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Der Mann des Feuers

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Der Mann des Feuers Begegnung auf dem grünen Planeten - der

einsame Jäger trifft die Männer auf der Götterburg

von Clark Darlton

Atlan - Held von Arkon - Nr. 154

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Was bisher geschah

Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v.Chr. entspricht. Arkon steht in voller Blüte. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III, ein brutaler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII töten ließ, um selbst die Herrschaft übernehmen zu können.

Auch wenn Orbanaschol seine Herrschaft gefestigt hat – einen Mann hat der Imperator von Arkon zu fürchten: Atlan, den rechtmäßigen Thronerben und Kristallprinzen des Reiches, der nach der Aktivierung seines Extrahirns den Kampf gegen die Macht Orbanaschols aufgenommen hat und den Sturz des Usurpators anstrebt.

Im Zuge dieser gegen Orbanaschol gerichteten Unternehmungen gelang Atlan und seinen verschworenen Gefährten erst jüngst ein großer Coup. Sie kaperten die KARRETON und befreiten Ra, den mysteriösen Barbaren vom grünen Planeten.

Jetzt sind Atlan und seine Getreuen erneut im Weltraum unterwegs – auf der Jagd nach dem legendären Stein der Weisen, hinter dem auch Orba­naschols Leute her sind.

Die Spur dieses Kleinods der Macht hat Atlan zum 30-Planeten-Wall ge­führt, zum »Ring des Schreckens«. Hier geschieht es auch, daß – inmitten von Kampf und Tod – Ra, der Barbar von einem unbekannten Planeten, er­neut aus seinem abenteuerlichen Leben berichtet. Es ist die Geschichte: DER MANN DES FEUERS …

Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Fartuloon - Gefangene im Ring des Schreckens. Ra - Der Mann, der das Feuer bringt. Bris, Moro, Celton und Kara - Menschen vom grünen Planeten. Neeol Darmigon - Ein Prospektor von Arkon.

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1.

Der Planet war von uns auf den Namen »Frokan« getauft worden. Dann hätte die Welt, auf der wir uns bis jetzt befunden hatten, vielleicht auch »Frokan II« oder »Frokan XXX« heißen können, denn alle dreißig Plane­ten, die eine mir bisher unbekannte Sonne umkreisten, glichen sich wie ein Ei dem anderen.

Wir befanden uns im sogenannten Dreißig-Planeten-Wall und waren auf der Suche nach dem Stein der Weisen, den wir hier angeblich finden soll­ten.

Wir – das waren mein fetter Freund Fartuloon, sowie der Barbar Ra von einer mir unbekannten Welt, und ich, Atlan, der Kristallprinz des Großen Imperiums und der rechtmäßige Nachfolger meines Vaters Gonozal, der von seinem Bruder Orbanaschol, dem jetzigen Imperator, heimtückisch er­mordet worden war.

Der Stein der Weisen sollte uns helfen, unsere Rache zu vollenden, und nun saßen wir in der Falle.

Es fiel mir schwer zu glauben, daß der Weise Dovreen mit dem Janus­kopf ein Verräter sein sollte, vielmehr neigte ich zu der Ansicht, daß er uns auf die Probe stellen wollte. Die silberne Kugel, die sich ausgedehnt und uns in sich aufgenommen hatte, konnte ein Raumschiff sein – wenn auch ein Raumschiff ganz besonderer Art.

Oder war die Kugel ein Transmitter? Wir wußten es nicht. Jedenfalls hatte uns die Kugel von einem der drei­

ßig nahezu identischen Planeten zum nächsten gebracht, und auch hier tra­fen wir auf die Gefangenen der »Endlosen Reise«, denn der »Ring des Schreckens« besaß nur einen Anfang, aber kein Ende.

Ich wußte, daß wir inzwischen abermals auf einem der dreißig Planeten gelandet waren, aber wir hatten die Silberkugel bisher noch nicht verlassen können. Alles war unklar und die Sicht schlecht. Überall trafen wir auf Leidensgenossen, und sie gehörten allen Rassen an. Die Legende vom Stein der Weisen hatte sie hierhergelockt, und nun waren sie für alle Zei­ten Gefangene des dreißigfach vorhandenen Weisen Dovreen geworden.

Denn auf jedem der dreißig Planeten gab es auch den Weisen Dovreen, jedesmal in leicht veränderter Ausgabe.

»Das kann alles gar nicht wahr sein!« stellte Fartuloon fest, als wir in einem der riesigen, nebelverhangenen Räume saßen, mit dem Rücken ge­gen eine Wand aus unbekanntem Material gelehnt. »Wir sind verrückt oder wir träumen. Wir bilden uns das alles nur ein …«

Er trug wie üblich seine malerische und phantasievolle Kleidung, die meiner Meinung nach sehr unbequem war – speziell der Brustpanzer. Im

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breiten Waffengürtel steckte der Handstrahler, auf der anderen Seite war sein geheimnisvolles Schwert, das Skarg. Sein langer Lederrock bedeckte fast die altmodischen Schnürstiefel.

»Ich fürchte, Fartuloon, wir erleben die Wirklichkeit, wenn sie auch sehr unrealistisch zu sein scheint. Auch dieses Sonnensystem mit seinen Planeten ist tatsächlich vorhanden. Und ein einziger Mann in dreißigfacher Ausführung beherrscht es – du hast recht, Fartuloon: es ist unglaublich – aber es existiert.« Ra sprach nur selten. Von einem fremden Planeten war er geraubt und von uns befreit worden. Einmal nur bisher war er aus sich herausgegangen und hatte einen Teil seiner Geschichte erzählt.

Es war eine merkwürdige Geschichte gewesen. Als bester Jäger seines Stammes hatte er ein freies Leben geführt, bis eines Tages ein Raumschiff auf seiner Welt gelandet war, dessen ganze Besatzung aus einer Frau be­stand, deren überirdische Schönheit ihn zutiefst berührte. Sie war seine Geliebte geworden, aber die gewaltige Kluft, die sie beide trennte, war größer als ihre Liebe gewesen.

Die Göttin mit den goldenen Haaren und der Bronzehaut – ihr Name lautete Ischtar – gab ihm ein Geschenk und verschwand mit ihrer riesigen »Götterburg« wieder im Himmel.

Das Geschenk war ein kleiner, silberner Stab, mit dem Ra Feuer ma­chen konnte. Durch Hypnoschulung, so entnahmen wir den Worten seiner Schilderung, hatte er viel von Ischtar gelernt, und so war er als Held zu seinem Stamm zurückgekehrt.

Mehr hatten wir nicht erfahren können. Und nun saß er neben mir, ein dunkelbraunhäutiger Barbar mit schwar­

zen Haaren und dunklen Augen. Obwohl noch ziemlich jung, war sein Ge­sicht von dem wilden Leben im Freien gezeichnet. Von kräftiger, fast bul­liger Statur war er nicht einmal so groß wie ich, und er hatte eine fliehende Stirn und ein ausgeprägtes Kinn.

Wir hatten ihn in die Uniform eines arkonidischen Raumfahrers ge­steckt, ihm aber keine Energiewaffe gegeben. Das war auch unnötig, denn in vielen Fällen bereits hatte er auch waffenlos seinen Mann gestanden.

Wir hatten ihn aus den Händen jener befreit, die ihn von seiner Welt ge­raubt hatten, und dafür zeigte er sich dankbar. Auf seine Weise natürlich.

»Du magst ja recht haben«, fuhr Fartuloon nach einiger Zeit fort, »aber mir wäre es lieber, du ließest mich an einen Traum glauben. Dann habe ich wenigstens die Hoffnung, mal wieder wach werden zu können.«

Ich nickte. Durch den ewigen Schleier des Nebels, dessen Ursache uns ein Rätsel blieb, sah ich die verschwommenen Gestalten einiger Arkoni­den, die ein grausames Schicksal in den Ring des Wahnsinns verschlagen hatte. Nun waren sie wieder im »Schiff«, das sie zu einer anderen Welt bringen würde, die nichts als ein Duplikat war.

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Es versetzte mich einigermaßen in Erstaunen, daß unsere Mitreisenden sich friedlich verhielten. Das war nicht immer der Fall gewesen. Oft genug hatte es schon Ärger gegeben. Noch erstaunlicher war für mich die Tatsa­che, daß sie stets Lebensmittelvorräte und sonstige Dinge mit sich führten, die mir wiederum überflüssig erschienen.

So sah ich einen, der in unmittelbarer Nähe von uns saß, der auf seinem Rücken ein Bündel Holz trug. Er mußte es von einem der Frokan-Planeten mitgenommen haben, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vor­stellen, was er damit anzufangen gedachte.

Immerhin, als ich das, Holz bemerkte, erinnerte ich mich daran, daß un­ser Barbar eigenartig auf den Anblick des Feuers zu reagieren pflegte. Feuer schien ihn zu faszinieren. Es übte eine magische Kraft auf ihn aus, die ihn aus der Gegenwart in die Vergangenheit versetzte.

Vielleicht erfuhren wir die Fortsetzung seiner Lebensgeschichte, wenn die Flammen aufzüngelten und ihr Schein seine schwarzen Augen traf …

Schon wollte ich aufstehen und zu dem Arkoniden gehen, der teil­nahmslos vor sich hinstierte, als dieser bereits von sich aus handelte. Mit müden Bewegungen nahm er das Bündel vom Rücken und löste die primi­tive Verschnürung. Er schichtete das Holz zu einem kleinen Scheiterhau­fen und suchte in seinen Taschen nach einer Möglichkeit, ihn anzuzünden. Er fand nichts.

Fartuloon, der meinen Blick bemerkt und sicherlich auch meine Absicht geahnt hatte, warf ihm ein Protonfeuerzeug zu. Der Mann fing es ge­schickt auf.

Er beugte sich vor und zündete das trockene Holz an. Das Feuerzeug warf er Fartuloon zurück. Dann lehnte er sich wieder mit dem Rücken ge­gen die Wand und starrte gedankenverloren in die Flammen.

Ich beobachtete Ra. Der Barbar hatte mit unbewegter Miene zugesehen, was der Arkonide

machte. Doch als die ersten Flammen aufzüngelten, kam Leben in seine teilnahmslos blickenden Augen.

Fartuloon warf mir einen Blick zu und rückte mir näher. Wir ahnten, daß Ra zu erzählen beginnen würde und wir wollten uns kein Wort von dem entgehen lassen, was er von seiner fremden Welt zu berichten hatte, die primitive Bewohner hervorgebracht und bereits einmal Besuch aus dem Weltraum erhalten hatte. Ra hatte die Goldene Göttin nie mehr ver­gessen können.

»Seine Lippen bewegen sich schon«, hauchte Fartuloon mir triumphie­rend zu. »Gleich fängt er an zu reden.«

»Hoffentlich«, gab ich ebenso leise zurück. »Ich möchte mehr über die­sen Planeten erfahren, den er seine Heimat nennt. Es gibt nur noch wenig unentdeckte Paradieswelten in unserem Imperium.«

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»Ras Welt gehört nicht zu unserem Imperium«, erinnerte mich Fartu­loon.

Ich nickte. »Noch nicht!« Dann schwieg ich und blieb ganz ruhig sitzen, denn es war soweit. Ra, der Barbar mit dem Wissen eines intelligenten Lebewesens, begann

zu reden. Dies ist seine zweite Geschichte. Es ist die Geschichte eines Wesens, das uns Arkoniden sehr ähnlich

sieht und das auf einer Welt zu Hause ist, die nur einmal durch Zufall von einer Varganin entdeckt wurde. Und später dann noch einmal, denn sonst hätte Ra nicht entführt werden können. Das zweite Mal allerdings von Ar­koniden.

Wer würde diese Welt zum dritten Mal entdecken …? Bris duckte sich hinter den Felsbrocken, der am Rand der Hochebene lag und jeden Augenblick ins Tal hinabrollen konnte, wenn man ihn auch nur anstieß. Bris hütete sich, das zu tun, denn weiter unterhalb, am Ufer des großen Flusses, der das Tal geschaffen hatte, lagerten die fremden Jäger.

Sie gehörten nicht zu seinem Stamm, und wenn sie ihn entdeckten, wür­den sie ihn töten, ohne nach seiner Herkunft oder seinem Begehren zu fra­gen. Viele der hier lebenden Stämme waren noch Kannibalen.

Vorsichtig tastete er nach seinem Messer und vergewisserte sich, daß es nicht aus der Scheide aus Leder rutschen konnte. Es war ein gutes Messer, in langer Arbeit aus einem Feuerstein herausgeschliffen und mit zwei scharfen Schneiden. Der Griff lag gut in der Hand.

Der Köcher mit den Pfeilen war gefüllt. Ihre scharfen Spitzen bestanden ebenfalls aus Feuerstein, und die Sehne des Bogens hatte Bris eigenhändig aus dem Darm eines erlegten Bären gedreht. Er war ein ausgezeichneter Schütze, und nur selten verfehlte er sein Ziel.

Doch dort unten am Fluß lagerten mehr als drei Hände fremder Jäger und Krieger. Bris hätte es mit ihnen schon aufgenommen, wenn es sich ge­lohnt hätte. Wenn er überhaupt hinter dem Felsen lag und sie beobachtete, so hatte das einen anderen Grund.

Er wurde verfolgt. Vor zwei Tagen war er in die Hände eines wilden Stammes geraten, der

zu seinem Glück gerade kurz zuvor reiche Beute gemacht hatte. So be­trachteten ihn die Wilden als eine Art »Vorrat«, wollten ihn mit sich neh­men und in Zeiten der Not verspeisen.

Dazu jedoch verspürte Bris keine Lust. Nur eine Nacht und einen Tag blieb er bei ihnen und studierte ihre Le­

bensgewohnheiten, um sich einen Fluchtplan zurechtlegen zu können. Es waren Nomaden. Sie führten Rinder, Schweine und Schafe mit sich, die

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sie aber nur im Notfall schlachteten. Menschen waren leichter zu fangen. Sie waren Kannibalen. In der zweiten Nacht befreite sich Bris von seinen Fesseln, schlich sich

zum Zelt des Stammesführers und holte sich seine Waffen. Er tötete den Mann im Schlaf – keine tapfere Tat, aber in seiner Lage nur zu verständ­lich. Dann schlich er sich aus dem Lager, gelangte unangefochten durch die Wachtposten hindurch und erreichte die Wüste.

Sein Vater hatte ihn zwar gelehrt, sich nach dem Stern zu richten, der immer im Norden stand. Doch in dieser Nacht legte er eine große Strecke zurück, und als es am anderen Morgen hell wurde und der Stern verblaßte, hatte er sich verirrt.

Er wußte den Weg zu seinem Stamm nicht mehr. Gegen Mittag bemerkte er weit hinter sich die Staubwolke. Die kanni­

balischen Nomaden waren ihm auf den Fersen, aber sie würden bald seine Spur verlieren, denn den Rest der Nacht war er über nackten Fels mar­schiert.

Und nun lag das fruchtbare Tal vor ihm, und fünfzehn Jäger, die keinen vertrauenserweckenden Eindruck machten, wenn sie auch statt eines Men­schen nur ein Rind über dem Feuer brieten.

Er fragte sich, was er tun sollte. Hinter ihm die Nomaden, die ihren er­mordeten Stammesführer rächen wollten, und dort unten am Fluß die Un­bekannten.

Rechts und links waren Wüste und Fels. Im Norden lagen die Wälder, und irgendwo in Richtung des Sonnenaufgangs lebte sein eigener Stamm, der ihn sicherlich längst für tot hielt.

Die Wahl fiel nicht schwer, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte.

Vorsichtig erhob er sich, zog einen Pfeil aus seinem Köcher und behielt ihn in der rechten Hand. In der linken war der Bogen. Das Messer blieb im Gürtel, der seine selbstgeschneiderte Hose hielt.

Der Fluß war gut tausend Mannslängen unter der Hochebene. Es gab keine Deckung mehr, außer einigen Buschgruppen und verkrüppelten Bäu­men.

Bris war nicht besonders wohl zumute. Seit Tagen schon hatte er seinen Stamm verloren. Der verwegene Gedanke, einen wilden Stier einzufangen und heimzubringen, hatte ihn dazu verleitet, seine Freunde zu verlassen und allein auf die Suche zu gehen. Dabei wußte er nicht einmal, wie er den Stier lebend hätte einfangen sollen.

Dann kam die Sache mit den Nomaden, und nun waren dort unten die fremden Jäger.

Sie bemerkten ihn, als er noch dreihundert Mannslängen von ihrem La­ger entfernt war.

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Fünf von ihnen standen auf und griffen nach ihren Waffen – meist Speere und Steinbeile. Das beunruhigte Bris nicht sonderlich, denn es war selbstverständlich, daß man einen Fremden nicht waffenlos empfing. Zu­mal dann nicht, wenn dieser Fremde ebenfalls bewaffnet war.

Also ging er unbeirrt weiter. Rechts wurden die Hügel ein wenig steiler, und eigentlich hätte er dar­

auf achten sollen, aber er tat es nicht. Er wandte seine ganze Aufmerksam­keit den fünf in Fellen gekleideten Männern zu, die ihn offensichtlich er­warteten. Das war, wie sich bald herausstellte, ein großer Fehler.

Die anderen Jäger blieben am Feuer sitzen, als interessiere sie der Frem­de nicht. Sie kümmerten sich um das Feuer und drehten den Spieß mit dem Rind. Der Bratenduft ließ Bris das Wasser im Mund zusammenlau­fen.

Als die fünf Männer noch hundert Mannslängen entfernt waren, hielten sie an. Sie bildeten eine auseinandergezogene Linie.

Bris ging weiter, denn vor ihren Speeren hatte er bei dieser Entfernung keine Angst. Seine Pfeile reichten weiter als ihre Speere.

Doch dann, als von rechts ein Pfeil durch die Luft geschwirrt kam und dicht vor seinen Füßen den Sand aufwirbelte, blieb er ruckartig stehen. Oben auf den Hügeln sah er plötzlich die Silhouetten mehrerer Männer, die ihre Pfeile auf ihn angelegt hatten. Die Entfernung war zu, gering für Fehlschüsse. Der Treffer im Sand war beabsichtigt gewesen.

Ohne die Männer rechts und vorn aus den Augen zu lassen, versuchte er, sich zu orientieren. In der Nähe gab es kein zuverlässiges Versteck und schon gar nicht einen Felsbrocken, der ihm Deckung geboten hätte. Allein stand er auf weiter Flur, von einem übermächtigen Gegner nahezu einge­kesselt.

Vielleicht konnte er mit ihnen reden … Er schob den Pfeil zurück in den Köcher, eine eindeutige Geste des

Friedens. Den Bogen hängte er sich über die linke Schulter, dann hob er beide Hände den fünf Jägern entgegen, die nun langsam weiter auf ihn zu­gingen.

Sie konnten das ohne große Gefahr tun, denn sie wurden von ihren Stammesgefährten auf den Hügeln rechts gedeckt. Eine falsche Bewegung von Bris, und er wäre von Pfeilen durchbohrt worden.

Sie wollten ihn aber lebendig, das war Bris klar. Vielleicht auch nur deshalb, weil gerade ein Rind an ihrem Spieß briet und sie bald satt sein würden. Vielleicht aber konnten sie auch einen kräftigen jungen Mann in ihren Reihen gebrauchen, der mit ihnen auf die Jagd ging und räuberische Nomaden bekämpfte.

Wie sollte er das wissen? Zehn Mannslängen vor ihm blieben die fünf Jäger stehen. Sie sahen

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nicht gerade sehr vertrauenerweckend aus, und ihre Gesichter waren von Narben gezeichnet. Einer von ihnen trat vor und streckte Bris die freie Hand entgegen. Aber es sollte kein Gruß sein; er wollte die Waffen des Fremden.

Bris trennte sich niemals freiwillig von seinen Waffen. Er schüttelte den Kopf, eine Geste, die jeder kannte.

In der gleichen Sekunde sauste ein Speer heran und bohrte sich einen Fingerbreit vor seinem rechten Fuß in den Sand.

»Gib her!« sagte der Mann vor ihm, die Hand noch immer ausgestreckt. »Dann kannst du mit uns essen.«

Das Angebot war verlockend, aber Bris blieb ohnehin keine Wahl. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er, wie die anderen Jäger vom Hü­gel kamen, Bogen und Pfeil schußbereit. Zwei weitere traten auf ihn zu und nahmen ihm die Waffen ab, auch das wertvolle Messer, das ihm schon so oft das Leben gerettet hatte.

»Ich wollte als Freund zu euch kommen«, sagte er. Der Anführer nickte. »Natürlich. Jetzt kannst du das sagen, da du ohne Waffen und unterle­

gen bist. Aber wir glauben dir das nicht. Du wolltest uns überfallen und unser Fleisch stehlen. Das kennen wir.«

»Jeder muß vorsichtig sein, wenn er Fremde trifft.« »Genau das sind wir auch, Fremder. Woher kommst du?« »Aus der Wüste. Ich habe den Weg zu meinem Stamm verloren, weil

ich flüchten mußte. Kannibalen waren es, die mich fingen. Ich konnte ih­nen entfliehen, aber sie sind hinter mir her. Bald werden sie hier sein.«

»Wüstennomaden aus dem Land der Mittagssonne?« »Ich glaube – ja. Sie wollen mich töten.« Der Anführer sah ihn lange an, dann meinte er: »Das wollen wir auch, Fremder. Aber erst später. Wir haben jetzt genug

zu essen, und du sollst bei uns nicht hungern. Komm mit!« Bris schauderte zusammen. Er war vom Regen in die Traufe geraten.

Die Jäger waren; ebenfalls Kannibalen. Sein eigener Stamm hatte es stets verschmäht, das Fleisch der gefallenen Feinde zu verzehren. Die Jagd war stets reichlich gewesen, so daß man darauf verzichten konnte. Außerdem verboten es die Götter.

Es blieb ihm jedoch keine Wahl. Die Situation war ähnlich wie bei den Nomaden, und vielleicht bot sich ihm eine ähnliche Chance, irgendwann die Flucht zu ergreifen. Im Augenblick mußte er sich der Übermacht fü­gen, wenn er nicht gleich getötet werden wollte.

Er nickte. »Gut, ich gehe mit euch. Ich habe Hunger.« Sie brachten ihn zum Lagerfeuer. Der junge Ochse, so erkannte Bris

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nun, war nahezu gar. Das Fett tropfte von dem braungebrannten Fleisch in die aufzischenden Flammen des Feuers. Der Duft betäubte ihn fast, als sie ihm die Beine fesselten und die Hände zusammenbanden. Er setzte sich, und niemand kümmerte sich mehr um ihn.

Es begann zu dunkeln. Die Jäger begannen damit, gewaltige Stücke aus dem Braten zu schnei­

den, und auch Bris bekam seinen Teil davon ab. Die Hände wurden von den Fesseln befreit, aber zwei Männer blieben stets in seiner Nähe. Da er kein Messer mehr besaß, riß er das Fleisch mit den Zähnen von dem Kno­chen und stillte so seinen Hunger.

Dann kreiste ein Krug mit einem bitteren Getränk um das Feuer. Bris stellte fest, daß es eine fast betäubende Wirkung hatte, wenn man zuviel davon schluckte. Er löschte also lediglich seinen ärgsten Durst und ließ sich dann wieder fesseln.

Die Nacht brach an. Seine Gegner lagen um das Feuer herum und schliefen. Aber einige

blieben wach und legten Holz nach. Ab und zu stand einer auf und machte eine Runde um das Lager. Mehrmals wurden dabei seine Fesseln über­prüft. Die Jäger gingen kein Risiko ein, denn sie wußten ja, daß er schon einmal seinen Häschern entflohen war.

Bris wurde allmählich müde. Die Strapazen der vergangenen Tage machten sich bemerkbar. Obwohl er es nicht wollte, schlief er ein, und er erwachte erst, als die Sonne aufging.

Nun war für vorerst jede Fluchtmöglichkeit ausgeschlossen. Der Anfüh­rer, der ihn gefangengenommen hatte, löste die Fesseln von seinen Füßen.

»Wir werden noch heute abend vor Sonnenuntergang unsere Hütten er­reichen, Fremder. Dort werden unsere Frauen dich pflegen, bis dein Tag gekommen ist. Bei Vollmond, denke ich, ist es soweit.«

Du wirst dich irren, dachte Bris bei sich und bemerkte, daß der andere sein Messer im Gürtel trug.

Ohne jeden Widerstand stand er auf und schloß sich den Davonziehen­den an. Hinter ihm gingen nur noch zwei Jäger. Sie bewachten Bris und sorgten dafür, daß er keinen Fluchtversuch unternahm.

Als die Sonne am höchsten stand, gab es einen Zwischenfall, den Bris längst erwartet hatte und der den Weitermarsch entscheidend verzögerte: die Nomaden überfielen die Jäger.

Es geschah in einem unübersichtlichen Gelände in der Nähe des Flus­ses. Der Wald war nicht sehr dicht, aber er bot den Nomaden, die den Zug erwarteten, genügend Schutz. Erst im letzten Augenblick konnten sie ent­deckt werden, und beinahe wäre es zu spät gewesen.

Bris, an den Händen gefesselt und waffenlos, warf sich geistesgegen­wärtig zu Boden und rollte in einen Busch. Seine beiden Wächter hatten

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keine Zeit mehr, auf ihn zu achten. Mit allen Mitteln mußten sie sich weh­ren, wenn sie nicht selbst getötet werden wollten.

Bris scharrte mit den gefesselten Händen den weichen Boden auf, als wolle er sich eingraben. In wenigen Minuten hatte er eine kleine, flache Mulde geschaffen, in die er sich hineinquetschte. Über ihm waren die schützenden Zweige des Busches. Ganz ruhig blieb er liegen und beobach­tete, was geschah.

Die Nomaden waren in der Überzahl. Sie griffen erbarmungslos an. Die Jäger wehrten sich erbittert, aber schon bald mußte Bris erkennen, daß er wieder seine Herren wechseln würde, wenn man ihn entdeckte. Da es ge­nug gefallene Gegner gab, würde man sein Leben vorerst wieder schonen, aber ein zweites Mal konnte er ihnen sicherlich nicht entkommen. Und sein späterer Tod würde eine Feier für den ganzen Stamm sein.

Der Anführer der Jäger fiel, als zwei Nomaden ihn gemeinsam angriffen und erschlugen. Das Messer blieb in seinem Gürtel. Der Leichnam lag nur wenige Meter neben Bris.

Nach einer Stunde war der Kampf entschieden. Nur wenigen Jägern war es gelungen, sich im Wald zu verbergen und so dem Massaker zu entkom­men. Die Nomaden kümmerten sich nicht um sie. Nachdem sie festgestellt hatten, daß der gesuchte Mörder ihres Stammesführers nicht unter den To­ten war, sammelten sie einige von diesen ein, banden sie auf ihre Reittiere und zogen ab.

Bris blieb noch eine Zeit in seinem Versteck, bis er sich daraus hervor­wagte. Seine Hände waren noch gefesselt. Zum Glück lag der Anführer der Jäger dicht neben dem Busch. Mit den Zähnen zog er ihm das Messer aus dem Gürtel, um es dann mit einiger Mühe in der eigenen Lederscheide unterzubringen. Nun hatte er wieder eine Waffe, aber sie nützte ihm nichts, solange er gefesselt blieb.

An einem rauhen Stamm versuchte er, die Stricke durchzureiben, aber bevor er damit fertig war, legte sich ihm eine schwere Hand auf die Schul­tern.

Es war einer der Jäger. »Sie haben dich nicht getötet, Fremder?« Bris zuckte die Schultern. »Sie haben mich nicht gefunden.« Der Jäger nahm ihm das Messer ab. »Wir sind nur noch eine Handvoll, aber wir werden unsere Freunde rä­

chen. Doch zuerst kehren wir zu unseren Hütten zurück. Dort wirst du sterben.«

»Ich habe euch nichts getan.« »Die Nomaden haben uns nur überfallen, weil sie dich suchten. Du bist

schuld an dem großen Mord, und dafür wirst du büßen müssen. Unsere

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Frauen werden dich zerfleischen.« »Dann bringt mich doch gleich um!« Der Jäger lächelte kalt und trieb ihn vor sich her, bis sie auf die anderen

vier Überlebenden stießen. Ohne Aufenthalt ging es dann weiter, nachdem die Fesseln erneuert worden waren. Bris wußte, daß er sich nun auf keinen Fall mehr allein befreien konnte.

Es wurde wieder Abend und dann Nacht. Einer der Jäger mühte sich damit ab, mit zwei Steinen Feuer zu schla­

gen. Die Funken fielen in den trockenen Zunder, aber es dauerte sehr lan­ge, bis endlich die ersten Flammen emporzüngelten. Holz war inzwischen herbeigeschafft worden, und bald brannte ein loderndes Lagerfeuer, um das sich die Jäger setzten. Von gestern war noch etwas Ochsenfleisch üb­riggeblieben, das neu angebraten wurde.

Auch Bris bekam seinen Anteil, aber er gab sich keinen falschen Hoff­nungen hin. Sie mochten ihn noch so freundlich behandeln, am Ende sei­nes Weges wartete der Tod auf ihn. Jeder Kannibale behandelte sein Opfer gut, damit es nicht abmagerte. Und morgen schon wurden die Hütten er­reicht, hatte der Jäger gesagt, der nun sein Messer besaß.

Die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Sie brachen früh auf, um eventuel­le Verfolger nicht nahe genug herankommen zu lassen. Das Gelände wur­de hügeliger, die Wälder dichter. Bris überwand einen plötzlichen Schwä­cheanfall, der sein sofortiges Ende bedeutet hätte, denn in einem Stück hätte ihn niemand schleppen können. Man hätte ihn getötet und auf die fünf Jäger verteilt, die außer ihm keine Beute mehr gemacht hatten. Nur ein Rest des Ochsens war noch vorhanden, aber die Frauen hätten sie aus­gelacht, wenn sie damit nach einigen Jagdtagen zurückgekehrt wären.

Gegen Mittag gab es einen kurzen Aufenthalt, als der vorangehende Jä­ger behauptete, einen Mann gesehen zu haben.

Bris mußte sich flach auf den Waldboden legen, während drei der Jäger mit schußbereiten Bogen auf die Suche gingen, um die bereits vorhandene Beute durch einen weiteren Gefangenen zu bereichern. Aber sie hatten Pech, denn nur zwei von ihnen kehrten zurück. Der dritte war vom Pfeil eines unsichtbaren Schützen getroffen worden.

»Es muß ein Dämon sein«, behauptete einer der Überlebenden über­zeugt. »Er fiel von den Bäumen, tötete Geros und verschwand wieder. Er hat sich einfach aufgelöst.«

»Ihr seid Dummköpfe!« behauptete der neue Anführer, der nicht mitge­gangen war. »Wie könnt ihr euch von einem einzelnen Mann überlisten lassen? Ein Wilder, der in den Bäumen lebt …!«

Bris rührte sich nicht, als er sah, wie der heranschwirrende Pfeil die Brust des Anführers durchbohrte und tief in sie eindrang. Das Holzge­schoß war dicht an seiner Wange vorbeigeflogen, und es hat sein Ziel

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haargenau getroffen. Ein zweiter Jäger starb drei Sekunden später. Jetzt waren sie nur noch zwei. Entsetzt und völlig verwirrt versuchten sie, hinter den dicken Baum­

stämmen Deckung zu finden, aber es dauerte nicht lange, bis sie einen Pfeil im Rücken hatten. Der unheimliche Feind mußte überall sein, denn sein Tod kam von allen Seiten.

Als Bris, der als einziger noch lebte, sich aufrichtete, erwartete auch er das Ende. Er hatte keine Angst mehr vor dem Tod, denn ein Pfeil war bes­ser, als von Kannibalen abgeschlachtet zu werden. Wenn schon, dann wollte er schnell sterben.

Er sah die mit einem Fell bekleidete Gestalt aus den dichten Büschen treten, die das Unterholz des Waldes bildeten. Ihre Haare waren lang und schwarz, die Augen dunkel und die Haut tief gebräunt, so als sei sie ihr Leben lang der Sonne, dem Wind und dem Regen ausgesetzt gewesen.

Es war ein Mann, nicht sehr groß, aber kräftig gebaut. Bris sah ihm entgegen, furchtlos und zum Sterben bereit. Wenige Meter

von ihm entfernt war sein Messer, aber seine Hände waren noch immer gefesselt. Er konnte sich nicht gegen das Unvermeidliche wehren.

Er hielt den Atem an, als sich der Unbekannte bückte und seine Fesseln an Händen und Beinen durchschnitt. Langsam nur richtete er sich auf und starrte ihn ungläubig an.

»Du bist frei«, sagte der Unbekannte in einem verständlichen Dialekt. »Und wenn du dich dankbar erweisen willst, dann hilf mir, die toten Kan­nibalen in die Büsche zu zerren. Ich kann sie nicht mehr sehen.« Er lächel­te flüchtig. »Hol dir vorher deine Waffen von ihnen zurück, die sie dir ab­genommen haben.«

»Ich darf mir meine Waffen holen?« vergewisserte sich Bris. »Natürlich, oder gehören sie dir nicht?« Bris stand auf. Er betrachtete den Fremden eingehend, dann streckte er

ihm die Hand entgegen. »Ich bin Bris, ein Jäger meines Stammes. Wir sind keine Kannibalen.« »Ich bin auch keiner. Nun mach schon, wir müssen hier weg. Die No­

maden aus der Wüste haben euch verfolgt. Sie werden bald hier sein.« Der Händedruck war fest und voller Vertrauen. Dann holte Bris seih

Messer, fand seinen Bogen mit dem gefüllten Köcher und half dann dem Fremden, die Leichen zu verbergen.

»Ich bin Ra, der einsame Jäger«, sagte der Fremde dann. »Willst du mich begleiten? Mein Ziel ist ungewiß.«

Bris überlegte nur einen Augenblick, dann nickte er. »Du bist der einsame Jäger, den man den Mann mit dem Feuer nennt?

Bist du nicht ein Halbgott?«

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»Die Menschen machen sich immer selbst ihre Götter, Bris. Ich bin ebensowenig ein Gott wie du, aber ich hatte seltsame Erlebnisse. Ich wer­de dir an künftigen Lagerfeuern davon berichten, wenn du mich begleitest. Wo lebt dein Stamm?«

»Ich weiß es nicht, denn ich habe mich verirrt. Dort, wo die Sonne auf­geht – vielleicht. Aber niemand wird mich vermissen, wenn ich nicht zu­rückkehre. Man wird glauben, ich sei tot. Ich komme gern mit dir, wenn du glaubst, ich könnte dir von Nutzen sein.«

»Das glaube ich, Bris. Wir müssen dem ewig stillstehenden Stern entge­genziehen. Dort gibt es Wälder und Wild. Auch leben dort weniger Kanni­balen. Die Frauen im Waldgebiet wissen das Fleisch zu trockenen und lan­ge Zeiten aufzubewahren. Es gibt dort keinen Hunger.«

»Und darum auch keine Kannibalen?« »So ist es, glaube ich.« Bris folgte Ra, als dieser voranging und vom Pfad abwich, um in das

Unterholz einzudringen. Es war ihm klar, daß sie Spuren hinterließen, aber Ra würde schon wissen, was er tat.

Und er wußte es wirklich. Ra, der einsame Jäger und der »Mann, der jederzeit Feuer machen konn­te«, war froh, einen Gefährten gefunden zu haben. Nach dem ungeschrie­benen Gesetz schuldete Bris ihm sein Leben.

Seit zwei Tagen hatte er beobachtet, was mit Bris geschehen war. Er hatte seine Gründe, nicht früher einzugreifen. Gegen eine so gewaltige Übermacht zu kämpfen, war auch für ihn gefährlich, und er wollte kein Risiko eingehen, auch wenn er des Lebens überdrüssig geworden war. Aber wenn schon, dann sollte sein Tod einen Sinn haben.

In der Tasche seiner Fellbekleidung fühlte er die harten Umrisse des Metallstabs, den er von der Goldenen Göttin Ischtar erhalten hatte, sozusa­gen als Abschiedsgeschenk. Mit ihm konnte er Feuer machen, wann im­mer er wollte.

Doch davon wußte Bris noch nichts, dem er alles erzählen würde. Viel­leicht würde er ihn nicht als einen Halbgott betrachten, sondern als Men­schen und Freund. Der Feuerstab hatte ihm viel Macht gegeben, aber er hatte ihn auch sein Volk verlieren lassen.

Und nicht nur sein Volk. Er ließ Bris vorangehen und verwischte die Spuren. Er besaß darin so­

viel Geschick, daß selbst ein ganzer Stamm von Jägern ihm nicht folgen konnte. An manchen Stellen zwang er Bris dazu, viele hundert Mannslän­gen weit von Baum zu Baum zu klettern und dabei die Richtung zu än­dern, nur damit sie keine Spuren hinterließen.

Es wurde dunkel. Ra hatte einen mächtigen Baum gefunden, der die übrigen um vieles

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überragte. Hoch über dem dicht bewachsenen Waldboden deutete er auf eine breite Astgabelung, deren Höhlung Platz für fünf Männer geboten hätte.

»Hier übernachten wir. Wir werden kein Feuer machen können, aber wir haben ja noch von dem gebratenen Fleisch der Jäger. Sammle trockene Zweige, aber stürze nicht in die Tiefe. Sei vorsichtig.«

»Wir wollen hier auf dem Baum übernachten?« »Es ist der sicherste Platz. Oder ist es dir lieber, die Nomaden finden

dich?« Bris gab keine Antwort, ließ den Bogen mit dem Köcher zurück und be­

gab sich auf die Suche nach trockenem Reisig, das er in genügender Men­ge fand, um die Astgabelung auszupolstern. Ra ging mit einem kleinen Gefäß an einer nahen Quelle Wasser holen.

Sie aßen schweigsam, dann lehnte sich Ra gegen den Baumstamm. »Ich suche Ischtar«, sagte er gedehnt. »Aber einsam ist die Suche, lang

und trostlos. Willst du mir helfen?« Bris starrte ihn verständnislos an. »Wer ist Ischtar?« fragte er. Ra sagte: »Ich werde es dir erzählen, Bris …« Und er berichtete:

»Ich war in meiner Sippe der beste Jäger, und es verging kaum ein Tag, an dem ich keine Beute brachte. Aber dann, eines Tages, kam die leuchtende Götterburg vom Himmel, und in ihr wohnte die Goldene Göttin, die ich sah und liebte. Sie erwiderte meine Liebe, aber nicht sehr lange.

Immerhin lehrte sie mich Dinge, die niemand kannte. Vieles habe ich vergessen, manches jedoch behalten. Das Wissen kehrt nur dann zurück, wenn ich es brauche. Und sie gab mir diesen silbernen Stab, mit dem ich Feuer machen kann, wann immer ich es will.

Er war mein Glück und mein Unglück, als sie mit ihrer Götterburg in den Himmel stieg und für immer verschwand. Meine Sippe glaubte, ich sei ein Gott geworden, aber ich war nur ein Mensch geblieben. Ich wurde ein­sam, und vor sechs Wintern verließ ich meine Sippe, um nie mehr zu ihr zurückzukehren.

Seitdem bin ich der einsame Jäger und der Mann mit dem Feuer. Eigentlich wäre mein Bericht damit beendet, aber ich will dir versuchen

zu erklären, warum ich dich rettete. Ich sagte dir schon einmal, daß ich einen Freund suche, um Ischtar zu finden. So heißt die Goldene Göttin aus der leuchtenden Götterburg.

Allein ist das Leben einsam, und manchmal wollte ich es nicht mehr, aber ich fand den Tod nicht, auch wenn ich ihn herausforderte. Auf der an­deren Seite will ich leben, um Ischtar zu finden.

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Willst du versuchen, mich zu verstehen?« Bris hob den Kopf. Der Bericht war kürzer ausgefallen, als er sich erhofft hatte. Er kannte die Geschichten, die den einsamen Jäger begleiteten, wo immer er sich auch zeigte. Mit einer Göttin hatte er sich gepaart, hieß es, aber niemand schien es genau zu wissen. Dann war er zu den Menschen zurückgekehrt, mit vielem Wissen und der Gabe, jederzeit das kostbare Feuer entfachen zu können.

Man empfand Scheu vor ihm, man liebte und haßte ihn zugleich, und man begann ihn zu fürchten, denn er wußte mehr als alle anderen.

Bris seufzte. »Wie willst du Ischtar jemals finden, wenn sie im Himmel verschwand?

Der Himmel ist unendlich hoch, und nicht einmal die Vögel können ihn erreichen.«

»Ich weiß es nicht, Bris. Aber ich glaube, daß Ischtar zurückkehren wird. Eines Tages wird sie zurückkehren.«

»Du wartest schon sechs Winter, aber sie kam nicht.« »Was sind schon sechs Winter für eine Unsterbliche, Bris? Ein Hauch,

ein Augenblick, ein Atemzug. Nicht mehr. Ich habe Geduld, Bris. Aber Einsamkeit und Geduld – das ist mehr, als ich ertragen kann. Wirst du mir helfen, beides zu tragen?«

Bris nickte. »Ich schulde dir mein Leben. Du kannst darüber bestimmen, Ra. Ich

bleibe gern bei dir, aber ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann. Mein Mes­ser ist gut, und mein Bogen ist gut. Ich werde dich verteidigen, wenn dich jemand angreift. Mehr kann ich nicht tun.«

»Es wird genügen, Bris. Ich bin nicht mehr so allein, das ist entschei­dend. Vielleicht finden wir zwei Frauen, die uns folgen. Dann sind wir ein neuer Stamm. Die Zeit liegt vor uns, und sie ist lang.«

»Für viele ist sie zu kurz«, sagte Bris voller banger Ahnungen. Nach einigen Tagen konnten sie sicher sein, nicht mehr von den Nomaden verfolgt zu werden.

Inzwischen war der Mond voll geworden und ging unmittelbar nach Sonnenuntergang auf. Ra machte keine Anstalten, ein Lager für die Nacht zu suchen. Als Bris eine entsprechende Frage stellte, erhielt er zur Ant­wort:

»In der Nähe lebt ein Stamm, mit dem ich befreundet bin. Dort werden wir die Nacht verbringen. Es sind Jäger, aber sie kennen die Kunst des Feuermachens noch nicht, obwohl ich mehrmals versuchte, es ihnen beizu­bringen. Feuerstein ist selten in dieser Gegend, und so sind sie auf das Feuer aus dem Himmel angewiesen, wenn es zufällig einen Baum in Brand setzt. Dann aber müssen sie das Feuer ständig hüten, und es gehört zu ihrem kostbarsten Besitz. Wer es verlöschen läßt, wird mit dem Tode

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bestraft.« »Sind sie auch Kannibalen?« »Nein, das sind sie nicht, aber Feinden gegenüber können sie trotzdem

grausam sein. Sie leben von der Jagd, aber damals begannen sie damit, den Wald an einigen Stellen zu roden und Früchte anzupflanzen. Aus dem Holz bauten sie kleine Hütten.«

»Hoffentlich erinnern sie sich noch an ihre Freundschaft zu dir, Ra.« »Vielleicht ist der alte Häuptling schon tot, aber es müssen noch Män­

ner leben, die mich damals sahen. Als ich das letzte Mal hier war, kannte ich die Goldene Göttin noch nicht. Selbst wenn sie schon von dem Mann hörten, der immer Feuer machen kann, so werden sie nicht wissen, daß es ihr alter Freund Ra ist.«

Der Mond gab genügend Licht, außerdem war der Wald nicht mehr so dicht. Mit sicherem Instinkt fand Ra einen ausgetretenen Pfad, dann die er­ste gerodete Lichtung. Das Getreide stand in langen Reihen auf dem Acker, bald reif zur Ernte.

»Bald müssen wir die Hütten vor uns sehen, Bris.« Am Waldrand entlang gingen sie weiter, die Waffen griffbereit. Im

Dunkeln ließ sich Freund und Feind nur schwer unterscheiden. Sie mußten mit Wachtposten rechnen, denn kein Häuptling würde sein Dorf schutzlos einem Überfall ausliefern. Es gab auch in den Wäldern genug räuberische Nomadenstämme.

Ra blieb stehen. »Dort vorn ist es, Bris. Die Hütten sind im Kreis angelegt worden und

durch einen starken Holzzaun miteinander verbunden. Wir müssen versu­chen, den Eingang zu finden. Vielleicht treffen wir auf eine Wache. Wir müssen uns anmelden, ehe sie uns für Räuber halten.«

Das schwere und massive Holztor war durch zusätzliche Balken gesi­chert. Dahinter mußte ein erhöhter Laufsteg sein, denn Ra und Bris er­kannten undeutlich einen Kopf knapp über dem Tor. Seine Bewegung ver­riet, daß der Wächter langsam hin und her ging. Er trug einen Speer.

»Bleib hier!« flüsterte Ra seinem Freund zu. »Ich will mit ihm reden. Halte Pfeil und Bogen bereit, damit du mir notfalls beistehen kannst, wenn er mich angreifen will. Aber verletze ihn nur, töte ihn nicht!«

Bris nickte stumm sein Einverständnis und duckte sich in das Unterholz. Ra wartete, bis er verschwunden war, dann trat er vor und blieb auf der

freien Fläche vor dem Tor stehen. Nicht sehr laut, aber doch so, daß der Mann hinter der Palisade ihn hören mußte, rief er:

»He, Freund! Ich bin Ra, der Kampfgenosse eures alten Häuptlings, dem ich einen Besuch machen möchte. Öffne das Tor …«

Der Kopf verschwand blitzschnell, tauchte an anderer Stelle wieder auf, und dann kam ein Speer geflogen. Er verfehlte Ra, der sich nicht von der

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Stelle rührte. »Sieht so die Begrüßung von Freunden aus?« fragte er, diesmal lauter

als vorhin. »Hol den Häuptling, Dummkopf!« Ein zweiter Kopf tauchte auf. Die Verstärkung war eingetroffen. Ra

stand noch immer ohne Deckung vor dem Tor. Jeder mußte erkennen, daß er in friedlicher Absicht kam, aber natürlich konnte es auch ein Trick sein, die Dorfbewohner zu verleiten, das Tor zu öffnen, damit die versteckten Räuber aus dem Wald hervorbrechen und eindringen konnten.

»Du kennst unseren Häuptling? Wer bist du?« fragte der zweite Wäch­ter mißtrauisch.

»Ich bin Ra, der einsame Jäger, und euer Häuptling ist mein Freund. Ihr wart damals noch zu jung, sonst würdet ihr mich kennen.«

»Unser Häuptling ist Moro, seit vielen Wintern schon. Meint ihr ihn?« Ra entsann sich. »Moro war noch ein Kind, als ich hier war. So ist der alte Häuptling,

Moros Vater, tot?« »Er starb, als die Barbaren uns vor zwei Wintern überfielen.« »Dann hole Moro, er wird mir und meinem Begleiter ein Nachtlager ge­

währen.« »Wo ist dein Begleiter?« »Hinter mir im Wald – mit einem Bogen bewaffnet. Bris hat noch nie

sein Ziel verfehlt.« Beide Köpfe verschwanden und kamen dann langsam wieder hoch. »Du bist ein vorsichtiger Mann, Ra.« »Darum lebe ich auch noch.« Hinter der Palisade wurde geflüstert, dann entfernten sich Schritte. Es

dauerte eine Weile, dann wurde es im Dorf lebendig. Die Jäger kamen her­beigeeilt und nahmen ihre Plätze auf dem Steg hinter dem Zaun ein. Ra konnte sich denken, daß in diesem Augenblick mehr als zwei Dutzend Speere wurfbereit auf ihn gerichtet waren.

Hinter dem Tor richtete sich eine hohe Gestalt auf. »Ich erinnere mich an Ra, den Jäger, der Freund meines Vaters war,

aber wie soll ich wissen, daß du es wirklich bist?« »Moro, laß eine brennende Fackel herbeiholen, damit du mir ins Ge­

sicht leuchten kannst. Du wirst sehen, daß ich mich nicht sonderlich verän­dert habe.«

»Es gibt keine Fackel und kein Feuer. Kara hat es verlöschen lassen, und morgen wird sie dafür sterben.«

Ra brauchte nur einen Moment, um die neue Lage zu erfassen. »Kara muß nicht sterben, denn ich habe das Feuer mitgebracht, so wie

damals. Erinnerst du dich noch, auch wenn du ein Kind warst? Ich brachte eurem Stamm das Feuer und ließ die beiden Steine zurück, mit denen ihr

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es immer wieder neu entfachen konntet. Habt ihr die Steine verloren?« Für Moro schienen nun die letzten Zweifel verschwunden zu sein. Er

gab seinen Männern einen Befehl, und kurz danach schwang ein Torflügel auf. Bris kam aus seinem Versteck, als Ra ihn rief. Die Jäger stützten sich auf ihre Speere, als die unerwarteten Besucher das Tor durchschritten, das sich hinter ihnen wieder schloß.

Moro, kräftig und hochgewachsen, kam vom Laufsteg geklettert. Er blieb vor Ra und Bris stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie. Dann lächelte er breit.

»Du bist es wirklich, Ra, jetzt erkenne ich dich, auch wenn das Mond­licht schwach ist. Du bringst uns wieder das Feuer? Aber wir haben die Steine nicht mehr. Niemand weiß, wo sie geblieben sind.«

»Ich habe neue mitgebracht – als Gastgeschenk. Doch bringt mir eine Fackel, jetzt sofort! Wir brauchen Licht und Feuer.«

Moro blieb ungläubig. »Jetzt und sofort? Du kannst nicht sofort Feuer machen, denn das Holz

ist feucht. Wir müssen erst getrockneten Schwamm finden.« »Laß die Fackel holen, mit Holzsaft getränkt, damit sie besser und hel­

ler brennt. Ich werde sie hier und jetzt vor deinen Augen entzünden, Mo­ro.«

Ein anderer Jäger trat vor und sah Ra neugierig ins Gesicht. »Ich bin Celton, Moros Bruder. Bist du der Mann, der Feuer machen

kann? Der einsame Jäger vielleicht …?« »So nennt man mich«, sagte Ra einfach. Die Männer wichen ein wenig vor ihm zurück, nur Moro streckte ihm

die Hand entgegen. »Dann sei willkommen bei uns, Freund meines Vaters. Du also bist es,

von dem die Stämme heimlich raunen und der mit einer Göttin lebte, die vom Himmel kam? Du, Ra, der einsame Jäger …?«

»Ja, ich bin es, und ich hoffe, ich komme als Freund.« »Du und dein Begleiter sind willkommen«, wiederholte Moro. Celton sagte: »Kommt, wir gehen zum Dorf platz. Alle sollen sehen, wie Ra das Feu­

er entzündet. Man wird die Fackel bringen.« In seiner Stimme war Zweifel. Es klang aber auch Neid mit – und eine

Spur von Furcht. Bris ging neben Ra und ließ die anderen Männer nicht aus den Augen.

Er war noch niemals nachts in das Dorf eines fremden Stammes gegangen, weil es lebensgefährlich war. Selbst am Tag konnte man getötet werden, wenn man kein Glück hatte. Aber dieser Ra war ein Zauberer, ganz abge­sehen davon, daß er Moros Vater gekannt hatte.

Ein Mann kam mit der Fackel und überreichte sie Moro, der sie Ra ent­

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gegenhielt. »Zeige deine Wunderkräfte, Ra«, sagte er feierlich. »Unsere Frauen sind

bei ihren Hütten und sehen zu. Wir Männer aber sind bei dir, und wenn du uns das Feuer gibst, kannst du mit deinem Freund so lange bleiben, wie du willst.«

Ra zog den silbernen Stab aus der Tasche und hielt ihn in die Höhe, so daß jeder ihn sehen konnte. Das Mondlicht fiel voll auf den Platz und es war heller geworden.

»Das Geschenk der Goldenen Göttin!« rief er aus. »Mit ihm werde ich die Fackel entzünden, aber ich muß eine Bedingung stellen, Moro.«

»Eine Bedingung? Welche?« »Kara! Ich fordere ihr Leben gegen das Feuer.« »Kara hat unser aller Leben in Gefahr gebracht, Ra. Sie muß sterben!« »Nein, sie wird nicht sterben, Moro! Mein Feuer gegen ihr Leben!« Celton sah Ra ins Gesicht. »Du stellst Bedingungen? Bist du nicht in unserer Gewalt? Wäre es

nicht viel eher an uns, Bedingungen zu stellen? Das Feuer gegen dein Le­ben etwa?«

Ra gab das zynische Grinsen kalt zurück. »Da, nimm den Silberstab und versuche, Feuer damit zu machen.« Er hielt ihm das Geschenk der Goldenen Göttin entgegen. »Nimm ihn

nur, und du wirst sehen, daß er nutzlos für dich und alle anderen ist. Nur mir gehorcht er, sonst niemandem. Also ist er nur dann von Nutzen, wenn ich lebe. Also, was ist, Moro? Nimmst du die Bedingung an?«

»Kara darf weiterleben, Ra. Sie ist noch jung, erst neunzehn Winter. Sie wird dir dankbar sein.«

»Gut, dann halte die Fackel.« Ra nahm den Silberstab so in die Hand, daß niemand richtig sehen

konnte, wie er mit dem Daumen an einer ganz bestimmten Stelle leicht rieb. Sofort schoß eine grelle Flamme aus dem oberen Teil des Stabes und entzündete die Fackel, die lichterloh zu brennen begann. Schnell schob Ra den Stab wieder in die Tasche, nahm Moro die Fackel ab und schwenkte sie hin und her, daß die Funken nach allen Seiten stoben.

»Feuer! Laßt uns zum immerbrennenden Herd gehen und das Feuer neu entfachen, damit es ständig brennt und euch Licht und Wärme gibt. Moro, wir sind müde. Wo können wir schlafen?«

Und Moro sagte: »In Karas Hütte. Sie lebt allein, seit ihr Vater und ihre Mutter von ei­

nem stürzenden Baum erschlagen wurden. Sie wird euch gern aufnehmen. Kommt, ich zeige euch das Lager.«

Ra warf Bris einen schnellen Blick zu, dann nickte er den anderen Män­nern ein kurzes Lebewohl zu und folgte Moro, der voranging. Zurück

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blieb Celton mit einigen Jägern, die mit der brennenden Fackel am Dor­frand das ewige Feuer entzündeten.

Vor einer der Hütten stand ein Wächter. Moro schickte ihn fort, eine brennende Fackel zu holen. Dann erst betrat er mit seinen beiden Gästen den Raum, der nun hell erleuchtet war.

Auf einem breiten Lager saß ein junges, schwarzhaariges Mädchen, das ihnen aus verweinten Augen entgegenblickte. Ihre Hände waren mit Hanf­stricken gefesselt. Ra nahm sein Messer und schnitt die Fesseln durch, während Moro ihr mitteilte, was inzwischen geschehen war.

Bris ging zu ihr, setzte sich neben sie und rieb ihr die blutunterlaufenen Handgelenke. Dann strich er ihr über das lange Haar.

»Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Kara. Niemand wird dir et­was tun, und wenn du uns ein Nachtlager gewährst, sind wir dir sehr dank­bar. Dort steht ein zweites Bett, das genügt uns.«

Ra wandte sich an Moro: »Wem gehört sie?« »Morgen hätte sie niemandem mehr gehören können, Ra. Sie ist sehr

schön, findest du nicht auch? Celton wollte sie nehmen, aber sie wollte ihn nicht. Er wird nicht sehr froh sein, wenn ihr bei ihr schlaft.«

»Und genau das werden wir auch tun, nämlich schlafen, Moro! Wir sind müde von der langen Wanderung. Ich danke dir für alles.«

Er ließ die Fackel zurück, die Ra in eine entsprechende Halterung schob. Dann ging er zu dem zweiten Bett, das vorher mit aller Wahr­scheinlichkeit Karas Eltern gehört hatte. Es war sehr breit und mit Fellen ausgelegt. Ra setzte sich und sah Bris herausfordernd an.

Kara mochte seine Gedanken erraten haben, denn sie sagte: »Ich habe euch mein Leben zu verdanken, damit gehört es euch beiden.

Nimm du das Bett meiner Eltern und überlaß das meine deinem jungen Freund. Ich werde dann zu euch kommen …«

»Nein, Kara! Nicht heute! Morgen haben wir Zeit, darüber zu sprechen und zu beraten. Bris und ich sind Freunde, es wird nie einen Streit zwi­schen uns geben, auch nicht wegen dir. Aber wir sind müde. Wir möchten schlafen.«

Bris stand auf und kam zu Ra. »Das Bett ist breit genug für uns, Kara. Lege dich hin und versuche zu

schlafen, vielleicht beginnt morgen ein neues Leben für dich.« Wenn sie enttäuscht war, zeigte sie es nicht. Gehorsam legte sie sich

wieder auf ihr Lager und sah zu, wie die Männer einen Teil ihrer Kleidung ablegten, die Waffen unter das Bett schoben und sich schließlich nieder­legten, nachdem sie die Fackel gelöscht hatten.

Bald verkündeten tiefe und regelmäßige Atemzüge, daß die Freunde eingeschlafen waren.

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Kara lag noch lange wach, aber sie fand keine Antwort auf ihre Frage, mit wem sie zuerst ihr Lager teilen wollte – mit dem feuermachenden Ra, der ihr das Leben gerettet hatte, oder mit dem jungen Jäger Bris, der ihr sanfter und zärtlicher erschien.

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2.

Das Leben im Dorf nahm seinen gewohnten Fortang. Unter dem Schutz einiger bewaffneter Männer gingen die Frauen hinaus

auf die Felder, zogen mit schweren Pflügen neue Furchen in den fruchtba­ren Boden, damit er nach dem Winter die Saat aufnehmen konnte.

Eine Gruppe der Jäger zog in den Wald, damit am Abend ein Fest zu Ehren des »Mannes mit dem Feuer« stattfinden konnte, das ohne erlegtes Wild undenkbar war. Andere Frauen bereiteten das berauschende Getränk vor, das aus Getreide hergestellt wurde und das nach reichlichem Genuß fröhlich, ausgelassen – und hemmungslos machte.

Kara blieb in der Hütte, denn sie hatte viel zu tun, sie in Ordnung zu halten. Sie lüftete die Schlafstelle, kehrte den Schmutz zusammen, holte Wasser und entfachte ein kleines Feuer im Herd. Holz gab es in Hülle und Fülle, und Feuer war auch wieder da.

Bris kam zu ihr, als die Sonne am höchsten stand. »Freust du dich auf das Fest, Kara?« Sie lachte ihm entgegen. »Ja, ich freue mich. Ohne dich und Ra hätte ich es nicht mehr erleben

können.« »Ohne uns hätte es auch nicht stattgefunden«, gab er zu bedenken. »Ich

bin sehr froh, daß wir gerade zur rechten Zeit kamen, um dich vor dem Tod zu retten.«

Sie sah ihn an. »Wirst du heute das Lager mit mir teilen?« Verwirrt nickte er. »Wenn du es so willst … ja.« »Und Ra? Wird er zornig werden?« »Nein, natürlich nicht. Wir sind Freunde. Außerdem glaube ich, daß er

noch immer seine Goldene Göttin liebt, auf deren Rückkehr er wartet.« »Wird sie wiederkommen?« »Das weiß niemand, Kara. Aber mach dir deshalb keine Sorgen. Wir

werden weiter nach ihr suchen. Vielleicht willst du mit uns kommen.« »Mit euch kommen? Mein Dorf verlassen?« »Warum nicht? Oder willst du eine der Frauen Celtons werden?« Sie gab keine Antwort, aber sie dachte darüber nach. Bris ging wieder

und ließ sie allein. Ra saß mit Moro vor dessen Hütte. In der Nähe hielt sich Celton auf und beobachtete sie. Bris beachtete ihn nicht und setzte sich neben Ra auf den Holzstamm.

Moro sagte gerade, ohne sich von Bris Anwesenheit stören zu lassen: »Natürlich haßt mich Celton, das siehst du doch. Er ist einen Winter äl­

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ter als ich, aber unser Vater hat mich, nicht ihn, zu seinem Nachfolger be­stimmt. Ein Kampf um den Titel des Häuptlings ist unausbleiblich. Nach dem Winter, der nun folgt, wird er stattfinden.«

»Du wirst Celton besiegen, Moro, denn er ist unbeherrscht und handelt unüberlegt. Du aber bist klug und stärker als er. Und ich werde dir die bei­den Feuersteine geben, mit denen du der Mächtigste deines Stammes sein wirst. Verberge sie in einem guten Versteck, damit sie dir nicht gestohlen werden können.«

»Ich danke dir, Ra, du bist wirklich ein Freund. Und du weißt, daß du jederzeit in meinem Dorf willkommen bist.«

Ra lächelte. »Darum möchte ich ja auch, daß du Celton besiegst, Moro. Ich werde

dir noch einige Ratschläge geben, denn die Goldene Göttin hat mich viel gelehrt. Nicht alles habe ich vergessen, wenn auch schon sechs Winter vergangen sind.«

»Und sie kam vom Himmel?« vergewisserte sich Moro, noch immer un­gläubig.

»In einem leuchtenden Berg, höher als die höchsten Bäume und Hügel! In seinem Inneren war alles glatt und sauber. Seltsame Dinge gab es dort, ich kann sie nicht einmal beschreiben, weil mir dazu die Worte fehlen. Aber dann verließ sie mich, die Goldene Göttin, und sie gab mir nur den Feuerstab. Doch sie muß zurückkehren, aber ich weiß nicht, wo ich dann sein werde und ob ich es erfahre.«

»Warte an der alten Stelle«, riet Moro. Ra nickte ohne Zuversicht. »Zu meinem Stamm kann ich nicht zurückkehren, Moro. Sie halten

mich für einen Halbgott und fürchten sich vor mir. Vielleicht hätten mich meine eigenen Männer sogar getötet, wenn ich nicht weggegangen wäre. Sie wollten meinen Feuerstab besitzen, um Macht zu erlangen.«

»Auch Celton will ihn haben, Ra.« »Ja, ich weiß, aber er wird ihn nicht bekommen. Der Stab hat mir zu oft

das Leben gerettet – genauso wie er es ständig bedroht.« Ra wechselte ab­rupt das Thema: »Und du? Hast du die Arbeit deines Vaters fortgeführt und Felder bestellt? Nur die Barbaren leben von Fleisch allein.«

»Die Saat, die du damals brachtest, hat sich inzwischen vertausendfacht. Wir haben genügend Vorräte, auch wenn unsere Jäger keine Beute ma­chen. Nur brauchen wir das ständige Feuer.«

»Und Feinde? Gibt es keine Stämme hier, die euch den Wohlstand nei­den und euch überfallen?«

Moro nickte bedrückt. »Wir haben viele Feinde, darum bauten wir den Holzwall. Es vergeht

kein Mond, ohne daß wir angegriffen werden. Sie rauben unsere Frauen,

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wenn sie auf den Feldern arbeiten, darum geben wir ihnen Männer zum Schutz mit. Das Leben ist härter und gefährlicher geworden, seit es uns besser geht. Verstehst du das?«

Ra nickte. »Ja, ich verstehe. Der Neid ist das schlimmste Übel unserer Welt, die

unermeßlich groß zu sein scheint. Darum bin ich immer auf der Wander­schaft. Ich hoffe, das Paradies zu finden, in dem es keinen Neid und kei­nen Mord gibt, sondern in dem die Menschen in Frieden zusammenleben und alle das haben, was sie benötigen.«

»Das ist ebenso unerfüllbar wie deine Goldene Göttin. Glaubst du wirk­lich, daß sie je zurückkehrt?«

Ras Miene wurde finster. »Ich muß daran glauben, wenn ich weiterleben will, Moro. Das mußt du

verstehen, denn ich liebe sie immer noch.« »Du liebst eine Frau, die es nicht gibt, Ra. Versuche es mit Kara. Sie ist

gut und dankbar – und sie ist ein Mensch.« Ra warf Bris einen Blick zu. Er las in seinen Augen. »Kara wird Bris gehören«, sagte er dann bedächtig. »Und sie kann nur

einem von uns gehören. Mir gehört die Goldene Göttin.« Celton kam herbeigeschlendert. Niemand wußte, ob er die letzten Sätze

gehört hatte. Er blieb stehen und fragte Ra: »Kann ich deinen Feuerstab betrachten? Du bekommst ihn zurück.« Ra griff in die Tasche und zog den silbernen Stab heraus. Er reichte ihn

Celton. »Natürlich gibst du ihn mir zurück, Celton. Sieh ihn nur an aber seine

Zauberkraft wirkt nur dann, wenn ich ihn in der Hand halte.« Ra war sicher, daß kein anderer zufällig die winzige Stelle finden wür­

de, die man reiben mußte, um die Flamme zu erzeugen. Er behielt auch diesmal recht.

Celton nahm ein wenig zögernd den Stab, so als könne er nicht glauben, daß man ihm soviel Vertrauen schenkte, wog ihn in der Hand und unter­suchte ihn eingehend. Er fand nichts, was ihm einen Anhaltspunkt hätte geben können. Ein Stück Metall, das er nicht kannte – das war alles.

Er gab ihn Ra zurück. »Und damit machst du Feuer?« erkundigte er sich ungläubig, obwohl er

es selbst gesehen hatte. »Und ich kann es nicht machen?« »Nein, niemals, Celton! Es ist also unnötig, daß du darüber nachgrü­

belst, wie du ihn mir abnehmen kannst. Er würde dich nicht zum Häupt­ling machen können.«

Celtons Hand zuckte zum Messer im Gürtel, aber er beherrschte sich im letzten Augenblick. Mit einem haßerfüllten Blick entfernte er sich und ver­schwand in seiner Hütte.

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Moro sagte: »Das hättest du nicht tun dürfen, Ra. Nun weiß er, daß du sein Feind

bist. Er wird dich töten wollen, und das nicht nur wegen des silbernen Sta­bes. Nimm dich vor ihm in acht!«.

Ra lächelte überlegen. »Das tat ich vom ersten Moment an, in dem ich ihn sah. Er ist hinterhäl­

tig und feige, aber er ist auch ehrgeizig. Doch er ist auch dein Bruder und damit dein Problem! Du bist es, der mit ihm fertig werden muß, nicht ich. Doch wenn ich dir helfen kann …«

»Er hat nur wenig Freunde, denn er wäre ein schlechter Häuptling«, be­ruhigte Moro.

Als es dunkelte, kehrten die Frauen mit ihren Beschützern von den Fel­dern zurück. Mitten auf dem Dorf platz brannte ein riesiges Feuer. Ein ausgenommenes Schwein drehte sich auf dem Spieß und verbreitete einen Duft, der den Jägern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Der Krug mit dem bitteren Gebräu kreiste bereits.

Kara hockte neben Bris, als das Fest begann, und als es endete, saß sie noch immer neben ihm.

In dieser Nacht fand ihre Hochzeit statt, während Ra in seinem Bett un­ter den Fellen lag und von seiner Goldenen Göttin träumte, die zurückge­kehrt war, um ihn zu sich zu holen … Noch bevor der Morgen graute, erfolgte der Überfall.

Wie üblich gab es nur zwei Männer, die Wache standen. Die Erfahrung hatte erwiesen, daß sie genügten, eine Überraschung abzuwenden.

So auch heute, wenn es auch das Leben eines der beiden Männer koste­te.

Der Mann am Tor spähte gelangweilt in das Dämmerlicht der Mond­nacht, aber er sah nichts. Auf der anderen Seite des Dorfes war der zweite Wachtposten, mit dem er nur durch gelegentliche Rundgänge Verbindung hielt.

Es war kurz vor Sonnenaufgang, als der Mann am Tor den Gegner be­merkte. Die Augen fielen ihm vor Müdigkeit schon fast zu, und er freute sich auf den freien Tag, den er nach seinem Gutdünken ausnutzen durfte, als er eine heftige Bewegung in den Farnbüschen sah. Er riß die Augen er­schreckt auf, aber die Büsche waren wieder ruhig – und kein Windhauch regte sich.

Noch während er überlegte, ob er Alarm geben sollte oder nicht, erhob sich ein fremder Barbar und schleuderte den Speer, der die Brust des Wächters durchbohrte und ihn vom Laufsteg schleuderte. Noch während er starb und auf den Dorfplatz stürzte, entrang sich seiner Kehle ein alar­mierender Schrei.

Der zweite Wächter hörte ihn und schlug sofort Lärm.

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Ra erwachte rein instinktiv, als er das ungewohnte Geräusch hörte. Mit einem Ruck warf er die Decken beiseite und entzündete die Fackel.

Im anderen Bett trennte sich Bris von Kara. Mit wenigen Handgriffen bewaffnete er sich und folgte Ra, der voranlief.

Das ganze Dorf war in Bewegung geraten. Sieben oder acht Jäger, die nicht zuviel getrunken hatten, waren bereits auf dem Laufsteg, und da sie in guter Deckung standen, gelang es ihnen, den ersten Ansturm des feind­lichen Stammes aufzuhalten.

Ra zögerte, als er den Steg erreichte. Er sah sich um und entdeckte einen der Speere, die über den Zaun geflogen waren.

»Geh schon mal, Bris. Ich habe eine Idee …« Schnell rannte er zur Hütte zurück. »Kara, hast du einen Strick – ja, nimm den, mit dem man dich gefesselt

hatte. Gib ihn mir!« Er befestigte die brennende Fackel am Ende des Speeres und lief wieder

hinaus. Der feindliche Ansturm konzentrierte sich auf das Tor, aber inzwi­schen waren auch die anderen Männer des Dorfes herbeigeeilt und hatten ihre Positionen eingenommen.

Moro winkte Ra zu. »Kein Licht, sonst sehen sie uns, Ra!« »Dann werden wir den Vorgang eben umkehren, Moro. Du mußt Ver­

trauen zu mir haben.« Er hielt den Speer waagerecht, damit die Flamme der Fackel mehr Nahrung fand. »Wo ist die Hauptmacht des Feindes?«

»Vor dem Tor. Aber im Halblicht sind sie kaum zu erkennen.« »Das wird sich gleich ändern. Sage deinen Männern, sie sollen ihre

Pfeile bereithalten. Sie werden bald mehr Feinde sehen, als sie Pfeile ha­ben.«

»Er will uns verraten!« brüllte Celton aus dem Hintergrund. »Du bist dumm wie ein Schaf!« brüllte Ra wütend zurück, erklomm den

Steg und spähte vorsichtig durch die schmalen Ritzen der Palisade. Un­deutlich nur erkannte er ein paar Schatten, die sich aus dem Wald hervor­wagten und ihre Speere gegen den Zaun schleuderten.

Mit einem Ruck richtete Ra sich dann auf und warf den Speer mit der Fackel am hinteren Teil auf die Lichtung hinab. Die Spitze bohrte sich in den weichen Boden, und dann war der Platz mit einemmal hell erleuchtet.

Die Männer des räuberischen Stammes waren viel zu verblüfft, um sich sofort in Sicherheit zu bringen. Ehe sie sich von ihrer Überraschung erho­len konnten, war mehr als die Hälfte von ihnen tot. Moros Männer waren gute Schützen, und jeder Pfeil traf sein Ziel.

Der Rest wandte sich zur Flucht. Nur einer war mutig genug, zu dem brennenden Speer zu laufen und ihn aus dem Boden zu reißen. Doch bevor er ihn gegen eine Hütte schleudern konnte, traf ihn Bris' Pfeil und durch­

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bohrte ihn. Ra blieb ganz ruhig stehen, als ein Wurfspeer dicht an seinem Kopf vor­

beisauste und in der Palisade steckenblieb. Der Speer war von hinten ge­kommen, und der Dorfplatz war viel zu breit, als daß ein Speer ihn von der anderen Seite her hätte überqueren können.

Langsam drehte er sich um. Er sah Celton in einiger Entfernung stehen, sich umdrehen und dann davongehen.

Bris kam herbei. »Er war es«, sagte er ruhig. »Ich habe es gesehen. Aber vielleicht bin

ich der einzige, der es gesehen hat. Niemand wird dir glauben.« »Das ist nicht nötig. Wir wissen es, und das genügt.« Es folgte kein zweiter Angriff, denn es wurde rasch hell. Ein Trupp von

Moros Leuten verließ das Dorf, um die Feinde zu verfolgen. Sie gehörten zu einem Stamm auf der anderen Seite des nahen Flusses, und schon mehr als einmal hatten sie versucht, das Dorf zu überfallen und von den Früch­ten zu leben, die andere gesät hatten.

Ra brachte einen Verwundeten zum Dorfplatz zurück und ging dann zu Moro. Er berichtete ihm von Celtons hinterhältigem Mordanschlag und betonte, daß es nur einen einzigen Zeugen gäbe. Moro dachte nach.

»Ich könnte ihn bestrafen, aber es sähe nicht gut aus. Man würde glau­ben, ich wollte dem Kampf mit Celton ausweichen. Aber Celton bedeutet eine ständige Gefahr für dich, mein Freund. Darum sollten wir etwas un­ternehmen.«

»Ich passe schon auf mich auf, Moro. Nur fürchte ich, daß er gegen dich etwas unternehmen wird, bevor euer Kampf stattfindet.«

»Mein Vater hatte nur zwei Söhne – Celton und mich. Celton ist der Äl­tere, eigentlich hätte er Häuptling werden müssen, nicht ich. Mein Vater war ungerecht, aber ich mußte seinen letzten Wunsch erfüllen. Ich tat es nicht gern, Ra.«

»Für deinen Stamm ist es die beste Lösung, das sagte ich dir schon ein­mal. Du wirst Häuptling bleiben, Moro!« Er stand auf. »Ich möchte noch ein wenig ruhen, denn ich bin müde. Wir reden später weiter. Und inzwi­schen: sei auf der Hut!«

»Ich habe Freunde«, beruhigte ihn Moro. Bris lag schon wieder im Bett, aber Kara fachte im Herd das Feuer neu

an und briet ein Stück Fleisch, dessen Duft Ra sofort wieder munter mach­te. Trotzdem legte er sich auf die Felle.

»Du wirst einmal eine gute Frau für einen Jäger sein«, tastete er sich vor. »Wen wirst du erwählen, Kara?«

Sie strich sich die langen Haare aus dem Gesicht und wandte sich ihm zu.

»Bris meint, ich könnte euch begleiten, wenn ihr weiterzieht.«

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Ra sah hinüber zu Bris, der sich aufrichtete und sagte: »Wir hätten jemand, der uns das Leben auf der Wanderschaft leichter

macht. Ra. Sie kann unsere Kleider in Ordnung halten und das Fleisch bra­ten. Sie kann das Lager mit uns teilen.«

Ra lächelte. »Du brauchst nicht für sie zu sprechen, mein Freund. Ich habe nichts

dagegen, daß sie mit uns geht, und du kannst sie auch für dich allein ha­ben. Aber sie ist eine Frau, kein Mann. Manchmal wird sie uns zur Last werden, und feindliche Jäger werden uns verfolgen, weil wir eine so schö­ne, junge Frau bei uns haben. Vergiß das nicht.«

»Du hast selbst gesagt, wir könnten uns Frauen nehmen, um einen neu­en Stamm zu gründen.«

Ra sah Kara an, die das fertige Fleisch auf den Holztisch legte. »Du kommst gern mit uns, Kara? Es wird nicht leicht für dich sein,

nicht so leicht wie hier im Dorf. Hier bist du sicher, aber unser Leben ist gefährlich. Überall lauert der Tod, und wir wissen morgens nicht, wo wir abends unser Lager finden.«

»Aber Bris ist bei mir«, sagte sie einfach. »Und du, Ra.« Er nickte und stand auf. »Gut, dann werden wir dich mitnehmen. Aufstehen, Bris, es gibt etwas

zu essen!« Bris kam an den Tisch und setzte sich. »Wann werden wir weiterziehen?« fragte er und teilte das Fleisch mit

seinem Messer. »Bleiben wir noch lange?« »Wir verlieren nichts, und außerdem ist da noch eine Sache zu regeln.

Vergiß den Speer nicht, der nach mir geworfen wurde.« Bris schob ein Stück Fleisch in den Mund. »Ich verstehe, Ra. Dieser Speer soll zu dem Mann zurückkehren, der

ihn gegen dich schleuderte.« »Ja, das wäre eine Möglichkeit«, knurrte Ra mit vollem Mund.

Kurz bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, verließ Ra die Hütte und ging zum Tor. Der Speer, den Celton geschleudert hatte, steckte noch immer in der Palisade. Einige Jäger lungerten herum. Ra ging zu ihnen und sagte:

»Wie mag es einem der Räuber gelungen sein, den Speer so zu werfen, daß er von innen im Zaun steckt. Er muß zaubern können. Was meint ihr?«

»Einem von ihnen muß es gelungen sein, über den Zaun zu steigen, oder er warf ihn von der anderen Seite.«

Ra nickte. »Schön, das wäre eine Möglichkeit. Probieren wir es aus.« Er stieg auf

den Steg und zog den Speer aus dem Holz. Dann kehrte er zu den Warten­

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den zurück. »Kommt mit mir. Wir wollen sehen, ob wir so stark sind wie dieser fremde Jäger.«

Ra drehte sich um und maß die Entfernung ab. Er war kräftig und ein guter Speerwerfer, aber die Entfernung betrug fast achtzig Mannslängen. Trotzdem strengte er sich an, als er Anlauf nahm und warf.

Der Speer fiel ein Dutzend Mannslängen vor dem Tor auf den Boden. »Der nächste kann ihn holen«, sagte er ruhig. »Niemand kann einen Speer so weit werfen, Ra. Warum verlangst du es

von uns?« Moro mischte sich ein: »Ra will euch nur beweisen, daß niemand den Speer von dieser Seite

aus geworfen haben kann, zumindest darin nicht, wenn er noch hinter un­serem Zaun stand. Den Speer hat jemand geworfen, der auf dem Dorfplatz stand, als der Angriff begann. Es muß jemand von uns gewesen sein, und er wollte unseren Gast töten.«

Das waren klare Worte, die auch von den Jägern verstanden wurden. »Celton war nicht mit uns am Zaun«, murmelte einer der Männer. Moro nickte ihm zu. »Du hast ihn gesehen?« »Ja, ich habe ihn gesehen, aber nicht darauf geachtet.« »So sahst du nicht, daß er den Speer nach Ra schleuderte?« Der Mann schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, das habe ich nicht gesehen. Die Räuber griffen an, ich habe das

Dorf verteidigt, wie die anderen.« Ra sagte: »Celton wollte mich töten, Freunde. Er will den Stab haben, mit dem

ich Feuer machen kann. Und eines Tages wird er auch Moro töten wollen, um euer Häuptling zu werden. Was werdet ihr tun?«

Ehe sie ihm antworten konnten, nahm ihnen Celton selbst die Entschei­dung ab. Lange genug hatte er die Versammlung beobachtet und die De­monstration mit dem Speer verfolgt. Er verschwand in seiner Hütte und kam mit einem schweren Wurfspeer wieder zurück. In der linken Hand trug er ein Steinbeil.

Ra trug nur sein Messer. Celton kam bis auf zwanzig Mannslängen heran, dann blieb er stehen. Moro rief ihm zu: »Was willst du, Celton? Niemand geht heute auf die Jagd.« »Ich habe gehört, was Ra gesagt hat. Er lügt, und ich werde ihn dafür

bestrafen.« »Er sprach die Wahrheit, Celton. Du wolltest unseren Gast heim­

tückisch ermorden. Wir werden dich dafür bestrafen.« »Mich, den Bruder des Häuptlings?« Er lachte. »Bald werde ich selbst

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Häuptling sein, Moro, denn ich werde dich besiegen.« »Ja, aus dem Hinterhalt heraus …« Ra sah, wie Celton den rechten Arm zurückschwang und ausholte. Mit

einigen Sätzen war er bei dem niedergefallenen Wurfspeer und hob ihn auf, aber noch zögerte er. Er wartete, bis Celtons Speer einige Mannslän­gen an ihm vorbeiflog und im Zaun steckenblieb.

Als Celton sah, daß er abermals sein Ziel verfehlt hatte, verlor er die Beherrschung. Mit geschwungener Steinaxt rannte er auf Ra zu, ohne dar­auf zu achten, daß dieser ihm seinen eigenen Speer einfach entgegenhielt, ohne ihn zu werfen. Er rannte direkt in die Steinspitze hinein, ehe er die Axt schleudern konnte.

Ra ließ den Speer los, ohne sich um den gestürzten Celton zu kümmern, dessen Blut den Boden des Dorfplatzes rot färbte. Er legte beide Hände auf die Schultern Moros.

»Es tut mir leid, mein Freund, daß ich Deinen Bruder töten mußte. Ich glaube, du wirst Häuptling bleiben.«

»Er hat das Gastrecht verletzt«, erwiderte Moro tonlos und sah auf den Leichnam hinab. »Es war seine Schuld.« Er wandte sich an seine Jäger. »Bringt ihn hinaus in den Wald zu den anderen Toten, im Dorf ist kein Platz mehr für ihn.«

Damit war Celtons Name für alle Zeiten ausgelöscht, und niemand mehr würde ihn erwähnen.

»Wir werden morgen weiterwandern, Moro«, sagte Ra, als sie zu den Hütten zurückgingen. »Vielleicht kommen wir eines Tages wieder.«

»Du bist immer willkommen, Ra. Wird Kara mit euch gehen?« »Ja, sie geht mit. Und achte auf die beiden Steine, die ich dir brachte.

Euer Feuer wird immer brennen, wenn du sie gut bewahrst.« »Sie liegen in meiner Hütte vergraben, keiner kann sie dort finden. Wer­

den wir heute noch feiern?« »Es darf aber nicht spät werden, denn wir haben einen langen Weg vor

uns.« »Geh dorthin, wo die Sonne nie steht. Es gibt dort große Wälder und

Berge, in denen viel Wild ist. Ihr werdet genug zu essen finden, aber ich kenne die Stämme dort nicht.«

An diesem letzten Abend blieb Bris bei Kara in der Hütte, während Ra noch lange mit den Männern des Stammes am großen Lagerfeuer saß und den Geschichten lauschte, die sie ihm erzählten. Sie sprachen von einem seltsamen Tier, das in den Wäldern sein Unwesen trieb, eine Kreuzung zwischen einem Stier und einem Fabelwesen, das auf der Stirn ein mächti­ges Horn trug, mit dem es seine Gegner aufzuspießen pflegte.

»Vielleicht begegnet es uns«, scherzte Ra. »Dann werden wir es töten und euch das Horn mitbringen.«

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Als er in die Hütte kam, schliefen Bris und Kara schon. Eng umschlun­gen lagen sie unter den Fellen, und einen Augenblick lang spürte Ra einen Stich in der Herzgegend. Dann aber legte auch er sich auf sein Lager und versuchte zu schlafen.

Wieder träumte er, die Goldene Göttin sei zurückgekehrt, um ihn für immer mit sich zu nehmen.

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3.

Zwei Nächte waren sie bereits unterwegs, als sich das Gelände veränderte. Immer wieder mußten sie reißende Wildbäche überqueren, die nach Süden flossen, den ewigen Wäldern entgegen.

Bris hatte ein wildes Schwein erlegt, das sie nun am Lagerfeuer brieten. Kara bereitete inzwischen das Nachtlager vor. Aus Farn baute sie eine leichte Hütte, deren Boden sie mit trockenen Zweigen ausstattete, von de­nen es genügend gab. Darüber legte sie einige Felle, die sie bei sich führ­ten.

»Sie hat bei dir geschlafen?« erkundigte sich Bris, als er Kara außer Reichweite glaubte. »Ist sie eine gute Frau?«

Ra hatte auf die Frage gewartet, denn bisher hatten sie nicht darüber ge­sprochen. Er nickte.

»Ja, das hat sie, aber ich bemerkte es erst, als ich am Morgen erwachte. Denk nicht darüber nach, Bris. Sie fühlt sich uns beiden verpflichtet, aber sie liebt nur dich. Ich habe sie nicht angerührt. Und vergiß nicht, daß es üblich wäre, daß Männer sich ihre Frauen teilen, wenn es zu wenig von ih­nen gibt. Bei meinem Stamm war es so, daß eine Frau zwei Männer hatte, nicht umgekehrt. Wir hatten mehr Männer als Frauen. Die Natur schreibt uns die Gesetze vor.«

Bris wurde unsicher. »So habe ich es nicht gemeint, Ra. Sie gehört uns beiden, auch wenn ich

sie wirklich liebe. Meine Frage war dumm. Ich weiß, daß sie eine gute Frau ist. Wir können froh sein, daß sie uns begleitet.«

»Das können wir.« Ra drehte den Holzspieß. »Ich werde nach Einbruch der Dunkelheit noch das Gelände erkunden. Du kannst schon schlafen ge­hen.«

Bris wußte, was Ra meinte. »Danke, Ra. Ich hätte mir keinen besseren Freund wünschen können.« »Morgen bleiben wir hier und verbringen, noch eine weitere Nacht an

diesem Ort. Er ist gut und wir haben nichts zu verlieren.« Später wanderte Ra am Ufer des Baches, an dem sie lagerten, flußab­

wärts. Als er einen flachen Stein fand, setzte er sich hin und sah hinauf in den sternenübersäten Nachthimmel. Bris lag nun bei Kara, und sie würden beide glücklich sein. Er aber, Ra, wartete auf die Rückkehr der Goldenen Göttin, die er noch immer liebte.

Seine Hand tastete nach dem Feuerstab, den er stets bei sich trug. Er war das einzige, das ihm von seiner Liebe geblieben war. Und das Wissen, das sie ihm vermittelt hatte. Ein Wissen, das ihm mehr als einmal schon das Leben gerettet hatte.

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Irgendwo hinter ihm war ein Geräusch. Zweige knackten, so als schli­che sich ein Gegner heran. Ra glitt in das Dunkel des Unterholzes und rührte sich nicht mehr. Er hatte nur sein Messer bei sich, sonst keine Waf­fe.

Das Licht der Sterne war nicht sehr hell, aber fast warf es Schatten. Es schien kein Mond.

Eine dunkle Silhouette kam aus dem Wald und trottete zum Bach. Es war ein Tier, das einem kräftigen Stier ähnlich sah, aber auf seiner Stirn war ein langes, spitzes Horn. Es mußte das Fabeltier sein, von dem Moro berichtet hatte.

Ra verhielt sich ruhig, denn er verspürte keine Lust, auf einen so unglei­chen Kampf. Mit dem Messer allein würde er das Ungeheuer nicht besie­gen können, so sehr es ihn auch gelüstete, mit ihm die Kräfte zu messen.

Doch er hatte nicht mit dem Instinkt des Tieres gerechnet und auch nicht auf die Richtung geachtet, aus der der Wind kam. Die Bestie witterte seine Gegenwart. Ra sah, wie sie den Kopf hob und in seine Richtung spähte. Das Horn blinkte weiß und fahl im Licht der Sterne.

Vorsichtig tastete Ra sich langsam zurück, bis seine suchenden Hände den Stamm eines mächtigen Baumes berührten. Dabei ließ er das Tier nicht aus den Augen. Die Entfernung betrug jetzt etwa zwanzig Mannslän­gen. Behutsam richtete er sich auf, den Baum im Rücken.

Das Horn hatte ihn auf einen verrückten Gedanken gebracht. Flucht war sinnlos, das wußte er. Der Gegner war in diesen Wäldern zu

Hause und würde jeden Pfad mit absoluter Sicherheit finden. Außerdem durften Bris und Kara nicht in Gefahr gebracht werden. Sie schliefen viel­leicht schon und waren einem Angriff wehrlos ausgeliefert.

Das Einhorn hatte aufgehört zu trinken. Noch immer rührte es sich nicht vom Fleck, sah aber unentwegt in Ras Richtung.

Ra überzeugte sich davon, daß sein Messer locker in der Lederscheide steckte, dann holte er den Feuerstab aus der Tasche und nahm ihn so in die rechte Hand, daß er jederzeit die Flamme daraus hervorsprühen lassen konnte.

Jetzt erst konnte er darangehen, den zweiten Teil seines Plans in die Tat umzusetzen. Er wußte nur zu genau, welches Risiko er damit einging, aber der Gegner hatte ihn ohnehin bemerkt. Nun galt es nur noch, ihn so zu rei­zen, daß er blindlings angriff. Seine Wut mußte so angestachelt werden, daß er jede natürliche Vorsicht vergaß.

Inzwischen hatten sich Ras Augen endgültig an die Dunkelheit ge­wöhnt. Er konnte nun das Tier deutlicher sehen und erschrak über seine Verwegenheit. Er hätte nicht gezögert, einen wilden Stier mit dem bloßen Messer anzugreifen, aber dies hier war etwas anderes. Allein das waage­recht von der Stirn abstehende Horn mußte eine schreckliche Waffe sein.

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Page 36: Der Mann des Feuers

Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und stieß seinen gellenden Jagd­schrei aus, mit dem er schon ganze Rudel Wölfe in die Flucht geschlagen hatte. Gelang ihm das auch bei dieser Bestie, war es vielleicht gut so, und wenn nicht, dann ging sein Plan auf.

Der massige Körper des Tieres setzte sich in Bewegung, genau auf ihn zu und mit erstaunlicher Schnelligkeit. Der Kopf senkte sich, damit das gefährliche Horn waagerecht stand.

Gleichzeitig beging der Angreifer, der sich wohl zu sicher fühlte, damit einen entscheidenden Fehler. Ra sah es, und wußte, daß er den Feuerstab nicht mehr brauchte. Trotzdem behielt er ihn in der Hand. Jetzt kam es auf den Bruchteil eines Augenblicks an.

Die dunkle Masse kam herbeigeschossen, unter den Hufen dröhnte der Boden, als wolle eine ganze Herde den wartenden Ra überrennen. Noch zehn Mannslängen, noch fünf …

Im letzten Augenblick duckte sich Ra blitzschnell und rutschte seitwärts um den Baumstamm. Er verlor den Halt und rollte in eine Mulde, die er vorher nicht bemerkt hatte.

Gleichzeitig hörte er einen harten Schlag und ein Knirschen, danach ein berstendes Geräusch und einen schweren Fall. Er blieb ganz ruhig liegen, um die Aufmerksamkeit nicht abermals auf sich zu lenken, was in diesem Stadium der Geschehnisse verhängnisvoll gewesen wäre.

Dann sah er das Einhorn. Es war gestürzt und dabei, sich wieder aufzu­richten. Aber es taumelte wie benommen und kam nicht wieder auf die Beine, zumindest nicht auf alle viere. Ra schob den Feuerstab in die Ta­sche zurück und zog sein Messer. Er hatte gesehen, daß die Bestie ihr Horn verloren hatte. Es steckte im Stamm des dicken Baumes.

Ehe sich das Tier vollends erheben konnte, war er auf seinem Rücken und stach mehrmals zu. Seine Hände krallten sich in das glatte Halsfell, damit er sich weiter vorbeugen konnte, ohne herabzufallen. So fand er die empfindliche Stelle des Tieres und durchbohrte nach einigen Versuchen dessen Herz.

Er sprang zur Seite, um nicht von den letzten heftigen Zuckungen ver­letzt zu werden. Aber noch ehe er sich bücken konnte, um sich vom Ende der Bestie zu überzeugen, war hinter ihm im Wald ein Geräusch.

Vielleicht war der Gefährte des Einhorn …? Aber es war nur Bris, der beruhigend rief: »Ich bin es, Ra! Ich hörte einen Schrei und wachte auf. Was ist gesche­

hen?« »Sieh selbst, Bris! Das Einhorn, es ist tot.« Bris bückte sich ungläubig hinab. »Mit dem Messer? Wie hast du das gemacht? Und wo hat es denn sein

Horn? Ich sehe nichts.«

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Ra ging zum Baum. »Hier steckt es, Bris. Es ist abgebrochen, aber wir müssen versuchen, es

herauszubekommen. Morgen ist Zeit dazu. Notfalls müssen wir es mit der Flamme aus dem Stamm brennen. Ich habe Moro versprochen, ihm das Horn zu bringen. Nehmen wir einige Stücke Fleisch mit, ehe sich die nächtlichen Räuber ihren Anteil holen.«

Ra leuchtete mit dem Feuerstab, während Bris einige der besten Stücke aus dem stierähnlichen Körper herausschälte. Den Rest überließen sie den Aasfressern, die sich bald einstellen würden, und kehrten zur Farnhütte zu­rück. Für die nächsten Tage jedenfalls würden sie keine Nahrungssorgen haben. Bis Mittag brauchten sie, um das Horn aus dem Stamm zu holen, dann wog Ra es prüfend. Die Spitze war so scharf wie die eines Pfeiles, und der Restknochen am anderen Ende lag gut in der Hand. Das Gewicht war nicht sonderlich groß, so daß Ra es leicht halten und bewegen konnte. Nach ei­nigen Übungen blieb er nachdenklich stehen, betrachtete das Horn und sagte zu Bris:

»Weißt du, es ist eine gute Waffe. Es ist länger als ein Messer und handlicher als ein Speer. Wir werden Gelegenheit haben, sie in nächster Zeit auszuprobieren, ehe wir sie Moro bringen.«

Auch Bris versuchte es nun. Zuerst kämpfte er gegen einen unsichtbaren Gegner, dann zeigte er auf den dicken Baum, ging ein Stück zurück bis zum Bachufer, stand dort eine Weile mit herabhängenden Armen und be­trachtete sein Ziel. Dann aber kam die rechte Hand mit dem Horn urplötz­lich hoch, schwang zurück und schnellte wieder nach vorn.

Das weiße Horn flog durch die Luft und traf den Baum mit der Spitze, drang ein Stück in ihn hinein und blieb stecken.

»Ein Mann wäre jetzt tot«, sagte Bris und ging hin, um das Horn wieder herauszuziehen. Ra mußte ihm dabei helfen. Allein hätte er es nicht ge­schafft. »Auch ein Stier wäre tot. Das Horn dringt noch tiefer ein als ein Speer.«

Sie übten noch ein wenig, dann saßen sie am Bachufer und sahen den hurtigen Fischen zu, die über die Steine sprangen und manchmal sogar auf ihnen liegenblieben. Dann zappelten sie solange, bis sie ins Wasser zu­rückfielen.

»Heute gibt es ein großes Stück Bratenfleisch«, sinnierte Bris vor sich hin. Seine Stimme verriet, daß es für ihn keine Probleme gab. »Ich bin froh, daß ich mich verirrte und meinen Stamm verlor, dafür habe ich dich und Kara gefunden.« Er sah Ra von der Seite her an. »Aber richtig glück­lich kann ich erst dann sein, wenn deine Goldene Göttin zu dir kommt.«

Die Erwähnung des Namens ließ Ras Gesicht finster werden, aber nicht aus Zorn, sondern aus unstillbarer Sehnsucht und nahezu verlorener Hoff­

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nung. Er nickte und starrte in das vorbeirauschende Wasser des Baches. »Vielleicht ist meine Suche vergebens, aber ich bin nicht mehr der ein­

same Jäger. Ich bin nicht mehr allein, sonder ich habe Freunde. Vielleicht werden wir eines Tages zu Moros Stamm gehen und dort bleiben, wer weiß …«

»Willst du aufgeben?« erkundigte sich Bris, und fast klang es so, als ha­be er Angst davor.

Ra verstand sofort, wie sein Freund es meinte. Er lächelte verbittert. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Bris. Ich werde dir Kara nie­

mals wegnehmen, wenn ich sie auch gern mag und vielleicht sogar begeh­re. Doch das liegt nur daran, daß ich Ischtar nicht erreichen kann. Natür­lich gebe ich die Suche nach ihr nie auf, nur dachte ich an eine Pause. Ein Winter und ein Sommer der Ruhe würde uns guttun. Aber wir haben noch viel Zeit bis zum Winter. Die Sonne steht noch hoch im Mittag, und die Nächte sind warm. Wir werden ein freies Leben führen, und erst dann, wenn die Blätter braun werden, kehren wir zu Moros Stamm zurück und bringen ihm das Horn als Gastgeschenk.«

»Du bist im Herzen nicht glücklich, Ra, und das bedrückt mich, weil du mein Freund bist und mir das Leben rettest.«

»Die Gelegenheit wird kommen, und dann wirst du mir das Leben ret­ten. In dieser Welt ist einer auf den anderen angewiesen.«

»Könntest du dir eine andere Welt vorstellen?« fragte Bris. Ra schüttelte den Kopf. »Wie könnte es eine andere Welt geben als diese, die wir kennen? Si­

cher, Ischtar sprach davon, aber ich glaube es nicht, obwohl sie mir den Mond aus der Nähe zeigte. Doch unsere Welt ist unermeßlich groß und weit. Vielleicht gibt es Länder jenseits der Meere, und vielleicht leben auch dort Jäger. Aber warum sollten sie anders sein als wir?«

»Und warum bauen wir kein großes Schiff, mit dem wir über das Meer fahren können, um diese anderen Welten zu suchen?«

Zu Bris Verwunderung war Ra nicht sonderlich über diesen Gedanken erstaunt. Er nickte nur.

»Sicher, das ließe sich verwirklichen, und eines Tages werden tapfere Jäger es auch versuchen. Aber nicht wir. Wenn die leuchtende Burg der Goldenen Göttin jemals zurückkehrt, dann hier. Tief in meiner Erinnerung schlummert auch die Erklärung dafür, aber ich finde sie nicht mehr – wie ich so vieles nicht mehr finde. Manchmal glaube ich sogar, die Länder jen­seits der Meere schon gesehen zu haben, aber vielleicht sind das nur ver­borgene Wunschträume.«

»Oder vergessene Erinnerungen«, meinte Bris. Schweigend saßen sie am Ufer und sahen den Fischen zu. Erst Karas

Rufen brachte sie in die Wirklichkeit zurück.

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»Der Braten ist fertig!« meinte Bris und erhob sich. »Hast du keinen Hunger? Mir knurren die Därme wie zwei Handvoll Wölfe.«

»Doch, ich möchte auch essen.« Ra stand auf, ergriff das Horn und schob es in den Ledergürtel. »Lassen wir Kara nicht länger warten. Wir haben noch den ganzen Tag Zeit, die Fische zu betrachten …«

Kara trug ein kurzes Fellkleid, das ihre Knie freiließ. Über der Glut des Feuers tropfte ein großes Stück Fleisch, braun und knusprig. Die Glut zischte, wenn das Fett hineinfiel. Ra schnupperte und bekam sofort Appe­tit, wenn sein Hungergefühl vorher auch nicht sonderlich groß gewesen war.

Bris hingegen hatte keine Hemmungen. Vielleicht war es auch nur der im Unterbewußtsein schlummernde Wunsch, Kara zu gefallen und alles zu tun, um ihre Liebe zu ihm zu erhalten, jedenfalls sog er den Duft mit ge­öffneten Nasenflügeln ein und kniete vor ihr nieder. Er umfaßte ihre Knie.

»Kara, mein Hunger nach gebratenem Fleisch und nach einer Frau ist noch nie so groß gewesen wie jetzt. Du bist eine Zauberin! Jeder Jäger müßte glücklich sein, dich besitzen zu dürfen.«

»Bist du es nicht?« fragte sie schelmisch. Ra lachte laut und setzte sich auf den dicken Ast, den Kara herbeige­

schleppt hatte, um es den Männern so bequem wie möglich zu machen. »Seltsam«, sagte er und drehte den Spieß ein wenig, »daß Männer und

Frauen immer so sinnlose Gespräche führen müssen. Der eine stellt Fra­gen, deren Antwort er genau kennt. Er will sie nur von ihr hören – oder sie von ihm. Wenn Männer sich unterhalten, ist das anders. Sie sprechen über das, was wirklich und greifbar ist.«

Kara nickte ihm zu. »Ra, ich weiß: über Stiere, über Wild und über feindliche Stämme. Aber

sie sprechen nie über das, was eine Frau denkt und fühlt. Wir sind nur da­für da, um die Hütten sauberzuhalten, das Essen zu bereiten und bei den Männern zu schlafen.«

Bris wirkte verwirrt. Ratlos stocherte er in der Glut herum. »Aber Kara, da ist noch mehr – wenigstens bei mir. Ich kann auch ohne

dich eine Hütte bauen und sauberhalten. Ich kann ohne dich jagen und das Wild bereiten. Und ich habe lange genug ohne dich oder eine andere Frau geschlafen. Aber jetzt möchte ich das alles nicht mehr ohne dich.«

Sie nahm Ra den Spieß aus der Hand und begann, das Fleisch zu vertei­len.

»Ich meinte nicht dich, Bris. Und dich auch nicht, Ra. Ich meinte die Männer in meinem Dorf. Und ich meinte Celton.«

»Der ist tot!« erinnerte sie Ra. »Aber andere leben!« Darauf wußte niemand etwas zu entgegnen. Außerdem erforderte der

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Einhornbraten ihre ganze Aufmerksamkeit. Das Fleisch war ein wenig zäh, aber sehr schmackhaft.

Bris hatte neues Holz auf das Feuer geworfen, dessen Flammen hoch emporzüngelten. Der Rauch verwehte im Wald, aber er stieg nicht sehr hoch empor. Er strich an den Stämmen der Bäume vorbei, bis ein Hauch davon das Lager der Höhlenbewohner erreichte.

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4.

Sren saß auf einem Baumstamm dicht beim Eingang der Höhle, die weit in den Berg hineinreichte. Seine Höhle war die größte, denn er war der Häuptling seines Stammes, der an die hundert Köpfe zählte. Die Hälfte waren Frauen und Kinder, der Rest Männer und Jäger.

Der Wind kam von Sonnenuntergang und aus den Wäldern, in denen das Wild gejagt wurde. Unten rauschte der Bach vorbei, der aus dem Wald kam und sich bei den Felsen ein neues Bett in anderer Richtung gesucht hatte.

Sren war schon alt, aber noch immer der stärkste und klügste Mann sei­nes Stammes. Schon lange wartete sein Sohn auf die Häuptlingswürde, und seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Die Felswand entlang des Bachufers war steil und hoch. Das Gestein war weich und vom Wasser an vielen Stellen ausgehöhlt worden. Es gab sogar Verbindungsgänge zwischen den einzelnen Höhlen. Früher einmal mochten die Eingänge direkt am Bachufer gelegen haben, aber heute rauschte das Wasser nahezu zehn Mannslängen unter ihnen daher. Der Bach hatte sich ein tiefes und schmales Bett ausgewaschen, ein guter Schutz gegen Überfälle.

Sren hockte auf seinem kleinen Plateau, zu dem nur ein steiniger Pfad führte. Er starrte hinüber in den Wald am anderen Ufer. Gestern hatten die Jäger wieder ein wildes Rind gebracht, Nahrung für mehrere Tage.

Unlustig kaute der Häuptling an dem blutigen Stück Fleisch, dann warf er es wutentbrannt in den Bach. Eine seiner Frauen kam herbei und setzte sich in gebührender Entfernung nieder.

»Du hast keinen Hunger, Sren?« Der Häuptling warf ihr einen mißmutigen Blick zu. »Ich habe nur noch wenige Zähne. Gekochtes Fleisch und das Wasser,

in dem es gekocht wurde, wären mir lieber.« »Wir haben seit vielen Monden kein Feuer mehr, Sren, hast du das ver­

gessen? Das hohe Wasser löschte es, und kein Gott hat seitdem mehr einen Blitz in den Wald fahren lassen. Wir müssen geduldig warten.«

Sren knurrte wie ein wildes Tier und sagte: »Frauen reden immer so klug daher!« Er schwieg plötzlich und atmete

mehrmals tief ein, dann schnupperte er in der Luft herum, als rieche er et­was. »Ist ein Trupp Jäger unterwegs?«

»Dein Sohn mit einigen jungen Männern. Sie stiegen den Bergpfad hin­auf. Warum fragst du?«

»Wohin will er?« »Feuer holen, bei einem der kriegerischen Nachbarstämme.«

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»Ich habe es nicht befohlen! Es ist gefährlich, und sie werden ihn und seine Jäger töten, wenn er ihnen in die Hände fällt.«

»Er ist gegangen, ohne dich zu fragen, weil du es sonst verboten hät­test.«

Sren seufzte und jagte dann die Frau fort. Sein Sohn wollte dem Stamm beweisen, daß es Zeit wurde, ihn zum Häuptling zu machen. Wenn er das lang entbehrte Feuer brachte, gelang ihm das auch, und da ein Mann nur dann Häuptling werden konnte, wenn der Vorgänger tot war, konnte sich Sren sehr gut vorstellen, was geschehen würde. Sie würden ihn hinauf auf den Felsen führen und in die Tiefe stürzen. Sein Sohn selbst mußte ihm den Stoß geben.

Wieder schnupperte er und sah hinüber in den Wald. Es roch nach Feu­er, dessen war er sich nun sicher. Irgendwo im Wald wurde Holz ver­brannt. Vielleicht ein Stamm von Jägernomaden, die auf der Wanderschaft waren und eine brennende Fackel bei sich führten.

Bei dem Gedanken wurde Sren plötzlich sehr lebendig. Er rief seine Frauen zusammen und befahl ihnen, die Männer zu holen. Sie kamen auch, langsam und unlustig. Einige nagten noch an den rohen Knochen des Rindes, das sie gestern erlegt hatten. Mürrisch kauerten sie sich nieder und sahen ihren Häuptling herausfordernd an.

Sren machte sie auf seine Entdeckung aufmerksam, und nun wurden auch die Jäger munter. Die Aussicht auf Feuer vertrieb ihren Unmut und ihre Verstimmung gegen den alten Häuptling. Holz hatten sie genug in die Höhlen geschleppt, in denen es nachts empfindlich kalt wurde. Es fehlte nur die brennende Fackel.

Zwei der Männer sprangen auf. »Wir gehen und holen das Feuer!« riefen sie. »Geht, aber seid vorsichtig!« Sren rieb sich den Rücken. »Aber geht al­

le, damit ihr stärker seid. Ich bleibe bei den Frauen und schütze das Lager. Wenn mein Sohn zurückkehrt, wird er eurer Spur folgen.«

Sie wußten, daß ihr Häuptling in letzter Zeit nicht mehr so beweglich war wie früher, und lieber heute als erst morgen hätten sie ihn vom Felsen gestürzt. Doch noch fehlte der Anlaß. Wenn sie kein Feuer fanden, wenn er sich auch diesmal geirrt hatte, war es soweit … Ra und Bris ließen Kara bei der Farnhütte zurück, um den Wald zu durch­streifen. Da sie noch genügend Fleisch hatten, wollten sie nicht jagen, aber morgen würden sie schneller vorankommen, wenn sie das Gelände kann­ten, das vor ihnen lag.

Ra hielt das Horn in der Hand, während Bris seinen geliebten Bogen über der Schulter trug, an der auch der gefüllte Köcher mit den Pfeilen hing.

Es ging sanft bergab, bis sie den Bach erreichten, dem sie folgten. Das

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Ufer auf der anderen Seite wurde felsiger und immer steiler, bis es zu einer senkrechten Wand wurde. Nun war es zu spät, den Bach zu durchqueren, denn drüben ging es nicht weiter.

Sie kehrten um, bis Wald, Bach und das andere Ufer wieder eine Ebene bildeten. Sie wateten durch das kalte Wasser und wanderten ein Stück in die Grassteppe hinein, bis der Wald hinter den Hügeln verschwunden war. Unter einer Baumgruppe machten sie Rast.

»Dies wird morgen unser Weg sein«, sagte Ra, rammte das Horn in den weichen Boden und legte sich in das warme Gras. »Bald geht die Sonne unter. Wir ruhen uns aus und gehen zurück zu Kara.«

Bris setzte sich ebenfalls. Er war müde. »Moros Dorf ist nun schon bald drei Tagesmärsche entfernt. Werden

wir es wiederfinden?« Ra beruhigte ihn. Er tat es mit einer Handbewegung, denn er war zu faul

zum Sprechen. Die Sonne stand schon tief, aber ihre Strahlen waren noch warm.

Eine Weile lagen sie so da, als Ra sich plötzlich aufrichtete und nach Norden spähte. Dann flüsterte er:

»Männer – eine ganze Handvoll, Bris! Siehst du sie?« Bris hatte sie auch gesehen. Sie waren noch weit entfernt und gingen

hintereinander, und wenn sie die jetzige Richtung beibehielten, bedeuteten sie keine Gefahr.

»Sie marschieren auf die Felswand zu, die wir vom Wald aus gesehen haben. Da können sie nicht hinabklettern.«

»Aber sie scheinen den Weg gut zu kennen«, gab Ra zu bedenken. Mehr als zweihundert Mannslängen entfernt hielt die Gruppe an. Nach

kurzer Beratung verschwand sie hinter einem Felsvorsprung und kam nicht wieder zum Vorschein.

»Komm!« sagte Ra kurz und ging voran. Sie nutzten jede Deckung aus, damit sie nicht gesehen werden konnten,

hohes Gras, einige niedrige Büsche und einen Hügelkamm mit Sträuchern und einigen Bäumen. Als sie die Stelle erreichten, an der die Jäger ver­schwunden waren, standen sie vor dem Abgrund. Tief unter ihnen rauschte der Bach durch eine enge Schlucht. Auf der anderen Seite begann der Wald.

Die Männer waren nicht zu entdecken. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Aber Bris und Ra konnten Stimmen hören, die von unten her­aufdrangen. Demnach gab es einen Kletterpfad, der in die Schlucht hinab­führte, aber die beiden Männer verspürten keine Lust, ihn zu suchen oder ihm gar zu folgen.

Am Abgrund entlang gingen sie in südliche Richtung, bis sie den Bach wieder überqueren und in den Wald eindringen konnten.

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Als sie nicht mehr sehr weit vom Lager entfernt waren, blieb Ra plötz­lich stehen. Er packte den Griff des Horns fester und legte den linken Zei­gefinger auf die Lippen. Ihm war, als hätte er das Brechen von Zweigen gehört, aber es hatte nicht so geklungen, als wäre das Geräusch nur durch einen Fuß verursacht worden. Außerdem war es aus einer ganz anderen Richtung gekommen. Die Farnhütte stand mehr links.

»Kara?« flüsterte Bris beklommen. »Ich habe ihr gesagt, sie soll beim Lager bleiben und sich nicht entfernen.«

»Das war nicht Kara«, gab Ra zurück. »Wenigstens nicht sie allein. Los, sehen wir nach. Ich habe eine böse Ahnung …«

Das Feuer war erloschen, aber die Asche noch warm. Glut war keine mehr vorhanden. Und Kara war verschwunden. Die Spuren jedoch spra­chen eine deutliche Sprache.

Zwanzig Männer mußten es gewesen sein, die das Lager überfallen hat­ten. Die Asche des Feuers war vergeblich nach Glut durchwühlt worden, und das trockene Gras, das hineingeworfen worden war, hatte sich nicht mehr entzündet. Schleifspuren verrieten, daß Kara sich gewehrt hatte und nicht freiwillig mit den Fremden gegangen war.

»Sie wollten das Feuer«, murmelte Ra und fühlte nach seinem silbernen Stab in der Tasche.

»Und sie bekamen Kara!« fügte Bris verbittert hinzu. »Ich werde sie mir wiederholen, und zwar sofort!«

»Warte noch«, bat Ra. »Wir nehmen Karas Felle mit, denn wir werden nicht hierher zurückkehren.«

Sie folgten der deutlichen Spur, aber bald würde es dunkel werden. Be­reits nach kurzer Zeit wurde ihnen klar, daß die Räuber das gleiche Ziel hatten wie die fünf Jäger, die sie oben auf der Ebene gesehen hatten, nur kamen sie von der anderen Seite der Schlucht.

»Wahrscheinlich Höhlen«, vermutete Ra. »Wir konnten sie nur nicht se­hen, als wir oben auf dem Felsen standen.«

Sie hielten sich im Schatten der Bäume, als sie am Bachufer entlangsch­lichen. Von einer Spur war insofern jetzt nichts mehr zu erkennen, weil sie einem fest ausgetretenen Pfad folgten. Am anderen Ufer entdeckten sie die ersten Höhleneingänge. Mehrere Frauen lungerten auf den vorgelagerten Terrassen herum, andere waren damit beschäftigt, mit stumpfen Holzkeu­len etwas in tönernen Krügen zu zerstampfen.

Sie achteten kaum auf die zurückkehrenden Krieger, die Kara mit sich schleppten. Das Mädchen wurde unsanft vor einer Höhle abgeladen, vor der ein riesenhafter älterer Mann hockte, allem Anschein nach der Anfüh­rer des Stammes.

Bris ballte die Fäuste, war aber klug genug, Ras Warnung zu beachten und noch nichts zu unternehmen. Auf dem Bauch krochen sie bis in die

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Uferböschung hinein, von wo aus sie noch besser sehen und hören konn­ten. Das dichte Buschwerk gab ihnen genügend Schutz vor einer zufälli­gen Entdeckung.

Der Häuptling betrachtete die Gefangene wohlgefällig und scheuchte einen jüngeren Jäger fort, der sie abschätzend betastete. Es gab eine leb­hafte Diskussion, die beinahe in Tätlichkeiten ausgeartet wäre. Ra und Bris konnten nur die Hälfte verstehen.

»Wie können wir Kara befreien?« flüsterte Ra seinem Freund zu. »Sie darf in dieser Nacht nicht bei ihnen bleiben.«

»Wahrscheinlich möchte der Häuptling sie für sich haben, wenigstens in der ersten Nacht. Natürlich holen wir sie da heraus, aber wie? Es sind ge­wiß zehn Hände Männer da.«

»Und es wird bald dunkel …« Allmählich wurde ihnen klar, worum der Streit ging. Zwei Gruppen wa­

ren ausgezogen, um das wertvolle Feuer zu holen, aber es war keiner ge­lungen. Die Gruppe, die das Mädchen mitbrachte, hatte nur noch die war­me Asche gefunden, was die Wut des Häuptlings nur noch mehr ansta­chelte. Er beschimpfte seine Leute, weil sie sich nicht genügend beeilt hat­ten.

»Also Feuer wollen sie …?« dehnte Ra. »Immer dasselbe. Sie wissen nicht, wie man mit zwei richtigen Steinen Feuer macht und sind darauf an­gewiesen, es anderen Stämmen zu stehlen oder auf den Blitz zu warten. Wir werden Kara gegen das Feuer eintauschen. Du bleibst hier liegen, Bris. Lege deine Pfeile bereit, und wenn ich dir ein Zeichen gebe, dann tö­te jeden, auf den ich zeige.«

»Willst du zu ihnen?« »Was sonst? Ich weiß einen Freund und guten Schützen in meinem

Rücken. Keine Sorge, Bris, Feuer ist für sie kostbarer als Blut.« Er kroch zum Pfad zurück und richtete sich dann auf. Mit dem Horn in

der Rechten schritt er furchtlos zu dem primitiven Bachübergang, der aus großen hintereinandergelegten Steinen bestand, und gelangte unangefoch­ten an das andere Ufer. Ein Blick zur Seite gab ihm noch mehr Sicherheit, denn er sah Bris Pfeil aus dem Gestrüpp hervorragen.

Und diese Höhlenmenschen kannten den weittragenden Pfeil noch nicht. Der lautlose Tod mußte ihnen einen furchtbaren Schreck einjagen, wenn er Bris das vereinbarte Zeichen gab.

Jetzt entdeckten sie ihn, griffen ihn jedoch nicht an. Einige umschlichen ihn mit drohendem Geknurre und hoben unschlüssig ihre Steinbeile. Ra verscheuchte sie mit seiner neuen Waffe, ohne jemanden zu verletzen.

Er fand den Felspfad, der zur Höhle des Häuptlings führte, folgte ihm und erreichte das kleine Plateau vor dem Eingang. Erst als er einige Män­ner zur Seite schob, wurden sie auf ihn aufmerksam. Sie griffen zu den

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Waffen. »Wartet!« rief Ra, der den fremdartigen Dialekt einigermaßen verstand.

»Wenn ihr mich angreift, werdet ihr nie das Feuer bekommen. Außerdem müßt ihr dann sterben!«

Er war davon überzeugt, daß Bris jedes seiner Worte verstehen konnte. Der alte Häuptling gab seinen Männern ein Zeichen. Kara, die neben

ihm am Boden kauerte, richtete sich mit hoffnungsvollem Gesicht auf. Tränen hatten auf ihren Wangen Spuren gezogen.

»Feuer? Wo hast du das Feuer, Fremdling? Gib es her …« Mit der linken Hand griff Ra in seine Tasche und holte den Silberstab

daraus hervor. Er hielt ihn so, daß niemand so recht sehen konnte, was er hatte und was er tat.

»Holt trockenes Holz!« forderte er die Männer auf. Einige rannten davon und kamen bald mit mehreren Bündeln zurück,

die sie auf den Boden warfen. Dann bildeten sie einen Halbkreis um Ra, der dafür sorgte, daß hinter ihm niemand stand.

Er hob die linke Hand zum dämmrigen Himmel empor, senkte sie dann langsam dem aufgeschichteten Holz entgegen – und dann schlug die schmale, grellweiße Flamme in die dürren Zweige, die sofort zu brennen begannen.

Ein Schrei entrang sich den Kehlen der verblüfften Wilden. Sie wichen entsetzt vor Ra zurück, der den Stab wieder hatte verschwinden lassen. Sie mußten annehmen, das Feuer sei aus seiner Hand gekommen.

Der Häuptling betrachtete ihn voller Scheu, aber in seinen Augen schlummerte bereits der Verrat. Wahrscheinlich hatte er den Plan, den Mann mit dem Feuer für immer an sich zu fesseln.

Ra sagte: »Sorgt dafür, daß das Feuer immer brennt. Und nun laßt mich gehen.

Dies ist Kara, sie gehört mir, und ich nehme sie mit.« »Sie bleibt hier!« erwiderte der Häuptling und deutete auf ihn. »Packt

ihn, aber tötet ihn nicht! Er ist der Mann mit dem Feuer, der einsame Jä­ger, von dem man uns berichtete. Nun werden wir immer unser Fleisch kochen und braten können …«

Die Männer, die Ra greifen wollten, wichen zurück, als er sein Horn­schwert schwang. Die Spitze zeigte auf den alten Häuptling.

»Der Tod kommt nun zu dir, Alter. Stirb, wie es sich für einen Häupt­ling gehört. Der Himmel bestrafe deinen Verrat …«

Noch während er das Horn sinken ließ, schwirrte der Pfeil aus dem dämmerigen Nichts heran und durchbohrte den Hals des Häuptlings. Die Schlagader wurde zerrissen, und das Blut pulste auf den Felsen. Er war so­fort tot und sackte in sich zusammen.

Die Spitze von Ras Horn kreiste vor den Männern.

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»Auf wen soll ich nun zeigen?« fragte er. Inzwischen mußte Bris schon den nächsten Pfeil auf der Sehne liegen haben. »Kara, geh schon vor und fürchte dich nicht. Sie werden dir nichts tun. Jeder wird sterben müssen, der mich aufhält.«

Zögernd befolgte das Mädchen die Aufforderung. Niemand wagte es, sie aufzuhalten.

»Nun?« erkundigte sich Ra. »Dort ist euer Feuer, ich schenke es euch. Mich laßt in Frieden ziehen, oder ihr müßt alle sterben.«

Einer von ihnen hob die. Axt und holte zum. Wurf aus, aber er starb, noch ehe er werfen konnte. Zwei weitere, die sich von der Seite her unge­sehen heranschleichen wollten, erlitten das gleiche Schicksal. Sie wurden getötet, ohne daß Ras Horn auf sie gezeigt hätte.

Der Rest wich vor Ra zurück und drängte sich am Eingang der Höhle zusammen. Sie schienen zu glauben, das lodernde Feuer zwischen ihnen und dem todbringenden Fremden böte Sicherheit. Doch auch das war ein Trugschluß, denn als einer von ihnen hinter dem Rücken der anderen seine Axt schleudern wollte, starb auch er.

Ra holte Kara ein, die durch ein Spalier von Männern und Frauen schritt und aufatmete, als sie ihn sah. Er wußte, daß Bris nun nicht mehr ein so gutes Ziel wie oben auf dem Felsvorsprung haben konnte. Er, Ra, würde sich beeilen und die noch vorhandene Furcht und Überraschung ausnutzen müssen.

Das Hornschwert halb erhoben, ging er hinter Kara her, bis sie den Bach erreichten und damit die Steinbrücke.

»Weitergehen!« flüsterte er, als das Mädchen zögerte. Sie gehorchte zitternd, er folgte ihr auf dem Fuße, ohne sich umzudre­

hen. Wohlbehalten erreichten sie das andere Ufer und den Pfad, aber in die­

sem Augenblick war auch der Bann gebrochen, der die Wilden gelähmt hatte. Ihr Häuptling und vier Männer waren gestorben. Das Verlangen nach Rache mußte sie ihre Furcht vergessen lassen.

Erste Wurfspeere kamen geflogen, verfehlten in dem unsicheren Zwie­licht jedoch ihr Ziel. Dafür traf Bris um so besser, er tötete mehrere der Gegner schnell hintereinander.

Trotzdem rannten einige über die Steinbrücke und folgten der entflohe­nen Gefangenen und dem Mann mit dem Feuer. Ra schickte Kara vor und wandte sich um, das Hornschwert drohend erhoben. Aber dann kam ihm eine bessere Idee.

Es war inzwischen noch dunkler geworden. Vom Felsenufer her kam der Schein des Feuers, das von den Frauen fleißig genährt wurde. Sie wuß­ten, welche Strafe ihrer harrte, wenn sie es ausgehen ließen.

Ra schob das Horn in den Gürtel und nahm den Silberstab. Er hielt ihn

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mit der Spitze seinen Verfolgern entgegen und rieb an der bewußten Stel­le. Die Flamme zuckte grell hervor und versengte den Bart und die Haut des Mannes, der ihm am nächsten war.

Der Wilde taumelte entsetzt zurück und stürzte. Das genügte. In wilder Flucht rannten die übrigen zum Bach zurück, um sich am an­

deren Ufer in Sicherheit zu bringen. Der Kampf gegen Götter und Dämo­nen war sinnlos.

»Hütet das Feuer!« rief Ra hinter ihnen her. Er holte Kara wieder ein, dann fanden sie Bris, der gerade aus seinem

Versteck hervorkroch. Er hatte fast die Hälfte seiner Pfeile verschossen und bedauerte, sie nicht einsammeln zu können. Aber die Freude darüber, Kara wieder in seine Arme schließen zu können, war größer als die Trauer um die verlorenen Pfeile.

»Wir werden ein Stück weitermarschieren und oben in der Grasebene übernachten. Dort finden sie uns nicht, falls sie uns überhaupt suchen soll­ten. Sie sollen froh sein, das Feuer zu haben.«

Bris nickte und gab Kara die Felle. Sie kannten den Weg, und ohne Schwierigkeiten fanden sie die Baum­

gruppe, unter der sie am Nachmittag gelagert hatten. Der Himmel war klar, und über ihnen standen die Sterne in der unendli­

chen Weite des Alls, aus dem einst das Feuer auf die Erde herabgekom­men war. Als die ersten Sonnenstrahlen sie weckten, aßen sie von dem gebratenen Fleisch und brachen dann gleich auf. Von Verfolgern war nichts zu bemer­ken. Kein Wölkchen unterbrach die strahlende Bläue des Himmels. Es würde ein warmer Tag werden.

Sie kreuzten die Spuren der fünf Jäger, die sie gestern beobachtet hatten und folgten ihr ein Stück nach Osten, um dann nach Norden abzubiegen.

Ra hätte nicht zu sagen vermocht, was ihn nach Norden zog, in ein Land, das er so gut wie gar nicht kannte. Mit einer Jagdgruppe von Moros Vater war er einmal hier gewesen, aber der Weg war ein anderer damals. Die Hälfte eines Mondes waren sie damals unterwegs gewesen und hatten reiche Beute gemacht.

Doch das war sicher nicht der Grund, warum es Ra nach Norden zog. Sie hatten genug zu essen und litten keinen Hunger. Kara war bei ihnen und sorgte für das Nachtlager und das Feuer. Sie trug die Schlaffeile, die Männer ihre Waffen und den Fleischvorrat.

Gegen Abend lag die Grassteppe hinter ihnen. Es ging wieder sanft bergab, einem breiten Fluß entgegen, an dessen Ufern dichter Wald stand. Sie konnten Lichtungen erkennen, meist dicht am Fluß, aber der Höhenun­terschied war zu gering, als daß sie hätten sehen können, ob auf den Lich­

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tungen auch Hütten standen. Sie gingen weiter, bis es völlig dunkel geworden war und lagerten un­

mittelbar am Rand des Waldes. Der Boden war trocken, und es gab keine Quelle. Doch das störte die drei Freunde nicht. Sie würden einen Tag ohne Wasser auskommen, ohne gleich zu verdursten. Morgen waren sie am Fluß und konnten sich satt trinken.

Es gab kein Zelt heute, nur die warmen Felle. Ra rollte sich ein wenig abseits und blieb dann auf dem Rücken liegen. Er sah hinauf zu den Ster­nen, von denen er ahnte, daß sie mehr waren als nur einfache Lichte punk­te im Nichts.

Oder wußte er es …? Der Überfall erfolgte derart überraschend und schnell, daß weder Ra noch Bris Zeit zur Gegenwehr fanden. Netze und Stricke wurden über sie ge­worfen, und bald konnten sie sich nicht mehr rühren. Auch Kara wurde gefesselt.

Ra verhielt sich ganz ruhig, als er merkte, daß er nichts tun konnte. Es war ziemlich dunkel, aber er zählte mindestens zehn Männer, die nun ihre Felle und Waffen einsammelten und sie zwangen, mit ihnen zu gehen. Die Arme waren ihnen fest um den Oberkörper gebunden worden. Es war ein beruhigendes Gefühl für Ra, den Silberstab noch in der Tasche zu wissen. Außerdem war es ein gutes Zeichen, daß man sie nicht gleich im Schlaf getötet hatte.

Die Männer unterhielten sich kaum; sie hatten einen verständlichen Dia­lekt. Man würde mit ihnen reden können.

Der Pfad führte durch den Wald zum Fluß. Auf einer der großen Lich­tungen, die Ra von der höher gelegenen Ebene aus gesehen hatte, stand ein richtiges Dorf mit vielen Hütten. Es war nicht befestigt, und kein Zaun schützte es vor den Angriffen anderer Stämme. Auch das schien Ra ein gutes Omen zu sein.

Die Männer führten sie zu einer Hütte, aus der Lichtschein drang. Man stieß sie hinein, und dann standen sie vor einem dicken Holztisch, hinter dem ein groß gewachsener Mann mit nacktem Oberkörper saß und ihnen neugierig entgegenblickte. Seitlich in einem offenen Herd brannte ein Feu­er. Es war warm.

Der Mann hinter dem Tisch gab seinen Leuten einen Wink. Lautlos ver­schwanden sie und schlossen die Tür.

Er betrachtete seine Gefangenen eine Weile mit finsterer Miene, beson­ders Kara fand sein ungeteiltes Interesse, was nicht gerade beruhigend auf Bris wirkte. Aber Ra las in den Blicken noch etwas anderes als bloßes Verlangen nach dem Mädchen oder den Wunsch, seine Gefangenen so schnell wie möglich zu töten. In ihnen war etwas, das trotz der widrigen Umstände ein gewisses Vertrauen einflößte. Der Mann mochte herrsch­

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süchtig und auch grausam sein, aber er war auch gerecht. Er würde einen wehrlosen Gegner nicht ohne zwingenden Grund umbringen.

»Wer seid ihr?« fragte er schließlich. Ra beschloß, ihm die Wahrheit zu sagen – wenigstens zum Teil. »Ich bin Ra, der einsame Jäger, den man den Mann mit dem Feuer

nennt. Für euch bin ich ohne Wert, denn ihr habt das Feuer schon. Und dies ist mein Freund und Begleiter Bris mit seiner Frau Kara. Wir wollten morgen in Frieden zu euch kommen, als eure Männer uns überfielen. Du hast uns keine Zeit gelassen, dir eine Botschaft zu bringen.«

Der Mann nickte. »Das stimmt, aber wir sind von vielen Feinden umgeben. Sie greifen

niemals unser Dorf an, wohl aber unsere Jagdtrupps – und auch die Fi­scher, wenn sie auf dem Fluß sind. Darum müssen wir vorsichtig sein.« Er betrachtete Ra längere Zeit. »Der Mann mit dem Feuer also? Nein, ich brauche dich nicht, denn wir wissen, wie das Feuer gemacht wird. Und das Mädchen gehört deinem Gefährten?«

»So ist es, Häuptling.« »Ich heiße Erok. Ich werde morgen über euer Schicksal entscheiden.

Bis dahin seid ihr meine Gefangenen. Man wird euch in eine Hütte sper­ren, nachdem man euch die Fesseln abgenommen hat. Macht keinen Fluchtversuch, das würde eure Lage nicht verbessern.«

Er trat mit dem Fuß gegen die Wand, und sofort erschienen ein paar Männer im Raum. Sie führten ihre Gefangenen hinaus und brachten sie in eine besonders stabil gebaute Hütte, befreiten sie von ihren Fesseln und verschlossen die Tür. Ein Mann blieb davor als Wache zurück.

Sie sahen sich um, nachdem Ra mit dem Silberstab Licht machte. Einige schmutzige Felle, etwas Stroh und eine ausgebrannte Feuerstelle

– das war alles. Es gab keine Fensteröffnung, und die Wände wirkten stark und fest.

»Legen wir uns schlafen«, schlug Ra vor. »Morgen werden wir unsere Kräfte brauchen.«

Sie rollten sich in die Felle. »Glaubst du, daß er uns töten lassen wird?« »Nein, Bris, das glaube ich nicht, sonst würden wir versuchen, zu flie­

hen. Die Hütte kann uns nicht halten, das weißt du, und wenn wir sie ab­brennen müßten. Aber du wirst sehen, morgen sind wir wieder frei.«

»Warum glaubst du das?« Ra lächelte, aber niemand konnte es in der Finsternis sehen. »Weil du jetzt mit Kara schläfst, Bris. Würde er uns töten wollen, hätte

er in dieser Nacht Kara zu sich genommen.«

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5.

Am nächsten Tag wurden sie früh aus der Hütte geholt. Sie wurden nicht mehr gefesselt, jedoch von mehreren Männern bewacht.

Die Männer und Frauen unterschieden sich erheblich von den Höhlen­bewohnern und den Jägern im Wald, besonders aber von den kannibali­schen Nomaden in der südlichen Wüste. Zwar trugen auch sie Tierfelle als Bekleidung, aber man konnte sehen, daß sie nicht einfach um den Körper gelegt war, sondern vorher bearbeitet worden war. Auch wirkten die Men­schen sauber und gepflegt. Die Gesichtszüge waren nicht hart wie jene der Wilden in den Wäldern.

Erok erwartete sie auf dem Dorfplatz. Er saß in einem Sessel aus roh gezimmerten Holzstämmen und nickte ihnen fast freundlich zu.

»Setzt euch und berichtet, was euch hierher führte. Es kommt nicht oft vor, daß Fremde aus dem Land der Sonne zu uns kommen. Und wenn sie kommen, dann in großen Horden, um unser Feuer zu stehlen und unsere Frauen zu rauben. Ihr seid allein, zwei Männer und eine Frau. Das ist selt­sam und bedarf einer Erklärung.«

Er schwieg und sah sie fragend an. Ra sagte: »Du weißt, daß man mich den einsamen Jäger nennt, Erok, darum bin

ich allein unterwegs. Diesmal begleiten mich Bris und Kara. Daß wir nicht gekommen sind, um Feuer zu stehlen, weißt du auch! Und eine Frau haben wir. Es besteht also kein Grund für dich, uns als deine Feinde zu betrach­ten. Wir sind dir dankbar für Gastfreundschaft und Ratschläge. Dann wer­den wir in Frieden weiterziehen.«

Erok nickte versonnen. »Ich werde euch weiterziehen lassen, bitte euch aber, noch ein paar Ta­

ge in unserem Dorf zu bleiben. Wir wissen wenig von den anderen Stäm­men, und du, Ra, kennst viele von ihnen. Ich will wissen, wer im Land der Sonne wohnt, welche Stämme es sind und ob wir uns vor ihnen in acht nehmen müssen. Am Felsenfluß hausen kriegerische Jäger, die uns mehr­mals überfielen. Sie wohnen in Höhlen, und man kann nicht mit ihnen re­den.«

»Man kann schon mit ihnen reden«, widersprach Ra und berichtete von ihrem Erlebnis mit Srens Stamm. »Wenn man stark genug ist.«

Erok sah ihn erstaunt an. »Und ihr wart stark genug, mit ihnen zu reden?« »Ja, das waren wir«, bestätigte Ra einfach. Erok versuchte deutlich, diese Tatsache zu verdauen. Die Selbstsicher­

heit seiner Gefangenen-Gäste überzeugte ihn schließlich. Er nickte.

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»Du mußt mir mehr darüber berichten, Ra, denn ich möchte Frieden mit den Höhlenjägern schließen. Mein Stamm ist ein friedliches Volk. Wir brauchen nicht viel Wild und nehmen es den anderen nicht weg. Wir fan­gen die Fische im Fluß, und es gibt mehr als genug von ihnen. Wir sind satt und haben das Feuer. Wir brauchen keinen Krieg.«

»Sie sind im Herzen nicht böse«, machte Ra den Versuch einer ersten Vermittlung, obwohl der eigentlich Partner fehlte. Die Höhlenjäger wür­den nach dem Tod ihres Häuptlings jetzt auch andere Sorgen haben. »Sie sind wild und immer hungrig, und sie verstehen es nicht, Feuer zu machen. Ich habe es ihnen gegeben, und wenn sie es sorgsam hüten, werden sie euch in Ruhe lassen. Wenn es verlischt …«

»Wenn es verlischt, kommen sie wieder«, unterbrach Erok. »Nun gut, dann gebt ihnen eine brennende Fackel«, schlug Bris vor.

»Und sorgt für gute Waffen, damit ihr verhandeln könnt.« »Werdet ihr bei uns bleiben?«, fragte Erok. »Vielleicht können wir von­

einander lernen.« »Ein paar Tage – gern«, übernahm Ra wieder das Verhandeln. »Bris

wird euch zeigen, wie man einen Bogen macht und Pfeile herstellt.« »Und wir zeigen euch, wie wir unsere Fische fangen – mit Netzen, so

wie wir auch euch gefangen haben. Aber nun seid ihr frei und unsere Gä­ste. Fühlt euch als unsere Freunde.«

»Erhalten wir die Waffen und Felle zurück?« »Sie wurden bereits in eine freistehende Hütte gebracht, Ra. Nehmt die

Waffen, denn wir gehen hinab zum Fluß. Kein Mann darf ohne seine Waf­fen das Dorf verlassen.«

Einer der Fischer zeigte ihnen die Hütte. Ra nahm sein Messer und das Hornschwert, Bris den Bogen. Kara blieb zurück und schaffte, wie sie es gewohnt war, Ordnung in der neuen Behausung.

Erok begleitete sie mit einigen anderen Männern zum Flußufer. In der kleinen Bucht abseits der Hauptströmung lagen einige ausgehöhlte Holz­stämme, halb aufs Land gezogen. Auch ein quadratisches Floß war vor­handen. An seiner Seite befanden sich starke Astgabeln um Ruder aufzu­nehmen. Überall hingen zwischen den Bäumen Netze zum Trocknen.

»Gleich werdet ihr sehen, wie meine Männer zum Fang ausfahren«, er­klärte Erok und deutete zur Strommitte. »Nicht dort gibt es die meisten Fi­sche, sondern in den ruhigen Buchten, in denen das hohe Gras im Wasser steht. Wenn die Netze eingezogen werden, sind sie voller Fische. Nach al­lem, was ich über das Land der Sonne und die Wälder gehört habe, bin ich sicher, hier in einer besseren Welt zu leben.«

»Was ist am anderen Ufer?« fragte Ra und blickte hinüber zu den fernen Bergen, die den lückenlosen Wald überragten. »Seid ihr noch niemals dort gewesen?«

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Erok lächelte. »Es sind immer Männer von mir jenseits des Stromes. Oft ziehen sie ge­

meinsam mit den Männern der Nachbarstämme zu den Bergen, denn dort finden sie den schwarzen Stein, der das Feuer lange lebendig hält.«

Ra sah ihn erstaunt an. »Schwarzer Stein? Was ist das?« Erok setzte sich auf einen Baumstamm und lud sie ein, neben ihm Platz

zu nehmen. Es schien eine längere Geschichte zu sein, die er ihnen zu be­richten hatte.

»Vor vielen Wintern – mein Vater war noch Häuptling und ich noch ein Kind – zog ein Jagdtrupp zu jenen Bergen, deren Gipfel ihr seht. Das Wild bei uns war knapp geworden. Mein Vater hatte ihnen zwei Feuersteine mitgegeben, damit sie unterwegs das Fleisch zubereiten, braten und trock­nen konnten. Man wußte nicht, wie lange sie unterwegs sein würden. Sie kamen in die Berge, die noch niemand kannte, und sie lagerten in einem engen, felsigen Tal, entfachten das Feuer und brieten ihr Fleisch. Dann schliefen sie, und als sie am anderen Morgen erwachten, war die Glut in den Feuern noch frisch. Der Felsen, dunkel und schwarz, auf dem sie das Feuer gemacht hatten, brannte.«

»Der Felsen brannte?« vergewisserte sich Bris ungläubig. »Er brannte, Bris! Langsam und ruhig, aber er brannte. Aber was noch

erstaunlicher war, ist dies hier …« Er griff in die Tasche und hielt den bei­den Männern die flache Hand hin, in der ein braunes Gebilde lag, das an einen erstarrten Tropfen erinnerte. »Es ist sehr schwer und sehr hart, härter als Stein oder Knochen. Aber es wird weich und formbar, wenn es in der Glut des schwarzen Felsens liegt. Darum gehen unsere Männer in die Ber­ge, denn der schwarze Stein hilft uns, das Feuer immer zu bewahren und es nicht ständig immer wieder mühsam entfachen zu müssen.«

Ra nahm den erstarrten Tropfen zwischen Daumen und Zeigefinger, drehte ihn prüfend hin und her und gab ihn schließlich Erok zurück.

»Daraus ließen sich unzerstörbare Pfeilspitzen machen«, sagte er. Erok dachte darüber nach, während sie zusahen, wie die Fischer die

Boote ins Wasser schoben und davonpaddelten. Das große Floß folgte ih­nen langsamer. Es trug die Netze.

Erok kehrte mit seinen Gästen ins Dorf zurück und entließ sie. Kara hatte ein Feuer vor der Hütte entzündet und einige Fische zuberei­

tet. Ihr schien das Leben in diesem Dorf zu gefallen, dessen Bewohner so ganz anders waren als die Jäger und Nomaden in den Wäldern und der Wüste.

Bevor die Sonne, unterging, kamen die Fischer mit reicher Beute zu­rück. Einer von ihnen eilte sofort zu Erok, um ihm die Nachricht zu über­bringen, daß die Männer aus den Bergen zurückgekehrt seien und am an­

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deren Ufer auf das Floß warteten. Es war bereits zu spät die Überfahrt zu wagen, also gab man Feuersi­

gnale mit Fackeln. Die Männer würden noch einen Tag auf ihre Hütten und Frauen warten müssen, aber sie waren wieder da.

»Den schwarzen Stein werde ich mir ansehen«, versprach Bris, als sie auf ihren Fellen lagen. »Und der erstarrte Tropfen hat mich auf einen gu­ten Gedanken gebracht. Wenn man aus einem größeren Stück im Feuer ein Messer formen würde, würde dieses, wenn es kalt und hart ist, niemals zerbrechen.«

»Du hast doch ein gutes Messer«, meinte Kara. »Nichts kann gut genug sein, wenn es Besseres gibt, Kara …«

Das Floß brachte den eingesammelten schwarzen Stein, eine Probe des un­bekannten braunen Hart-Stoffs und das erlegte Wild aus den Wäldern. Die Männer hatten soviel mitgebracht, daß es zweimal den Strom überqueren mußte, ehe es endlich die Jäger holen konnte.

Ra und Bris untersuchten den schwarzen und leicht bröckeligen Stein, während Erok sich Bericht erstatten ließ. Er wurde immer aufgeregter, je mehr er hörte, aber weder Ra noch Bris achteten darauf. Sie waren zur Hütte zurückgekehrt und hatten ein Stück der schwarzen Masse ins Feuer gelegt und sahen gespannt zu, was geschah.

Erok winkte ihnen vom Dorfplatz her zu, dann kam ein Mann herbeige­laufen. Von weitem schon rief er:

»Der Häuptling braucht euren Rat, kommt schnell!« Nur ungern verließen Ra und Bris das wunderbare Feuer. Sie ließen Ka­

ra zurück, damit sie darauf achtete und dafür sorgte, daß die Hütte nicht zu brennen anfing. Dann erst folgten sie dem Boten.

Erok saß wieder in seinem Stuhl. Um ihn herum hockten die Männer der Expedition auf dem Boden und machten bereitwillig Platz, als Ra mit Bris in den Kreis trat.

»Hört zu«, begann Erok mit erregter Stimme. »Hattest du nicht von ei­ner leuchtenden Götterburg gesprochen, in dem die Goldene Göttin wohn­te, Ra? Hast du nicht auch gesagt, sie würde eines Tages zu dir zurückkeh­ren?«

Ra unterdrückte die plötzlich aufkeimende Hoffnung. »Ja, das habe ich, Erok, aber nun sind zu viele Winter vergangen, als

daß ich an eine Rückkehr der leuchtenden Götterburg glauben könnte. Wa­rum fragst du?«

»Im Wald jenseits des Flusses und in den Bergen geschehen seltsame Dinge, Ra. Meine Leute sind merkwürdig bekleideten Männern begegnet, deren Haut härter als Stein ist. Sie sind anders als wir. Und man kann sie nicht töten. Sie gehen nur langsam, aber sie werden niemals müde, wenn sie arbeiten oder jemanden verfolgen. Sie sammeln am Fuß der Berge den

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harten Stein, den man im Feuer schmelzen kann.« »Man kann sie nicht töten?« fragte Ra erstaunt. »Auch nicht mit der Axt

oder dem Messer oder dem Speer?« »Alles prallt von ihrer Haut ab, als wäre auch sie aus Stein. Sie haben

fast alle Männer eines anderen Stammes getötet, als diese versuchten, einen von ihnen gefangenzunehmen. Sie sind schreckliche Kämpfer und unerbittliche Gegner. Wenn sie zu uns kommen …«

In Ra schlummerte eine vage Erinnerung, aber sie nahm keine greifba­ren Formen an. Immerhin veranlaßte sie ihn zu der Frage:

»Du erwähntest die leuchtende Götterburg, Erok. Was haben die Unbe­kannten damit zu tun?«

»Sie kommen aus einer solchen Götterburg, behaupten meine Männer. Das helleuchtende Ding soll in den Bergen gelandet sein, nachdem es vom Himmel herabstieg. Es steht in einem Tal. Die Männer mit der harten und glänzenden Haut kamen aus ihm. Sie sammeln unermüdlich Steine und Er­de ein und bringen es zur Götterburg. Meinst du, daß sie damit einem Gott ein Opfer bringen wollen?«

Ra konnte nicht antworten. Das Blut pulste so schnell durch seine Adern, daß ihm fast der Hals zugedrückt wurde und er kaum noch zu at­men vermochte. Es war, als kralle sich eine unsichtbare Hand um sein Herz und wolle es zerquetschen.

Die Goldene Göttin! Sie war zurückgekehrt. »Ein Opfer …? Vielleicht, Erok. Können deine Männer mir den Weg zu

jenem Tal beschreiben, in dem die Götterburg landete?« »Sie können dich dorthin begleiten, wenn du willst.« »Nein, Erok, das ist nicht nötig, ich finde den Weg schon. Ich muß al­

lein gehen.« Bris warf ihm einen fragenden Blick zu, erhielt aber keine Antwort oder

Reaktion. »Dann sprich mit den Männern«, sagte Erok. »Du bist frei, und du

kannst tun und lassen, was du willst.« Bris stand auf. »Ich warte in der Hütte«, sagte er und ging ohne ein weiteres Wort da­

von. Bris war an diesem Abend sehr niedergeschlagen. Er stand vor einer Ent­scheidung, von der er nicht geahnt hatte, wie schwer sie ihm fallen würde. Ra hatte ihm einst das Leben gerettet und war sein Freund geworden. Kara aber liebte er.

»Es geht nicht, Bris, denn vor uns liegt ein unbekanntes und gefährli­ches Land. Du kannst mich dorthin begleiten, wenn du es für richtig fin­dest, aber Kara muß hier im Dorf zurückbleiben. Ich kann sie nicht mit­

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nehmen. Du selbst kannst dich frei entscheiden.« Das war ja das Problem, die freie Entscheidung. Wenn Ra ihm befohlen

hätte, ihn zu begleiten, hätte er keine Sekunde gezögert es auch zu tun, wenngleich schweren Herzens. Doch nun lag es an ihm, Kara zu verlassen oder bei ihr zu bleiben und Ra ziehen zu lassen.

Er gestand sich ein, daß es auch das Abenteuer war, das ihn lockte, und der Wunsch, eines Tages Ra seine Schuld zurückzahlen zu können, ob­wohl das bereits bei den Höhlenbewohnern geschehen war. »Kara war uns noch nie eine Last«, versuchte er es noch einmal.

Ra seufzte. »Darum allein geht es nicht, Bris. Die Männer Eroks berichten, daß die

Götterburg im fernen Gebirge steht. Sie waren zwei Monde unterwegs, denn es ist ein langer und gefahrvoller Weg durch Wälder, Schluchten und fast unbezwingbare Felsen. Reißende Flüsse sind zu überqueren, und räu­berische Nomadenstämme durchstreifen das Land. Kara muß hier warten, Bris. Sie würde uns diesmal nur aufhalten. Aber du kannst bei ihr bleiben …«

»Ich begleite dich!« sagte Bris entschlossen und vermied es, dem Blick Karas zu begegnen, die das Geschirr wegräumte und sich vor das immer noch glimmende Feuer setzte. »Allein bist du in dem wilden Land verlo­ren. Denke nur an die seltsamen Männer mit der harten Haut.«

»An die denke ich schon die ganze Zeit«, gab Ra nachdenklich zu. »Sie erinnern mich an etwas, das vor sechs Wintern geschah, aber ich weiß nicht mehr, was es war. Es hing mit der Götterburg zusammen.«

»Vielleicht sind es ebenfalls Götter?« »Ich weiß es nicht. Wir dürfen ihnen nicht begegnen, denn Eroks Män­

ner behaupten, sie wären unbesiegbar und unsterblich. Trotzdem glaube ich nicht, daß sie Götter sind – bis ich sie gesehen habe.«

»Wann brechen wir auf?« Ra sah ins Feuer. »Morgen mit den Fischern. Sie bringen uns zum anderen Ufer.« Kara ging zu Bris und kroch zu ihm unter die Felle. Keiner sprach mehr. Auch auf Ra lastete der Abschied von dem Mäd­

chen, das er liebgewonnen hatte, und er konnte die schreckliche Ahnung nicht unterdrücken, daß er es nie mehr wiedersehen würde.

Aber hier bei Eroks Leuten war sie in Sicherheit, das wußte er. Wenn er und Bris wirklich nicht zurückkehrten, würde sie eines Tages jemand zur Frau nehmen, und sie war nicht mehr allein.

Ischtar! Der Gedanke an sie verscheuchte alle Bedenken. Nur sie konnte mit der

Götterburg gekommen sein. Vielleicht wartete sie auf ihn, denn sie mußte wissen, daß sich die Kunde von der Rückkehr der Goldenen Göttin schnell

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verbreitete und auch an seine Ohren gelangen würde. Er schlief unruhig in dieser Nacht, und als Bris ihn schließlich bei Son­

nenaufgang aus dem leichten Schlummer riß, waren seine Glieder schwer wie Gestein.

Kara sah ihnen nach, als sie mit Erok zum Fluß hinabgingen, aber sie folgte ihnen nicht. Dann kehrte sie in die Hütte zurück und begann mit ih­rer täglichen Arbeit, als hätte sich nichts in ihrem Leben geändert.

Dabei hatte sich für sie alles geändert. Die Männer brachten sie über den Strom, und als sie am anderen Ufer

standen und zurückblickten, sahen sie Erok in der Bucht stehen, beide Hände zum Gruß erhoben. Sie winkten zurück, dann drehten sie sich um und fanden den schmalen Pfad, der in den Wald führte.

Den ganzen Tag marschierten sie, aßen von den Vorräten, die man ih­nen mitgegeben hatte, tranken vom Wasser klarer Bäche und hielten erst an, als es völlig dunkel geworden war. Ohne ein Feuer zu machen, rollten sie sich wortlos in ihre Felle und fielen sofort in einen tiefen, erquickenden Schlaf, der durch nichts gestört wurde.

So ging das viele Tage lang, bis die ersten richtigen Felsen auftauchten. Meist standen sie wie gewaltige Steinkuppeln auf den Waldlichtungen und waren leicht zu umgehen. Aber dann wurden es immer mehr, bis es schwer war, einen Paßweg zu finden, der ihnen das anstrengende Klettern ersparte.

An diesem Abend lagerten sie zwischen den Felsen, die Schutz boten. Bris sammelte Holz für ein Lagerfeuer, dessen Schein hier nicht weit gese­hen werden konnte. Lange genug hatten sie nun die wohltuende Wärme vermißt, außerdem hatten sie tagsüber ein kleines Tier erlegt, das sie zu rösten gedachten. Wasser gab es in einer nahen Quelle.

Über ihnen war ein Geräusch, aber ehe sie sich darüber klar wurden, wer es verursachte, prasselte eine Steinlawine auf sie herab. Das Feuer wurde auseinandergerissen, brennende Äste wirbelten durch die Luft und verrieten den Gegner, der ringsum auf den Felsen hockte.

Es waren kleingewachsene Wilde, nahezu nackt und völlig mit Haaren bedeckt. Einige schwangen Holzkeulen, die anderen warfen mit Steinen. Jetzt begannen sie sogar, in die Mulde hinabzuklettern.

Bris ergriff seinen Bogen und den Köcher. Ra duckte sich unter einen überhängenden Felsen und erwartete die Wilden mit seinem Hornschwert.

Als die Angreifer in den Schein des Feuers gerieten, machten Bris Pfei­le kurzen Prozeß mit ihnen. Er nahm keine Rücksicht, denn er wußte, daß die Wilden Kannibalen waren. Von ihnen war keine Gnade zu erwarten.

Als die Hälfte von ihnen von Pfeilen durchbohrt am Boden lag, suchte der Rest sein Heil in der Flucht. Bris tötete noch einige von ihnen, dann sagte er:

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»Die kommen nicht mehr zurück, Ra. Sehen wir nach, ob noch einer von denen hier lebt …«

Bis auf einen schwerverwundeten Wilden waren alle tot. Ra beugte sich zu ihm nieder und drehte ihn auf den Rücken. Haßerfüll­

te kleine Augen blickten ihn an, aber in ihnen war keine Furcht zu erken­nen.

»Kannst du mich verstehen?« fragte Ra, das Messer in der Hand. Unartikulierte Laute antworteten ihm. Ein paar Silben kamen Ra be­

kannt vor, mehr nicht. Trotzdem versuchte er, eine Art Gespräch mit dem Kannibalen zu beginnen, während Bris im Dunkel der Nacht das Lager umschlich, damit kein zweiter Überfall erfolgte.

Schließlich gelang es Ra, einige spärliche Informationen zu erhalten, ehe der Wilde seiner Verletzung erlag.

Die Wilden kamen aus den hohen Bergen im Norden, wo die Sonne tiefer stand. Sie hatten das Gebirge überquert und die Felsebene erreicht. Dann waren sie den Unsterblichen mit der harten Haut begegnet, die Blit­ze schleudern konnten. Mit ihnen schmolzen sie große Löcher in die Fel­sen und holten die mit bunten Adern durchzogenen Steine daraus hervor. Seltsame Gefährte, die von nichts gezogen wurde, brachten diese Steine fort, in ein breites Tal hinein, in dessen Hintergrund ein schimmerndes, riesiges Haus stand.

Haus? Vielleicht nicht doch eine Burg, eine Götterburg? Ra richtete sich auf, als Bris in die Mulde kletterte. »Sie haben sie gesehen, Bris. In wenigen Tagen sind wir dort.« »Wir können jetzt nicht hier bleiben, wir müssen weiter.« »Die Wilden?« »Ja, ich spüre, daß sie sich wieder sammeln, um uns erneut anzugreifen.

Vielleicht wollen sie sich aber auch nur das Fleisch ihrer toten Stammes­brüder holen.«

Sie nahmen ihre Sachen und verschwanden zwischen den Felsen. Im Dunkeln war der Weg beschwerlich und anstrengend. Der Himmel war be­deckt, und es gab keine Sterne und keinen Mond. Aber bis zum Morgen­grauen gelang es ihnen, eine beachtliche Entfernung zwischen sich und die Wilden zu bringen.

Sie durchwateten einen Fluß, der nicht sehr tief aber reißend war und aus dem Gebirge kam. Sein Wasser war klär und kalt. Das Gelände stieg nun immer an, der Wald wurde lichter. Auch die Bäume schienen zu schrumpfen und allmählich kleiner zu werden.

Abermals vergingen viele Tage, ehe sie den wirklichen Fuß des Gebir­ges erreichten. Nun gab es fast keine Bäume mehr, nur noch Sträucher und Kriechpflanzen. Die Bäche waren nur noch schmal und stürzten oft aus

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großen Höhen in die Felsebene hinab. »Das Tal!« sagte Ra und suchte das vor ihnen liegende Gebirge sorgsam

ab. »Wir müssen das Tal finden!« Das einigermaßen flache Vorland trennte sie noch von den Steilhängen,

aber sie konnten es in einem halben Tagesmarsch durchqueren. Der Nach­teil war nur, daß man sie sehen konnte – wenn es hier jemanden gab. Da waren kaum Deckungsmöglichkeiten, höchstens einige Bäche, die sich ein tiefes Bett ausgeschwemmt hatten.

»Es gibt viele Täler dort«, erwiderte Bris. Ra ging weiter. Jetzt, so nahe am Ziel, wurde seine Ungeduld fast uner­

träglich. Und wenn er jedes Tal einzeln absuchen müßte, er würde die Götterburg finden. Vielleicht dauerte es viele Tage oder gar Monde, bis es ihm gelang, aber er würde nicht aufgeben.

Er versuchte, sich an die lückenhafte Beschreibung des Wilden zu erin­nern, und verglich sie mit den Merkmalen des Gebirges, das vor ihnen lag.

»Ein Berg wie das Horn eines Stieres … ein grüner Eingang zum Tal, mit flachen Grashängen … ein ruhiger Fluß ohne Strudel …«

Das war alles. »Wir müssen eben näher heran!« sagte er. Am späten Nachmittag blieb Ra plötzlich stehen. Sie hatten den letzten Höhenrücken vor dem Gebirge erstiegen und

standen auf dessen Kuppe. Die Sicht war klar, und jeder Felsvorsprung war deutlich zu erkennen. Auch die Taleinschnitte.

Einer sah wie der andere aus. Bei einem allerdings – er lag in gerader Linie vor ihnen – fiel die

Gleichmäßigkeit der flachen Seitenhänge auf. Dahinter, in weiter Ferne, stieß ein leicht gekrümmter, schmaler Fels scharf in den wolkenverhange­nen Himmel. Seine Spitze verschwand in den Wolken.

»Das ist es!« sagte Ra und setzte den Marsch fort. Rechts und links sahen sie vereinzelte Gruppen von Menschen, mit ih­

ren Habseligkeiten beladen, der Sonne entgegenziehen. Keine kümmerten sich um die andere, und es war den beiden Jägern sofort klar, daß es sich nur um Flüchtlinge handeln konnte. Sie brachten sich vor einer unheimli­chen Bedrohung in Sicherheit und flohen nach Osten und nach Süden.

Ra und Bris ahnten, vor welcher Gefahr sie davonliefen. Sie bewirkte immerhin, daß selbst feindliche Stämme, die sich vor we­

nigen Tagen noch erbittert bekämpft hatten, nun vor einem gemeinsamen Feind flohen und zu Verbündeten geworden waren. Der Feind konnte aber nur die Männer mit der harten Haut sein, die im Sonnenlicht wie Wasser beim Mondschein schimmerte.

Bris schüttelte den Köcher, als wolle er sich vergewissern, daß die Pfei­le locker saßen. Den Bogen hielt er in der rechten Hand.

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Als sie nahe an das Tal herangekommen waren, legten sie sich in das hohe Gras und spähten nach vorn. Nun war mehr zu erkennen, wenn Ra auch noch immer die Götterburg nicht sehen konnte. Sie mußte mehr am Ende des Tales stehen.

»Das sind sie!« sagte er und blieb reglos liegen. »Die Männer mit den harten Mondscheinhäuten …!«

Immer dann, wenn ein Sonnenstrahl im richtigen Winkel auf sie fiel, blitzten sie auf, als bestünden sie aus Feuer. Das konnte keine gewöhnli­che Haut sein, auch keine gewöhnliche Kleidung. Irgend etwas an ihnen erinnerte Ra wieder an seine Zeit mit der Goldenen Göttin. Im Innern der Götterburg hatte es viele Dinge gegeben, die eine ähnliche Mondschein-Was­ser-Farbe gehabt hatten. Auch Dinge, die sich bewegten.

Vor dem Taleingang war an beiden Seiten die felsige Steilwand, die erst dahinter in die flachen Hänge überging. Dort bewegten sich die Fremden und holten die Steine aus den Höhlen, luden sie auf kleine Plattformen, die sich dann in die Luft erhoben und dicht über dem ruhig fließenden Bach ins Tal hineinflogen, bis sie hinter einer Biegung verschwanden. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß sie die Steine zur leuchtenden Götter­burg brachten.

»Es sind Flöße, die durch die Luft fliegen!« stieß Bris ungläubig hervor. »Sie müssen Götter sein, die Fremden mit der schimmernden und harten Haut. Ich möchte wissen, ob mein Pfeil sie durchbohren kann …«

»Du willst auf Götter schießen?« fragte Ra spöttisch und wurde sofort wieder ernst. »Tu es nicht, Bris, es könnte dein Tod sein! Wir werden ih­nen aus dem Weg gehen und weiter rechts die Felsen emporsteigen, um so in das Tal sehen zu können. Wir finden auch wieder einen Abstieg. Aber die Fremden …?

Nein, ich will ihnen nicht begegnen. Erst dann, wenn die Goldene Göt­tin ihnen den Befehl gab, uns zu verschonen, wird meine Furcht vor ihnen schwinden.«

»So sind sie die Diener der Goldenen Göttin?« Ra zögerte, dann nickte er unsicher. »Ja, ich glaube schon …« Sie warteten, bis es dämmrig wurde, dann gingen sie weiter und hielten

sich rechts vom Taleingang. Als sie die Felsen erreichten, war es schon dunkel und sie fanden keinen Aufstieg. Bris schlug vor, im Schutze der Nacht an den Fremden vorbei ins Tal einzudringen, und nach einigen Überlegungen stimmte Ra auch zu. Die Zeit drängte, und er hatte es eilig, seine Goldene Göttin wiederzusehen. Dafür nahm er die drohende Gefahr gern in Kauf.

Die Lichter bei den künstlichen Höhlen waren erloschen. Niemand war dort mehr zu sehen – wenigstens niemand, der sich noch bewegte. Als je­

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doch für einen kurzen Augenblick der zunehmende Mond die Wolken­decke durchbrach, sahen die beiden Freunde zu ihrem Schrecken einen schimmernden Fremden nur wenige Schritte entfernt bewegungslos nahe der Felsen stehen. Er hatte sie nicht bemerkt.

Oder er konnte sie nicht bemerken … Ra flüsterte: »In der Nacht sind sie vielleicht tot. Komm, wir kümmern uns nicht um

ihn.« Bris war alles andere als wohl zumute. Menschen, die in der Nacht star­

ben und am nächsten Tag wieder zum Leben erwachten, mußten ihm un­heimlich sein. Aber waren es überhaupt Menschen? Waren Götter oder die Diener einer Göttin Menschen?

Sie schlichen weiter und wurden nicht behelligt. Niemand folgte ihnen, niemand kam ihnen entgegen. Das Gras unter ihren Füßen war kühl und feucht. Der Morgen begann bald zu grauen.

Als die ersten Sonnenstrahlen die Bergspitzen ringsum vergoldeten, blieb Ra ohne Warnung stehen. Bris rannte gegen ihn und hielt ebenfalls an. Starr sah er geradeaus, dann stammelte er:

»Die Götterburg! Das ist sie!« Ra gab keine Antwort. Mit hängenden Schultern blickte er auf die riesi­

ge Kugel, die auf zerbrechlich wirkenden Beinen stand und deren Hülle wie die Haut der Fremden schimmerte.

Die Götterburg der Goldenen Göttin hatte anders ausgesehen. Sie war keine Kugel gewesen …

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6.

Der Arkonide Neeol Darmigon hatte es mit seiner abenteuerlich zusam­mengewürfelten Mannschaft gewagt, in den relativ unbekannten Seiten­arm der Galaxis einzudringen, um hier nach verborgenen Schätzen zu su­chen. Im Großen Imperium waren gewisse Rohstoffe knapp geworden, die auf dem schwarzen Markt gute Preise brachten.

Wertvolle Rohstoffe, auch Erze, gab es aber nur noch auf fremden, un­erforschten Planeten, die namenlose Sonnen umkreisten und nicht zum Imperium gehörten.

So kam es, daß Neeol Darmigon den dritten Planeten einer gelben Son­ne anflog, auf dem die Ferntaster seines Schiffes die begehrten Metalle in Urform festgestellt hatten.

Darmigon war nicht gerade ein feinfühliger oder zarter Charakter. Von Jugend an war er ein freier Prospektor gewesen, der auf eigenen Beinen gestanden hatte. Für Politik interessierte er sich nicht, wohl aber für Geld. Mit Mühe und Not fand er die richtigen Gefährten für seine gefährlichen Flüge in die verbotenen Regionen der Galaxis, und er wußte, daß er sich auf seine Leute verlassen konnte. Außerdem standen ihm zwei Dutzend Such- und Schürfroboter neuester Konstruktion zur Verfügung, die gut und gern hundert oder gar zweihundert Männer ersetzten.

Die gelbe Sonne hatte er durch Zufall gefunden, und schon wollte er einen neuen Kurs programmieren, als die Ferntaster auf den ersten vier Planeten Metalle und andere Rohstoffe anzeigten. Da entschloß er sich zur Landung.

Der dritte Planet war bewohnt, aber das störte Darmigon nicht. Die Er­fahrung hatte bewiesen, daß Raumfahrer stets für Götter gehalten und ent­sprechend behandelt wurden.

Er grinste, als er das Tal fand und das Schiff niedergehen ließ. Er, der Prospektor Neeol Darmigon – ein Gott!

Dann begann die Arbeit. Seine Männer hatten nicht viel zu tun. Sie erkundeten das Gelände und

stellten fest, wo es die meisten Erzvorkommen gab. Besonders wertvoll waren jene Erze, aus denen sich Legierungen herstellen ließen, die man nicht künstlich erzeugen konnte – zumindest nicht so einfach und billig.

Dann schickte er die vorprogrammierten Roboter hinaus, das Erz abzu­bauen, und mit den Frachtgleitern zum Schiff zu transportieren. Er selbst und seine Leute machten sich ein paar gute Tage, indem sie die Wildnis der näheren Umgebung erforschten und auf die Jagd gingen. Frisches Fleisch war eine willkommene Abwechslung nach der Konzentratnahrung.

Seine Roboter trafen mehrmals mit Eingeborenen zusammen, die dum­

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merweise versuchten, die stählernen Ungetüme mit ihren primitiven Bei­len und Speeren anzugreifen. Das Ergebnis war jedesmal fatal für sie: Die Roboter töteten sie gnadenlos beim ersten Kontakt.

Darmigon machte sich nichts daraus. Er wollte das Erz, und er bekam es. Das Ladedeck war schon halb gefüllt, und zwar mit dem reinen End­produkt, denn der Konverter-Schmelzofen sorgte für absolute Reinheit des Absonderungsvorgangs. Dicht beim Schiff entstanden die ersten Schutt­halden des namenlosen Planeten.

Noch zwei Planetenrotationen, dann war der Frachtraum gefüllt. Darmigon war an diesem Morgen frisch ausgeschlafen und verließ das

Schiff in der Absicht, einen Spaziergang in das Tal zu unternehmen, das seine tief im Unterbewußtsein schlummernden romantischen Gefühle ge­weckt hatte. Er hatte schon viele Welten gesehen, aber noch keine so para­diesische wie diese hier. In einigen tausend Jahren würde sie vielleicht auch eine Zivilisation hervorbringen, die der arkonidischen glich oder ihr zumindest nahekam, aber das würde er nicht mehr erleben. Dann würde man jedoch vielleicht die Spuren finden, die er zurückließ, und die Be­wohner dieser unbekannten Welt standen dann vor einem Problem, das sie nicht zu lösen vermochten – bis sie selbst erfuhren, daß es noch andere Welten außer der ihren gab.

Er stolperte über einen Strauch, fing sich wieder und sah dann in das klare Wasser des Baches, der weiter oben am Ende des Tals entsprang. Dort gab es Tiere und Fleisch, aber keine menschenähnlichen Wesen. Die hielten sich nur draußen vor dem Tal in der Ebene auf.

Dann hörte er den Lärm vom Schiff her. Sofort nahm er das winzige Telekom aus der Tasche, aktivierte das

Sprechgerät und meldete sich. Dann fragte er nach der Ursache des Lärms. Einer seiner Leute, ebenfalls ein Prospektor, sagte: »Zwei Wilde sind an den Robotern vorbei ins Tal eingedrungen, es muß

während der Dunkelperiode geschehen sein. Einer wurde von den Wachro­botern getötet, der andere steckt im kleinen Wald. Wir machen ihn un­schädlich.«

»Nein!« »Was soll das heißen: nein?« »Nein heißt nein, Dummkopf! Ich will den Burschen lebendig. Wie

konnte es überhaupt geschehen, daß sie unbemerkt an den Robotern vor­beikamen?«

»Die Schürfer wurden über Nacht desaktiviert. Erst die Wachroboter spürten sie mit ihren Ortern auf.«

»Na schön, ich komme zum Schiff. Fangt inzwischen den Burschen ein, aber tut ihm nichts. Holt die Roboter zurück.«

Er schaltete das Gerät ab und machte nachdenklich kehrt.

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Ein Wilder, der noch nie Roboter oder gar Raumschiffe gesehen hatte, würde es niemals gewagt haben, nachts in das Tal einzudringen. Und wenn, dann mußte er einen sehr triftigen Grund dafür haben.

Oder er war kein Wilder. Darmigon war fest entschlossen, das herauszufinden.

Der Anblick der riesigen Kugel entmutigte Ra derart, daß er sich am lieb­sten einfach hingesetzt und resigniert hätte. Aber Bris packte seinen Arm und zog ihn mit sich.

»Wir müssen im Wald verschwinden, Ra! Siehst du die Männer bei der Götterburg? Wenn sie uns entdecken, sind wir verloren.«

Ein paar Schritte, und schon nahm der Wald sie auf, der sich an der rechten Talseite entlangzog und genügend Schutz bot. Sie gingen ein Stück weiter talaufwärts, bis sie auf gleicher Höhe mit der schimmernden Kugel waren. Hinter dicken Bäumen versteckt, beobachteten sie, was wei­ter geschah.

Die Männer, die aus der Kugel kamen, trugen Hosen aus glattem Fell und bunte Jacken. Sie waren anders als jene, die am Talausgang arbeite­ten. Sie sahen so aus, als könnten sie sterben, wenn ein Pfeil sie durch­bohrte. Aber vielleicht starben die anderen auch, wenn man den Bogen nur kräftig genug spannte.

Plötzlich waren auch einige Harte-Haut-Männer da. Weder Ra noch Bris hatten sehen können, woher sie kamen. Sie bewegten sich ziemlich schwerfällig und hätten ihrer Langsamkeit wegen jedem Bogenschützen ein unfehlbares Ziel geboten.

Fünf von ihnen waren es, die in langgezogener Reihe losmarschierten, genau auf die Stelle im Wald zu, an der sich die beiden Freunde versteckt hielten.

Es war, als hätten sie ihre Beute gewittert. Ganz ruhig zog Bris einen Pfeil aus dem Köcher. »Laß das!« sagte Ra. »Es hat keinen Zweck, das wissen wir doch. Viel­

leicht ist es nur Zufall, daß sie hierherkommen. Sie sind nicht schnell, wir können also noch immer davonlaufen.«

Aber wenn es wirklich ein Zufall war, dann ein sehr merkwürdiger. Vielleicht warteten Ra und Bris auch zu lange, ehe sie sich zur Flucht ent­schlossen. Jedenfalls tauchten plötzlich auch oberhalb und unterhalb ihres Verstecks die unheimlichen schweigsamen Männer mit der harten Glanz­haut auf.

Nun protestierte Ra nicht mehr, als Bris den Pfeil auf die Sehne legte und den Bogen spannte. Das Ziel war nur wenige Manneslängen entfernt. Ra selbst hielt sein Hornschwert bereit, um damit auf die Gegner loszudre­schen.

Der Pfeil traf die Brust des Fremden und glitt wirkungslos ab. Der zwei­

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te zerbrach fast an der gleichen Stelle. Bris schleuderte den Bogen von sich, riß Ra das Hornschwert aus der Hand und stürzte sich mit einem wil­den Aufschrei auf den Mann, den er nicht hatte töten können.

»Bris, zurück!« Aber Bris hörte nicht. Mit ungeheurer Kraft schmetterte er das Horn auf

den Schädel seines Opfers – und schrie entsetzt auf, als sowohl das Horn wie auch sein Handgelenk brach. Im gleichen Augenblick war ein anderer Fremder herbeigekommen und packte Bris. Mit einem einzigen Schlag seiner klobigen Pranke zertrümmerte er den Schädel des Jägers.

Ra sah es und konnte nicht helfen. Er hatte nur noch sein Messer, mehr nicht. Und mit Feuer, das ahnte er instinktiv, konnte er diesen Gegner nicht vertreiben.

Er wandte sich zur Flucht, rannte zwischen zwei Fremden durch, ehe sie ihn greifen konnten, und verschwand im dichten Unterholz.

Er lief, bis er nicht mehr konnte. Hinter sich hörte er das Brechen der Zweige, aber es kam nur langsam näher. Er hielt an und verschnaufte.

Ob die Männer bei der Götterburg ihm helfen würden? Sie waren zwei­fellos die Herren hier, die anderen nur ihre Diener. Er mußte es auf einen Versuch ankommen lassen, denn früher oder später würden sie ihn ohne­hin erwischen. Aus dem Tal jedenfalls kam er nicht mehr lebendig heraus, und wenn er die Hänge erstieg, sahen sie ihn sofort.

Er ging weiter, nicht mehr so schnell und unüberlegt, sondern fast ge­ruhsam und bedächtig, bis er den Waldrand erreichte. Da stand die fremde Götterburg, davor in kleinen Gruppen die mit glatten Fellen bekleideten Männer. Einer kam von rechts den Bach entlang, und als er ihn sah, blieb er stehen.

Sie starrten sich forschend an und tasteten sich mit Blicken nach Waffen ab. Ra konnte bei dem anderen keine entdecken – keinen Bogen, keinen Pfeil, keine Keule, nichts. Er ließ sein Messer im Gürtel und ging auf ihn zu.

Der Fremde wartete, und als Ra noch wenige Meter von ihm entfernt war, hob er ihm beide Hände entgegen. Gleichzeitig rief er den anderen Männern einige Worte zu. Sie ließen die glänzenden Gegenstände ver­schwinden, die sie in ihren Händen gehalten hatten.

Ra verstand kein Wort von dem, was der Mann zu ihm sagte, aber er wußte, daß er im Augenblick nicht um sein Leben fürchten mußte. Viel­leicht würde Bris jetzt auch noch leben, wenn er sich nicht auf einen Kampf mit den Dienern eingelassen hätte.

Darmigon sah ein, daß er so nicht weiterkam. Auch ein Translator wür­de wenig Sinn haben, wenn der Wilde keinen Ton sagte. Aber vielleicht würde der dann wenigstens ihn verstehen.

»Briton, geh ins Schiff und hol den Translator. Keine hastigen Bewe­

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gungen, sonst rennt er uns weg. Ich will ihn unverletzt.« Einer der Prospektoren verschwand in der Götterburg und kam wenig

später mit einem kleinen Kästchen zurück, das Darmigon entgegennahm und um den Hals hängte, so daß es auf seiner Brust zu liegen kam.

Mißtrauisch verfolgte Ra jede Bewegung der Männer, aber er verlor all­mählich die Furcht vor ihnen. Wieder regte sich tief in seinem Unterbe­wußtsein das verlorene Wissen und die versunkene Erinnerung an das, was er mit der Goldenen Göttin erlebt hatte. Auch sie war von seltsamen Din­gen umgeben gewesen.

Plötzlich konnte er verstehen, was der Fremde vor ihm sagte: »Du gehst mit mir ins Schiff, dort wirst du unsere Sprache erlernen, da­

mit wir uns unterhalten können. Du bist in Sicherheit, und niemand wird dir etwas tun. Hast du verstanden?«

Ra starrte auf den Kasten vor der Brust des Mannes. Woher war die Stimme gekommen, die er gehört hatte? Aus dem Mund des Fremden? Aus dem Kasten? Er wußte es nicht, aber er hatte die Worte verstanden. Es waren Worte in seiner eigenen Sprache gewesen.

»Schiff? Du meinst die Götterburg …?« Darmigon brachte seine Männer, die ihn und Ra umstanden, mit einer

kurzen Handbewegung zum Schweigen. »Ja, ich meine die Götterburg. Wir werden sie dir zeigen, wenn du mir

folgst.« »Deine Diener haben meinen Freund getötet.« »Ja, ich weiß, sehr bedauerlich. Aber er hat sie angegriffen. Sie wurden

inzwischen umprogrammiert und töten nicht mehr.« Ra starrte ihn verständnislos an. »Was wurden sie?« Darmigon grinste. »Das verstehst du noch nicht … wie heißt du übrigens?« »Ich bin Ra, der einsame Jäger und der Mann mit dem Feuer.« Darmigon betrachtete ihn mit neuem Interesse. »Der einsame Jäger, aha. Davon mußt du mir berichten. Und Feuer ma­

chen kannst du auch? Ziemlich mühsam, nicht wahr? Ich kenne das von anderen Welten, wo die unterschiedlichsten Methoden entwickelt wurden. Doch das hat Zeit bis später, komm jetzt!«

Ra hatte ihm schon den Feuerstab der Goldenen Göttin zeigen wollen, aber er zog die Hand wieder leer aus der Tasche. Sie hatten ihm bis jetzt sein Messer gelassen, aber den Feuerstab würden sie ihm bestimmt abneh­men. Als Ra den schrecklichen Stuhl mit den Armlehnen, den darin befindli­chen Fesselbändern und die Kopfhaube mit den vielen Leitungen sah, wandte er sich zur Flucht. Einer der Prospektoren paralysierte ihn mit sei­

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nem Strahler. »Woher soll er auch wissen, was eine Hypnoschulung ist«, entschuldig­

te er seine Reflexhandlung. »Aber nun können wir ihn wenigstens in aller Ruhe anschnallen, wenn du ihm schon Arkonidisch beibringen willst, Dar­migon.«

»Ja, das will ich, denn wir werden ihn mitnehmen und auf einem der Sklavenmärkte des Imperiums verkaufen. Ein Wilder, auf einer unbekann­ten Welt gefangen, ist immer eine Attraktion. Los, helft mir, ihn aufzuhe­ben!«

Ra war zu Boden gestürzt. Neben ihm lag ein kleiner silberner Stab. Er mußte ihm aus der Tasche gefallen sein. Darmigon bückte sich und hob ihn auf. Eine Sekunde lang wußte er nicht, was es war, aber dann fand sein suchender Finger die kaum spürbare Ausbuchtung. Die Flamme zuckte hervor und erlosch wieder.

»Ein Feuerzeug!« Darmigon schüttelte verwundert den Kopf. »Wie kommt der Wilde an ein Feuerzeug? Deshalb also nennt er sich: Der Mann mit dem Feuer! Es ist übrigens keine arkonidische Konstruktion.«

»Er wird es uns erzählen, sobald er wieder reden kann.« Darmigon schob das Feuerzeug in seine eigene Tasche und sah zu, wie

Ra auf den Stuhl gesetzt und festgeschnallt wurde. Dann folgte die Hypno­schulung, die nicht einmal eine Stunde dauerte. In dieser Stunde nahm Ras Gehirn die Sprache der Arkoniden in sich auf, erlernte für alle Zeiten ihren korrekten Gebrauch, so wie er auch die Sprache der Goldenen Göttin auf ähnliche Weise gelernt hatte.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf weichen Fellen, die keine Haare besaßen. Er war völlig angezogen, aber sein Feuerstab fehlte. Sie hatten ihn bestohlen, während er schlief.

Und damit hatten sie ihm das Wertvollste genommen, das er besaß. Auch sein Messer war fort, aber das störte ihn nicht mehr. Er mußte hier

fort, und zwar so schnell wie möglich. Im Dorf Eroks brauchte er den Feu­erstab nicht, aber er wollte nicht länger der Gefangene dieser Fremden sein.

Die Tür war verschlossen, aber seltsamerweise öffnete sie sich, als er mit der Hand gegen den Rahmen drückte. Im Gang brannte nur ein düste­res Licht. Instinktiv, wie er glaubte, wählte er den richtigen Weg, begegne­te niemandem und erreichte schließlich die geöffnete Ausstiegluke.

Unter ihm war der Grasboden, aber die Leiter war eingezogen worden. Er überlegte nicht lange und sprang. Federnd landete er zwischen den Bei­nen der Kugel und fiel hin. Als er in einiger Entfernung die schimmernden Silhouetten einiger Diener erkannte, blieb er liegen.

Es war Nacht. Die Wolken vom Vortag hatten sich verzogen, und die Sterne leuchteten klar und hell. Sie gaben genug Licht, um Ra den nahen

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Wald als dunklen Streifen erkennen zu lassen. Wenn er rannte, konnte er ihn in zehn Atemzügen erreichen.

Aber dann zog er es vor, auf dem Bauch dorthin zu kriechen. Als er zwischen den Stämmen war und ihm niemand folgte, atmete er

erleichtert auf. Er war der Gefangenschaft entronnen, aber was hatte er für das sinnlose Abenteuer zahlen müssen? Der Preis war zu hoch gewesen: Bris war tot und der Feuerstab für alle Zeiten verloren.

Er wandte sich in Richtung Talausgang und wanderte weiter. Er mußte die Ebene so schnell wie möglich erreichen, damit sie ihn nicht mehr ver­folgen konnten.

Als es dämmerte, kam er wieder an den bewegungslosen Dienern vor­bei, die bei Dunkelheit starben. Doch Ra wußte plötzlich, daß sie nicht starben, sondern daß sie von ihren Herren den Befehl bekommen hatten, nachts nicht zu arbeiten und sich nicht zu bewegen.

Unangefochten erreichte er die Ebene und marschierte trotz seiner Mü­digkeit weiter. Er blickte sich nur selten um, und er tat es überhaupt nicht mehr, als er sah, daß die Diener mit der glänzenden Haut wieder an ihre gewohnte Arbeit gegangen waren. Er war in Sicherheit.

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7.

Darmigon war restlos verblüfft, als er von der gelungenen Flucht seines Gefangenen hörte. Er schüttelte den Kopf.

»Die Geschichte wird immer interessanter. Zuerst das Feuerzeug, das eindeutig beweist, daß schon andere vor uns auf diesem Planeten waren – und ich muß erfahren, wer diese anderen gewesen sind! Und dann die Flucht! Die Tür zur Kabine war verschlossen. Der Wilde kann doch nicht wissen, was ein durch Wärmeeinfluß gesteuertes positronisches Schloß ist! Das ist unmöglich!«

»Wenn er schon einmal Kontakt mit Arkoniden hatte …«, begann der Mann, der Briton gerufen wurde, kam aber nicht weiter.

»Es waren eben keine Arkoniden!« fuhr Darmigon ihn an. »Und nun wollen wir ihn suchen. Wir müssen ihn wieder einfangen.«

»Er hat das Tal verlassen«, berichtete ein anderer der Prospektoren. Er saß vor dem Bildschirm und deutete darauf. »Da marschiert er durch die Steppe. Wahrscheinlich will er noch vor Mittag den Wald erreichen.«

»Du hast einen ferngesteuerten Bildsatelliten geschickt?« »Noch bevor wir dich weckten, Darmigon.« »Gut gemacht!« Er beobachtete Ra, der auf dem großen Bildschirm zum

Greifen nahe war. Man sah ihn von oben, so als schwebe man unmittelbar über ihm. »Er kann uns nicht entkommen. Laßt den Gleiter startbereit ma­chen. Ich hole ihn mir selbst.« Ra sah den Wald dicht vor sich und wähnte sich bereits in Sicherheit, als er den Schatten bemerkte, der ihm folgte. Zuerst glaubte er, es sei ein rie­siger Vogel, der in ihm eine willkommene Beute gefunden zu haben glaubte. Unwillkürlich griff er zum Messer, aber dann fiel ihm ein, daß die Lederscheide leer war.

Dann erst erblickte er das fliegende Floß. Es war ihm sofort klar, daß sie ihn gefunden hatten und daß er ihnen

nun nicht mehr entrinnen konnte. Die Fremden konnten fliegen und sie würden ihn selbst bei Eroks Stamm oder in den Wäldern Moros finden.

Er begann zu laufen, so sinnlos das auch sein mochte. Aber was tat man nicht alles, wenn man frei bleiben wollte.

Das fliegende Floß folgte ihm und ging tiefer. Ein Kopf erschien an der durchsichtigen Seite, dann kam eine Stimme:

»Lauf nicht weg, Ra! Ich will mit dir reden!« Ra verstand jedes Wort, und zu seiner eigenen Verblüffung antwortete

er in derselben Sprache: »Ich will nicht dein Gefangener sein, Darmigon!« Verdutzt blieb er stehen. Erst jetzt kam ihm so recht zu Bewußtsein,

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was geschehen war. Er hatte die Sprache der Fremden erlernt, so wie er damals auch jene der Goldenen Göttin erlernt hatte.

Das fliegende Floß landete wenige Mannslängen von ihm entfernt. Dar­migon stieg aus, in der Hand einen schimmernden Gegenstand, den er auf Ra richtete.

»Es ist keine tödliche Waffe, Ra, aber ich kann dich damit betäuben, wie es schon einmal geschehen ist. Komm mit mir, freiwillig. Später kannst du wieder gehen, wenn du willst. Ich verspreche es dir.«

Ra wußte nicht so recht, was er von den Versprechungen der Fremden halten sollte. Aber er hatte keine andere Wahl. Langsam ging er auf Dar­migon zu, und für einen Moment nur kam ihm der Gedanke, daß er ihn niederschlagen und töten konnte. Aber dann kletterte er in die enge Kabine des Gleiters und setzte sich. Darmigon folgte ihm und nahm hinter ihm Platz.

Wenig später versank die Steppe unter Ra, der ängstlich durch die Sei­tenwand blickte und vor sich die Welt kreisen sah, bis das Gebirge und das Tal plötzlich stehen blieben und schnell größer wurden. Dann kam die Götterburg in Sicht, und schließlich hatte er wieder festen Boden unter den Füßen.

Darmigon lächelte wohlwollend, als er aus der Kabine kletterte und Ra beim Aussteigen half.

»Von nun an haben unsere Roboter … eh, unsere Diener den Befehl, dich zu töten, wenn du noch einmal fliehst. Wenn du frei bist, kannst du gehen, wohin du willst. Aber zuerst habe ich noch einige Fragen an dich, und ich rate dir, sie mir zu beantworten. Hast du das verstanden, Ra?«

Ra nickte. »Na gut, dann fangen wir gleich damit an. Wir setzen uns dort auf den

Baumstamm.« Und zu den Prospektoren sagte er: »Sorgt dafür, daß am Talausgang Wachroboter postiert werden. Totale Sperre, verstanden?«

»Geht in Ordnung, Chef«, erwiderte einer mürrisch und ging, um den Befehl auszuführen. Er begriff nicht, warum Darmigon so großen Wert auf den Wilden legte.

Briton sprach es aus: »Warum eigentlich das ganze Theater, Darmigon?« »Weil wir unter allen Umständen erfahren müssen, wer vor uns diese

Welt entdeckte und damit einen rechtmäßigen Anspruch auf sie hat. Ver­stehst du das denn wirklich nicht, Briton? Ich habe dich immer für einen klugen Mann gehalten. Schade, daß ich mich irrte.«

Er nahm Ras Arm und führte ihn abseits zu dem Baumstamm. Sie setz­ten sich.

»Nun hör gut zu, mein Freund, und erzähle mir die Wahrheit. War schon einmal so ein Schiff … also so eine Götterburg hier auf deiner

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Welt? Ja, ich weiß, du sagtest es mir schon, aber ich will es noch einmal hören. Wie sah es aus? Mit wem hast du damals gesprochen? Wie hast du ihre Sprache erlernt?«

Das waren in Ras Augen ziemlich viele Fragen auf einmal, aber er sah ein, daß er die Wahrheit berichten mußte. Die Fremden besaßen bestimmt die Möglichkeit, auch das nachzuprüfen.

Und so erzählte er, wie damals vor sechs Wintern die andere Götterburg gelandet war. Er beschrieb die Goldene Göttin und ihr Schiff in allen Ein­zelheiten, und noch während er sprach, schien seine Erinnerung frischer und lebendiger zu werden. Bald verwendete er sogar einige technische Ausdrücke der Arkoniden, und Darmigon konnte nur noch staunen, wie gelehrig der Eingeborene des dritten Planeten einer unscheinbaren gelben Sonne im Seitenarm der Galaxis war.

Als Ra schwieg, stand Darmigons Plan längst fest. Auf keinen Fall wür­de er den Wilden wieder laufen lassen, dazu war er nun viel zu wertvoll geworden. Reiche Arkoniden würden einen märchenhaften Preis für ihn zahlen.

»Diese Goldene Göttin – hat sie nicht gesagt, wer sie ist und wie sie heißt?«

»Ischtar!« Kein arkonidischer Name, dachte Darmigon. Aber ich finde noch her­

aus, zu welchem Volk sie gehört. »Und du möchtest sie wiedersehen, Ra?« »Deshalb bin ich zu euch gekommen. Ich glaubte, die Götterburg Ischt­

ars sei zurückgekehrt.« »Nun, vielleicht kann ich dir helfen, Ra. Du weißt, daß ich viele Welten

kenne, Welten, wie diese hier. Mit meinem Schiff kann ich sie erreichen und auf ihnen landen. Wir können überall nach Ischtar fragen, und viel­leicht ist es sogar so, daß sie Hilfe braucht. Dann hättest du Gelegenheit, sie zu retten – falls du zufällig bei uns wärest.«

Ra sah ihn forschend an. »Du willst mich also wirklich wieder freilassen?« »Natürlich will ich das. Dann werde ich eben Ischtar allein suchen!« Ra sprach lange nicht, und als er seine Bitte endlich aussprach, tat er ge­

nau das, womit Darmigon gerechnet hatte. »Würdest du mich auch mitnehmen, wenn ich das wollte?« »Hm, das ist nicht so einfach, denn wenn du mitten im Flug versuchen

würdest, das Schiff zu verlassen, könnte uns das alle in Lebensgefahr brin­gen.«

»Warum sollte ich wieder weglaufen? Du bringst mich doch zu Ischt­ar?«

»Ja, das würde ich tun, Ra«, versprach Darmigon und lächelte zufrie­

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den. »Wir werden noch einige Tage hier bleiben. Du kannst dich frei im Tal bewegen, aber bleibe dem Ausgang fern. Ich sagte dir ja schon, daß unsere Diener jeden töten, der sich ihm nähert. Das ist nur eine Vorsichts­maßnahme, damit niemand mehr ins Tal kommt.«

»Was ist mit dem Stab, der Feuer macht?« »Du brauchst ihn jetzt nicht mehr, aber ich bewahre ihn für dich auf. Im

Schiff ist offenes Feuer verboten, weil es gefährlich ist.« Damit gab sich Ra notgedrungen zufrieden. Niemand kümmerte sich um ihn, als er nahe am Waldrand sein Lager

aufschlug, denn Darmigon hatte ihm erlaubt, im Freien zu übernachten. Er konnte ihm nun nicht mehr entkommen. Er sammelte Holz und einer der Prospektoren gab ihm bereitwillig Feuer, als er ihn darum bat. Nun sah Ra auch, daß jeder der Fremden Feuer machen konnte. Er war jetzt keine Aus­nahme mehr.

Im Wald fing er ein kleineres Tier, und da man ihm sein Messer zurück­gegeben hatte, konnte er es ausnehmen und braten. Später, als es schon dämmerte, setzte sich der Fremde, den sie Briton riefen, zu ihm ans Feuer.

»Du warst hier ein großer Mann, was?« fragte er leutselig und nahm einen Schluck aus der Flasche, die er mitgebracht hatte. »Du konntest Feu­er machen. Willst du auch mal trinken?«

Für Ra konnte etwas Trinkbares nur Wasser sein, höchstens noch das Gebräu der Jäger, von dem man so fröhlich wurde. Und da er Durst hatte, nahm er die Flasche und trank. Er schüttelte sich, als er sie Briton zurück­reichte.

»Was ist das?« »Schmeckt es nicht?« »Doch, aber etwas zu sauer.« »Wir nennen es Wein, und es wird aus Früchten gemacht. Wenn du zu­

viel davon trinkst, beginnst du zu tanzen.« Ra hatte keine Lust zum Tanzen, also trank er auch nichts mehr. Außer­

dem wurde er müde. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Briton verzog sich bald darauf und ließ ihn allein. Aber Darmigon kam

noch einmal und überzeugte sich, daß er genug Decken und Felle für die Nacht hatte.

»Und morgen werde ich dir etwas zeigen, Ra. Du hast mir von deinen Freunden erzählt, von Erok, Moro und von dem Mädchen Kara. Du kannst sie morgen sehen.«

»Sehen? Gehen wir zu ihnen?« »Nein, aber sie kommen zu uns – allerdings nur im Bild. Wir könnten

natürlich zu ihnen fliegen, aber wir wollen sie nicht beunruhigen. Warte bis morgen – und schlafe gut. Vergiß die Roboter am Talausgang nicht …«

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Er ging, und er konnte sich nicht erinnern, jemals so höflich und rück­sichtsvoll zu einem späteren Sklaven gewesen zu sein.

Ra aber legte noch Holz auf sein Feuer und rollte sich in die warmen Decken und Felle.

In dieser Nacht träumte er abermals von der Goldenen Göttin. Hoch in der Luft über dem Tal schwebte der Fotosatellit mit der Kamera. Er war nicht größer als ein Männerkopf und konnte vom Schiff Darmigons aus gesteuert werden.

Ra hatte nach einigem Zögern in dem bequemen Sessel Platz genom­men, der mit anderen vor dem Bildschirm stand. Neben ihm saß Darmi­gon, vor sich die Kontrollen des Satelliten, der eigentlich keiner war, son­dern mehr ein lenkbares Mikrolabor mit direkter Bildübertragung.

Ra sah die Götterburg von oben, und als die Kamera höher stieg, konnte er das ganze Tal überblicken.

»Es ist ganz einfach, Ra. Du mußt dir vorstellen, daß du dort unten wan­derst. Gib mir nur die Richtung an, dann siehst du schon, wie es funktio­niert.«

Und nun erlebte Ra einen simulierten Flug über die Welt. Da waren wieder die tiefen Schluchten und reißenden Bäche, die Felsen und die Wälder. Er sah den Stamm der behaarten Kannibalen aus nächster Nähe, zum Greifen nahe, und doch unendlich weit entfernt. Dann kam der große Strom und schließlich Eroks Dorf.

Da war die Bucht und da der Platz mit den Hütten. Die Fischer warfen ihre Netze aus, Erok saß auf seinem hölzernen Stuhl und hielt eine Rats­versammlung ab.

Wo aber steckte Kara? Ra entdeckte sie stromabwärts. Sie saß auf einem umgedrehten Boot

und starrte zum gegenüberliegenden Ufer hinüber. In ihren Augen war Trauer, so als wüßte sie, daß Bris nicht mehr lebte.

»Das also ist Kara?« vergewisserte sich Darmigon, dem ein verwegener Gedanke kam. »Wenn du willst, hole ich sie hierher. Wir können sie mit­nehmen.«

Für einen Augenblick erschien Ra der Gedanke verlockend, Kara bei sich zu haben und nicht mehr so allein zu sein, aber dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, Darmigon, Kara gehört ins Dorf. Deine Roboter haben Bris getö­tet, und es ist besser, sie erfährt es nie. Sie wird noch ein oder zwei Winter auf ihn warten und dann einen anderen Mann nehmen. Es wäre nicht gut, wenn sie hierher käme. Sie würde euch hassen, so wie auch ich euch ge­haßt habe.«

»Tust du es heute nicht mehr?« Ra zögerte.

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»Doch, aber nicht mehr so sehr. Es wird vergehen.« Sie besuchten auf dem Bildschirm auch noch die Höhlenbewohner und

dann Moros Dorf. Alles war friedlich dort und ging seinen gewohnten Gang. Einige Männer verstärkten die Palisade, andere schleppten Holz­stämme für eine neue Hütte herbei. Mitten auf dem Dorfplatz brannte ein riesiges Feuer, und nebenbei zerlegten die Frauen einen mächtigen Stier. Es sah nach einem Fest aus.

Ra lehnte sich zurück. »Danke, Darmigon, nun kann ich meine Welt verlassen und mit dir ge­

hen. Ich muß Ischtar wiedersehen, denn sie bedeutet mir alles. Du hast versprochen, mir zu helfen.«

»Wir starten morgen«, erwiderte Darmigon und wich damit einer Bestä­tigung seines Versprechens aus.

Ra schlief noch einmal am Waldrand, und am anderen Tag kehrten die Frachtgleiter und alle Roboter zum Schiff zurück. Sämtliche Geräte wur­den verladen, und gegen Mittag war man startbereit.

Ra wurde erlaubt, noch einen letzten Blick auf seine Welt zu werfen, und er ahnte noch nicht, daß ihm ein Schock bevorstand. Obwohl Darmi­gon ihm zu erklären versucht hatte, daß es viele solcher Welten gab, konn­te Ra sie sich nicht vorstellen. Vielleicht rechnete er nur damit, daß man über das große Meer flog und zu einem anderen Land kam.

Das Tal wurde schnell zu einem grünen Keil in der weißgrauen Masse des Gebirges, das bald auch nur noch ein Fleck auf dem Bildschirm war. Dann kam das Meer in Sicht, hundert Tagesmärsche entfernt.

Ra klammerte sich an die Sessellehne, als seine Welt zu einer Scheibe und dann zu einer Kugel wurde, als er Sonne und Mond gleichzeitig sah und feststellen mußte, daß alles in einer schwarzen Unendlichkeit zu schweben schien.

Dann sah er nur noch die grünweiß-blaue Kugel, die immer kleiner wur­de, bis alle Farbflecken verschwunden waren und einem milchigen Weiß Platz gemacht hatten.

Seine Welt wurde zu einem Stern wie alle anderen. Darmigon legte ihm die Hand auf die Schulter. »Komm, Ra, ich bringe dich in deine Kabine.« Der einsame Jäger folgte ihm willig. Er ahnte nicht, was ihm bevorstand. Aber er stellte sich die bange Frage, ob er seine Welt jemals wiederse­

hen würde. Darmigon kehrte in die Zentrale zurück. »Nun?« fragte Briton. »Er ist eingesperrt, und diesmal kann er sich nicht mehr allein befreien.

Er wird bald merken, daß er nicht zum Spaß mitgeflogen ist. Und was sei­

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ne Ischtar anbetrifft, so habe ich den Namen nie gehört. Wir sind es, die diesen Planeten als erste entdeckten, folglich gehört uns alles, was wir dort gefunden haben. Eines Tages werden wir uns noch mehr holen.«

Und das Schiff nahm Kurs auf den ersten Transitionspunkt …

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Nachtrag

Als Ra wieder in sein gewohntes Schweigen verfiel und der Trancezustand beendet war, hatte ich wieder viel über ihn und seine Vergangenheit dazu­gelernt.

Natürlich mußte ich mir viel selbst zusammenreimen, besonders den Schluß seiner Geschichte, und der Verständlichkeit halber habe ich seine Sprache geschliffener wiedergegeben, als ich sie noch in Erinnerung habe. Nur hin und wieder habe ich mich bemüht, seine Ausdrücke zu verwen­den.

Ras Gesicht wirkte wieder verschlossen und finster. Er sah kein Feuer mehr. Vielleicht wußte er nicht einmal, daß er mehrere Stunden gespro­chen hatte.

Fartuloon war eingenickt, aber ich war sicher, daß er kein einziges De­tail von Ras zweiter Geschichte versäumt hatte. Da ich Hunger verspürte, weckte ich ihn.

»Hunger?« tat er so, als sei er erstaunt. »Wie kann man jetzt nur Appetit verspüren?«

»Ras Ochse wäre mir jetzt lieber, über dem Feuer gebraten. Übrigens scheint seine Geschichte noch nicht beendet zu sein.«

»Seine Erlebnisse mit Darmigon werden wir noch erfahren, Fartuloon, früher oder später. Und vielleicht finden wir auch noch heraus, wo Ischtar ist. Jedenfalls wissen wir nun auch, wo und wie Ra unsere Sprache lernte. Dann landete er auf dem Sklavenmarkt von Dargnis. Darmigon hat sein Wort ihm gegenüber natürlich gebrochen.«

»War wohl nicht anders zu erwarten, Atlan.« Er zog ein Päckchen mit Konzentratnahrung aus der Tasche seines Lederrocks und brach es in drei Teile. »Gib unserem Freund Ra auch sein Stück, damit er uns nicht vor Entkräftung umfällt.«

Die Befürchtung hatte ich allerdings nicht, denn er war mindestens noch so fit wie Fartuloon und ich, wenngleich ich mir auch vorstellen konnte, daß die Geschehnisse um uns herum ihn total verwirren mußten. Aber er wußte auch, daß wir seine Freunde waren und ihm helfen wollten.

Er nahm den Konzentratwürfel und schob ihn in den Mund. Dann kaute er eine Weile darauf herum und schluckte ihn schließlich. Ich war beru­higt. Er würde uns nicht verhungern.

Eine zerlumpte Gestalt näherte sich uns. Sie kam aus dem Nebel und sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Erst beim Näherkommen sah ich, daß es ein Mann mittleren Alters war. Sein Gesicht verriet Resignati­on und Hoffnungslosigkeit. Ohne zu fragen, setzte er sich zu uns.

»Ich bin Galderon, der Prospektor. Wolltet ihr auch den Stein der Wei­

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sen finden?« Fartuloon schob mit seinen Füßen die des Arkoniden ein wenig zur Sei­

te. »Nein, wir sind zum Vergnügen hier«, sagte er todernst. Ich fand, daß Fartuloon ein wenig grob zu einem Mann war, der sich in

einer ähnlichen Lage befand wie wir selbst. Darum nickte ich ihm etwas freundlicher zu und meinte.

»Natürlich suchten wir den Stein, aber es erging uns wie allen hier. Wir sind die Gefangenen des dreißigfach vorhandenen Weisen Dovreen, aber wir haben die endlose Reise gerade erst angetreten.«

»Also Neulinge?« Galderon nickte mehrmals vor sich hin. »Mich kann man schon als Veteranen bezeichnen, denn ich kenne alle dreißig Welten. Auf manchen bin ich schon zwei- oder dreimal gewesen. Es gibt keinen Ausweg. Niemand kann den Ring des Wahnsinns sprengen.«

Das hatten wir schon oft genug gehört, um es bald selbst zu glauben. Trotzdem wehrte sich alles in mir gegen die Aussicht, für immer in diesem Dreißig-Planeten-Wall bleiben zu müssen. Es mußte eine Möglichkeit ge­ben, dieses Wahnsinnsschema zu durchbrechen.

»Manche sieht man lange nicht, doch dann tauchen sie plötzlich wieder auf. Diejenigen, die nicht mehr auftauchen, müssen tot sein – auch eine Methode, wieder frei zu werden.«

»Das klingt ja sehr ermutigend«, meinte Fartuloon sarkastisch. »Aber bevor ich in diesem Teufelskreis sterbe, bringe ich noch ein paar von die­sen Dovreens um.«

Galderon seufzte. »Ich glaube, das haben schon mehrere versucht, aber es scheint bisher

keinem gelungen zu sein.« »Oder ein toter Dovreen wird sofort wieder von einem neuen ersetzt«,

vermutete ich. »Ein Lebewesen mit zwei Gesichtern hat vielleicht auch zwei Leben. Man muß es zweimal töten, ehe es endgültig stirbt.«

Galderon kramte in seinem Beutel, den er neben sich auf den Boden ge­legt hatte. Zu meinem Erstaunen kamen einige Früchte und ein geräucher­tes oder getrocknetes Stück Fleisch zum Vorschein. Fartuloon bekam ganz große Augen, und ich konnte förmlich fühlen, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief.

Ra blieb gleichgültig und uninteressiert. Er hatte die Augen halb ge­schlossen und schien eingeschlafen zu sein. Vielleicht war es die Anstren­gung des langen Trancezustandes, die ihn bis an den Rand der totalen Er­schöpfung gebracht hatte.

»Wo gibt es so etwas?« erkundigte sich Fartuloon, der es nicht mehr länger aushielt. Dabei hatte er eben noch behauptet, keinen Hunger zu ha­ben. »Doch nicht in diesem Nebelschiff?«

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»Die letzte Welt, die ich besuchte, hat genug davon, darum habe ich mir Vorräte mitgenommen. Man weiß nicht, wie es auf der nächsten aussieht. Wir haben auch Wüstenplaneten, da kann man höchstens Sand schlucken.«

Fartuloon druckste herum, bis er fragte: »Wie schmeckt es denn?« »Gut«, erwiderte der Prospektor und ignorierte die Anspielung. Nun wurde mein dicker Freund doch ein wenig nervös. »Im Ring des Wahnsinns soll man zusammenhalten, nicht wahr, Galde­

ron? Wir sind alle Freunde und Leidensgefährten. Doch wer Leid mit dem anderen teilt, sollte auch die Vorteile nicht für sich allein behalten. Finden Sie nicht, daß ich recht habe, Galderon?«

»Sicher haben Sie recht«, kaute der Prospektor zustimmend. Nun verlor Fartuloon endgültig die Geduld. »Dann teilen Sie doch, verdammt noch mal!« Galderon hörte auf zu kauen und sah ihn verblüfft an. »Teilen? Was soll ich teilen?« Fartuloon beugte sich vor und nahm ihm einfach das Fleisch ab. »Das hier zum Beispiel, Sie Vielfraß! Sie haben doch bestimmt noch

mehr davon, oder nicht?« Galderon war ehrlich erstaunt, das sah ich ihm an. Die Idee, jemand au­

ßer ihm könne Hunger haben, war ihm anscheinend noch nicht gekom­men.

»Ich habe vorgesorgt, Sie können es behalten. Aber das hätten Sie auch gleich sagen können, statt philosophische Gespräche mit mir anzufangen.« Er sah mich und Ra forschend an. »Wollen Sie auch etwas? Fleisch oder Früchte?«

Damit war der Bann gebrochen, und wir kamen zu einer recht ordentli­chen Mahlzeit. Später erhob sich Galderon, hing den schlaff gewordenen Beutel über den Rücken und schlenderte ohne Abschiedsgruß davon.

Fartuloon sah ihm nach. »Ein komischer Kauz, aber kein schlechter Kerl. Vielleicht ist er ver­

rückt.« »Wäre das ein Wunder – im Ring des Wahnsinns?« Ich lehnte mich

wieder gegen die Wand, relativ zufrieden und auf jeden Fall satt. »Wer weiß, in welchem Zustand wir sein werden, wenn wir länger hier bleiben müssen.«

Fartuloon beobachtete die wirbelnden Nebel, in denen Galderon ver­schwunden war.

»So lange jedenfalls bleiben wir nicht hier wie er, darauf kannst du dich verlassen. Nach der nächsten Landung werde ich Fraktur mit dem jeweili­gen Dovreen reden, und wenn ich ihm zu diesem Behuf zuvor eins über

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seinen Doppelkopf ziehen muß. Es gibt Typen, die verstehen eine solche Sprache am besten.«

Innerlich gab ich ihm recht, aber auf der anderen Seite war mir klar, daß einem Wesen wie Dovreen nicht mit bloßer Gewalt beizukommen war. Es würde mehr dazu gehören, ihn zur Vernunft zu bringen oder zu dem Ent­schluß, uns freizulassen.

Nun ja, wir hatten dreißig Ausgaben des sogenannten Weisen zur Ver­fügung. Was bei dem einen nicht klappte, funktionierte vielleicht bei dem anderen.

»Wir können es ja versuchen«, stimmte ich schließlich zu. Er grunzte schläfrig und schloß die Augen. Auch ich schlief eine Weile, und als ich erwachte, begannen sich die

Nebel zu verziehen. Die Sicht wurde klarer, und dann sah ich das Fenster. Dahinter schwebte ein Planet im Weltraum, von dessen Oberfläche noch keine Einzelheiten zu erkennen waren.

Eine neue Landung stand bevor. So wie Fartuloon war auch ich nun fest entschlossen, von dem Weisen

Dovreen eine Antwort auf unsere Fragen zu fordern, notfalls mit Gewalt. Ich weckte die anderen, und dann schlossen wir uns dem traurigen Zug

der Gefangenen des Wahnsinnsringes an, die sich in langen Reihen dem Planetenfenster entgegenschoben.

Jeder hoffte, daß diesmal dahinter die Freiheit wartete … ENDE

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