem kleinen Autounfall am Embankment. Und jetzt machen Sie sich auf eine große Überraschung gefaßt.«

»Ich bin es schon.« Mit einem Augenzwinkern fuhr das Mädchen fort: »Er hat

mich gefragt, ob ich glaubte, Sie würden ihn sehen wollen. Er muß plötzlich eine Schwäche für Sie bekommen haben.«

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»Ich kenne den Herrn noch nicht näher«, sagte Jini, »aber das ist eine Unterlassung, die unverzüglich gutgemacht werden soll. Wir wollen gemeinsam hingehen! Er wird daraus natürlich folgern, daß wir verlobt sind, aber wenn Ihnen dieser Fleck auf Ihrer Ehre nichts ausmacht...«

»Ich werde es ertragen«, antwortete Aileen. Arthur Ingle überraschte das Erscheinen seiner Nichte und des

Mannes, mit dem er sich den ganzen Nachmittag in Gedanken beschäftigt hatte, nur einen Augenblick. Jim hatte ihn bis jetzt immer nur ganz flüchtig gesehen. Jetzt wirkte er beinahe gemütlich.

»Wo ist Freund Elk?« fragte er lächelnd. »Ich begreife, daß Sie sich in diesen gefährlichen Zeiten nicht voneinander trennen, wo wahnsinnige Minister durch das Land ziehen und niemand weiß, wann er zur Ministerschaft berufen wird! Sie also sind Herr James Carlton.«

Er öffnete eine silberne Zigarrendose und schob sie Jim hin. »Aileen hat Ihnen, wie ich annehme, gesagt, daß ich Sie sehen

wollte. So ist es. Ich bin ein bißchen Theoretiker, Herr Carlton, und bilde mir ein, daß meine Theorie die richtige ist. Würde Sie es interessieren, sie kennenzulernen?«

Er tat, als ob das Mädchen gar nicht da wäre. Nur einen Stuhl hatte er ihr hingeschoben.

»Ich habe Nachforschungen angestellt«, sagte dieser sonderbare ehemalige Zuchthäusler, »und habe entdeckt, daß sich Sir Joseph in allerlei finanziellen Schwierigkeiten befand. Der Premierminister weiß das nicht, auch die besten Freunde des Verschwundenen ahnen nichts, aber ich bekam einen Wink, daß er unter Geldknappheit leidet und seine Grundstücke in Cheshire stark mit Hypotheken belastet sind. Halten Sie es nicht für möglich, daß die Rede im Unterhaus in der Absicht, die Kurse zu drücken, gehalten wurde und daß Sir Joseph für seine Rolle in dem Spiel reichlich entschädigt wird?«

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Er hatte die Hände aneinander gelegt, die Finger ineinander verkrampft und verlieh jedem Wort durch einen Ruck seiner Hände Nachdruck. Als Jim Carlton ihn so vor sich sah, fiel ihm eine Binde von den Augen. Das Rätsel der Filmvorführungen hinter verschlossenen Türen war für ihn mit einem Schlag gelöst. Und damit waren auch andere Geheimnisse gelöst, ausgenommen das des augenblicklichen Aufenthaltes Sir Joseph Laytons.

Er hörte schweigend zu, während Ingle seine Theorie entwickelte und begründete. Dann sagte er förmlich: »Ich werde Ihre Ansicht meinen Vorgesetzten zur Kenntnis bringen.«

Diese Wirkung seiner Worte hatte Ingle offenbar nicht erwartet. Er schien sich einen Augenblick unbehaglich zu fühlen. Dann fuhr er lachend fort: »Sie finden es wahrscheinlich seltsam, daß ich auf der Seite von Recht und Gesetz und der Regierung stehe! Als ich aus dem Gefängnis kam, fühlte ich mich recht jämmerlich. Elk hat Ihnen vermutlich erzählt, wie ich mich im Zug zum Narren machte. Aber ich habe seitdem viel nachgedacht, Carlton, und ich bin darauf gekommen, daß mein Radikalismus weder meiner Tasche noch meinem Geist zuträglich ist.«

»Sie haben also Ihre Anschauung geändert«, lachte Jim, »und sind im Begriff, ein Mitglied der guten alten Torypartei zu werden?«

»Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen werde«, lehnte der andere belustigt ab, »aber ich habe beschlossen, seßhaft zu werden. Ich bin nicht gerade ein armer Mann. Und für alles, was ich erwarb, habe ich in – Dartmoor gezahlt.« Nur einen Augenblick lang war aus seiner Stimme der alte bittere Tonfall herauszuhören. Er nickte Aileen Rivers zu. »Sie werden doch dieses Mädchen überreden, mir dieses neue Leben möglich zu machen? Ich kann ihr Zögern ganz gut begreifen, jemand die Wirtschaft zu führen, der jeden Augenblick ins Zuchthaus abgeführt werden kann. Ich fürchte, sie glaubt nicht recht an meine Besserung.« Er lächelte

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das Mädchen freundlich an und wandte sein Gesicht wieder Jim zu. »Möchten Sie ihr nicht zureden?«

»Wenn ich sie zu irgend etwas veranlassen könnte, würde ich ihr nicht zu dem zureden, was Sie wollen«, sagte Jim bestimmt.

»Warum nicht?« fragte der andere. »Weil Sie sich irren, wenn Sie glauben, daß für Sie die Gefahr

der Verhaftung nicht mehr besteht. Niemals war diese Gefahr größer als eben jetzt.«

Ingle reagierte nicht darauf. Nur seine Lippen zuckten, ah ob er etwas fragen wollte. Dann schritt er lachend zum Tisch und nahm eine Zigarre aus der Dose.

»Ich werde Sie hiervon leider nicht abbringen können«, sagte er. »Aber Sie irren, Carlton. Die Polizei weiß nichts Belastendes über mich. Möglich, daß sie irgend etwas ausheckt, um mich festnehmen zu können, aber selbst dazu werden Sie all Ihrer Klugheit bedürfen.«

Als Jim und Aileen das Haus verließen, sagte Jim bitter: »Es scheint, daß ich meine ganze Zeit damit zubringe, Leute zu warnen, die am wenigsten gewarnt werden sollten. Es wird gut sein, Aileen, wenn Sie in Ihrer freien Zeit für mich einen Nasenring flechten und mich festhalten.«

Von diesen Worten blieb bei ihr nur die Tatsache haften, daß er sie zum ersten Male bei ihrem Vornamen genannt hatte.

Als sie ihrer Wohnung näher kamen, fragte sie ihn: »Werden Sie Sir Joseph finden?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle stark, daß er noch am Leben ist«, sagte er ernst.

Aber seine Zweifel sollten zerstreut werden, und das auf ganz ungewöhnliche Art. In dieser Nacht schlug ein betrunkener schwarzer Komödiant einem Schutzmann mit einem Banjo auf den Kopf, und dieser unbedeutende Vorfall sollte die erstaunlichsten Folgen haben.

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Es gab Spaßvögel, die ihre Talente dazu verwendeten, die Menschen, die sich vor den Eingängen zu den billigeren Theaterplätzen anstellten, zu unterhalten. Unter diesen Londoner Originalen waren Männer zu finden, die Papier zu phantastischen Figuren zu zerreißen verstanden, Balladensänger, ein Kastagnettensänger und der unvermeidliche schwarze Sänger.

Es war elf Uhr nachts. Schnee fiel in feinen Flocken. Da sah der Verkehrsposten auf der Evory Street eine Gestalt in der Mitte der Fahrbahn daherstelzen. Der starke Verkehr der von den Theatern kommenden Autos brachte ihn in Gefahr, denn der Mann hatte offenbar mehr getrunken, als er vertragen konnte. Er heulte mit hoher Fistelstimme den Schlager des Tages und machte den unbeholfenen Versuch, sich auf dem um seinen Hals gehängten Banjo zu begleiten.

Die Londoner Schutzleute waren weiß Gott geduldig. Wäre die schwankende Gestalt weniger laut gewesen, so hätte sie ihr Ziel wahrscheinlich ohne Zwischenfall erreicht. Denn Trunkenheit an und für sich war nach dem Gesetz kein Vergehen; ein Betrunkener mußte die Herrschaft über sich verloren haben, grobe Ruhestörungen begehen oder die Polizei in der Ausübung ihres Dienstes behindern, um sich strafbar zu machen. Der Schutzmann hatte nicht die Absicht, den geräuschvollen Wanderer zu verhaften. Er ging nur zur Mitte der Straße, um ihn anzuhalten und zur Ruhe zu mahnen. Dabei entdeckte er, daß der Nachtschwärmer ein schwarzgesichtiger Komödiant mit ungewöhnlich weißen Lippen, einem lächerlichen Etonkragen und einem karierten Rock war. Er trug eine Studentenmütze. Auf seinem Banjo brachte er die schauderhaftesten Töne hervor.

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»He, he!« rief ihn der Schutzmann freundlich an. »Ein wenig leiser, junger Mann!«

Eine solche Ermahnung genügte zumeist, um einen derartigen nächtlichen Singvogel zum Schweigen zu bringen. Aber dieser Vagabund pflanzte sich trotzig in der Mitte der Straße auf und lud den Beamten ein, »sich ein wärmeres Klima auszusuchen«. Nicht genug damit, schwang er sein Instrument und ließ es mit einem heftigen Krach auf den Helm des Schutzmannes niedersausen.

»Aha, darauf sind Sie also aus!« sagte der Hüter des Gesetzes, als er seine nun rechtmäßige Beute fest packte.

Ein Zufall wollte es, daß Jim Carlton gerade in der Polizeistation in der Evory Street war, als der Mann hereingebracht wurde. Er sang gar nicht schlecht, war aber derart betrunken, daß Jim kaum den Kopf wandte und das Gespräch nicht unterbrach, das er gerade mit dem diensthabenden Beamten führte. Der Mann wurde rasch durchsucht, wobei er heftigen Widerstand leistete. Ein Name wurde ihm entlockt – seine Adresse gab er aber nicht an -, dann wurde er von einem Schutzmann in den langen Gang gezerrt, in dem die Arrestzellen lagen.

Die Tür von Nr. 7 wurde geöffnet, und er wurde hineingestoßen. Bis zum Schluß hatte er um sein Musikinstument gerungen.

Der Grund für Jims Anwesenheit war eine Besprechung über eine Haussuchung in Greenhart House – ein Plan, der ihm seit kurzem durch den Kopf ging. Das alles wäre im Augenblick der Einlieferung des schwarzgesichtigen Mannes schon erledigt gewesen, wenn er den Beamten, den er sprechen wollte, angetroffen hätte. Jim wartete noch eine Weile, dann ging er wieder zu Sir Josephs Haus. Hier hörte er wie immer: »Vom Herrn Außenminister noch keine Nachricht!«

Der Beamte, den er in der Evory Street hatte sprechen wollen,

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hatte vor dem Polizeigericht als Zeuge zu fungieren. So ging Jim am nächsten Morgen dorthin.

Ehe Jim dem Inspektor seine Angelegenheit vortrug, fragte ihn dieser: »Waren Sie heute nacht anwesend, als der Bursche mit dem schwarzen Gesicht eingeliefert wurde?«

»Ja, ich entsinne mich des geräuschvollen Herrn«, antwortete Jim. »Was ist mit ihm?«

Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, woher er es hat. Der Sergeant hat ihn gründlich untersucht. Er muß es aber irgendwo verborgen haben.«

»Was?« fragte Jim ohne besonderes Interesse. »Rauschgift«, sagte der andere. »Als der Wärter ihn heute

morgen anrief, gelang es ihm nicht, ihn zu wecken. Ich dachte schon daran, den Polizeiarzt zu rufen. Sie haben bestimmt in Ihrem ganzen Leben noch keinen kränker aussehenden Menschen gesehen! Kein Wort ist aus ihm herauszubringen; er sitzt nur immer, den Kopf in die Hand gestützt, auf seinem Bett und stöhnt. Wir mußten ihn gehörig rütteln, um ihn in den Gefangenenwagen zu bekommen.«

Die ersten beiden Fälle waren rasch erledigt. Dann rief ein Schutzmann: »John Smith!«, und herein stolperte, jämmerlich anzusehen, der schwarzgesichtige Komödiant mit so zitternden Knien, daß er zur Anklagebank geführt werden mußte. Die Heiterkeit der vergangenen Nacht war verschwunden. Jim empfand ein ungewöhnliches Erbarmen mit dem armen Wrack.

Der Richter sah über seine Brille hinweg. »Warum wurde der Mann nicht erst gewaschen, bevor man ihn mir vorgeführt hat?«

»Er war zu nichts zu bewegen«, meldete der Wärter. »Wir haben auch nichts, um diese Farbe wegzubringen.«

Der Richter brummte irgend etwas. Der Schutzmann, der den Betrunkenen festgenommen hatte, kam herein und trat an die Barriere. Er schilderte den Vorfall, der zur Verhaftung des

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Mannes geführt hatte. Wieder sah der Richter auf die schlaffe Gestalt auf der Bank.

»Was haben Sie vorzubringen, Smith?« fragte er. Der Mann hob nicht einmal den Kopf. »Weiß man etwas über ihn? Ich sehe, daß seine Adresse nicht

angegeben ist.« »Euer Ehren, er weigerte sich, seine Adresse anzugeben«,

erklärte der Inspektor. »Zwecks weiterer Erhebungen zurückverwiesen!« Der Wärter berührte den Häftling am Arm. Der blickte nun

plötzlich auf, starrte wild um sich und stieß mit heiserer Stimme hervor: »Darf ich fragen, was hier eigentlich los ist?«

Jim traf beinahe der Schlag. Denn der Mann mit dem schwarzen Gesicht war – Sir Joseph

Layton!

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Auch der Richter war starr, obgleich er die Stimme nicht erkannt hatte. Er wollte gerade befehlen, den Mann aus dem Saal zu schaffen, da bahnte sich Jim einen Weg zum Richter und flüsterte ihm etwas zu.

»Wer?« fragte dieser. »Unmöglich!« »Darf ich fragen« – es war wieder der Häftling, der sprach -,

»was das bedeuten soll? Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus.«

Dann schwankte er. Er wäre gestürzt, wenn ihn nicht der Wärter aufgefangen hätte.

»Bringen Sie ihn in mein Zimmer.« Der Richter war aufgesprungen. »Ich unterbreche die Sitzung für zehn Minuten«, sagte er noch, dann verschwand er durch den Vorhang in sein Zimmer.

Gleich danach brachte man den bewußtlosen Gefangenen herein und bettete ihn auf das Sofa.

»Sind Sie Ihrer Sache ganz sicher? Sie müssen sich irren, Herr Carlton!«

»Ich erkenne ihn bestimmt – obgleich sein Schnurrbart wegrasiert ist«, sagte Jim, während er dem Ohnmächtigen ins Gesicht sah. »Das ist Sir Joseph Layton, der Außenminister. Ich kann mich nicht irren, ich kenne ihn zu gut.«

Der Richter trat näher heran. »Fast glaube ich, daß Sie recht haben«, sagte er, »aber wie...« Er beendete den Satz nicht. Bald danach verließ er das

Zimmer, um die Sitzung fortzuführen. Jim hatte einen Schutzmann in eine nahe Drogerie nach Cold Cream geschickt. Mittlerweile war auch der Polizeiarzt eingetroffen. Mit der

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Schminke verschwand auch jeder Zweifel an der Identität Sir Josephs. Sein weißes Haar war gefärbt, sein Schnurrbart wegrasiert worden. Nicht ein Stück seiner Kleidung trug ein Merkmal, wonach man ihn hätte identifizieren können.

Der Arzt streifte ihm den Ärmel hoch und untersuchte seinen Unterarm.

»Er ist durch Injektionen ständig im Rauschzustand gehalten worden«, sagte er, auf eine Reihe kleiner Einstiche deutend.

Jim ließ Sir Joseph in den Händen des Arztes zurück und eilte zum Telefon. Nach wenigen Minuten hatte er eine Verbindung mit dem Premierminister.

»Ich werde in wenigen Minuten dort sein«, sagte der maßlos erstaunte Regierungschef. »Sorgen Sie dafür, daß nichts in die Zeitungen dringt – bitten Sie den Richter, daß er mir zuliebe nichts erwähnt.«

Glücklicherweise war nur ein Polizeiberichterstatter zugegen gewesen. Er hatte aber nichts gesehen, was seinen Argwohn erregt hätte. Seine neugierige Frage, warum denn der Häftling in das Zimmer des Richters gebracht worden sei, konnte durch einen Hinweis auf den Ohnmachtsanfall leicht beantwortet werden.

Sir Joseph war nicht bewußtlos, als der Premierminister kam. Ein Krankenwagen war bestellt worden und stand bereits im Hof. Nach einem vergeblichen Versuch, den Kranken zum Sprechen zu bringen, wurde er in ein Krankenhaus gebracht.

»Ich bin einfach sprachlos«, bekannte der verzweifelte Premierminister. »Ein Negerkomödiant, der einen Schutzmann überfällt! Es ist unglaublich! Sie sagten, Sie waren in der Polizeistation, als er hereingebracht wurde. Haben Sie ihn denn nicht da schon erkannt?«

»Nein, Sir«, versicherte Jim wahrheitsgemäß. »Ich interessierte mich für den Fall nicht besonders – ich hielt den Mann einfach für einen Betrunkenen. Aber eines will ich beschwören: Er stand nicht unter der Einwirkung eines Rauschgiftes, als er

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hereingebracht wurde. Der Inspektor sagte, er röche nach Whisky. Es fiel ihm auch nicht schwer, sich auszudrücken.«

Der Premierminister rang verzweifelt die Hände. »Das geht über meinen Verstand; ich begreife nicht, was sich ereignet haben mag. Die ganze Geschichte ist einfach ungeheuerlich. Mir ist, als ob ich träumte!«

Sobald der Premierminister gegangen war, fuhr Jim in das Krankenhaus, in das der Minister gebracht worden war. Der Inspektor von der Polizeistation in der Evory Street begleitete ihn. Er hatte eine erstaunliche Geschichte zu erzählen.

»Wissen Sie, was ich in seiner Tasche fand?« fragte er. »Mich kann nichts mehr überraschen«, sagte Jim gleichgültig.

»Was war es also? Der Versailler Vertrag?« Der Inspektor schlug sein Notizbuch auf und nahm eine leere,

kleine Karte heraus, auf der nichts zu sehen war als ein paar Kratzer. Der Schreiber hatte sich bemüht, viel auf die kleine Karte zu bringen. Denn Schrift war es, das erkannte Jim bei näherer Prüfung sehr bald. Zwei Worte konnte er entziffern: ›Marling‹ und ›Harlow‹ . Diese beiden Worte waren mit großen Buchstaben eingeritzt. Aber das andere konnte er nicht entziffern. Augenscheinlich war die Botschaft mit einer Stecknadel eingeritzt worden, denn an zwei Stellen war die Karte durchlöchert.

»Der Anfang heißt: ›Wer auch immer...‹«, sagte plötzlich Jim. »›Bitte‹ ist ein weiteres Wort; es scheint unterstrichen zu sein...« Lange studierte er die Karte. Dann schüttelte er den Kopf. »›Harlow‹ ist deutlich, und ›Marling‹ ist deutlich. Was soll man damit anfangen, Inspektor?«

Der Beamte nahm die Karte in die Hand und prüfte sie ebenfalls.

»Ich verstehe nicht, was da geschrieben wurde, und kann auch den Sinn nicht deuten«, sagte er. »Worüber ich mir Gedanken mache, ist, wie das Ding in seine Tasche kam. Es war gestern abend nicht drin, als der Wachtmeister ihn durchsuchte!«

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In den Morgenzeitungen erschien folgende kurze Mitteilung: ›Sir Joseph Layton, der Außenminister, liegt schwer krank in einem Krankenhaus.‹

Diese paar Worte genügten natürlich nicht, die Kurse wieder auf die Höhe zu bringen, auf der sie standen, ehe die Kriegsdrohung die Wertpapiermärkte der Welt wie Kartenhäuser zusammenbrechen ließ. Wenn auch die rückläufige Bewegung in den Kursen der meisten Papiere zum Stillstand gekommen war, so würde es doch noch einige Zeit dauern, ehe sie die frühere Höhe wieder erreicht hatten. Eine Zeitung, die von dem Verdacht nichts ahnte, in dem der Finanzier in gewissen Kreisen stand, interviewte Harlow.

»Ich glaube«, äußerte sich Stratford Harlow, »daß die Wirkungen des Kurssturzes stark übertrieben worden sind. Jede solche Panik hat doch auch irgendwie günstige Folgen. Sie bringt alle schwachen Punkte im wirtschaftlichen Aufbau zutage, bricht schwache Kettenglieder, so daß Handel und Wandel nachher stärker und einheitlicher sind als vor dem Kurssturz.«

»Ist es denkbar, daß der Kurssturz von einigen Börsenjobbern arrangiert wurde?«

»Wie hätte er ohne die Duldung oder die Mithilfe des Außenministers arrangiert werden können, dessen Rede allein ihn verursacht hat?« fragte Harlow dagegen. »Es war für einen verantwortungsbewußten Minister wirklich eine erstaunliche Erklärung. Offenbar war Sir Joseph bereits schwer krank, als er seine Rede im Unterhaus hielt. Man sagt, daß er sich überarbeitet habe. Doch wie dem auch immer gewesen sein mag, er und nur er allein hat den Kurssturz verschuldet.«

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»Kennen Sie Sir Joseph?« »Er war eine Viertelstunde vor seiner Rede in meinem Haus,

gerade in diesem Zimmer«, antwortete Harlow, »und ich kann nur sagen, daß er mir in jeder Hinsicht normal vorkam. Wenn er krank war, so hat er es jedenfalls nicht gezeigt.«

Jim las das Interview mit einem bitteren Lächeln. Harlow hatte vieles gesagt, noch mehr aber verschwiegen. Er hatte nicht von der fieberhaften Tätigkeit des Rata-Syndikats gesprochen, wo eine Woche lang jedes Fenster allnächtlich erleuchtet gewesen war. Er hatte auch davon nichts gesagt, daß jene unglückliche Rede ihm ungeheure Reichtümer eingetragen hatte.

Er wurde aus dem Mann nicht klug. Wenn er, wie Jim überzeugt war, hinter der ganzen Geschichte stand, wenn sein kluger Geist die Finanzpanik ausgedacht und dank geheimnisvoller Mittel herbeigeführt hatte – was hatte er damit letzten Endes gewonnen? Er war bereits einer der drei reichsten Leute Englands gewesen. Er konnte sich auch nicht damit entschuldigen, daß er eine Mammutindustrie zu fördern hatte. Er verfolgte keine Riesenpläne, die sich endlich auswirken sollten. Träumte er von neuen Reichen, die er aus dem unbevölkerten afrikanischen Buschland erstehen lassen wollte? War er ein großer Menschenfreund, der im Dienste der Menschheit ungeheure Mittel brauchte? Der leidenschaftliche Wunsch, Gutes zu tun, hätte die Sache verstehen, wenn nicht gar entschuldigen lassen.

Aber Harlows einziges Ziel war die Ansammlung von Geld. Er war ein Mensch ohne alles soziale Verständnis – die Freuden und Leiden seiner Mitmenschen brachten in ihm keine gleichgestimmte Saite zum Erklingen. Wenn er gab, gab er kalten Herzens, aber auch ohne alle Aufdringlichkeit.

Der Mann gab Jim Rätsel auf. Er konnte den Faden nicht finden, der ihn zur Seele und zu dem Geist geführt hätte, die sich hinter diesen kühlen blauen Augen verbargen.

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Page 174: Der Joker

In dieser Nacht saß er sechs Stunden lang am Bett des bewußtlosen Außenministers. Welch seltsame Geschichte würde der zu erzählen haben? fragte sich Jim. Wie kam er dazu, in den Straßen als betrunkener Komödiant herumzutorkeln und schließlich mit einem Schutzmann in Streit zu geraten, so daß er in eine Gefängniszelle gebracht werden mußte? Hatte er irgendeinen geheimen Makel, den Harlow erfahren und ausgenutzt hatte? Lebte er vielleicht ein Doppelleben? Kaum war Jim dieser Gedanke gekommen, als er ihn auch schon verwarf. Sir Josephs Leben war wie ein offenes Buch; was er seit Jahren tat, konnte Tag für Tag nach den Tagebüchern seines Sekretärs und den Mitteilungen seiner eigenen Kollegen rekonstruiert werden.

Während er die Nachtwache am Krankenlager des Ministers hielt, machte er einen neuerlichen Versuch, die Schrift auf der Karte zu entziffern. Er kam aber nicht weiter. Jim löste sich mit dem Inspektor Wilton von der Polizeistation in der Evory Street bei der Nachtwache ab. Der Arzt hatte gesagt, daß der Minister jeden Augenblick das Bewußtsein wiedererlangen könnte. Obgleich er über diese Vergiftung sehr ernst dachte, wollte er eine vollkommene Genesung doch nicht ausschließen. Es war ein Viertel nach drei Uhr, als der Kranke, der sich bis dahin im Bett herumgeworfen hatte, unzusammenhängende Worte zu stammeln begann, deren Sinn der Detektiv nicht begriff. Dann richtete sich Sir Joseph auf, öffnete die Augen und blickte in dem matterleuchteten Raum umher. Jim, der gerade die Karte beim Lichte einer abgeschirmten Lampe geprüft hatte, steckte sie in die Tasche und näherte sich dem Bett.

Sir Joseph sah ihn erstaunt an. Er kniff die Augen zusammen, als strengte er sich an, sich zu'erinnern.

»Hallo!« kam es dann schwach von seinen Lippen. »Was ist denn geschehen? Ist der Wagen kaputt?«

»Nichts Ernstes, Sir Joseph«, antwortete Jim.

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Wieder wanderten die erstaunten Augen über die nackten Wände des Zimmers. Sie fielen schließlich auf die Fiebertabelle, die an der Wand hing.

»Ist das hier ein Krankenhaus?« »Ja, Sir Joseph«, antworteete Jim. Ein langes Schweigen, ehe der Kranke wieder sprach. »Der

Kopf schmerzt mir höllisch. Können Sie mir irgend etwas zu trinken geben, oder ist das verboten?«

Jim goß Wasser in ein Glas, stützte den Minister und flößte ihm das Wasser ein. Gierig trank der Kranke. Dann sank er mit einem Seufzer in die Kissen zurück.

»Mir ist wohl etwas wirr im Kopf, aber ich könnte schwören, daß Sie ›Carlton‹ heißen«, begann er wieder.

»So heiße ich auch«, antwortete Jim. Der Minister sann nun eine Weile nach. »Nichts gebrochen?« fragte er. »Es war der Wagen, vermute

ich. Ich sagte noch meinem Chauffeur, er solle vorsichtig sein. Die Straße war spiegelglatt.«

Er bewegte zuerst die Beine, dann die Arme. »Nichts ist gebrochen, Sir Joseph«, beruhigte Jim den

Kranken. »Sie haben nur einen kleinen Schock erlitten.« Er hatte bereits dem Arzt geläutet, der im Nebenzimmer

schlief. »Schock... Ich erinnere mich nicht... Und Harlow!« Die

Augenbrauen zogen sich wieder zusammen. »Ein anständiger Kerl, aber zu sehr herausgeputzt. Ich ging doch heute abend in sein Haus? Mazedonier waren dort... Jaja, ich erinnere mich. Wieviel Zeit ist seitdem verstrichen?«

Jim wollte ihm nicht sagen, daß der Besuch bei Harlow schon etliche Tage zurücklag.

»Ja, ich erinnere mich jetzt. Wohin ging ich nur nachher...? Ins

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Page 176: Der Joker

Parlament, denke ich. In meinem Kopf geht es zu wie in einer Mühle. Alles dreht sich.«

Der Arzt kam herein. Der Minister wandte sich an ihn: »Mir ist wieder ganz wohl.

Was war das nur? Ein Schlaganfall?« »Nein, Sir Joseph«, beruhigte ihn der Arzt. Er fühlte den Puls des Patienten und schien befriedigt. »Sir Joseph glaubt, einen Autounfall gehabt zu haben«, sagte

Jim mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern. Der Minister war furchtbar schwach, die Klarheit seines

Verstandes hatte aber nicht gelitten. »Was ist mit mir eigentlich los?« fragte er erregt, als der Arzt

nun das Stethoskop auf seine Brust setzte. »Ich frage mich, ob Sie wohl jemals Rauschgift zu sich

genommen haben?« »Rauschgift?« zischte der alte Mann. »Guter Gott! Was für

eine Frage! Ich nehme nicht einmal Arzneien.« »Dann werde ich Ihnen auch keine Medizin geben. Ihr Herz ist

gesund, Ihr Puls ist gut. Alles, was Sie brauchen, ist Schlaf.« »Und ein bißchen Nahrung«, brummte Sir Joseph. »Ich bin

hungrig wie ein dem Hungertod naher Wolf!« Sir Joseph erhielt etwas heiße, kräftige Hühnerbrühe. Nach

einer halben Stunde war er in ruhigen Schlaf versunken. Der Arzt winkte Jim, er solle mit ihm das Zimmer verlassen.

»Ich denke, Sie können jetzt gehen«, sagte er. »Er erholt sich rascher, als ich gedacht habe. Über sein Abenteuer hat er nichts erzählt?«

»Nichts«, antwortete Jim. Der Arzt sagte sich, daß ihm wahrscheinlich nichts mitgeteilt

würde, auch wenn Sir Joseph die merkwürdigen Umstände seiner Verhaftung und seines Erscheinens vor dem

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Polizeigericht erzählt haben sollte. Schon frühzeitig am nächsten Tag begab sich Jim in die

Downing Street und ließ sich beim Premierminister melden. »Er steht unter dem Eindruck, daß er nach dem Verlassen von

Harlows Haus einen Autounfall erlitten hat. Von seiner Rede im Parlament ist ihm nichts in Erinnerung geblieben. Die Ärzte wollen nicht, daß ihm etwas darüber gesagt wird, ehe er nicht genügend bei Kräften ist. Bezüglich eines Punktes habe ich starke Zweifel, und die möchte ich klären. Dazu wird es aber vielleicht notwendig sein, daß ich mich über die Gesetze hinwegsetze.«

»Was Sie tun, ist mir ziemlich gleichgültig«, erwiderte der Minister. »Aber wir müssen die Wahrheit wissen. Solange nicht die Tatsachen bekannt sind, steht nicht nur Sir Joseph, sondern auch das ganze Kabinett unter einem Druck. Ich werde Weisungen erteilen, daß man Ihnen Blankovollmacht gibt. Ich werde Sie in allem unterstützen, was Sie für notwendig halten.«

Nach dieser ermutigenden Versicherung ging Jim nach Scotland Yard, um die Richtigkeit einer Theorie zu erproben, die er in den dunklen Stunden der Nacht langsam aufgebaut hatte, einer so phantastischen Theorie, daß er selbst sie nicht recht ernst nahm.

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Eines Morgens wurden vierhundertfünfzehn gleichlautende Telegramme aufgegeben :

Überweisen Sie nach Eingang dieser Instruktion telegrafisch über die Lombardbankzweigstelle, Carr Street, alle Gewinne aus der Rata-Transaktion 17.

Rata Diese Telegramme gingen vom Haupttelegrafenamt um drei

Uhr früh ab. Der Leiter der Auslandsabteilung der Lombardbank war ein

alter Freund von Ellenbury, mit dem er früher geschäftlich zusammengearbeitet hatte. Ellenbury fuhr am Nachmittag des nächsten Tages zur Bank und suchte ihn auf.

»Ich erwarte einige sehr hohe telegrafische Überweisungen über die Lombardbank«, sagte er. »Ich wünsche Auszahlung in bar.«

Der auch sonst recht sauer dreinblickende Abteilungschef sah nun noch saurer drein. »›Rata‹ , nicht? Ich wundere mich eigentlich, daß Sie mit diesen Leuten zu tun haben, Herr Ellenbury. Ich nehme fast an, daß Sie nicht wissen, was über diese Leute in der City gesprochen wird...«

Er war ein Freund und offenherzig. Ellenbury hörte ihn sanftmütig an.

»Man kann nicht immer wählen«, entschuldigte er sich. »Der Krieg hat meine Lage gründlich verändert; ich muß leben.«

Der Krieg war ein unfehlbares Argument, um sowohl die geänderten Lebensverhältnisse wie auch die geänderte Moral zu erklären. Der Abteilungschef nahm den Standpunkt des anderen mit Vorbehalt hin.

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»Wieviel hat Harlow bei dieser Spekulation herausgeschlagen?« fragte er, wieder auf das Vorrecht der Freundschaft pochend.

»Ich sage es Ihnen einmal«, lautete die dunkle Antwort des Anwalts. »Jedenfalls erwarte ich große Summen.«

Ellenbury übernahm das in der Lombardbank eingehende Geld erst am nächsten Tag.

Ehe er sich am Morgen dieses Tages in die City begab, ging er rund um seinen verwahrlosten Besitz. Royalton House war ihm mit der Zeit so lieb geworden, daß er es am liebsten mit sich genommen hätte, obwohl es häßlich, traurig und unordentlich war. Doch er mußte sich von hier losreißen.

Er ging zum Haus zurück. Der Wagen, den die ›Rata‹ für ihn gemietet hatte, wartete schon auf ihn. Der Chauffeur wünschte ihm einen guten Morgen und erklärte, daß das Wetter schlechter denn je sei.

Ellenbury ging ohne Antwort zum Frühstück ins Haus. Der Anblick des Wagens hatte ihn auf einen Gedanken gebracht.

Ellenbury kannte eine Garage, die Autos vermietete, ohne erst viele Fragen zu stellen. Die Nova-Garage hatte einen höheren Tarif als alle anderen Unternehmungen dieser Art. Aber dieser höhere Betrag war eine Ausgabe, die sich lohnte. Wenn nämlich zur ›Nova‹ ein Detektiv kam, um zu fragen, wer denn der fremdländisch aussehende Kavalier gewesen sei, der mit einem ›Nova‹ -Wagen von einem Juwelier im Westend mit einem Diamantring, den er gekauft hatte, und einer Perlenschnur, die verschwunden war, weggefahren sei, so stellten sich die Leute von der ›Nova‹ unwissend. Sie erkannten auch die Dame nicht, die mit einem reichen Kaufmann aus Bradford nach Marlow gefahren war und ihn dort im hohen Gras einer Wiese betäubt und ohne einen Pfennig liegengelassen hatte.

Der Wagen kam nachmittags; der Chauffeur war ein kräftiger Mann mit schwarzem Schnurrbart. Er kaute Kaugummi und

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kümmerte sich nur um seine eigenen Angelegenheiten; für nichts sonst hatte er Interesse.

In diesem Wagen fuhr Ellenbury zur Bank. Mit zwei großen Aktentaschen trat er in das Zimmer des Abteilungsvorstandes. Er übernahm die Gelder und bestätigte die Summen auf Grund der telegrafischen Oberweisungen.

Die zu Paketen zusammengepackten Banknoten steckte er in die Aktentaschen.

Es war schon recht dunkel, als er seine Taschen hinausschleppte und im Wagen verstaute.

Er fuhr zu seinem Büro in der Theobald Street. Er war froh, daß er sich für die kleinen Parterrezimmer entschieden hatte, als ihm vor vielen Jahren diese und größere im ersten Stock angeboten worden waren.

Seinen Sekretär hatte er schon früher nach Hause geschickt. Er hatte dem Mann einen vierzehntägigen Urlaub bewilligt und das Gehalt im voraus ausgezahlt. Er öffnete die äußere Tür mit seinem Schlüssel und schleppte die zwei Taschen in sein Zimmer. Hier stand ein funkelnagelneuer Koffer. Auch ein Paß lag in seinem Schreibtisch. Schon vor Wochen hatte er sich einen Paß von einem Herrn ›Jackson‹ beschafft, dessen anderer Name ›Ingle‹ war. Ellenbury verachtete die kleinen Gaunereien, aber da er nun schon auf diesem Weg war, hatte er es nicht bei dem einen Vergehen bewenden lassen. Er hatte sich einen zweiten Paß verschafft, ein Lichtbild von sich eingeklebt, das vor zwanzig Jahren aufgenommen worden war, und einen Namen eintragen lassen, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem seinen hatte.

Er setzte sich neben die zwei vollgestopften Aktentaschen. Ein Gefühl wachsenden Unbehagens überkam ihn. Nicht, daß ihm sein Gewissen zu schaffen gemacht hätte. Auch an seine bettlägerige Frau dachte er nicht einen Augenblick. Daß er ein Unrecht an seinem Brotgeber verübte, freute ihn mehr, als es ihn

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betrübte – wenn ihm überhaupt solche Gedanken kamen. Das Gewicht und diese Masse von Papiergeld! Die

Zollbehörde in Calais oder Le Havre würde sicher seine Taschen durchsuchen, und das Geld würde ihre Aufmerksamkeit erregen. Er konnte natürlich auch mit dem Simplon-Expreß oder dem Riviera-Expreß fahren – dort wurde das Handgepäck nur ganz oberflächlich im Zug durchsucht. Wenn er als Reiseziel Monte Carlo angab, sahen vielleicht die Zollbeamten die Mitführung so großer Beträge als die Tat eines Verrückten an und faßten weiter keinen Verdacht.

Aber sowohl der Simplon-Expreß als auch der Riviera-Expreß waren zu dieser Jahreszeit überfüllt. Ein Abteil konnte auf gar keinen Fall reserviert werden.

Es blieb nur noch eine Möglichkeit. Die Hälfte des Geldes in seinem Reisekoffer unterzubringen, soviel als möglich in seine verschiedenen Taschen zu stopfen und den Rest per Post an Hotels in Frankreich und Spanien zu schicken. Das war natürlich eine langwierige und mühselige Sache. Er ging in das Vorzimmer und holte sich dort eine Anzahl starker Briefumschläge. Er durfte die Briefe allerdings nicht eingeschrieben senden das wäre zu auffällig gewesen.

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Mit einem Kursbuch neben sich machte er sich an die Arbeit. Er schrieb eben auf einen Briefumschlag: ›Hotel Reina Christina, Algeciras‹ . Da hörte er ein Geräusch an der Tür. Ängstlich sah er auf.

Zwei ernste Augen starrten ihn durch das Glasoval an, das einen Einblick in sein Privatbüro gestattete. Er sprang auf, fletschte die Zähne und riß die Tür auf.

Ein Mädchen stand auf der Schwelle. Sie trug eine lange blaue Jacke; in der Hand hielt sie einen tropfenden Schirm. Ellenbury hatte gar nicht bemerkt, daß es regnete.

Sie starrte auf die offenen Taschen, auf die Geldpakete und die Stöße von Briefumschlägen. Aileen Rivers hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so viel Geld gesehen.

»Nun?« Ellenburys Stimme war rauh und heiser. »Ich suchte Ihren Sekretär«, sagte sie. »Die Tür war offen...«

Offen? In der Hast, seine Arbeit zu erledigen, hatte er die äußere Tür nicht zugeschlossen! Er erkannte das Mädchen jetzt.

»Sie sind die Sekretärin von Stebbings«, keuchte er. »Was wünschen Sie?«

Sie entnahm ihrer Mappe etliche Akten. Einige Eingänge zu Mietverträgen des verstorbenen Fräuleins Alice Harlow waren, wie Stebbings entdeckt hatte, bei Ordnung des Nachlasses übersehen worden. Er versuchte, den Brief zu lesen, bemühte sich, nicht an das wichtigste, größte Ereignis zu denken. Zwei Augen hatten ihn durch ein ovales Glas beobachtet, hatten Banknotenpakete in Aktentaschen und Briefumschlägen gesehen!

»Oh!« sagte er uninteressiert. »Ja, ich sehe... Etwas über Mietverträge. Ich werde das morgen machen.«

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»Herr Harlow weiß davon«, sagte sie. »Wir telefonierten mit ihm heute nachmittag. Er bat uns, Sie zu verständigen und ihm dann die Papiere noch heute abend in seine Wohnung zu bringen.«

Er hob den Kopf. »Sie gehen jetzt zu Harlow?« stammelte er. »Ja, ich gehe jetzt in die Park Lane«, antwortete sie. Ellenbury

war wie betäubt. Die Maschinerie seiner Gedanken gehorchte ihm nicht. Irgend etwas war in Unordnung geraten.

»Sie gehen jetzt zu ihm.« Harlow hatte seine gewohnte Bahn verlassen, nur, um sie in

Princetown zu treffen, hatte Nachforschungen anstellen lassen, wo sie wohnte, wo sie arbeitete. Dafür sollte sein Interesse an ihrem Onkel als Erklärung dienen. Ellenbury fand eine andere. Solche Freundschaften pflegten sich sehr rasch zu entwickeln. Ein wirklich hübsches Mädchen... Die Räder in Ellenburys Kopf begannen sich zu drehen, wie verrückt zu drehen.

Die erste Frage, die Harlow stellen würde: ›Haben Sie Ellenbury gesehen?‹

Und ihre Antwort: ›Ja; er hatte ungeheuer viel Geld in zwei Aktentaschen...‹

Er konnte sich die Folgerungen denken, zu denen Harlow gelangen würde.

»Meine Frau ist sehr krank« – die Räder in seinem Kopf begannen zu kreischen -, »sehr krank. Sie hat das Bett seit zwanzig Jahren nicht verlassen.« Seine Unterlippe fiel schmerzlich herab. »Merkwürdig... Ihr Kommen. Gerade heute morgen hat sie nach Ihnen gefragt.«

»Nach mir?« AiJeen traute ihren Ohren nicht. »Ich kenne sie ja gar nicht!«

»Sie kennt aber Sie – kannte Sie schon, als Sie noch ein Kind waren -, kannte Ihre Mutter oder Ihren Vater, ich weiß es nicht genau.« Er fühlte wieder festen Boden unter sich.

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»Merkwürdig... Ich wollte zu Stebbings gehen, um Sie zu bitten... Der Wagen würde Sie wieder zurückbringen.«

»Bitten, Ihre Frau zu besuchen – heute abend?« Ellenbury nickte.

»Aber ich habe versprochen, zu Herrn Harlow zu kommen.« »Dazu haben Sie auch noch Zeit. Es ist eines alten Mannes

Bitte; unvernünftig – ich weiß es.« Er sah sehr alt und gedrückt und unglücklich aus. »Ist es

weit?« Er sagte ihr, wo das Haus läge – beschrieb ihr den nächsten

Weg. Was nachher geschehen würde, wußte er nicht. Das zu überlegen war noch Zeit. Er mußte sie von Harlow – ihrem Geliebten vielleicht – fernhalten. Das vor allem mußte geschehen. Seine Fahrkarten waren bestellt, er reiste mit dem Morgenzug ab. Warum nicht über Ostende? Diese Nebengedanken verwirrten ihn.

»Könnte ich mit Herrn Stebbings telefonieren?« »Ich werde es tun.« Er war nun wieder ganz aufgeräumt. »Sie

können mir diese Taschen packen helfen. Eine Menge Geld, nicht? Alles gehört Harlow. Ein kluger Mann!«

Sie nickte, als sie die Pakete zusammenlas. »Ja – sehr klug.« »Auch ein guter Mensch!« Dessen war sie nicht ganz sicher. Ellenbury dachte, sie wolle

ihre Zuneigung verbergen. Offenbar war sie in Harlow verliebt. Sonst hätte sie ihrem Abscheu Ausdruck geben müssen, war sie doch mit Jim Carlton befreundet. Er war wirklich einer großen Gefahr entronnen.

In dem Augenblick, da das Auto, das die ganze Zeit im Regen gewartet hatte, losfuhr, fiel ihr ein, daß sie hatte telefonieren wollen.

»Ich habe zu Hause Telefon«, beruhigte er sie. In eine Ecke des Wagens gedrückt, zu Füßen die

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Aktentaschen, die gegen seine Knie schlugen, wenn der Chauffeur das Tempo verlangsamte oder beschleunigte, sprach er von seiner Frau. Dabei dachte er aber an das Mädchen an seiner Seite. Das einzige Wesen auf der Welt, das wußte, daß er zwei mit Geld vollgestopfte Aktentaschen hatte. Er durfte nicht mehr an Bankleute, Harlow und gewisse Angestellte der ›Rata‹ denken. Er verscheuchte diese Gedanken. Ein zartes Mädchen stand zwischen ihm und einer wundervollen Zukunft. Gemäldegalerien, Sonnenkringel auf gestreiften Markisen, blühende Blumen unter blauem Himmel, während Nebel und Regen diese schmutzige Stadt noch mehr verdüsterten und Schmutz zu den Fenstern des Autos heraufspritzte.

Sie näherten sich dem Hause. Er beugte sich zum Chauffeur. »Das Haus ist das vierte nach der nächsten Seitenstraße.

Halten Sie beim Gittertor, fahren Sie nicht hinein und warten Sie dann ein paar Minuten.«

Er steckte dem Mann drei Banknoten in die Hand; der gummikauende Chauffeur prüfte sie im Licht des Armaturenbretts und schien befriedigt.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir vor dem Gittertor halten? Der Weg durch den Vorgarten ist ganz kurz – meine Frau ist so nervös; sie fährt bei jedem Laut hoch...«

Aileen hatte nichts einzuwenden. Als sie ausstiegen, machte sie sich erbötig, eine der Taschen zu tragen. Er nahm mit Dank an. Die Tasche war schwerer, als sie gedacht hatte.

»Alles gehört Harlow! Alles Harlow!« murmelte er, als sie durch das Tor schritten. »Einer seiner Spaße!«

»Was verstehen Sie unter ›Spaß‹ ?« fragte sie. »Harlows Spaße... schwer zu erklären.« Der Wind verschlang

einzelne Worte seiner Rede. Sie konnte das Haus sehen; ein Gebäude ohne Leben. »Links- wir gehen zum rückwärtigen Eingang.«

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Sie folgten einem Schlackenweg, der sich zwischen entblätterten Rosenbüschen hinschlängelte. Gerade vor sich sah sie ein kleines Gebäude. Es sei das Kesselhaus für die Gewächshäuser, erklärte er ihr.

»Achtung, zwei Stufen führen hinunter.« Warum gingen sie zu dieser späten Stunde in ein Kesselhaus? Er antwortete auf die Frage, die sie gar nicht gestellt hatte. »Sicher... wegschließen... Taschen!« brüllte er. Der Wind war zum Sturm geworden. Das Geflacker eines

Blitzes überraschte sie; ein Gewitter im Dezember – das hatte sie noch nie erlebt! Ellenbury stellte die Taschen auf den Boden und zerrte an einem rostigen Vorhängeschloß; eine Tür ging kreischend auf.

»Hier!« sagte er. Sie folgte ihm. Er strich ein Streichholz an und entzündete eine Kerze in einer

kleinen Windlaterne. Sie konnte nun ihre Umgebung in Augenschein nehmen. Sie befand sich in einem fensterlosen Ziegelbau. Der Boden war mit Schlacke und zerbrochenen Blumentöpfen bedeckt. Auf einer Bank lagen Töpfe, aus denen Unkraut sproß. Die Ofentür war offen. Auch im Ofen waren Schlacke, Gartenabfälle und Asche zu sehen.

»Warten Sie einen Augenblick; ich hole die Taschen.« Sein Herz schlug so heftig, daß er kaum atmen konnte.

Glücklicherweise konnte sie sein Gesicht nicht sehen, sie wäre sonst erschrocken.

Er stolperte hinaus und warf die Tür zu, stellte die Laterne auf einen Pfosten und suchte das Vorhängeschloß, das er dann einhängte. Sobald er die beiden Stufen hinter sich hatte, rannte er dem Haus zu.

Dort mußte er sich zuerst auf die Stufen setzen und lange rasten, bis er sich beruhigt hatte. Er horchte dann an der Tür,

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öffnete sie, schlich sich in die Halle, schloß die Tür geräuschlos hinter sich und ging auf Zehenspitzen in sein Arbeitszimmer. Er war naß; es schüttelte ihn. Die Aktentaschen glänzten wie Lackleder. Dann legte er seinen Mantel ab und läutete.

Das Mädchen schien überrascht, ihn zu sehen. »Ich dachte, Herr –«,begann sie, doch er fiel ihr ins Wort. »Gehen Sie in mein Zimmer – machen Sie aber keinen Lärm -,

und bringen Sie mir Wäsche und einen Anzug. Sagen Sie meiner Frau, daß ich für einige Zeit verreise.«

Er fachte das schwache Feuer an und wärmte sich die Hände über der Glut. Das Mädchen kam mit einem Bündel Kleidungsstücke, meldete ihm, daß sie Tee bereiten würde, und zog sich zurück.

Ellenbury machte sich daran, die Kleidung zu wechseln. Da schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht mußte er nochmals die Kleidung wechseln, und seine Hose war nicht sehr naß.

Er zog seinen Hausmantel an und starrte dabei sinnend vor sich hin. Im Haus war eine große Axt – wo? Vor der Küchentür. Er ging die Küchentreppe hinunter und kam an dem Hausmädchen vorbei. Die Axt lehnte vor der Küchentür, dort, wo er sie am Morgen gesehen hatte. Er verbarg sie unter seinem Hausmantel und ging wieder hinauf.

»Sie können auf Ihr Zimmer gehen!« sagte er dem Mädchen. Sobald er den Tee getrunken hatte, zog er seinen nassen Rock

wieder an und trat in den Sturm hinaus. Wie unangenehm! Warum ließ man ihn nicht ruhig abreisen –

einen alten Mann, der nur noch wenige Jahre zu leben hatte? Er fand, daß man ihn ungerecht behandelte. Tränen rollten ihm über die Wangen. Harlow trug die Schuld! Zum Teufel mit Harlow! Dieses arme Mädchen, das niemand ein Leid getan hatte, mußte Harlows wegen sterben!

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Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen aus den Augen. Er entfernte das Vorhängeschloß und öffnete die Tür.

Die Kerze war niedergebrannt. Sie flackerte nur noch ein wenig. Aber ehe der letzte Rest des Dochtes in einer blauen Flamme verlöschte, sah er das weiße, vor Entsetzen verzerrte Antlitz des Mädchens. Mit einem Aufschluchzen schwang Ellenbury die Axt.

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Als Elk an diesem Nachmittag in das Büro seines Freundes Jim kam, fand er diesen in das Studium eines vor ihm auf dem Tisch ausgebreiteten Straßenplanes vertieft. Er war augenscheinlich eigens für ihn entworfen oder abgezeichnet worden, denn es fanden sich Kleckse von grüner Tinte darauf, die an Jims Ärmel Spuren zurückgelassen hatten.

»Hauskauf beabsichtigt?« fragte Elk. Jim rollte den Plan sorgfältig zusammen und legte ihn in die

Schreibtischschublade. »Hauskäufe führen bekanntlich zu raschem Wohlstand«, fuhr

Elk fort. »Einer meiner Freunde kaufte in Finchley ein Mietshaus – heute fährt er im eigenen Wagen. Ich kenne einen anderen –«

»Würden Sie mir heute nacht bei einem kleinen Einbruch helfen?« unterbrach ihn Jim.

»Einbrechen ist eine alte Leidenschaft von mir«, antwortete Elk. »Ich erinnere mich, einmal –«

»Ich konnte einst wie eine Katze klettern«, brummte Jim, »obgleich ich noch nie eine Katze als Fassadenkletterer gesehen habe.«

»Besser wäre der Vergleich mit einer Raupe«, schlug Elk vor. »Die hat Saugnäpfe an den Füßen, so daß sie sogar an Glas hinaufkriechen kann. Dasselbe ist's bei den Fliegen. -Wo ist übrigens das Haus?«

»In der Park Lane – darunter mache ich es nicht«, erwiderte Jim. »Ich möchte einmal eines der prächtigsten Häuser Englands besichtigen – den Wohnsitz Stratford Harlows.«

Jim sah durch das Fenster auf das Embankment hinunter, wo, wie stets zu dieser Stunde, Arbeiter heimwärtseilten. Es regnete

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in Strömen, ein starker Wind blies. Der Nebel aber, den der Wetterbericht angekündigt hatte, wollte nicht kommen.

»Die Meteorologen lassen mich sitzen«, bemerkte er. »Wenn kein Nebel kommt, werden wir das Unternehmen auf morgen nacht verschieben müssen.«

Elk, der ganz bestimmte Anschauungen über die Meteorologie hatte, entwickelte sie des langen und breiten. Aber er hatte auch manches Ermutigende zu sagen.

»Nebel ist für einen Einbrecher so überflüssig wie ein verbundenes Auge. Regenwetter, das die Schutzleute in die Toreinfahrten treibt und vom Herumschnüffeln abhält, ist das richtige Wetter für Einbrecher.«

Ein wahrer Wolkenbruch ging nieder, als das Polizeiauto, mit Jim Carlton am Steuer, zum Tor hinausfuhr. An der Ecke der Birdcage Walk traf es ein Windstoß, der es beinahe umwarf. Der Wagen wurde zum Hyde Park Corner förmlich hinübergeweht.

Das Haus Nr. 704 war eines der wenigen Häuser in der Park Lane, die nicht nur nach allen Seiten frei standen, sondern auch noch von einer Mauer umgeben waren. Hinter dem Anbau, in dem die Bibliothek untergebracht war, lag sogar ein kleiner Garten, in dem ein kahler Baum stand. In zwei Minuten waren CarJton und Elk über die Mauer. Sie zogen hinter sich eine Hakenleiter nach, die sie von der Feuerwehr entliehen hatten. Die Oberlichter der Bibliothek lagen in tiefer Finsternis. Ohne große Schwierigkeiten gelangten sie aufs Dach des Anbaus. Hier ließ Jim seinen Kollegen Elk als vorgeschobenen Posten zurück. Er hatte sich hinsichtlich der Schwierigkeiten seiner Aufgabe keinen Täuschungen hingegeben. Alle oberen Fenster waren durch Fensterläden gesichert. Am Nachmittag hatte er aber von einem niedrigfliegenden Flugzeug aus eine Aufnahme von dem Haus machen lassen, auf der er gesehen hatte, daß sich auf dem Dach ein kleiner Ziegelaufbau befand, von dem aus vermutlich eine Treppe in die tieferliegenden Stockwerke führte.

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Jim zog sich bis zur Höhe des ersten Fensters hinauf. Dank den breiten Fenstersimsen war die Kletterei hier eine verhältnismäßig leichte Sache. Er hob die Leiter hoch und hakte sie am Sims des Fensters weiter oben fest. Glücklicherweise befand er sich im Windschatten des Hauses. Der Wind, der um die Ecke pfiff, hinderte ihn nicht sehr.

In zehn Minuten war er auf dem flachen Dach des Hauses. Nicht ohne Schwierigkeit kam er auf seinen Gummisohlen bis zu dem viereckigen Ziegelaufbau. Jetzt fiel ihn der Sturm mit aller Macht an; er war froh, sich an dem Aufbau festhalten zu können.

Wie erwartet, hatte der Aufbau eine feste, abgesperrte Tür. Er lauschte, konnte aber außer dem Heulen des Sturmes nichts hören. Er setzte dann die Untersuchung des Daches fort, wobei er seine starke Taschenlaterne immer nur knapp vor sieh hinleuchten ließ. Hier war nichts zu entdecken. Er kehrte zur Tür zurück, zog aus der Tasche ein Werkzeugetui, entnahm ihm einen Bohrer und trieb diesen in das Holz der Tür. Bald stieß er auf etwas Hartes. Die Tür war also eisenbeschlagen. So steckte er das Werkzeug wieder ein und schwang sich auf den Aufbau hinauf. Er mußte sich am Rande gehörig festhalten, um nicht fortgeweht zu werden.

Das Dach war aus solidem Material. Man hätte einen Vorschlaghammer und viel Zeit gebraucht, um durchzubrechen.

Vielleicht gab es ein nicht genügend gesichertes Fenster. Er erinnerte sich allerdings nicht, eines gesehen zu haben. Er beugte sich über den Dachrand vor und sah in die Seitengasse hinab, die die Park Lane mit der großen Straße verband, in der er das Auto stehengelassen hatte. Er sah einen Mann rasch auf die Haustür zukommen und durch sie verschwinden. Der Schall der zugeworfenen Tür drang zu ihm herauf. Offenbar war es Harlow gewesen; sonst hatte niemand diese eigenartige Bewegung der Schultern beim Gehen. Was hatte er in einer solchen Nacht außer Haus zu tun gehabt? Dann fiel Jim ein, daß

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er ja aus der Richtung seiner Garage gekommen war. Eine Uhr schlug elf. Was sollte er tun? Am besten kehrte er

wohl zu Elk zurück und gestand ihm seinen Mißerfolg ein. Schon war er hierzu entschlossen, als er das Schließen eines Schlüssels und dann Harlows Stimme hörte. Stratford Harlow kam aufs Dach. Jim kauerte sich hinter dem kleinen Aufbau nieder.

»... natürlich regnet es. Natürlich, mein Lieber. Es regnet in London immer. Du bist ja nicht draußen gewesen. Aber ich! Gott, wie es geregnet hat!«

Obgleich dies in klagendem Ton gesagt wurde, schien Harlow doch in bester Stimmung. Es war, als ob er zu einem Kind spräche.

»Hast du deinen Schal? Das ist recht. Und knöpfe deinen Mantel zu. Du hast ja keine Handschuhe! Gott, was für ein Mensch du bist!«

»Ich brauche wirklich keine Handschuhe«, sagte eine andere Stimme. »Mir ist nicht im geringsten kalt. Und, Harlow, darf ich dich noch einmal fragen...«

Die Stimmen wurden undeutlich. Sie entfernten sich von dem Lauscher. Er vermutete, daß die beiden am Geländer entlanggingen. Wenn Harlow keine Lampe hatte, konnte er auch die Leiter nicht sehen. Jim schlich sich leise an dem Aufbau entlang und lugte dann um die Ecke. Er unterschied die Gestalten zweier Männer; sie kamen langsam auf ihn zu. Die Köpfe hielten sie mit Rücksicht auf den Wind vorgebeugt. Rasch versteckte er sich wieder.

»... das kannst du nicht haben. Du liest zuviel und ermüdest dich auch durch das viele Schreiben. Sei vernünftig, mein lieber Marling...«

Marling! Jim hielt den Atem an. Sie waren jetzt so nahe, daß er den einen berühren konnte, wenn er noch einen Schritt machte und die Hand ausstreckte.

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Das Laternenlicht auf der Straße bewirkte, daß sich die beiden Gestalten vom Himmel abhoben. Jim sah, daß Harlow nur ganz wenig größer war als sein Begleiter. Er sah, wie sein Bart im Winde flatterte. Wieder vernahm er Stimmen, als sie umkehrten. Und dann – ein kratzendes Geräusch und ein Ausruf aus dem Mund des Finanziers.

»Was, zum Teufel, war das?« Von tief unten drang der Schall eines Aufschlags herauf. Jim

blieb schier das Herz stehen. Harlow mußte an die Leiter gekommen sein und sie vom Geländer gestreift haben.

»Du mußt etwas hinuntergeworfen haben«, sagte die Stimme des Unbekannten.

»Es fühlte sich wie eine Leiter an«, meinte Harlow. Jim konnte sich vorstellen, wie Harlow nun über das Geländer

starrte. »Was war das?« fragte er nochmals. Jim Carlton sah eine Chance. Er konnte sich um den Aufbau

herumstehlen, durch die Tür schlüpfen, die er offen glaubte, und sich auf und davon machen. Geräuschlos schlich er die Mauer entlang. Da sah er einen breiten Lichtstreifen, der aus der offenen Tür fiel. In diesem Lichtschein mußte er entdeckt werden. Er wartete daher den Augenblick ab, in dem sie ihm den Rücken zuwenden würden. Aber sie zeigten keine Neigung, ihre Stellung zu verändern. Sie standen und sprachen über den Gegenstand, den Harlow in die Tiefe geschleudert hatte.

»Es ist sonderbar«, sagte der große Mann, »ich erinnere mich nicht, daß irgend etwas hier hing, als wir vormittags heraufkamen. – Gehen wir wieder hinunter.«

So war auch diese Gelegenheit vorübergegangen. Jim lauschte. Er hörte die Tritte der Männer, die die Treppe hinuntergingen, den Krach einer Tür, die zugeschlagen wurde. Er war auf dem Dach zurückgeblieben – ohne jedes Mittel, sicher wieder nach

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unten zu gelangen! Elk zu rufen war unmöglich; es hätte Aufmerksamkeit erregt.

Er zog sein Notizbuch aus der Tasche, schrieb eine flüchtige Nachricht hinein, riß das Blatt heraus, wickelte es um ein Geldstück und warf die Botschaft hinunter – dorthin, wo er Elk vermutete.

Er wartete dann beinahe eine Viertelstunde – doch von da unten kam kein Zeichen. Er versuchte nochmals sein Glück bei der Tür, allerdings ohne Hoffnung. Doch zu seinem Erstaunen öffnete sich die Tür, als er die Klinke niederdrückte. Hatte Harlow in der Eile das Absperren vergessen? Das sah ihm nicht ähnlich.

Jim stieß die Tür weiter auf und sah eine Treppe vor sich. Ein schwacher Lichtschein kam aus dem Raum darunter. Er sah den Rand eines Schreibtisches und den Streifen eines roten Teppichs. Geräuschlos stieg er die Stufen hinunter. Dann lugte er um die Ecke.

Das Zimmer war anscheinend verlassen. Ein mächtiger Tisch stand in der Nähe des mit schweren Vorhängen verhüllten Fensters; in einer Ecke war ein leeres lackiertes Bett zu sehen und davor eine halboffene Tür. Das einzige Licht in diesem Raum kam von einer Lampe auf dem Tisch. Er eilte durch das Zimmer und schaltete das Licht aus.

Nun war ein Licht auf dem Treppenabsatz vor der Tür zu erkennen. Er schlich hinaus. Nichts regte sich. Eine Treppe führte in die unteren Stockwerke. Irgend etwas sagte ihm, daß man von seiner Anwesenheit im Hause wußte. Zur Linken war eine andere Tür zu sehen. Der Schlüssel steckte im Schloß. Wer hier eingetreten war, hatte es offenbar so eilig gehabt, daß er den Schlüssel herauszuziehen vergessen hatte. Jim entging die Chance nicht. Er beugte sich vor, griff nach dem Schlüssel und versperrte die Tür. Aus dem Zimmer drang ein erstickter Aufschrei. Jim lächelte, als er nun auf den Zehenspitzen

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hinunterschlich. Der untere Treppenabsatz lag in tiefer Finsternis. Er schaltete

seine Taschenlampe ein und fand mit ihrem Licht in das matterleuchtete Vestibül, das noch vor wenigen Tagen von Trägern der bekanntesten Namen erfüllt gewesen war. Er konnte nichts hören. Rasch schritt er zur Tür und griff nach der Klinke. In demselben Augenblick flog er zurück, als ob er auf eine unsichtbare Kraft gestoßen wäre.

Er lag auf dem Boden – halb ohnmächtig und atemlos. Dann hörte er, daß weiter oben eine Tür aufgemacht wurde und jemand flüsterte. Die Türklinke, die elektrisch geladen war, nochmals zu berühren, konnte den Tod bedeuten. Der Strom, der diese Tür zu einer Todesfalle für jeden Einbrecher machte, der versuchte, wieder aus Harlows Haus hinauszukommen, mußte irgendwo unterbrochen werden können. Er sah zwei weiße Schalter, obgleich in der Halle nur ein einziges Licht brannte, und drehte am oberen. Das Licht verlöschte nicht. Er mußte also den Schalter für den Kraftstrom bedient haben. Vorsichtig, nur mit der Fingerspitze, berührte er die Klinke. Der Strom war wirklich ausgeschaltet. Im selben Augenblick war er auch schon auf der Straße. Mit einem fürchterlichen Krach schlug er die Tür hinter sich zu, um sein Entkommen zu signalisieren.

Er eilte zu seinem Wagen, wo Elk auch gerade ankam. »Ich kam gerade her, um zu sehen, ob Sie vielleicht irgendwie vom Dach heruntergekommen wären«, sagte Elk. »Haben Sie meine Nachricht gefunden?«

»Was für eine? Ich hörte etwas fallen und glaubte, Sie hätten die Leiter hinuntergeworfen.«

Mitternacht war längst vorüber, als Jim vor der Einfahrt zu Scotland Yard hielt.

Der erste, dessen Jim beim Betreten der Halle ansichtig wurde, war Brown.

Jim erschrak. »Ist etwas geschehen?« fragte er.

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»Miss Rivers ist nicht in ihre Wohnung zurückgekehrt«, meldete der Detektiv. »Ich habe mit Stebbings telefoniert. Er erzählte mir, daß das junge Mädchen um sechs Uhr weggegangen sei, um zwei Briefe abzugeben, einen bei Ellenbury, den anderen bei Harlow. Ich rief nun Ellenbury an. Er sagte, Miss Rivers habe ihm den Brief bald nach sechs Uhr ausgehändigt; seitdem habe er sie nicht mehr gesehen.«

Jim Carlton dachte rasch nach. »Mein Gott! Ich dachte gar nicht mehr daran!« rief Elk

plötzlich aus. »An was?« »Er kam unter uns vorüber und ging in die Garage. Ich konnte

den Wagen vom Dach der Bibliothek aus sehen. Es war nicht sein eigener, und ich erkannte Harlow auch erst, als er am Ende des Hofes durch das Gittertor trat. Und lange ist er in der Garage gewesen! Ich möchte wetten...!«

Es bedurfte nur dieses ganz schwachen Anhaltspunktes, um Jim Carlton zum sofortigen Vorgehen zu veranlassen.

Um zwei Uhr früh – Harlow rauchte eben seine letzte Zigarre – erschienen Jim Carlton und Elk bei ihm, gedeckt durch einen Haussuchungsbefehl.

»Wie lustig!« sagte Harlow düster, als er vom Tisch aufstand und Jim das Dokument zurückgab. »Möchten Sie mir nicht an,einem der nächsten Tage eine Abschrift dieses interessanten Dokumentes überlassen? Ich brauche sie für meine Lebensgeschichte.«

»Ersparen Sie sich das Geschwätz, Harlow«, gab Jim rauh zurück. »Unser Besuch ist für Sie nicht viel mehr als eine kleine Unbequemlichkeit. Ich verhafte Sie nicht wegen der an Sir Joseph Layton verübten Gewalttat; ich beschuldige Sie auch nicht des Mordes an Frau Gibbins!«

»Sie sind ebenso gnädig wie rauh!« murmelte Harlow. ›Mord‹

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ist ein böses Wort.« Sein Gesicht war blaß und wies seit Jims letzter Begegnung

mit ihm neue Falten und Furchen auf. »Was wird hier von Mord gesprochen?« Auf den harten Klang dieser Stimme hin drehte sich Jim rasch um. In der Tür stand die strengaussehende Frau Edwins. Er sah sie nun zum ersten Male, konnte sie aber nach Aileens Beschreibung sogleich erkennen. Steif stand sie da, die Hände gefaltet, mit den Augen bösartig blinzelnd. Sie sah bedrohlicher aus als Harlow selbst.

»Was wird da über Mord geredet? Wer ist ermordet worden – ich möchte es wissen«, sagte sie.

Harlow scherzte: »Ihr Stichwort ist nicht ›Mord‹ , Lucy Edwins. Ihre Vorliebe fürs Dramatische wird noch Ihr Ruin sein!« Und er wies sie mit einer Geste hinaus.

Einen Augenblick schien es, als ob sie der gebieterischen Geste nicht gehorchen würde. Sie sah ihn vorwurfsvoll, fast haßerfüllt an, dann aber wandte sie sich steif wie ein Ladestock um und verschwand.

»Jetzt, Herr Carlton, lassen Sie uns in aller Ruhe miteinander reden. Was wollen Sie eigentlich in diesem Hause finden? Ich denke mir, daß es etwas sehr Wichtiges sein wird.«

»›Denke mir‹ !« wiederholte Jim sehr ernst. »Harlow, ich werde meine Karten offen vor Ihnen ausbreiten und Ihnen sagen, was ich zu finden hoffe. Zuerst und vor allem will ich Aileen Rivers finden, die am frühen Abend mit einem Schreiben ihres Chefs hierherkam. Seither wurde sie nicht mehr gesehen.«

Harlow lächelte jetzt nicht. »Wirklich? Seither wurde sie nicht mehr gesehen? Sie wollen also sagen –«

»Einen Augenblick! Ich bin noch nicht fertig. Es wurde beobachtet, daß ein Wagen von Ellenburys Büro in der Theobald Street wegfuhr, in dem Fräulein Rivers saß. Wo ist sie jetzt?«

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Harlow sah ihn fest an. »Ich will nicht sagen, daß ich es nicht weiß – überflüssige Lügen sind eine Dummheit.«

Er zog eine Schublade seines Tisches auf und entnahm ihr einen Schlüsselbund, den er auf die Schreibunterlage legte.

»Sie können jeden Raum in diesem Hause durchsuchen«, sagte er. »Dann sagen Sie mir, ob Sie ebenso klug sind wie ich.«

Die Bibliothek machte nicht viel Arbeit. Jim ging, von Elk gefolgt, die Treppe hinauf. Er kam schließlich ins oberste Stockwerk. Harlow wartete hier schon vor der Tür des kleinen Aufzuges.

»Das ist das Zimmer meiner Haushälterin.« Er wies dabei auf die linke Tür. »Dies ist die Tür, die Sie vor ein paar Stunden zugesperrt haben.«

»Und diese hier?« Harlow drückte auf die Klinke und machte die Tür weit auf.

Das Zimmer sah noch immer so aus, wie Jim es von der Nacht her in Erinnerung hatte. Es war niemand drinnen.

»Wir werden auf dem Dach anfangen«, sagte Carlton. Er erklomm die schmalen Stufen, öffnete die Tür und trat auf das flache Dach hinaus. Er hatte eine starke Lampe bei sich, aber auch hier entdeckte er nichts. Er ging an dem Geländer entlang und kam zu Harlow zurück, der vor der offenen Tür wartete.

»Haben Sie eine Geheimtreppe entdeckt?« Harlow war die Unschuld selbst. »Sie kommen in der Park Lane häufig vor.

Man berührt eine Feder, es klickt, und schon steht man vor einer engen Wendeltreppe, die in einen noch geheimeren Raum führt!«

Jim antwortete auf diesen Hohn nicht, sondern ging hinunter. Er suchte ein Zimmer nach dem anderen ab. Aber von dem Mädchen oder dem bärtigen Mann war nichts zu sehen. Schließlich landete er im Parterre.

»Sind Keller im Hause? Ich möchte sie sehen.«

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Harlow öffnete eine kleine Tür im Vestibül. Sie kamen in einen hohen, mit Fliesen belegten Gang, an dessen Ende die Küche und das Dienerzimmer lagen. Unter einem Steinbogen in der Wand hindurch führte eine Steintreppe in das Kellergeschoß, in dem drei Räume, zwei davon Weinkeller, lagen.

»Das Kellergeschoß muß aber viel größer sein«, meinte Jim nach Beendigung dieser Durchsuchung mißtrauisch.

»Es gibt keine anderen Keller«, erwiderte Harlow mit einem schwachen Seufzer. »Mein lieber Herr, wie argwöhnisch Sie sind! Möchten Sie auch noch die Garage sehen?«

Jim folgte ihm durch die Halle. Man machte sich über ihn lustig – Jim Carlton wußte es, ließ

sich aber dadurch nicht aus der Fassung bringen. »Harlow, wo befindet sich Fräulein Rivers?« Harlow neigte den Kopf. »Wenn Sie mir gestatten, Sie auf eine

ganz kleine Fahrt mitzunehmen, so kann ich Ihnen versprechen, daß ich allen Ihren gegenwärtigen Zweifeln ein Ende setzen werde.«

Sie standen sich Auge in Auge gegenüber – Harlow im grellen Licht, das aus der Garage strömte.

»Ich habe bessere Karten in der Hand – Ihr Bluff imponiert mir nicht«, sagte schließlich Jim.

Ein schwaches Lächeln glitt über Harlows Gesicht. »Wie viele haben das schon geglaubt«, sagte er, »und doch halte ich ständig die besten Karten in der Hand! Und die anderen – wo sind ihre Trümpfe?«

Er öffnete die Wagentür. Einen Augenblick zögerte Jim, dann stieg er ein. Elk folgte ihm. Der große Mann schloß die Tür.

»Ich habe eine hohe Meinung von der Polizei«, sagte er, »aber ich kann mir lebhaft vorstellen, daß Sie jetzt etwas verdutzt dreinschauen werden. Entschuldigen Sie – dies ist Harlows vorletzter Spaß!«

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Er ging um den Wagen herum und tat, als ob er einsteigen wollte. Rasch schritt er aber dann zur Wand, streckte die Hand aus und – die Garage lag in tiefer Finsternis.

Jim sah das Manöver und wollte die Wagentür aufreißen. Es ging nicht. Er wollte das Fenster herunterdrehen – da war das Geräusch einer Maschine zu hören, und der Wagen begann langsam durch den Boden hindurchzusinken. Tiefer, immer tiefer sank der Wagen mit seiner Plattform. Als sein Dach unter das Niveau des Bodens gekommen war, neigte sich die Plattform ein wenig, der Wagen glitt langsam nach vorn und stieß gegen Gummipuffer. Er stand. Nun stieg die Plattform wieder in die Höhe.

Jim hatte das Fenster heruntergedreht. Ein paar Sekunden später war Elk draußen. Jim schaltete die Scheinwerfer ein, so daß der kleine Raum, in den der Wagen gesunken war, nun hell erleuchtet war. Dann kletterte er ebenfalls hinaus.

Noch zwei Autos standen da; eines fesselte besonders seine Aufmerksamkeit – es war ein Mietwagen, mit noch feuchtem Straßenschmutz bespritzt. Augenscheinlich hatte man es hier mit einer Untergrundgarage zu tun, obgleich er in einem Privathaus noch nie eine so teure Einrichtung wie einen hydraulischen Aufzug gesehen hatte. Die Wände waren aus rohem Stein; an einem Ende war eine niedere Eisentür zu sehen, die, soweit er erkennen konnte, nicht versperrt, sondern nur verriegelt war. Vermutlich handelte es sich hier um ein Benzinlager, dachte er.

Er sah Elk an. »Wie dumm kommen Sie sich vor?« fragte er. Elk schüttelte den Kopf. »Ich komme mir nie dumm vor«,

sagte der andere freundlich, »aber natürlich dachte ich nicht, daß das Ende schon so nahe sein könnte.«

»Ende?« Elk nickte. »Nicht meines; auch nicht Ihres. Harlows Ende! Er

ist fertig – was sollte das sonst heißen: sein vorletzter Spaß?« »Sicher ist sein letzter Spaß eine große Sache. Ich möchte

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wetten, daß es der ärgste Spaß ist, den er je gemacht hat. Und ich sage Ihnen –«

Er hielt inne. Beide Köpfe fuhren herum und wandten sich der Stahltür zu. Jemand klopfte.

»Jemand ist hinter dieser Tür«, sagte Elk. »Ich hätte nicht gedacht, daß Harlow auch ein regelrechtes Burgverlies hat.«

Jim eilte zu der Tür, riß den Riegel zurück und öffnete die Eisentür. Ein ältlicher Mann mit wirrem Haar und entsetztem Blick stolperte heraus. Einen Augenblick lang erkannte ihn Jim nicht. Er war ohne Rock, sein Kragen zerknittert. Sein Blick irrte ziellos umher.

»Ellenbury!« stieß Jim endlich hervor. Es war wirklich der Anwalt! Doch was war aus ihm geworden,

seitdem Jim ihn zum letztenmal gesehen hatte? Die weitaufgerissenen Augen starrten einmal den einen, dann den anderen an. Schließlich hob er die Hand zum Mund.

»Wo ist sie?« flüsterte er. »Was hat er mit ihr gemacht?« Jim erstarrte. »Wer – Fräulein Rivers?« Ellenburys Augen blieben an Jim hängen. Er erinnerte sich,

diese Stimme schon einmal gehört zu haben, konnte aber nicht sagen, wo.

»Stebbings' Sekretärin!« krächzte er. »Er nahm die Axt -Harlow!« Der alte Mann tat, als ob er eine Axt schwänge. »Oh... er tötete sie!«

Jim Carlton streckte die Hand aus, um an der Wand eine Stütze zu finden. Aus seinem Gesicht war alles Blut gewichen, er konnte kein Wort hervorbringen. Schließlich übernahm Elk es, die merkwürdige Erscheinung zu befragen.

»Er tötete sie?« Ellenbury nickte. »Wo?«

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»Im Garten... im Kesselhaus. Ich wußte nicht, daß er der Chauffeur war – er hatte einen schwarzen Schnurrbart und fuhr den Mietwagen.«

Elk legte die Hand auf die Schulter des kleinen Mannes. Der fuhr mit einem weinerlichen Aufschrei zurück.

»Hören Sie, Herr Ellenbury, Sie müssen uns alles erzählen, was Sie wissen, und ruhig werden. Niemand tut Ihnen etwas. Hat er Fräulein Rivers getötet?«

Der andere nickte heftig. »Mit einer Axt – meiner Axt; ich sah sie am Boden des Kesselhauses liegen. Sie war sehr schön und weiß, und ich habe gesehen, daß er sie getötet hat, und ging ins Haus zurück, denn ich wollte nicht... wollte nicht...« Er schauderte zusammen und verbarg das Gesicht in den Händen. »Wollte sie nicht so sehen...!«

Er suchte das Schreckbild zu verscheuchen, seine Finger fuhren durch die Luft.

»Gut. Sie sahen sie dann wieder?« fragte Jim mit heiserer Stimme.

Er hatte sie wiedergesehen. »Wo?« »Im Fond des Wagens, wo die Aktentaschen waren – alles

durcheinander, nur über sie war eine Decke gebreitet worden. Ich saß neben diesem Teufel, und er sprach mit mir! So sanft! Mein Gott – man hätte meinen können, daß er noch niemanden getötet habe. Er sagte, daß er mich aufs Land bringen würde wo es mir gutgehen würde. Aber ich fühlte, daß er log – ich wußte, dieser Teufel log und wollte nur neue Glieder für meine Kette schmieden. Hier steckte er mich herein!«

Er schäumte diese Worte hervor und wies dabei mit zitterndem Finger auf die Tür seines Gefängnisses.

»Ellenbury, versuchen Sie doch nachzudenken! Lebt Aileen Rivers?«

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Jim fiel beinahe in Ohnmacht, als der alte Mann das Haupt schüttelte.

»Tot! Tot, tot, tot!« Und er nickte, sooft er das Wort wiederholte. »Meine Axt war vor der Küchentür... Ich sah sie dort liegen, sie war blutig...«

»Hören Sie, Carlton«, sagte Elk. »Ich glaube das nicht! Dieser Vogel ist verrückt!«

»Verrückt! Ich verrückt?« Ellenbury schlug sich auf seine schwache Brust. »Sie ist oben! Ich sah ihn sie hinauftragen und die Frau mit dem gelben Gesicht und der Mann mit dem Bart hießen mich ihnen folgen. Sie ließen mich zuerst hier im Dunkeln und führten mich dann dorthin – sehen Sie!«

Er zog Elk in das kleine Gefängnis. Ein Bett und ein Kleiderschrank standen darin. Ein Teppich bedeckte den Boden.

An der Wand herumtastend, fand er einen Schalter. Er drehte ihn. Den Raum überflutete rosiges Licht.

»Sehen Sie nur – sehen Sie!« Der Anwalt machte die Tür des Kleiderschrankes auf. Auf

dem Boden des Schrankes lag ein Bündel von Kleidungsstücken – Männerkleidung. Ein zerknittertes Hemd, ein Smoking.

»Sir Josephs Sachen!« keuchte Elk.

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»Hier wurde er gefangengehalten«, flüsterte Ellenbury. Der Klang seiner eigenen Stimme schien ihm Furcht einzujagen.

Jim sah eine zweite Stahltür am anderen Ende des Zimmers; sie hatte keinen Riegel, nur ein winziges Schlüsselloch. Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit von dieser Tür abgelenkt.

»Sehen Sie!« Der kleine Mann hatte mit aller Kraft am Kleiderschrank

gezogen, nun schwang dieser heraus wie ein Tor. Dahinter war eine Tür zu sehen.

»Hier – durch diese Tür kam ich. Der Aufzug...« Als Elk lauschte, hörte er das ferne Summen des sich

bewegenden Aufzuges. »In welches Zimmer hat er Fräulein Rivers geschleppt?« fragte

Jim. »Wir haben doch überall nachgeschaut.« »In Frau Edwins' Zimmer. Dort ist ein Schrank. Die

Rückwand aber ist eine Tür. Dahinter ist ein kleines Zimmer...« »Wir müssen von hier hinauskommen, und das schnell«, sagte

Elk und sah sich nach Mitteln zur Flucht um. Die Tür hinter dem Kleiderschrank bot wohl den einzigen

Ausgang. Elk durchsuchte das Auto und fand schließlich den Werkzeugkasten.

»Für eine Weile sind wir in Sicherheit. – Carlton, ist Ihnen im Haus etwas aufgefallen?«

»Mir ist manches aufgefallen. Was meinen Sie?« »Beachten Sie, daß wir Frau Edwins oder Edwards, oder wie

sie heißen mag, nicht mehr gesehen haben, seit Harlow sie aus dem Zimmer gewiesen hat!«

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Das. war Jim nicht aufgefallen; obgleich sie das Haus vom Dach bis zum Keller durchsucht hatten, hatte er die Frau mit den harten Gesichtszügen nicht mehr gesehen.

»Wo sie war«, sagte Elk, »wird auch der andere Bursche gewesen sein, dieser – wie ist nur sein Name – Marling. Und ich weiß ganz gut, wo das war – in dem Aufzug!«

Richtig! Jim hatte den Aufzug gesehen, als Harlow auf dem obersten Treppenabsatz gewartet hatte, danach war er aber verschwunden. Es war ganz leicht, von Stockwerk zu Stockwerk zu gleiten und so den Suchenden zu entgehen.

Die Tür rührte sich nicht; nirgends konnte man einen Hebel ansetzen, und, wenn es auch möglich gewesen wäre, sie hätte gewiß nicht nachgegeben. Sie mußten mit den Werkzeugen das betonverkleidete Mauerwerk angehen.

Diese Arbeit tat Jim Carltons angegriffenen Nerven gut. Der Anwalt kauerte sich auf das Bett und beobachtete sie bei

der Arbeit. Dann brummte er fortwährend vor sich hin. Als Jim einmal in der Arbeit innehielt, hörte er ihn murmeln: »Ein so schönes Mädchen! Und so jung!« Und dann weinte er still vor sich hin.

»Achten Sie nicht auf ihn!« mahnte Elk. »Nur weiter mit der Arbeit!«

Den Beton abzuschlagen war eine harte Sache. Dabei mußten sie besorgt sein, daß der Herr des Hauses sie hören würde. Endlich, nach einer Stunde, hatten sie einen Teil des Mauerwerks unter dem Beton freigelegt. Indem sie Schraubenzieher als Stemmeisen verwendeten, brachten sie den ersten Ziegel aus seiner Lage. Dann konnten sie das Loch erweitern. Der zweiten Ziegellage war schon leichter beizukommen. Aber jetzt sollten sie in dramatischer Weise erfahren, wie sehr Vorsicht not tat.

Jim preßte gerade seinen schartigen Schraubenzieher in eine Fuge, als er eine dumpfe Stimme dicht neben sich sagen hörte:

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»Laß sie nur; sie können bis morgen warten.« Es war Harlow. Das Wunder fand bald eine Erklärung. Der Schall seiner

Stimme hatte sich durch den Aufzugsschacht wie durch ein Sprachrohr fortgepflanzt. Sie hörten eine Gittertür zuschlagen. Der Motor surrte. Der Fahrstuhl hielt gerade über ihnen. Die Tür wurde aufgemacht, und infolge der ganz merkwürdigen Akustik konnte Jim die Tritte des Mannes auf dem fliesenbedeckten Boden des Vestibüls hören.

Sie hatten also bis zum Morgen nichts zu befürchten. Das war für sie eine große Erleichterung. Abwechselnd arbeitend und lauschend entfernten sie die Ziegelreihen, und in einer halben Stunde hatten sie wirklich.ein unregelmäßiges Loch geschlagen, durch das ein schlanker Mann hindurchkriechen konnte. Jim war schlank genug. Er stand nun in dem schmutzigen, öligen Aufzugsschacht und stolperte in der Dunkelheit, die kein Lichtstrahl von oben erhellte, über Balken und Rollen. Er kroch wieder in das Zimmer zurück, um sich eine Lampe zu holen. Nun sah er sich genauer im Schacht um. Der Boden des Fahrstuhls war drei Meter über seinem Standort.

Zwei starke Kabel hingen im Bogen von dem Fahrstuhl herab. Hinauflangend, konnte er das eine gerade erreichen.

Er schilderte Elk die Lage. Nun wurden alle Polster aus den Wagen durch das Loch gezwängt und von Jini übereinandergeschichtet.

Auf diesen Polstern stehend, langte er nach dem Kabel und zog sich nun hinauf. Es gelang ihm, eine Eisenstange zu erreichen, die mit der Sicherheitsbremse verbunden war. Von dort suchte er im Boden des Fahrstuhls nach einer Klappe. Aber augenscheinlich war dieser Aufzug zu klein für eine Mechanikertür. Der Boden gab unter seinem Druck nicht nach. Er überlegte gerade, ob er sich nicht wieder auf seine Kissen

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hinabfallen lassen sollte, da vernahm er rasche Schritte im Vestibül. Jemand trat in den Aufzug. Die Tür wurde zugeschlagen, und rasch ging es nun in die Höhe. Im obersten Stockwerk hielt der Fahrstuhl so unvermittelt, daß Jim beinahe abgeschüttelt worden wäre.

Das obere Stockwerk war nicht so hoch wie die beiden unteren. Wie er so hing, waren seine Knie gerade in der Höhe des oberen Randes der Schachttür im zweiten Stockwerk. Vielleicht gelang es ihm, über die halbhohe Gittertür zu klettern. Die Sache war den Versuch wert. Er glitt langsam an dem Kabel hinunter, bis er schwingend die Gittertür erreichen konnte. Dann nahm er alle Kraft zusammen, schnellte sich vor und klammerte sich an dem brusthohen Gitter fest. Im Nu war er über das Gitter geklettert.

Geräuschlos schlich er die Treppe hinauf. Beinahe hätte ihn die große Frau entdeckt, die auf dem Treppenabsatz stand und ihr Ohr an die Tür gepreßt hielt, hinter der, wie er vermutete, Aileen gefangengehalten wurde. Durch die Biegung der Treppe gedeckt, konnte er Harlows tadelnde Stimme hören.

»... so theatralisch! Ich bin nicht empört, aber beleidigt! Botschaften auf eine Karte zu schreiben – wie dumm! Noch dazu mit einer Nadel! Wenn ich gewußt hätte...«

Eine aufgeregte, aber gemurmelte Antwort war zu hören. Dann lachte Harlow auf. »Jaja, du bist ein verrückter Bursche;

das ist alles, was ich zu sagen habe. So etwas darfst du nicht wieder tun. Zum Glück konnte die Polizei das Gekritzel nicht enträtseln.«

Jim hatte die Existenz des bärtigen Mannes beinahe schon vergessen. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und schlich rasch die Treppe bis ins Vestibül hinunter. Die Zeiger der kleinen silbernen Uhr wiesen auf fünf Uhr.

Der Fahrstuhl kam wieder herunter. Sich in einen Winkel drückend, sah Jim den hochgewachsenen Mann in die

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Bibliothek gehen. Die Tür machte er hinter sich zu. In einer Sekunde war der Detektiv im Aufzug. Er drückte den

Knopf für das oberste Stockwerk. Wenn Aileen hier war, würde er sie finden. War sie hier und –

tot? Er schloß die Augen, um nicht das entsetzliche Bild zu sehen, das der Anwalt vor ihm entworfen hatte: die Axt... das blutige Antlitz!

Gerade als der Fahrstuhl das oberste Stockwerk erreichte, geschah etwas, wofür Carlton ein paar Sekunden lang vergeblich nach einer Erklärung suchte: Die Lampe an der Decke der Kabine verlöschte.

Er rüttelte an dem Gitter. Es gab nicht nach. So war er innerhalb von drei Stunden zum zweitenmal in die

Falle gegangen. Jim fluchte. Die Tür, die auf die Straße führte, wurde geschlossen ; er hörte es. Dann war Stille.

»Elk!« Aus weiter Ferne kam Elks dumpfe Antwort. »Er hat den Strom ausgeschaltet. Können Sie bis zur Halle

klettern?« »Ich werde es versuchen.« Gerade ihm, dem ohnmächtig Gefangenen, gegenüber war die

Tür zu Frau Edwins' Zimmer. Wie er so die Tür anstarrte, sah er, daß die Klinke langsam – ganz langsam – herabgedrückt wurde. Frau Edwins?

Die Türe öffnete sich ein wenig – noch etwas mehr. Dann trat – Aileen Rivers heraus.

»Aileen!« schrie er heiser auf. Sie sah ihn, wie er das Gitter krampfhaft umfaßt hielt und das

verstörte Gesicht gegen die Gitterstäbe preßte. »Der verliebte Detektiv!« sagte sie, tapfer ihre Rührung

beherrschend, und dann: »Bitte – bringen Sie mich heim!«

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»Wer hat Sie hierhergebracht?« fragte er. Ich kam aus eigenem, freiem Willen – oh, Jim, er ist ein so

lieber Mensch!« »O Gott!« seufzte Carlton in seinem Gefängnis. »Und ich habe

das nie bemerkt!«

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Nahezu zwölf Stunden vor diesem so ergreifenden Augenblick hatte sich ein gummikauender Chauffeur in einer merkwürdigen Lage befunden.

»Ein Verrückter und ein ohnmächtiges Mädchen!« brummte der Chauffeur. »Da bin ich in arger Verlegenheit.«

Er bückte sich, hob das Mädchen auf und schwang es über seine Schulter. Mit der freien Hand aber zerrte er den verstörten Anwalt empor.

»Sie haben mich erschlagen!« wimmerte Ellenbury. »Sie leben ja«, meinte der Chauffeur gleichmütig. »Was

beweist, daß ich Sie nicht erschlagen habe.« »Sie haben mich aber getroffen!« Der Chauffeur wurde ungeduldig. »Vorwärts, Blaubart!«

befahl er. Augenscheinlich fiel dem Chauffeur eine Last von sechzig

Kilo nicht zu schwer, denn wie er so hinter dem weinenden kleinen Mann, den er mit einer Hand am Kragen gepackt hielt, dahinschritt, pfiff er leise vor sich hin.

Über die steinernen Stufen ging's hinauf und dann hinein in die Halle. Das Hausmädchen kam um die Ecke und fiel vor Schreck beinahe die Küchentreppe hinunter, denn so etwas hatte sich in Royalton House noch nie ereignet.

Der Chauffeur bettete das Mädchen in einen Sessel. Sie hatte die Augen aufgeschlagen und fühlte sich todkrank.

»Da hilft nichts als eine Tasse Tee«, meinte der Chauffeur und rief das Hausmädchen so gebieterisch herbei, daß sie ihren Herrn gar nicht anzusehen wagte. Er war ganz zusammengesunken. Mit der Hand hielt er immer noch den

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nassen Stil der Axt umklammert. Der kleine Mann bot ein recht trauriges Bild.

»Sie täten gut, die Axt wegzulegen«, rief der Chauffeur. Erst jetzt wurde sich Aileen seiner Gegenwart bewußt. Er hatte

einen komischen Schnurrbart, schwarz, borstig wie bei einem Walroß. Und wenn er sprach, bewegte sich der Schnurrbart auf und ab. Ihr war zum Lachen, doch sie wußte, daß jedes Lachen hysterisch geklungen hätte. Ihre Augen glitten über die Axt – eine greuliche Axt, der Stiel naß, schlüpfrig. Es schauderte sie. Ihre Blicke wandten sich wieder dem Chauffeur zu; wie er sprach – das erinnerte sie an jemand. Sie bemerkte, daß auch er sie beobachtete. Das erfüllte sie mit großem Unbehagen.

»Sie werden mir helfen müssen, junge Dame«, sagte der Mann ernst.

Sie nickte. Natürlich wollte sie ihm helfen, wäre sie doch ohne ihn gar nicht mehr am Leben.

Der Chauffeur ließ seine Augen über Ellenbury gleiten. »Pfui Teufel – ein Treubruch!« sagte er vorwurfsvoll, und mit einer fast schmerzlichen Gebärde strich er sich den Schnurrbart. »Gott sei Dank, das wäre vorüber!« fuhr er fort und rückte sich einen Stuhl ans Feuer. »Ich war der ›Nova‹ einmal sehr nützlich, die ›Nova‹ hat heute ihre Schuld bezahlt und dabei einen Kunden verloren. – Warum legen Sie nicht Ihren Hausmantel ab? Er trieft ja!«

Er warf einen Blick auf die Axt, die am Kamin lehnte, streckte die Hand danach aus, erfaßte sie, legte sie auf seine Knie und prüfte die Schneide.

»Nicht sehr scharf, aber doch recht wirkungsvoll«, fuhr er fort und legte seine schwere Hand dem zurückschreckenden Mann auf die Schulter. »Mein lieber Ellenbury, Sie haben geträumt!«

Ellenbury sagte nichts. »Garstige Träume – nicht? Mein Fehler. Ich habe Sie immer in

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einer Art Spannung gehalten – ich hätte dem schon vor Monaten ein Ende machen müssen.«

Nun begann Ellenbury zu sprechen; es war ein Flüstern. »Sie sind Harlow?«

»Ich bin Harlow – ja.« Die zwei Aktentaschen beachtete er gar nicht; er hatte einen flüchtigen Blick auf sie geworfen und dann keinen mehr. »Harlow der Prächtige, der Noble. Der Räuberbaron aus der Park Lane. Das ist ein guter Titel, merken Sie sich ihn, wenn Sie einmal meine Lebensgeschichte schreiben wollen!«

Harlow sah auf das Mädchen und lächelte. Es war ein sehr freundliches Lächeln. Ellenbury leistete keinen Widerstand, als ihm der große Mann den nassen Hausmantel auszog und seinen Rock einladend hinhielt.

»Ziehen Sie die Schuhe aus.« Der alte Mann gehorchte; immer gehorchte er Harlow. »Wann reisen Sie ab?« »Morgen.« »Eine Aktentasche voll Geld ist für jeden Menschen genug«,

sagte Harlow. »Sie sollen wählen dürfen.« »Nein, es gehört Ihnen!« Ellenbury brüllte das beinahe hinaus. »Nein, es gehört niemand. Geld gehört dem Menschen, der es

gerade hat. Das ist meine Philosophie. – Sie fahren in die Schweiz, so hoch hinauf wie Sie können. Sankt Moritz ist ein sehr hübscher Ort. Wahrscheinlich sind Sie verrückt. Ich glaube bestimmt, daß Sie es sind. Aber Verrücktheit ist nicht im täglichen Verkehr mit anderen Narren zu heilen. Es wäre zu blöd, Sie in ein Irrenhaus einzusperren – blöd und schlecht. Und Sie werden sich nicht mehr vornehmen, jemand zu töten, Ellenbury! Sie dürfen über Mord nicht mehr nachdenken. Sie dürfen – nicht – mehr – an – Mord – denken!«

»Nein!«

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Der alte Mann heulte jämmerlich. »Unser Freund Ingle fährt morgen auf den Kontinent schließen

Sie sich ihm an. Wenn er von Politik zu faseln anfängt, ziehen Sie die Notbremse und lassen ihn verhaften.«

Aileen fühlte, daß er sprach, um seine Gefühle zu verbergen. Als das Mädchen endlich den Tee brachte, atmete sie auf.

»Trinken Sie das heiß«, gebot er. Nachdem das Mädchen gegangen war, rückte er näher zu Aileen und senkte seine Stimme. »Er reagiert auf nichts. Haben Sie das bemerkt? Keine Reaktion – nichts. Ich will es nicht auf einen Versuch ankommen lassen; er würde glauben, daß ich ihm etwas antun will. Es war meine Schuld. Ich hielt ihn immer in Hochspannung. Ich hätte ihn aus dem Spiel herauslassen sollen.«

Er schüttelte sein Haupt, schürzte die dicken Lippen und schob sie vor. Dann sprach er wieder.

»Ich werde Sie beide wegbringen müssen. Sie können mir dabei helfen. Wenn Sie zu Carlton gehen wollen, um ihm das« – er zeigte auf den geistesabwesenden Mann beim Feuer -»zu berichten, werde ich Sie nicht aufhalten. Das ist ja ohnehin irgendwie das Ende.«

»Von was?« fragte sie. »Von Harlow, dem ›Joker‹ , dem Spaßmacher«, antwortete er.

»Sehen Sie denn das nicht? Der Mann hier versuchte Sie zu töten. Ein Wahnsinniger. Warum? Weil er glaubte, Sie wüßten, daß er durchgehen wollte. Hier wiederum Harlow in seiner prachtvollen Maske – wie der Detektiv mit einem komischen Schnurrbart in einem schlechten Roman. Warum? Stellen Sie sich vor, daß die Polizei all das fragt. Ellenbury würde natürlich eine ganze Menge antworten – dumme und vernünftige Sachen. Die Polizei ist recht klug – nicht sehr, aber recht klug. Sie würde auf alle möglichen – ›Späße‹ kommen. Ich brauche noch einen Tag. Wollen Sie für einen Tag in mein Haus kommen?«

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»Gern!« antwortete sie. Er errötete. »Das ist ein Kompliment, das eine Million Pfund

wert ist«, sagte er. »Sie müssen sich auf den Boden des Wagens setzen und ich werde Sie mit einer Wolldecke zudecken; Sie dürfen nicht gesehen werden. Wenn Sie vermißt werden, wird Ihr ungestümer Liebhaber – haben Sie ihn übrigens gesprochen?«

»Nein«, sagte sie nachdrücklich. Sie warf einen Blick auf Ellenbury. »Was werden Sie mit ihm anfangen?« fragte sie.

»Er bleibt bei mir; ich wage es nicht, ihn hierzulassen.« Er hob eine der Aktentaschen in die Höhe und wog sie in der

Hand. »Möchten Sie eine halbe Million haben?« fragte er vergnügt.

Aileen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß dieses Geld glücklich machen könnte«, meinte sie.

Er lachte. »Verzeihen Sie! Es fuhr mir wieder ein Spaß durch den Kopf.«

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Das alles berichtete sie Jim, der sie in ihre Wohnung gebracht hatte, nachdem er aus seinem Gefängnis befreit worden war.

»Er ist ein ganz lieber Mensch«, wiederholte sie. Und als Jim die Stirn runzelte, drückte sie seinen Arm und lachte. »Weiß Gott, ich glaube nicht, daß Sie ihn verhaften werden. Aber wenn Sie es tun, dann fesseln Sie ihn.« Sie dachte an Harlows ›Spaß‹ .

Als eine Stunde später eine starke Abteilung Kriminalbeamter im Hause Park Lane Nr. 704 erschien, fanden sie nur noch Frau Edwins vor, aufrecht und unzugänglich wie immer, die Hände über ihrer Schürze gefaltet.

»Herr Harlow ist heute früh aufs Land gefahren«, sagte sie.

Bei der Haussuchung fanden sie auch weder Harlow den Prächtigen noch den Mann mit dem goldblonden Bart namens Marling.

»Verhaften Sie mich!« schnaubte sie. »Das ist was für einen Polizisten, eine alte Frau zu verhaften. Aber Lemuel werden Sie nicht kriegen.«

»Lemuel?« Sie hatte sich etwas entschlüpfen lassen. »Ich nannte ihn ›Lemuel‹ , als er noch ein Kind war, und

nenne ihn jetzt ›Lemuel‹«, sagte sie trotzig. »Er wird jeden von euch zugrunde richten – merken Sie sich meine Worte!«

Sie murmelte noch immer Drohungen. Da nahmen zwei Detektive ihren Mantel und Hut und brachten sie zur Polizeistation.

Harlow nannte nicht nur das Haus an der Park Lane sein eigen. Er besaß auch noch viel Grund und Boden in Hampshire, wohin

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er selten fuhr, obgleich er dort im Interesse der Instandhaltung und Verwaltung ein großes Personal unterhielt. Man wußte auch, daß er der Besitzer einer luxuriös eingerichteten Wohnung in Brighton war. Und man glaubte ganz allgemein, daß er in London noch eine zweite große Wohnung hätte.

Stratford Harlow pflegte weit vorauszudenken. Er dachte nicht nur an morgen, sondern auch an übermorgen. Seit zwanzig Jahren hatte er das Leben eines strafwürdigen ›Spaßmachers‹ gelebt, der sich auch bewußt war, daß sein letzter, größter ›Spaß‹ ein böses Ende für ihn nehmen könnte.

.Er war verschiedenen Menschen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Nur der gewöhnliche Dieb arbeitete allein. Er jedoch war gezwungen, sich vieler Leute zu bedienen und sie auch – ein wenig – ins Vertrauen zu ziehen. Aber nur eine einzige Person wußte die ganze Wahrheit.

Sein Chauffeur ahnte wohl vieles, aber nicht alles; für Ellenbury war er immer nur ein ganz verderbter Börsenjobber gewesen; Ingle hatte ihn als einen schätzenswerten Feind der Gesellschaft gewürdigt. Was aber galt er sich selbst? Der Gedanke an den ›Spaß‹ füllte seinen ganzen Geist aus. ›Spaß‹ war ihm jede Handlung. Als er aber Jim in dem Fahrstuhl eingesperrt hatte, da wußte er auch schon, daß der Spaß sich gegen ihn gewendet hatte. Die Maschinerie des Gesetzes war in Gang gekommen. Es war nichts damit gewonnen, wenn er von einem Versteck ins andere wechselte. Er mußte weit weg fliehen oder bleiben. Eine andere Wahl hatte er nicht mehr.

Er trat auf den Treppenabsatz hinaus und pfiff. Bald danach erschien Frau Edwins mit dem großen, bärtigen Mann.

»Marling, ich nehme dich auf eine kleine Fahrt mit«, sagte Stratford Harlow ganz freundlich. »Du bist zugleich ein Problem und ein Strohhalm für mich. Du hast mir beinahe das Genick gebrochen, und ich halte mich jetzt an dich.« Er lachte gutmütig. »Das ist ein etwas dunkles Bild, nicht?«

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»Wohin?« fragte Frau Edwins. Er durchbohrte sie mit seinen kalten Augen. »Eine sehr neugierige und sehr dumme Frage«, sagte er. »Und

was das schlimmste ist: Ihr Mangel an Selbstbeherrschung hat mich beinahe ins Verderben gestürzt. Deshalb tadle ich Sie aber nicht.« Mit einer Handbewegung sprach er sie von jeder Verantwortung frei. »Bitte rufen Sie an: Riess soll mit dem Wagen kommen. Vielleicht wird er antworten, daß es ihm unmöglich ist, mit dem Wagen zu kommen. Vielleicht wird sogar die fremde Stimme eines Detektivs zu hören sein.«

Sie sperrte den Mund auf. »Das soll doch nicht heißen –« Er fiel ihr ins Wort: »Bitte rufen Sie an.« Er war geduldig und freundlich. Er sah sie nicht an; seine

Augen ruhten mit einem Schimmer von Humor auf dem hilflosen bärtigen Mann.

»Hoffentlich habe ich nicht etwas getan –«, begann Marling. »Nichts – gar nichts!« beruhigte ihn Harlow mit größter

Herzlichkeit. »Ich habe dir schon öfter gesagt und sage es noch einmal, daß du nichts von mir zu fürchten hast. Du bist ein Opfer der Umstände, jeder schlechten Handlung unfähig. Ich würde lieber sterben, als zu dulden, daß dir etwas geschähe! Jede Ungerechtigkeit schmerzt mich. Die Art von Gerechtigkeit, die man für gewöhnlich die ausgleichende Gerechtigkeit nennt, erfüllt mich mit einem tiefen, dauernden Seelenfrieden. – Nun?« Er herrschte die Frau an, die unter der Tür stand.

»Was soll ich mit dem Mädchen anfangen?« fragte sie. »In Ruhe lassen«, erwiderte der große Mann mürrisch, »und sobald es möglich ist, sie zu ihren Freunden schaffen. Den Mantel für Herrn Marling; die Nacht ist kalt! Und einen Schal... Gut.«

Er starrte lange durchs Fenster.

»Riess hat den Wagen gebracht; ein wackerer Bursche!« lobte

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er und nickte Marling zu. Zusammen traten sie aus dem Haus und fuhren rasch weg. Fast

eine Viertelstunde lang blieb Frau Edwins in dem verlassenen Vestibül stehen, aufrecht, unbewegten Gesichtes, die Hände gefaltet, die Augen auf die Tür geheftet, durch die sie geschritten waren.

Der Wagen fuhr durch Mayfair, bog in eine Seitenstraße ein und hielt vor einem Häuserblock an einer Straßenecke. In dem unteren Stockwerk befanden sich die Büros einer Bank. Harlow schloß einen Seiteneingang auf und trat zur Seite, um seinen Begleiter vorangehen zu lassen. Über mehrere Treppen gelangten sie zu einer Tür, die Harlow aufschloß.

»Da sind wir nun am Ziel, mein Junge«, sagte er, die Tür sacht hinter sich schließend. »Das ist eine der Wohnungen, die man ›personalsparende‹ Wohnungen nennt; eine dieser modernen Schöpfungen, die erfindungsreiche Architekten für gemeine Menschen ersonnen haben, die ihren Dienstboten sogar die Nahrung vorwiegen. Hier wollen wir in verhältnismäßiger Ruhe acht bis vierzehn Tage leben.«

»Was ist eigentlich geschehen?« fragte Marling. Harlow zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht – ich möchte

sagen, daß ich das Unvermeidliche erkenne, ich bin mir aber dessen noch nicht ganz sicher. Hier, an der Rückseite des Hauses, ist dein Zimmer. Ist es dir recht?«

Marling sah, daß es luxuriöser eingerichtet war als dasjenige, das sie eben verlassen hatten. Bücher waren in großer Menge da. Der einzige Nachteil war, daß die Fensterscheiben mit einer dünnen Schicht weißer Farbe überzogen waren, die sie undurchsichtig machte.

»Ich ließ diese Wohnung schon vor etwa drei Jahren für uns zwei herrichten«, erläuterte Harlow. »Ich fürchte, daß wir uns ein oder zwei Wochen lang, bis ich etwas anderes ausgedacht habe, selbst bedienen müssen.«

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Er klopfte dem anderen auf die Schulter. »Du bist ein guter Junge«, sagte er. »Ach, manchmal möchte ich gern mit dir tauschen!« Er sagte dann unvermittelt:

»Sie ist wirklich ein sehr nettes Mädchen! Und hat auch Sinn für Humor. Eine seltene Eigenschaft bei Frauen!«

»Von wem sprichst du?« fragte der Bärtige erstaunt. »Sie, die etwas hätte werden können«, lautete die leicht

hingeworfene Antwort. »Selbst der Lasterhafte hat seine Träume. Würdest du mich sentimental nennen, Marling?«

Marling schüttelte den Kopf. Harlow lachte. »Du bist der ehrenhafteste Mensch, den ich je

getroffen habe«, sagte er bewundernd, »und ich glaube, du bist auch der einzige, dem ich aufrichtige Zuneigung entgegenbringe.«

Der andere starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an. Harlow hielt den Blick aus, ohne mit der Wimper zu zucken.

Er hatte die Wahrheit gesprochen. Sein Alpdruck war es all die vergangenen zwanzig Jahre hindurch gewesen, daß diese einfache Seele krank werden würde. Wenn diese Katastrophe eingetreten wäre, hätte Stratford Harlow auch seinen Ruin ertragen, nur um dem anderen die Gesundheit wiederzugeben. Marling war der einzige ›Spaß‹ in seinem Leben, den er ernst nahm.

Seit drei Jahren waren jeden Morgen zwei Zeitungen vor die Tür von Harlows Wohnung gelegt worden, die die Bedienungsfrau, die die Wohnung putzte, wegnahm. Jeden Morgen war auch eine große Flasche Milch auf die Fußmatte vor der Tür gestellt worden, die sie auch wegschaffte.

Sie sollte nicht mehr kommen, denn sie war an dem Morgen, an dem Harlow und sein Genosse einzogen, aus ihrem Dienst entlassen worden. Der Brief war nicht mit ›Stratford Harlow‹ unterzeichnet, sondern trug den Namen, unter dem sie ihren

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Dienstherrn kannte. Der erste Tag schlich träge dahin. Harlow hatte nichts zu tun;

Untätigkeit brachte ihn aber zur Verzweiflung. Am nächsten Morgen ging er schon früh hinunter, um die Milch und die Zeitungen zu holen. Dann saß er lange Zeit, die Zigarre im Mund, neben einer Tasse kalt gewordenen Kaffees und las die Nachrichten über sein Verschwinden. Die Häfen wurden überwacht; Detektive beobachteten die Flugplätze.

Über drei Spalten ging sein Porträt. Darüber stand: ›Harlow der Prächtige‹ . Wessen man ihn beschuldigte, war nur angedeutet. Er erfuhr daraus zu seinem Bedauern und sogar Kummer, daß Frau Edwins verhaftet worden sei. Er hatte allerdings sein Leben lang gegen Frau Edwins einen bitteren Groll gehegt – wie sie gegen ihn. Sie wollte nicht die Art und Weise begreifen, wie er sich zum Leben stellte. Sie hatte sich schon immer gefragt, warum er nicht in einer luxuriösen oder etwa einer exotischen Umgebung lebte. Sie würde es sogar begreiflich gefunden haben, wenn er sich einen Harem gehalten hätte. Seine Betriebsamkeit und Enthaltsamkeit aber vergab sie ihm nicht.

Wie die Zeitungen berichteten, hatte sie nichts ausgesagt. Er argwöhnte aber, daß sie doch gar manches ihn tadelnde Wort geäußert haben mochte. Über Marling war zu lesen:

... Die Polizei ist bemüht, den Mann zu finden, der das Haus in der Park Lane mit Harlow zusammen verlassen hat. Er wird als groß, blaß und blondbärtig beschrieben. Kein Bediensteter des Hauses hat ihn je gesehen. Das erklärt sich aus den eigenartigen Verhältnissen in Harlows Haus. Das ganze Personal schlief in einem anderen Gebäude, das Harlow gemietet hatte...

Harlow blätterte weiter, um die Sportkarikatur zu suchen. Tom Websters humoristische Kunst ergötzte ihn stets aufs neue. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Börsennachrichten zu. Die Märkte erholten sich rasch wieder. Auf dem Rand der Zeitung

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stellte er eine Berechnung an. Er schmunzelte vergnügt, als er so seine Profite errechnete.

Eine gewisse Befriedigung erfüllte ihn, obwohl er doch jetzt ein Flüchtling war, obgleich alle finsteren Möglichkeiten ihm drohten, obgleich ihn nichts vor dem traurigen Weg bewahren zu können schien: Brixton-Gefängnis, Pentonville, Wormwood Scrubbs, Dartmoor – wenn nicht noch Ärgeres... Wenn nicht noch Ärgeres!

Er sah seine Zigarre mit großem Behagen an. Frau Gibbins war eines natürlichen Todes gestorben, wenngleich das etwas schwer zu beweisen war. Es war ein ganz einfacher Unfall gewesen. Sie war mit ihren schmutzigen Schuhen auf dem spiegelglatten Boden der Bibliothek ausgeglitten. Als er sie aufhob, war sie schon tot. Das war die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit. Auch Fräulein Mercy Harlow war eines natürlichen Todes gestorben. In der kleinen Flasche, die Marling gesehen hatte, war nur das Mittel gewesen, das ihr der Arzt gegen ihre Herzanfälle verordnet hatte.

Er stand auf und reckte sich, trank den kalten Kaffee aus und schlurfte in seinen Pantoffeln gemächlich zur Tür, um Marling zu rufen. Er klopfte, erhielt aber keine Antwort. Er drückte die Klinke nieder und trat ein.

Das Zimmer war leer. Auch das Badezimmer. Harlow ging den Gang entlang zur Wohnungstür. Sie war

offen. Er stand eine Weile sinnend da, die Hände in den Taschen, die

erloschene Zigarre im Mund. Dann schloß er die Tür und ging in den Salon zurück. Er warf die Zigarre in den Kamin, zündete sich eine neue an und setzte sich nieder, um die Lage zu überdenken. Seine Stirn legte sich in Falten. Über seine Lippen drangen Worte, die seinem ersten Gedanken Ausdruck gaben.

»Hoffentlich ist der arme Junge beim Überqueren der Straße recht vorsichtig – er ist doch den Autoverkehr gar nicht

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gewohnt!« Aber es gab ja Schutzleute, die dem furchtsamen bärtigen

Mann sicher über die Straße hinweghelfen würden. Diese Überlegung beruhigte ihn. Er nahm wieder die Zeitung

zur Hand.

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Aileen Rivers hätte mit Recht dem Büro auch nachmittags fernbleiben können, aber sie wollte nicht, daß ihre Abwesenheit ihrem Chef irgendwelche Ungelegenheiten bereitete. Sie fühlte sich auch bemerkenswert wohl, als sie mittags erwachte.

Herr Stebbings begrüßte sie, als ob sie vormittags nicht gefehlt hätte. Seine Haltung – die Haltung eines Tatsachenmenschen – verriet nicht, welche Unbequemlichkeit ihm ihre Abwesenheit bereitet hatte. War er doch während der zwölf Stunden bis zu ihrem Auftauchen fast ununterbrochen von Polizeibeamten belästigt worden.

Er machte keine Anspielungen auf ihr Abenteuer. Als sie ihm aber nachmittags ein paar Briefe zum Unterschreiben brachte, sah er nach der Unterzeichnung auf und begann: »James Carlton stammt aus einer sehr guten Familie. Ich kannte seinen Vater.«

Sie wurde rot und geriet so sehr aus dem Gleichgewicht, daß ihr die Gegenfrage nicht einfiel, was denn die Verwandt schaft James Carltons mit den prosaischen Schreiben über eine verwickelte Pachtangelegenheit zu tun habe.

»Er hat sich natürlich sehr um Sie gesorgt«, brummte Herr Stebbings – scheinbar ohne jede besondere Absicht. »Ich lag im Bett, als er mich anrief – ich habe noch nie eine so gequälte Stimme gehört. Es ist eigentlich merkwürdig, daß man bei Polizisten niemals die menschlichen Gefühle vermutet, die uns allen eigen sind, und ich muß gestehen, daß ich sehr überrascht war – angenehm überrascht war! Ich habe ihn einmal gesehen; ein ganz gutaussehender junger Mann; und obgleich er kein sehr hohes Einkommen haben wird, glaube ich doch, daß er eine Frau glücklich machen könnte.« Er machte eine Pause. »Wenn Frauen überhaupt glücklich sein können«, fügte er hinzu. Der Weiberfeind war bei ihm wieder einmal zum Durchbruch

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gekommen. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Herr Stebbings«, sagte

sie, hochrot im Gesicht, aber durchaus nicht unglücklich. »Würden Sie bitte die Mappe nehmen«, sagte Herr Stebbings,

indem er bestürzte Detektive und verlegene Mädchen wieder aus seinem Geist verabschiedete. Sogleich versenkte er sich mit ihr in die Klauseln eines komplizierten Vertrages, den Herr Stebbings anzufechten hatte.

Wieder allein und ruhiger geworden, war es Aileen peinlich, daß sie durchschaut war. Ein Mädchen, das sich seiner Verliebtheit bewußt wird, fühlt sich merkwürdig verlassen und bedrückt. Es glaubt immer, daß seine Gefühle nicht geteilt würden. Je länger Aileen an Jim Carlton dachte, desto mehr war sie überzeugt, daß ihre Zuneigung eine durchaus einseitige sei, daß sie sich unnütz Gedanken machte, daß sie dem Mann, dem sie ihre Liebe entgegenbrachte, nicht mehr gälte als irgendein anderes Mädchen. Sie kam zu dem Schluß, daß Liebe ein Gefühl sei, von dem man nur durch Entsagung und Selbstbeherrschung geheilt werden könne.

Sie war in dieser eigenartigen Stimmung, als es an der Tür pochte. Sie rief: »Herein!« – die Klinke wurde niedergedrückt, herein kam ein aufgeregter Mann. Ein großer Mann ohne Hut, ganz merkwürdig gekleidet. Der viel zu große Mantel war bis zum Hals zugeknöpft. Er trug wohl Schuhe, aber keine Strümpfe. Unter dem Mantel hatte er einen dunkelblauen Pyjama an. Er strich sich nervös seinen langen Bart und sah das Mädchen unsicher an.

»Entschuldigen Sie, mein Fräulein«, fragte er, »ist das die Rechtsanwaltskanzlei von Stebbings und Stebbings?«

Sie war maßlos erstaunt aufgestanden. »Ja. Wollen Sie Herrn Stebbings sprechen?«

Er nickte, sah nervös um sich. Sah die offengelassene Tür und schloß sie.

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»Bitte«, sagte er. »Wen darf ich melden?« fragte sie. Er holte tief Atem. »Sagen Sie bitte, daß Herr Stratford

Harlow ihn zu sprechen wünscht!« Sie war sprachlos. »Stratford Harlow? Ist er hier?« Er nickte. »Ich bin Stratford Harlow«, sagte er einfach. Der Mann, der dreiundzwanzig Jahre lang den Namen

›Stratford Harlow‹ geführt hatte, schlürfte gerade seinen Tee, als es läutete. Er trank die Tasse aus, zerkrümelte ein Biskuit und wischte sich den Mund mit der Serviette ab.

Wieder schrillte die Glocke. Mit einem Lächeln stand Harlow auf. Er schnippte die Krümel von seinem Rock, blieb im Flur stehen, um seinen Mantel und seinen Hut vom Haken zu nehmen, ging zur Tür und riß sie auf.

Jim Carlton stand davor. Neben ihm drei Männer, die unschwer als Detektive zu erkennen waren.

»Ich komme Sie holen, Harlow«, sagte er. »Ich dachte es mir«, meinte Harlow freundlich. »Haben Sie

einen Wagen unten?« Er griff in seine Taschen. »Ich glaube, ich habe alles bei mir, was ein Staatspensionär braucht. Sie können mich fesseln, wenn Sie wollen, obgleich ich es lieber sähe, wenn Sie es unterließen. Ich habe keine Waffe bei mir. Ich halte jeden Menschen, der sich seiner Verhaftung mit der Waffe widersetzt, für einen erbärmlichen Barbaren! Die Polizei hat ihre Pflichten – manchmal sehr unangenehme, manchmal angenehmere Pflichten. Ich weiß nicht recht, wo Ihre augenblickliche Pflicht einzureihen ist.«

Als sie auf die Straße traten, machte Elk die Wagentür auf; Harlow stieg ein, setzte sich bequem in die Ecke und fragte: »Darf ich rauchen?«

Er zog eine Zigarre aus seiner Tasche. Elk gab ihm Feuer, als

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sich das Auto in der Richtung zur Polizeistation in der Evory Street in Bewegung setzte.

»Ich möchte Sie etwas fragen, Carlton«, begann er, den Kopf halb dem neben ihm sitzenden Inspektor zuwendend. »Ich lese in den Zeitungen, daß die Häfen überwacht werden und alle möglichen Vorsichtsmaßregeln für den Fall getroffen wurden, daß ich das Land verließe. Ich hoffe, daß die Nachricht von meiner Verhaftung allen diesen Wächtern sogleich übermittelt wird! Es wäre mir unangenehm, denken zu müssen, daß sie in dieser Kälte auf sturmumtosten Kaien auf und ab stapfen müssen, um nach einem Mann Ausschau zu halten, der bereits in sicherem Gewahrsam ist. Das würde mich um den Schlaf bringen.«

Jim gefiel dieser Humor. »Sie werden verständigt werden«, sagte er.

»Sie haben natürlich Marling ausfindig gemacht? Es ist ihm nichts geschehen? – Das ist für mich ein großer Trost. Es läßt sich schwer ausdenken, wie es in dem Kopf eines Mannes aussehen muß, der die Welt in einer ruhigen, gemächlichen Zeit gewissermaßen verlassen hat und nun in sie zurückkehrt und sie von einem solch turbulenten Betrieb erfüllt sieht.«

»Ja, Herr Harlow ist in guter Hut.« »Nennen Sie ihn doch ›Marling‹«, sagte der andere. »Und

›Marling‹ muß er auch bleiben, bis meine Doppelnatur unanfechtbar nachgewiesen ist. Ich werde Ihnen die Sache erleichtern, indem ich selbst zugebe, daß er Stratford Selwyn Mortimer Harlow ist.«

Er ging auf ein anderes Thema über – ein beliebter Trick von ihm.

»Ich hätte schon längst ausgehen und Ihnen Trotz bieten sollen. Wie wollten Sie mir ohne meine Hilfe auch nur die geringste Gesetzesübertretung nachweisen? – Aber ich bin furchtbar neugierig. Wenn mein heißester Wunsch verwirklicht

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werden könnte, würde ich als körperloser Geist auf Erden weiterleben, um die Fortschritte der Menschheit während der nächsten Zweihunderttausend Jahre sehen zu können! Zu sehen, welche neuen Nationen auftauchen, welche neuen Mächte von der Erde Besitz ergreifen, welche neuen Länder aus dem Meer emporsteigen und welche alten darin versinken! Zweihunderttausend Jahre! Es wird dann ein neues Rom geben, wieder ein Großbritannien im Urzustand, einen neuen amerikanischen Kontinent, den unbeschreibliche Wesen bevölkern. Neue Ptolemäer und Pharaonen werden einbalsamiert werden und nie daran denken, daß ihre prachtvollen Grabstätten unter Sand versinken und vergessen sein werden, bis wieder einmal Forscher sie ausgraben und Touristen sie angaffen werden.«

Er seufzte und streifte die Asche von seiner Zigarre. »Gut, nun bin auch ich an meinem Ende angelangt. Ich habe es

vorhergesehen. Ich weiß nun, wohin das Schicksalsknäuel gerollt ist. Das ist außerordentlich interessant.«

Er wurde zuerst in das Zimmer des Inspektors der Polizeistation gebracht.

Mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme fragte er: »Kann irgend etwas geschehen, um die Zeitungen zu hindern, daß sie zuviel über die Ironie des Schicksals schreiben, die darin liegt, daß ich gerade in das Haus gebracht wurde, das ich dem Staat zum Geschenk gemacht habe? Ich fühle mich fast versucht, jeder Zeitung ein paar tausend Pfund zu schenken, die auf diesen naheliegenden Hinweis verzichtet.«

Er hörte aufmerksam zu, als ihm Elk die Beschuldigungen vorlas, die man gegen ihn erhob.

Nur einmal unterbrach er. »Verdächtig, den Tod von Frau Gibbins verschuldet zu haben?

Wie unsinnig! Das werden meine Anwälte widerlegen.« Der Gefangenenwärter nahm ihn dann beim Arm und führte

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ihn in eine Zelle. Mit einem Seufzer der Erleichterung meinte Jim: »Das hätten

wir!« »Wo ist der wirkliche Harlow?« fragte Elk. »Im Hause in der Park Lane. Er wird uns die ganze Geschichte

erzählen. Ich habe für neun Uhr abends einen Polizeistenografen hinbestellt.«

Um neun Uhr abends saß der bärtige Mann in Harlows Bibliothek und begann zögernd seine erstaunliche Lebensgeschichte zu erzählen.

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»Mein Name ist Stratford Selwyn Mortimer Harlow. Als Kind lebte ich, wie Sie wissen, bei meiner Tante Mercy Harlow, einer sehr reichen und wunderlichen Dame, die mich ganz in ihre Obhut nahm und darüber mit meinen anderen Tanten in Streit geriet.

An meine ersten Lebensjahre erinnere ich mich nur dunkel. Ich war, wie Marling bestätigt, ein zurückgebliebenes Kind, das heißt, geistig zurückgeblieben. Mein Zustand verursachte Tante Mercy die größten Sorgen. Sie befürchtete, daß ich schwachsinnig bleiben und sie von ihren Schwestern dafür verantwortlich gemacht werden würde. Diese Furcht beherrschte sie so sehr, daß ich nicht gezeigt wurde, wenn Besucher kamen. So sah ich niemand außer Tante Mercy, ihrem Hausmädchen Frau Edwins und deren Sohn Lemuel Saul, der zweimal statt meiner Besuchern gezeigt worden war. Er war ein sehr gesundes Kind.

Ich weiß nichts über die näheren Umstände seiner Geburt. Tatsächlich wurde er aber niemals mit dem Namen ›Edwins‹ gerufen. Nur Tante Mercy tat es. Sie tat es auch noch, als er schon in die Schule ging und nach seiner Geburtsurkunde den Namen seines Vaters, ›Marling‹ , zu führen hatte.

Er war mein einziger Spielgefährte, und ich glaube, daß er mich wirklich liebte und mit mir wegen meiner angeblichen Geistesschwäche Mitleid hatte. Frau Edwins hatte bezüglich ihres Sohnes einen unbändigen Ehrgeiz. Sie sparte und sparte, um ihn auf eine höhere Schule schicken zu können, und als er älter wurde, bewog sie Tante Mercy – wie er mir selbst erzählt hat -, ihr Geld zu geben, damit sie ihm ein Studium ermöglichen konnte.

Ich muß hier bemerken, daß ich das meiste, was ich sage,

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Mitteilungen Marlings verdanke – es kommt mir etwas merkwürdig vor, ihn bei einem Namen zu nennen, den ich so lange geführt habe. Zu jener Zeit war mein Geist zweifellos umwölkt. Er hat mich als ein verdrossenes, furchtsames Kind geschildert, das tagelang vor sich hin brütete. Diese Schilderung war zutreffend.

Die Furcht, daß Verwandte meine geistige Verfassung entdecken könnten, war für Tante Mercy eine ständige Qual. Sie sperrte ihr Haus ab und zog in eine Villa auf dem Land. Und wenn ihre Schwestern sie besuchen wollten, verreiste sie in eine ferne Stadt. Drei Jahre lang sah ich Marling nur selten. Dann sagte mir Tante Mercy eines Tages, daß sie einen Erzieher für mich anstellen wolle. Mir behagte das gar nicht, ich beruhigte mich aber und war sogar erfreut, als ich hörte, daß es Marling sein sollte. Er besuchte uns in Bournemouth. Ich erkannte ihn beinahe nicht, denn es war ihm ein langer goldblonder Bart gewachsen, auf den er sehr stolz war. Wir unterhielten uns lange und viel. Er erzählte mir von seinen Abenteuern und den Ungelegenheiten, in die er geraten war.

Ich war der einzige Mensch, dem er vertraute. So erfuhr ich auch die ganze Geschichte mit Frau Gibbins – wie sie genannt wurde. Er hatte sie kennengelernt, als sie noch Hausmädchen bei einem der Präfekten des College war. Nachdem er eine Zeitlang ein Verhältnis mit ihr gehabt hatte, traf eines Tages die Mutter des Mädchens in Oxford ein. Sie drohte, alles dem Präfekten anzuzeigen, wenn er das Mädchen nicht heiratete. Diese Drohung bedeutete für ihn den Ruin, das Ende von Tante Mercys Unterstützung, den Zusammenbruch aller Hoffnungen seiner Mutter. So gab er denn nach. Die beiden heirateten im stillen in Cheltenham und lebten in einem kleinen Dorf bei Oxford.

Die Heirat war für Marling verhängnisvoll. Er liebte das Mädchen nicht, und sie haßte ihn, wie gewöhnliche und unwissende Personen kultivierte Menschen zu hassen pflegen.

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Der Schluß war, daß er sie verließ. Drei Jahre später hörte er von ihrer Mutter, daß sie gestorben sei. Das war aber nicht der Fall. Sie war, ohne geschieden zu sein, eine zweite Ehe mit einem Mann namens Smith eingegangen, der dann im Krieg fiel. Sie, Herr Carlton, haben mir gesagt, daß Sie unter ihren Habseligkeiten einen Trauschein fanden.

Zu dieser Zeit hatte Marling infolge verschiedener Umstände, die ich Ihnen noch erklären werde, ein großes Vermögen in die Hand bekommen. Er war edelmütig. Der Mutter seiner einstigen Frau ließ er wöchentlich ein Pfund gewissermaßen zum Dank für die wiedergewonnene Freiheit zukommen. Sie vermutete wohl, wer der Spender sei, wußte es aber nicht bestimmt. Diese Rente wurde später ungebührlicherweise auf ihre Tochter übertragen, die nach dem Tod der Mutter wieder ihren Mädchennamen annahm.

Marling wurde also mein Erzieher, und ich muß gestehen, daß ich unter seiner Obhut oder, besser gesagt, unter seiner zärtlichen Fürsorge gesünder wurde, wenn ich auch noch immer nicht ganz gesund war. Da bekam Tante Mercy wieder einmal einen ihrer Herzanfälle. In meiner Verzeiflung beschuldigte ich Marling, daß er sie töten wolle. Ich hatte ihn nämlich etwas aus einer grünen Flasche in ein Glas gießen und die Flüssigkeit Tante Mercy einflößen sehen. Ich bin überzeugt, daß ich ihm schwer Unrecht tat. Er unterließ es auch nie, mich an diese grüne Flasche zu erinnern. Ich glaube, daß das einen Teil seines Behandlungs- und Erziehungssystems ausmachte. Ich sollte selbst dazu gelangen, meinen Irrtum einzusehen.

Als Tante Mercy starb, war ich so krank, daß ich mich in mein Zimmer einsperrte. Damals heckte Frau Edwins den Plan aus, daß Marling meine Rolle spielen sollte. Sie werden überrascht und vielleicht ungläubig sein, wenn ich Ihnen sage: Marling hat es der Frau nie verziehen, daß sie ihn dazu überredet hat. Er sagte mir, er sei dadurch in eine viel größere Knechtschaft geraten, als die meine sei. Ich glaube auch, daß er aufrichtig

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war. Ich wurde in aller Eile in eine Villa nach Berkshire gebracht und erfuhr von dem Rollentausch erst nach Monaten, als ich in das Haus in der Park Lane kam. Damals sagte er mir, daß ich ›Marling‹ und er ›Harlow‹ hieße. Er pflegte das wie eine Lektion zu wiederholen, bis ich mich schließlich an den Wandel gewöhnt hatte.

Ich glaube, ich machte mir nicht viel daraus; Bücher waren meine Leidenschaft geworden, und er war unermüdlich in seinen Bemühungen, mein Interesse zu befriedigen. Er machte wohl mit Recht geltend, daß mich meine Abgeschlossenheit vor Geisteskrankheit bewahre. Das ruhige, sorgenfreie Leben, die Bequemlichkeiten und die geistigen Genüsse waren für mich wahrscheinlich die beste Arznei. Er machte mich mit der pathologischen Seite meines Falles vertraut und ließ mich Bücher lesen, aus denen zu entnehmen war, warum dieses Leben mir am besten frommte. Ich wiederhole es: Er meinte es, wie ich glaube, ganz ehrlich mit mir.

Allmählich schien sich die Wolke, die meinen Geist umdüsterte, zu verziehen. Ich begann, logisch zu denken; ich verstand, was ich las. Mir wurde auch klar, worin mir Unrecht geschah. Er gab es auch zu, das will ich nicht verschweigen. In der Tat, er verschleierte vor mir nichts. Er zog mich ganz in sein Vertrauen. Ich kannte jeden Coup, den er durchführte.

Eines Abends kam er fürchterlich aufgeregt nach Hause und erzählte mir, daß er die Stimme seiner Frau gehört habe! Er sei in der Behausung eines gewissen Ingle gewesen und dort zwei Putzfrauen begegnet. Die Stimme der einen habe er sofort erkannt und sei ohnmächtig geworden.

Er hatte sich damals mit Ingle zwecks Durchführung eines abenteuerlichen Coups zusammengetan. Der bestand darin, daß Ingle, ein ausgezeichneter Schauspieler, die Rolle des Außenministers spielen sollte. Es wurde vereinbart, daß der Minister irgendwie in das Haus in der Park Lane gebracht und dort betäubt werden sollte. Ingle, der Sir Joseph Layton eine

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Woche lang nach Filmaufnahmen studiert hatte, sollte anschließend als dieser auftreten. Er war mit allen Eigenheiten des Ministers vertraut, er hatte einer Versammlung beigewohnt, in der Sir Joseph gesprochen hatte, um auch den Tonfall der Stimme beim öffentlichen Auftreten zu studieren. Der Plan gelang. Sir Joseph ging mit Marling in ein Zimmer, trank ein Glas Wein und war auch schon erledigt«. Ich glaube, das ist der richtige Ausdruck. Ingle wartete, bereits entsprechend zurechtgemacht, hinter der Tür. Wie Marling mir erzählte, sah er dem Minister verblüffend ähnlich. Ingle ging aus dem Haus, fuhr ins Parlament und hielt dort die Rede, die die Kurse zum Fallen brachte.

Doch ehe dies geschah, hatte sich im Hause Park Lane 704 eine Tragödie abgespielt. Als Marling den Schauspieler und Zuchthäusler Ingle wegen dieser Sache angegangen hatte, schien dieser sich noch nicht ganz schlüssig gewesen zu sein. Er vermutete wohl eine Falle und schrieb ab. Dann änderte er seinen Entschluß wieder, ließ aber den Brief auf seinem Tisch liegen. Die Putzfrau, die den Brief mit der Aufschrift ›Persönlich zu übergeben! Dringend!‹ liegen sah, glaubte, daß er diesen Brief mitzunehmen vergessen habe. Um sich bei ihm beliebt zu machen, trug sie ihn unaufgefordert in die Park Lane. Marling selbst öffnete ihr. Es traf ihn beinahe der Schlag, denn er erkannte sie auf der Stelle. Er bat sie in die Bibliothek; hier glitt sie auf dem Parkettboden aus und schlug dabei mit dem Kopf an die Tischkante. Alles geschah, was für sie getan werden konnte, das kann ich bezeugen. Auch ich wurde gerufen, um zu helfen, aber sie war schon tot. Was sollte nun mit der Leiche geschehen?

Marling machte sich unaufhörlich Vorwürfe, daß er nicht sogleich die Polizei gerufen und ihr die Wahrheit gesagt habe, aber es war ihm unangenehm, daß sein Name in Zusammenhang mit einem Menschen gebracht werden sollte, der erst vor kurzem aus dem Zuchthaus entlassen worden war. Schließlich

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schleppten er und Frau Edwins die Leiche in den Park und warfen sie ins Wasser. Sie sagten mir, daß Spuren eines Kampfes gefunden wurden; das kann aber nicht stimmen. Die Fußspuren waren die von Frau Edwins und nicht die der toten Frau.

Marling bekam den Brief, den die Frau bringen wollte, niemals zu Gesicht. Er muß ihr aus der Tasche gefallen sein, als ihre Leiche den Abhang zum Kanal hinuntergeschleppt wurde. Er hat mir das alles später erzählt, und er hat bestimmt die Wahrheit gesprochen.«

An dieser Stelle unterbrach Harlow seinen Bericht, denn er zeigte Zeichen von Ermüdung. Auf seinen eigenen Wunsch erzählte er knapp vor Mitternacht weiter.

»Marling sah in seinen Verbrechen ›Späße‹ , und er nannte sie auch nie anders. Ich glaube, das ist der unter Verbrechern übliche Ausdruck, der ihm gefiel. Der größte ›Spaß‹ aber sollte es sein, Sir Joseph seinen Freunden wiederzugeben. Ich glaube, daß die Idee zum guten Teil von Ingle herrührte. Es wurden die Kostüme für zwei Negerkomödianten beschafft. Sie waren ganz gleich. Ingle sollte es zu einer gewissen Stunde dahin bringen, verhaftet und eingesperrt zu werden, und zwar in eine der Zellen, die Marling stets die ›Rettungsboote‹ zu nennen pflegte«

»Die ›Rettungsboote‹ ?« unterbrach ihn Jim rasch. »Wie kam er zu diesem Ausdruck?«

»Das werde ich Ihnen gleich sagen«, begann nun wieder Harlow. »Sie wissen, daß er dem Staat ein Polizeigebäude zum Geschenk gemacht hat, das er selbst, gar nicht weit von diesem Haus, erbaut hatte. Aber mit diesem Geschenk verfolgte er nur einen einzigen Zweck: Er wollte, wenn er schon einmal verhaftet würde, in dieses Gebäude gebracht werden!

Sir Joseph lag betäubt in dem Zimmer neben der Untergrundgarage. Dort wurde er später entkleidet, rasiert und sein Gesicht geschwärzt. Er wurde dann durch die kleine Tür,

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die Sie ja gesehen haben, und einen langen Gang zu einer der Treppen unter den Kellern gebracht. Der Austausch war dann eine leichte Sache. Jedes Bett in jeder Zelle kann, wenn man das Geheimnis kennt, wie der Deckel einer Schachtel aufgehoben werden. Unter jedem Bett führt eine Treppe in den Gang, der in die Garage mündet –«

Jim stürzte in die Polizeistation in der Evory Street: »Ich muß zu Harlow – sofort!« schrie er atemlos. »Alles ist in Ordnung; er schlief, als ich ihn zuletzt sah«,

meldete der diensthabende Beamte. »Ich muß zu ihm«, wiederholte Jim ungeduldig. Er folgte dem

Wärter in den Gang. Vor der Zelle Nr. 9 blieben sie stehen. Der Wärter blickte durch das Guckloch. Er stieß einen Schrei aus und sperrte auf. Die Zelle war leer!

Sie eilten in die Garage. Der dunkelblaue Wagen war fort. Er wurde später auf der Straße nach Harwich verlassen aufgefunden. Harlow der Prächtige aber war verschwunden, als ob ihn die Erde verschlungen hätte. Er wurde auch niemals mehr gesehen. Allerdings drangen nach England manchmal Nachrichten über riesenhafte Börsenoperationen, die ein unbekannter Plutokrat durch spanische Banken tätigte.

Harlow der Prächtige hatte den größten Teil seines Geldes in Spanien angelegt. Aber obgleich Jim später dorthin reiste, stellte er doch keine Nachforschungen an.

Menschen, die ihre Flitterwochen verleben, haben keine Zeit für polizeiliche Ermittlungen.

»Wenn ich nur etwas von dieser verdammten Polizeistation gewußt hätte!« brummte er einmal, als sie gerade durch die Puerta del Sol schritten.

Aileen ging so bald als möglich auf ein anderes Gesprächsthema über. Sie hatte recht genau um das Geheimnis des Gefängnisses und der Pritschen gewußt, denn das war ein

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viel zu guter ›Spaß‹ , als daß Harlow ihn ihr vorenthalten hätte. Und als er sie zu seiner Vertrauten machte, wußte er, daß er keine große Gefahr lief. Dafür kannte er das menschliche Herz und besonders das Aileens – zu gut.

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