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Der Mensch und sein kosmischer Urgrund RHOMBOS

Der Mensch und sein kosmischer Urgrund · KARL-HEINZ WOLLSCHEID DER MENSCH UND SEIN KOSMISCHER URGRUND Anthropologische und metaphysische Grundlagen der Kultur und der Religion

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Der Mensch und sein kosmischer Urgrund

RHOMBOS

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra-fie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Abbildung auf Vorderseite des Umschlags: NASA/WMAP Science Team (http://wmap.gsfc.nasa.gov/universe/bb_concepts.html)Umschlaggestaltung: Rhombos-Verlag, Bernhard Reiser, BerlinSatz: Karl-Heinz Wollscheid

Verlag:RHOMBOS-VERLAGKurfürstenstr. 17D-10785 [email protected]: 13597

© 2014 RHOMBOS-VERLAG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.Kein Teil dieses Werkes darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischerSysteme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck: PRINT GROUP Sp. z o.o.

Printed in Poland

ISBN 978-3-944101-35-4

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KARL-HEINZWOLLSCHEID

DERMENSCHUNDSEINKOSMISCHERURGRUND

Anthropologischeund metaphysische

Grundlagender Kultur und der Religion

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5InhaltEinleitung ........................................................................ 9

1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen............... 131.1 Sinneswahrnehmung .................................................. 13

1.1.1 Sensualismus ....................................................... 131.1.2 Konstruktivismus ................................................ 181.1.3 Evolutionäre Erkenntnistheorie........................... 20

1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität...................... 251.2.1 Analogie, Teilhabe und Dialektik ....................... 251.2.2 „Welten“: Wege zur Wirklichkeit ..................... 331.2.3 Quellen der Erkenntnis........................................ 41

1.3 Die Perspektive der Systemtheorie ............................ 451.3.1 Perspektive .......................................................... 451.3.2 Kybernetik, Informatik und Systemtheorie......... 47

2. Seele, Gehirn und Geist (Anthropologie) ................. 572.1 Begriffs-Geschichte.................................................... 572.2 Seele ........................................................................... 662.3 Hirnfunktionen ........................................................... 71

2.3.1 Das Gehirn als Organ .......................................... 712.3.2 Gedanken............................................................. 782.3.3 Das Feuern der Neuronen.................................... 822.3.4 Libet-Experiment und Willensfreiheit ................ 87

2.4 Person und Geist ........................................................ 942.4.1 Personalität .......................................................... 942.4.2 Person.................................................................. 962.4.3 Geist .................................................................. 103

2.5 Modell der Psyche.................................................... 1093 Natur und Wirklichkeit (Ontologie)........................ 125

3.1 Ontologie als Lehre von dem, was „ist“................... 1253.1.1 Geschichtlicher Überblick................................. 1253.1.2 Alltagsontologie und Positivismus.................... 129

3.2 Theorien über die Gesamtheit von allem ................. 1343.2.1 Welt, Weltall, Universum, Kosmos ...................... 134

3.2.2 Materie, Atom und subatomare Teilchen.......... 1373.2.3 Natur.................................................................. 147

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3.3 Ordnender Mensch und ordnende Natur ..................1593.3.1 Ordnender Mensch ............................................1603.3.2 Ordnende Natur .................................................164

3.4 Aktuelle Theorien über die Evolution ......................1693.5 Die Ontologie Heideggers ........................................180

4. Tiefere Ursachen (Metaphysik)............................... 1874.1 Warnschilder am Eingang zur Metaphysik ..............1874.2 Aristoteles .................................................................1914.3 Kant ..........................................................................1964.4 Kausalität ..................................................................202

4.4.1 Das Axiom der Kausalität..................................2024.4.2 Kausalprinzip und Kausalgesetz........................2044.4.3 Relation..............................................................2104.4.4 Physische Kausalität ..........................................2124.4.5 Metaphysische Kausalität ..................................217

5. Kultur ........................................................................ 2235.1 Definitionen und Thesen ..........................................223

5.1.1 Lexikalische Definition .....................................2235.1.2 Sozial-philosophische Definitionen...................2275.1.3 Meine Definition der Kultur ..............................234

5.2 Die Kultur des Guten und des Schönen....................2375.2.1 Das Gute: Ethik, Moral und Recht ....................2375.2.2 Das Schöne: Kunst.............................................242

5.3 Kult ............................................................................2475.3.1 Religiöser Kult (Kultus) ....................................2475.3.2 Festtagskult, Alltagskult und Brauchtum ..........250

5.4 Sprache und Erziehung.............................................2545.4.1 Die symbolische Sprache des Kults...................2545.4.2 Die Sprache als Kulturelement ..........................2565.4.3 Enkulturation und Erziehung.............................260

5.5 Kultur der Menschheit ..............................................267

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6. Religion...................................................................... 2716.1 Auf dem Weg zu einer Meta-Religion ..................... 2716.2 Mängel der bestehenden Religionen ........................ 275

6.2.1 Religionsübergreifende Mängel ........................ 2756.2.2 Mängel im Christentum..................................... 3006.2.3 Mängel anderer Religionen ............................... 320

6.3 Mängel der Ersatz-Religionen.................................. 3366.3.1 Konsumismus.................................................... 3366.3.2 Mammonismus.................................................. 3416.3.3 Hedonismus....................................................... 3456.3.4 Aberglaube ........................................................ 352

6.4 Sechs Kreise der Lebensgestaltung .......................... 3586.5 Wege zu Gott............................................................ 3746.6 Die Zukunft der Religion ......................................... 401

6.6.1 Der erhaltenswerte Kern der alten Religionen .. 4016.6.2 Einheit der Religionen....................................... 407

Anhang: Literatur, Personen, Stichwörter, Abkürzungen ... 421

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Einleitung

Jeder Mensch verfügt über ein Menschen-, Welt- und Gottesbild,ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Auch wer nicht an Gottglaubt, hat oft ein bestimmtes Gottesbild, das er ablehnt. Das Be-wusstwerden sollte zu einer kritischen Überprüfung führen, dieauf verschiedenen Ebenen erfolgen kann. Wer im Alltag wenig Zeitund Gelegenheit zur Überprüfung hat oder wer seine Lebensge-staltung derartig von anderen Interessen bestimmen lässt, dass ersolche Gedanken für überflüssig erachtet, kommt dennoch nichtan einer Entscheidung darüber vorbei, was er für wirklich hält undwas es für ihn nicht gibt, was er langfristig für wichtig in seinemLeben erachtet und ob er an Gott und ein Weiterleben nach demTode glaubt oder nicht. Auf der Ebene dessen, der sich mit geistes-geschichtlichen Theorien darüber auseinandergesetzt hat, ergibtsich eine Reflexion über die anthropologischen, ontologischen undmetaphysischen Grundlagen seiner Weltanschauung. Die Antwortauf die Frage: Was können wir erkennen? also eine Erkenntnisthe-orie, erweist sich dabei als Voraussetzung für alle weiteren Überle-gungen.

In diesem Buch beschreibe ich mein Menschen-, Welt- und Got-tesbild, das ich – soweit es mir möglich war – von inneren Wider-sprüchen befreit habe, obwohl mir bewusst ist, dass dies nie voll-ständig gelingen kann. Außerdem habe ich mich darum bemüht,meine Theorien zu überarbeiten, und zwar auf dem Wege derRückkoppelung mit Gesprächspartnern und mit Ergebnissen derPhilosophie und der Naturwissenschaft in der Primär- und Sekun-där-Literatur. Ich vertraue daher darauf, dass meine subjektivenund persönlichen Erkenntnisse für den Leser meines Buches Anlassdafür sein können, seinen Standpunkt mit meinem zu vergleichen.Ein solcher Vergleich wäre überflüssig, wenn es keine nennenswer-ten Unterschiede gäbe.

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Im Gegensatz zur phänomenalistischen, positivistischen undkonstruktivistischen Erkenntnistheorie gehe ich davon aus,dass der Mensch eine Schnittmenge zwischen seiner innerenOrdnung und der Ordnung außerhalb von ihm herstellen kann.

Als Seele definiere ich das Lebensprinzip eines Lebewesens.Diese Definition geht über die Kirchenlehre hinaus, denn auchTiere und Pflanzen haben eine Seele. Auch die Seelendefinitionder heutigen Psychologen im Sinne des Bewusstseins oder allerHirnfunktionen lehne ich ab.

Das Lebensprinzip ist als Erbinformation in der DNA gespei-chert. Die Erbinformation umfasst nicht nur die Aufbau- undFunktionsprogramme, sondern bei Tier und Mensch auch alleangeborenen Verhaltensprogramme. Sie ist – wie jede Informa-tion – nicht materiell, benötigt aber einen materiellen Träger.

Als Geist definiere ich die Fähigkeit zur personalen Lebensge-staltung mit Hilfe des Denkens und der Sprache. Die spezifischeDifferenz des Menschen zu anderen Lebewesen sehe ich nichtin erster Linie in der Vernunft, sondern im Personsein.

Person ist jeder Mensch von der Zeugung an. Er hat Würde undRechte. Die Personalität mit ihren beiden Polen der Individuali-tät und der Sozialität ist als Anlage angeboren, sie muss aber biszur Reifung der Persönlichkeit erst entfaltet werden.

Führende Neurologen leugnen die Willensfreiheit, indem sieauf Ergebnisse der Hirnforschung und das so genannte Libet-Experiment verweisen. Ich werde diese Leugnung widerlegen.

Alles in der Welt geschieht auf natürliche Weise. Es gibt keineÜbernatur, keine Wunder im Sinne der Durchbrechung von Na-turgesetzen und kein Jenseits, in das der Mensch nach seinemTode hinüberwechseln kann.

Es gibt kein individuelles Weiterleben nach dem Tode. DieWurzeln des Menschseins bleiben vom Tode unberührt, dieFrüchte des individuellen Lebens bleiben als Spuren erhalten.

Die Natur besteht nicht nur aus der Natura naturata, sondernauch aus der Natura naturans.

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Metaphysik ist keine esoterische Spekulation, sondern die Er-forschung der tieferen Ursachen. Wer nur einfache Ursachenanerkennt, übersieht z. B., dass die Eltern zwar das Leben an ih-re Kinder weitergeben, dass sie aber nicht ihre tiefere Ursachesind.

Der Zufall lässt sich stets durch die Erkenntnis ersetzen, dassman das Ergebnis eines Prozesses vieler sich durchkreuzenderUrsachen nicht vorhersagen kann. Den Zufall als Wirkursachegibt es nicht, also kann er auch nicht als kausale Erklärung fürdie kosmische und die biologische Evolution herangezogenwerden.

Kultur ist nicht einfach alles, was der Mensch selbst gestaltendhervorbringt. Zur Kultur gehören nur die Gedanken, Handlun-gen und Werke, in denen die Personalität des Menschen zumAusdruck kommt.

Anstatt der Definition der Religion als Glaube an Gott bezeich-ne ich als Religion: das bejahende Verhältnis des Menschen zurtranszendenten Dimension seines eigenen Lebens und der gan-zen Natur.

Ich gehe davon aus, dass die bestehenden Religionen von einerzukünftigen Meta-Religion abgelöst werden.

Gott ist kein menschenähnliches, allwissendes, barmherzigesWesen, welches das Schicksal der Menschen lenkt, und auchkein intelligenter Designer der Evolution. Gott ist die vertikaleDimension im Leben des Menschen, die in der Seele beginntund beim Urgrund des Seins endet.

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Hinweis zu Form und Herkunft von Zitaten in diesem Buch

Die Belege der aristotelischen Schriften beruhen auf den Seiten derPreußischen Akademie-Ausgabe von I. Bekker, Berlin 1831, nachder die Aristoteles-Texte international zitiert werden. Ich verwen-de das Kürzel: Met. für die Schriften der Metaphysik und das Kür-zel: De anima für die Schrift Über die Seele.

Das altgriechische Eta (– wie ä auszusprechen) gebe ich durchë wieder, um es von Epsilon ( – meistens wie geschlossenes eauszusprechen) unterscheiden zu können. Omega ( – geschlosse-nes langes o) ersetze ich durch ō, um den Unterschied zu Omikron( – offenes o) kenntlich zu machen.

Die Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kantwerden durch das Kürzel K.d.r.V. gekennzeichnet und geben dieSeitenzahlen der Originalausgabe A von 1781 und der überarbeite-ten Ausgabe B von 1787 wieder.

Alle Bibelzitate sind der Schulbibel entnommen, die von den Bi-schöfen aller deutschsprachiger Diözesen lizensiert wurde: DieBibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Herder,Freiburg i. Br. 1991.

Die Zitate aus dem Koran beruhen auf der Übersetzung vonScheich Abdullah As-Samit (F. Bubenheim) und Dr. Nadeem Elyas,die vom Königreich Saudi-Arabien herausgegeben wurde. Der edleQur'an und die Übersetzung seiner Bedeutungen in die deutscheSprache. 1424 n. H. / 2003 n. Chr. (2. Auflage).

Alle Zitate sind der neuen Rechtschreibung größtenteils ange-passt, z. B. ist daß stets durch dass ersetzt.

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1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

1.1 Sinneswahrnehmung

1.1.1 SensualismusKinder und wahrscheinlich auch die große Mehrheit der Erwachse-nen gehen davon aus, dass ein Apfelbaum, den sie gerade vor sichsehen, genau so beschaffen ist, wie er mit Hilfe der Sinneswahr-nehmung erfasst wird. Sie sind sich keiner nennenswerten Diffe-renz zwischen innerer Vorstellung und äußerer Realität bewusst,weil die alltägliche Praxis der Orientierung in ihrer Umwelt dafürkeinen Anlass bietet. Wer einen Apfelbaum erklettert hat, im Früh-jahr die Apfelblüten wahrnimmt und im Herbst Äpfel aus seinenÄsten gepflückt und gegessen hat, ist geneigt, diese Differenz zuleugnen. Dies ist noch verständlicher für Obstbauern, welche dieAnpflanzung von Apfelbäumen, die Beschneidung beim Heran-wachsen, die Düngung, die Schädlingsbekämpfung und schließlichdie Apfelernte als derartig real empfinden, dass sie kein Verständ-nis dafür haben, dass Neurophysiker, Erkenntnistheoretiker undPhilosophen ihre Wahrnehmung in Frage stellen.

Die klassische Einteilung der Sinne in den Gesichtssinn, den Tast-sinn, den Hörsinn, den Geruchssinn und den Geschmackssinn wirdin der heutigen Biologie, speziell im Bereich der Neurophysiologie,präzisiert und ergänzt. Auf der Hautoberfläche z. B. befinden sichRezeptoren für Kälte-, Wärme-, Druck- und Schmerzempfindungen.Daher umfasst der traditionelle Begriff Tastsinn vier verschiedeneSinne. Im Auge gibt es Photo-Rezeptoren für Schwarz-Weiß-Sehenund für Farben-Sehen. Ähnliches gilt für die übrigen der klassi-schen fünf Sinne. Da der Mensch im Unterschied zu vielen Tierenseine inneren Vorstellungen überwiegend visuell aufbaut, sollennur die diesbezüglichen Erkenntnisse der heutigen Physik und Bio-logie skizziert werden, soweit sie Grundlagen für die Erkenntnis-theorie liefern.

Am bereits angesprochenen Beispiel der Wahrnehmung einesApfelbaumes lässt sich der physikalische Aspekt verdeutlichen:

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14 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Der naive Sensualist und der naive Realist sind davon überzeugt,dass die Blätter eines Baumes, die sie im Sommer vor sich sehen,grün sind, dass sie eine grüne Farbe haben, die der Mensch wahr-nehmen kann. Dies ist natürlich nicht falsch, aber die Physiker unddie Neurologen belehren uns, dass der Sachverhalt wesentlichdifferenzierter erklärt werden muss.

Die Oberfläche der Blätter ist (wegen des Chlorophylls) so be-schaffen, dass das Sonnenlicht, das auf sie fällt, nicht vollständigwie bei einem Spiegel reflektiert wird sondern dass nur elektro-magnetische Wellen der Wellenlänge 500 nm (Nanometer = 1 Mil-lionstel Meter) reflektiert werden. Elektromagnetische Wellenerstrecken sich in einer ungeheuer großen Bandbreite von 10–14

Metern (Gammastrahlen) bis 106 Metern (Wechselströme). Dassichtbare Spektrum (zwischen 380 nm und 780 nm) ist nur ein ganzwinziger Ausschnitt aus der Bandbreite der elektromagnetischenWellen.

Es wäre also äußerst vermessen zu glauben, unsere Sinnesorganekönnten die Eigenschaften der Gegenstände in der Realität voll-ständig erfassen. Man kann in diesem Zusammenhang auch auf dieDefizite der menschlichen Sinneswahrnehmung im Vergleich zumanchen Tieren hinweisen, um den naiven Sensualismus zu wider-legen. Fledermäuse können Ultraschall empfangen; das Adleraugeist dem menschlichen Auge um ein Vielfaches überlegen; ein Hundkann wesentlich höhere Frequenzen hören (Polizeipfeife, die fürden Menschen nicht hörbar ist, wohl aber für den Suchhund) undein wesentlich breiteres Spektrum von Gerüchen wahrnehmen,usw. Auf Grund dieser Einsicht in die Begrenztheit unserer Sinnes-wahrnehmung ist man gezwungen, mindestens einen modifizier-ten Sensualismus anzunehmen, der alles das als erkennbar be-zeichnet, was direkt durch unsere Sinne oder indirekt durch Mess-instrumente belegbar ist.

Radiowellen kann man nicht hören oder sehen, aber man kannsie nachweisen und in hörbare (Radio) oder sichtbare (Fernsehen)Wellen umwandeln. Ein Atom kann man nicht sehen, aber wirkönnen die gemessenen Daten eines Elektronenmikroskops in dassichtbare Spektrum transponieren. Dazu kommt noch, dass auch

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1.1 Sinneswahrnehmung 15

der naive Sensualist darauf angewiesen ist, bei historischen Gege-benheiten und bei großen Entfernungen, z. B. bei Berichten ausanderen Erdteilen, der Sinneswahrnehmung eines anderen Men-schen zu glauben, dass sie wahr ist.

Man kann sogar darüber hinaus die merkwürdig erscheinendeFrage stellen, ob wir überhaupt etwas sehen können. Jedenfalls istklar, dass – um beim Beispiel des Anblicks eines grünen Blattes zubleiben – kein Licht in das Sehzentrum unseres Gehirns gelangenkann. Eine wichtige Rolle spielen dabei die so genannten Wandler.In einer Telefonanlage wird der Schall der gesprochenen Worte imMikrophon des Sprechers (in das man hineinspricht) in elektrischeSignale umgewandelt und im Hörer (den man ans Ohr hält) desEmpfängers wieder in Schallwellen zurückgewandelt.

Dieser Begriff aus der Nachrichtentechnik lässt sich mit einigenEinschränkungen auch auf die Informationsverarbeitung von Le-bewesen anwenden. Die Rezeptoren in der Netzhaut unseres Au-ges sind solche Wandler, denn sie verwandeln das dort eintreffen-de Licht in eine übertragungsfähige Form für unser Nervensystem.Es gibt zwei Arten von Photo-Rezeptoren: Stäbchen für den Hell-Dunkel-Kontrast und Zapfen für die Farb-Wahrnehmung. EinigeZapfen sind besonders empfindlich für Wellenlängen der FarbeRot, andere für die Farbe Blau und andere für die Farbe Grün.

Ein Lichtreiz, der auf einen für die Farbe Grün empfindlichen Zap-fen auf der Netzhaut des Auges trifft, führt zu einem vorüberge-henden Zerfall des Sehfarbstoffs (Sehpurpur, Rhodopsin). DieserZerfall bewirkt ein elektrisches Potential, das von den Synapsender Sehnerven als Signal empfangen (rezipiert) werden kann. DieVerarbeitung von Sinnesdaten aller mit einem Gehirn ausgestatte-ten Lebewesen setzt die Leitfähigkeit der Neuronen voraus, diesowohl eine elektrische als auch eine chemische Grundlage hat(siehe 2.3.3).

Auf diesem Weg der Signalübertragung in den Neuronen gelangtder umgewandelte Lichtreiz nach einer Sehnervenkreuzung insZwischenhirn (in den lateralen Kniehöcker im dorsalen Thalamus)und von dort zum primären Sehzentrum der Großhirnrinde (imHinterhaupts-Cortex). Die bildlichen Vorstellungen unserer

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16 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Sinneswahrnehmung gehen zwar von diesem Sehzentrum aus,entstehen aber erst in Zusammenarbeit mit zahlreichen anderenHirnfunktionen, mit assoziativen Hirnrindenarealen, mit Gedächt-nisinhalten und mit dem Sprachzentrum.

Dem Vergleich mit einer Telefonanlage folgend müsste es imSehzentrum eine Rückumwandlung geben, die aber natürlich nichtdarin bestehen kann, dass der chemisch-elektrische Impuls, dervom Auge durch den Sehnerv zum Gehirn gelangt ist, dort wiederin Licht umgewandelt wird. Von einer notwendig anders geartetenRückumwandlung im Gehirn, die das transformierte Ausgangssig-nal dekodieren kann, wissen wir so gut wie nichts, außer dass sieauf eine unbekannte Weise möglich sein muss.

Beim Menschen wird diese Rückumwandlung im Bewusstsein er-fasst und ist in der Regel in Sprache gekleidet, was aber zur spon-tanen Reaktion nicht notwendig ist. Jedenfalls ist auf Grund derheutigen Erkenntnisse über die Sinneswahrnehmung jede naiveAbbildtheorie ausgeschlossen. Im 19. Jahrhundert konnte manvielleicht noch nach der Erfindung des Fotoapparates das Augedamit vergleichen. Bereits in der Antike (Galenus) war bekannt,dass von den Augen ein Sehnervenstrang zum Gehirn führt. Mankonnte daher im 19. Jahrhundert annehmen, dass das vom Augeaufgenommene Bild auf diesem Wege weiter transportiert und imGehirn erfasst werden könnte. Dies ist aber – wie die Neurologennachgewiesen haben – überhaupt nicht der Fall.

Die Auswertung der im Sehzentrum ankommenden Signale lässtsich im Gehirn von Hühnern als Reiz-Reaktions-Mechanismus be-schreiben, der jedoch nicht wie der Patellar-Sehnen-Reflex (dender Arzt mit einem Schlag unterhalb des Knies testet) alsMechanismus im engeren Sinne, also als unmittelbare Folge vonUrsache und Wirkung, verstanden werden kann, sondern ein zwi-schengeschaltetes Programm voraussetzt. Selbst in dem durcheine Attrappe (ein sich bewegendes Wollknäuel mit Glasaugen)ausgelösten Abwehrverhalten und ebenso im gleichen Verhalten,das durch ins Hühnerhirn eingesetzte Elektroden bewirkt wurde,muss man notwendigerweise ein angeborenes Programm für dieseReaktion voraussetzen.

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1.1 Sinneswahrnehmung 17

Wie dieses Programm zur Verarbeitung der Sinnesdaten wirk-sam sein kann, ist noch völlig ungeklärt. Dennoch ist klar, dass dasHühnerhirn die in der Netzhaut umgewandelten Daten decodierenkönnen muss, also die semantische Dimension, die Bedeutung derSinnesdaten erfassen kann, die von der Attrappe oder einem Mar-der ausgehen, die wir etwa so formulieren würden: Das ist einAngreifer! Welche psychischen Aktivitäten im Hühnerhirn dieseDecodierung vollziehen oder begleiten, wird uns wohl für immerverborgen bleiben. Mit anderen Worten: Was ein Huhn beim An-blick eines Marders sieht, also nicht, was diese Wahrnehmung vonaußen kommend bewirkt, sondern welche innere Vorstellung da-von das Huhn hat, ist wahrscheinlich kaum mit dem vergleichbar,was wir wahrnehmen, was wir sehen.

Das räumliche Sehen des Menschen beruht darauf, dass wir imUnterschied zu den seitlich des Kopfes vorhandenen Augen derVögel mit unseren nach vorn gerichteten Augen Gegenstände etwabis zu einer Entfernung von sechs Metern aus leicht unterschiedli-chen Blickwinkeln betrachten. Dies ermöglicht eine recht guteEntfernungseinschätzung in dieser Distanz, über die einäugigeMenschen nur eingeschränkt verfügen. Ein anderes Mittel zumErfassen der Entfernung, über das auch Einäugige verfügen, ist dieseitliche Kopfbewegung, die den Eindruck erweckt, dass sich naheGegenstände stärker bewegen als entferntere. Auch das Scharf-stellen der Linse (Akkommodation) kann zur Einschätzung der Ent-fernung verwendet werden. Ähnlich wie beim Fotoapparat lässtsich aus dem Scharfstellen die Distanz zum betrachteten Objektmit Hilfe angeborener Programme – unbewusst, aber verhaltens-wirksam – ermitteln.

Entfernte Gegenstände sind auf einem Foto kleiner als nahe Ge-genstände abgebildet. Unsere Sinneswahrnehmung korrigiert je-doch diese Differenz und zwar nicht im Auge, sondern im Gehirn.Die Fotorezeptoren in der Netzhaut unserer Augen können nurpunktuelle Informationen übertragen, keine Bewegung. Aus dennacheinander im Sehzentrum eintreffenden Informationen erstel-len unsere angeborenen Verarbeitungsstrukturen der Sinnesdatenin Zusammenarbeit mit Gedächtnisinhalten den Eindruck eines

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18 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

kontinuierlichen Bewegungsablaufs, vergleichbar mit der Folge vonBildern auf dem Zelluloidfilm, die ab einer bestimmten Geschwin-digkeit nicht mehr als Einzelbilder wahrgenommen werden, son-dern wie ein in der Realität beobachtbarer Bewegungsablauf.

Zu ergänzen ist noch eine Relativierung der traditionellen Be-zeichnung des Auges als Sehorgan und generell des Begriffs derSinnesorgane. Im eigentlichen Sinne ist das Auge kein Organ wiedie Leber oder die Nieren, die man als Subsysteme mit einer relati-ven Eigentätigkeit begreifen kann. Die Rezeptoren im Auge, eben-so wie in der Haut, im Mund und in der Nase sind genau genom-men nach außen gelagerte Fortsätze der Neuronen des Gehirns.Der Sehvorgang lässt sich nicht auf die Aktionen im Auge be-schränken, sondern muss als Leistung des Gehirns betrachtet wer-den, das sich der Rezeptoren in der Netzhaut bedient, um Informa-tionen zu erhalten und zu verarbeiten.

1.1.2 Konstruktivismus

Alle Theorien, die eine Eins-zu-Eins-Umsetzung der realen Objektein unsere Vorstellung dieser Objekte voraussetzen, sind falsch. Dernaiven Abbildtheorie sind alle Grundlagen entzogen. Diesem Aus-gangspunkt muss man den zuvor skizzierten Ergebnissen der Neu-rologie und der Kognitionswissenschaft folgend zustimmen. Diekonstruktivistische Erkenntnistheorie geht deshalb davon aus, dassunsere Sinneswahrnehmung die Realität nicht objektiv, nicht inihrem An-sich-Sein, zu erfassen vermag. Insofern kann man vielenAussagen gemäßigter Konstruktivisten recht geben. Allerdings istfraglich, ob man dann noch von einem Konstruktivismus sprechenkann, wenn der radikale Konstruktivismus relativiert und modifi-ziert wird.

Die Sympathie mit dieser extremen Position des Erkennens unddie Gefahr des Rückfalls in eine absolute Unerkennbarkeit bleibenerhalten, solange man am Begriff Konstruktivismus festhält. DerNeurologe Gerhard Roth bekennt sich in seinem viel gelesenenBuch: „Aus der Sicht des Gehirns“ zu einem gemäßigten

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1.1 Sinneswahrnehmung 19

Konstruktivismus und erklärt dennoch: „Ich bin ein Konstrukt desGehirns, dem ein konstruierter Körper und eine konstruierte Um-welt zugeordnet sind.“1

Ein „Konstrukt“ ist ein inneres Modell des Menschen, das mit derRealität sehr wenig (gemäßigt) oder gar nichts (absolut) gemein-sam hat. Die nicht bestreitbare Kritik an der naiven Abbildtheorieverleitet den radikalen Konstruktivisten zu der verabsolutierendenAussage: Alles, was wir zu erkennen glauben, ist nichts als ein Kon-strukt unseres Ichs. Diese Behauptung ist nicht haltbar, denn derradikale Konstruktivismus enthält einen Zirkelschluss: Weil alles,was wir als Realität empfinden, nur als Konstrukt erfassbar ist, istes nicht objektiv erkennbar. Verkürzt, und dann als Zirkelschlussnoch klarer zu entlarven: Weil die Realität objektiv nicht erkennbarist, ist sie objektiv nicht erkennbar.

Formal bleibt zwar alles Erkennen, soweit es die unmittelbareWahrnehmung übersteigt, im Bereich von Theorien und Modellen,die aber inhaltlich nicht reines Konstrukt sein müssen und es injeder seriösen Theorie auch nicht sein dürfen, denn die Rückkop-pelung mit der nicht konstruierten Wirklichkeit ist dabei stets einenotwendige Voraussetzung.

Ein Konstruktivist kann nicht leugnen, dass es eine bewusst-seinsunabhängige Wirklichkeit gibt, die auf die Rezeptoren ein-wirkt. Allein schon in dieser fundamentalen Erkenntnis ist der Ab-solutheitsanspruch: Alles Erkennen ist Konstruktion durchbrochen,denn die Anerkennung einer zwar unerkennbaren, aber dennochirgendwie gearteten außerkörperlichen Ursache der Sinnesreizekann selbst nicht als Konstrukt betrachtet werden, dann würde dienotgedrungene Anerkennung äußerer Ursachen wieder aufgeho-ben. Ein naturwissenschaftlicher Forscher würde seine Forschungad absurdum führen, wenn er nicht von der Voraussetzung ausgin-ge, dass er Erkenntnisse über bewusstseinsunabhängige Bestand-teile der Realität gewinnen kann.

1 G. Roth: Aus der Sicht des Gehirns. Frankfurt a. M. 2009, S. 50.

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20 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

1.1.3 Evolutionäre Erkenntnistheorie

Gerhard Vollmer ist sowohl Philosoph als auch Naturwissenschaft-ler. Auf Grundlagen der Forschung von Konrad Lorenz hat er seine„Evolutionäre Erkenntnistheorie“ entwickelt, die auch Rupert Riedlausgebaut hat. Konrad Lorenz vertritt die These: Jede Anpassungbildet einen Teil der realen Welt ab. Pferdehufe z. B. sind ein Ab-bild der Steppe, Flügel sind ein Abbild der Luft und Flossen einAbbild des Wassers; auch Wale als ehemalige Landtiere haben denFischen vergleichbare (homologe) Flossen. Diese These gilt nichtnur für den Körperbau, sondern auch für das angeborene Verhal-ten und darüber hinaus auch für die Strukturen unseres gesamtenErkenntnisvermögens.2

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie geht davon aus, dass ein Le-bewesen ohne eine – zumindest unvollständige oder bruchstück-hafte – Erkenntnis der Realität gar nicht denkbar ist bzw. längstausgestorben wäre. Im mittleren Bereich (Mesokosmos), der sichzwischen der atomaren und subatomaren Struktur (Mikrokosmos)einerseits und der Struktur des Weltalls (Megakosmos) anderer-seits befindet, sind die Mängel unseres Weltbildapparates, d. h.unserer angeborenen Verarbeitung der Informationen aus derAußenwelt, verhältnismäßig gering und im Alltag vernachlässigbar.Alle Dreiecke im Umfeld des alltäglichen Lebens haben die Winkel-summe von 180°; auf der kugelförmigen Erdoberfläche habenDreiecke eine Winkelsumme von mehr als 180°. Je weiter wir unsvom anschaulichen mesokosmischen Bereich in sehr kleine odersehr große Dimensionen begeben, umso größer werden die Defizi-te und die Unanschaulichkeit, wofür die Quantenphysik und dieRelativitätstheorie ein beredtes Beispiel sind.

Trotz all solcher Defizite ist der Weltbildapparat von Tier undMensch ein Ergebnis der Anpassung an die Umwelt, insofern ge-nauso wie die körperliche Anpassung ein Abbild der Realität.

2 Vgl. K. Lorenz: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie.Blätter für deutsche Philosophie 15. 1941, S. 94.

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1.1 Sinneswahrnehmung 21

Dieser Grundgedanke der evolutionären Erkenntnistheorie wird ineiner Kombination von Begriffen aus der Biologie und BegriffenKants, dessen Lehrstuhl Konrad Lorenz eine zeitlang in Königsberginnehatte, folgendermaßen formuliert:

Viele unserer Erkenntnisstrukturen (unserer ‘notwendigenIdeen’) sind zwar genetisch bedingt, also ontogenetisch apriori, sie sind jedoch stammesgeschichtlich erworben, alsophylogenetisch a posteriori.3

Vollmer wendet diesen erkenntnistheoretischen Ansatz auf dasKausalitätsprinzip an. Kant hat vom Empiristen Hume den Stand-punkt übernommen, wir könnten nur das Nacheinander von Ereig-nissen erfassen, die kausale Verknüpfung sei etwas rein Gedankli-ches, sie sei ein Element der Ordnung in uns, nicht der Ordnungaußerhalb des denkenden Menschen. Die gedanklich erfasste Kau-salität ist bei Hume ein psychologischer Mechanismus (Assoziatio-nen), während sie bei Kant ein Element des reinen Denkens (einapriorischer Begriff) ist, dem nichts in der Wirklichkeit außerhalbdes Denkens entspricht. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie hatdagegen überzeugend nachgewiesen, dass sich das kausale Den-ken als angeborene Eigenart des menschlichen Erkenntnisappara-tes im Verlauf der Stammesentwicklung nicht hätte durchhaltenkönnen, wenn es keine Entsprechung in der Realität gäbe.

Vollmer sieht den Unterschied zwischen einem bloßen regelmä-ßigen Nacheinander (Auf den Tag folgt immer die Nacht) einerseitsund dem Verhältnis von Ursache und Wirkung andererseits in derEnergieübertragung. Vom Tag gibt es keine Energieübertragungauf die Nacht. Der Stein, auf den die Sonne scheint, wird heiß, weildas Sonnenlicht Energie auf den Stein überträgt; insofern handeltes sich hierbei im Gegensatz zur Meinung von Hume und Kant umein reales Kausalverhältnis.

3 G. Vollmer: Was können wir wissen? Bd. 1. Stuttgart 1988, S. XXII.

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22 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Kant hat seinen Standortwechsel von der vorkritischen zur kriti-schen Phase als kopernikanische Wende bezeichnet. Vollmer siehtdarin eine ptolemäische Gegenrevolution:

Denn erkenntnistheoretisch setzte er [Kant] den Menschenwieder in den Mittelpunkt der Welt, von wo Kopernikus ihnkosmologisch vertrieben hatte. Erst die Evolutionäre Er-kenntnistheorie nimmt den erkennenden Menschen wiederaus seiner zentralen Stellung als ‘Gesetzgeber der Natur’heraus und macht ihn zu einem Beobachter kosmischen Ge-schehens, das ihn einschließt, in dem er aber seine Rollemeist weit überschätzt hat.4

Eine Erkenntnistheorie kann sich nicht darauf beschränken, ihreKriterien nur auf andere Disziplinen anzuwenden, sondern siemuss diese Kriterien auch auf sich selbst beziehen und nachwei-sen, dass sie diesen genügt. Ein zentrales selbstkritisches Kriteriumbesteht in der Überprüfung, ob man sich nicht unbemerkt in einenZirkelschluss verirrt hat. Man spricht in diesem Zusammenhangauch davon, eine Theorie sei rückbezüglich (selbstreferentiell). DieGegner der evolutionären Erkenntnistheorie werfen dieser vor, sieberuhe auf folgendem logischen Zirkelschluss:

Die heutigen lebenden Organismen überleben im Großen undGanzen recht gut. Daraus folgt, dass ihre Wahrnehmung das-jenige erfasst, was dem Überleben dient. Dies wird nun um-gedreht: Die Organismen haben deshalb gut überlebt, weilihr Erkenntnisapparat für das Leben gut geeignet ist.5

Dagegen wehren sich die Vertreter der Evolutionären Erkenntnis-theorie unter anderem mit folgenden Argumenten:

4 Ebd. S. 40.5 G. Roth: Aus der Sicht des Gehirns. Frankfurt 2009, S. 74/75.

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1.1 Sinneswahrnehmung 23

Es gibt nicht nur einen vitiösen Zirkel, sondern auch einen virtu-osen Zirkel, der mit einer Spirale und nicht mit einem Kreis ver-gleichbar ist. In der Erkenntnisspirale kehrt der Gedankengangzwar auch zum Ausgangspunkt zurück, aber auf einer höherenEbene. Auf diese Weise ist ein Höherschrauben der Erkenntnismöglich.

Nicht jede Rückbezüglichkeit führt notwendigerweise in eineSackgasse (Aporie).

Rückbezüglichkeit ist zwar anfällig für unbemerkte innere Wi-dersprüche und Zirkelschlüsse, aber oft notwendig und sinnvoll,z. B wenn man die Definition der Definition, also eine Festle-gung über das Erstellen einer Definition erstellt.6

Ein vitiöser Zirkel entsteht, wenn man den folgenden Syllogismusformuliert: Die heute lebenden Organismen haben überlebt (1.Prämisse). Sie sind ihrer Umwelt angepasst (2. Prämisse). Darausfolgt (Conclusio/Schlussfolgerung): Die Anpassung an die Umweltist die Voraussetzung für das Überleben. In der Schlussfolgerungwird nur wiederholt, was in den Voraussetzungen (in den Prämis-sen) bereits enthalten ist.

Ich halte die Argumente Vollmers gegen diesen Vorwurf fürüberzeugend. Wer nach der Ursache, nicht nur nach der Voraus-setzung des Überlebens der heute lebenden Organismen fragt,strebt eine höhere Ebene als die Tatsachenfeststellung an undbewegt sich daher nicht im Kreis, sondern in einer Spirale, in einemvirtuosen Zirkel. Auch vor Darwin vertraten Wissenschaftler dieAbstammung des Menschen aus dem Tierreich, sie konnten diesaber nicht erklären. Erst Darwin verhalf der Evolutionslehre zumDurchbruch, indem er Selektion (der besser Angepassten) undMutation als Prinzipien der Höherentwicklung nachweisen konnte.Heute werden diese beiden Prinzipien durch weitere ergänzt, wieUmweltänderungen, Schwankung der Populationsdichte und

6 Vgl. G. Vollmer: Was können wir wissen? Band 1. Die Natur der Erkenntnis.Stuttgart 1988, S. 217ff.

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24 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Nischenbildung. Die Evolutionstheorie ist längst wissenschaftlicherStandard, man kann ihr keinen vitiösen Zirkel unterstellen.

Die erkenntnistheoretische Grundthese des hypothetischen Rea-lismus, zu dem sich Vollmer bekennt, lautet:Wir können nur Hypothesen über die Realität erstellen. Es stelltsich die Frage, ob dies nicht selbst eine Hypothese ist und dadurchdie mitbehauptete Wahrheit des Satzes ad absurdum führt, so wiewenn jemand behauptet: Niemand kennt die absolute Wahrheitund gleichzeitig sagt (unausgesprochen, aber doch mitgedacht):Die Wahrheit, die Erkenntnis in diesem Satz, ist absolut (siehe Ar-gument der Retorsion in 4.1).

Die Widerlegung des Einwands, der hypothetische Realismusenthalte einen inneren Widerspruch, möchte ich an folgendemBeispiel verständlich machen: Ein Richter, der in seinem Urteil vonder Überlegung ausgeht, dass es ihm nicht möglich ist, absolut undobjektiv zu erfassen, was sich in einem gerichtlichen Streitfall er-eignet hat, wobei ein Ankläger eine Straftat behauptet und einBeklagter die Tat bestreitet, widerlegt sich nicht selbst, wenn erdiese Erkenntnis seinem Urteil zu Grunde legt. Ein innerer Wider-spruch entstände erst dann, wenn er seine Erkenntnis absolut set-zen würde. Der Richter dürfte natürlich nicht behaupten, dassniemand die absolute objektive Wahrheit in diesem speziellen Fallerkennen könne, denn entweder der Angeklagte oder der Ankläger– und häufig auch beide – wissen meistens genau, was sich wirklichabgespielt hat.

So wie die Erkenntnis des Nicht-Wissens im Beispiel des Richtersnicht zu einem inneren Widerspruch führt, solange er sein Nicht-Wissen nicht verabsolutiert, kann auch die Erkenntnis, dass mannur Hypothesen über die Realität erstellen kann, nicht auf dieseErkenntnis selbst rückbezogen werden, denn es wird ja nicht be-hauptet, alle mögliche und denkbare Erkenntnis sei hypothetisch.In der Grundthese des hypothetischen Realismus: Wir können nurHypothesen über die Realität erstellen kann man die Einschränkungnur in rein formaler Bedeutung absolut setzen im Sinne von: immernur, wenn der Erkenntnisweg, die Methode (wie ich erkenne), da-mit gemeint ist.

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1.1 Sinneswahrnehmung 25

Inhaltlich, wenn man das Ziel des Weges (was ich erkenne) im Blickhat, darf man die These jedoch nicht mit dem weiterführendenZusatz versehen: generell in jeder Erkenntnis, denn dies würde zumerörterten inneren Widerspruch führen.

1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität

1.2.1 Analogie, Teilhabe und DialektikPlatonPlaton hat lange vor der Widerlegung der naiven Abbildtheoriedurch die heutige Hirnforschung und die Neurologie erkannt, dassdie Sinneswahrnehmung nur Schatten oder Echo der Wirklichkeiterfassen kann. In seinem berühmten Höhlengleichnis sind die Höh-lenbewohner so gefesselt, dass sie nur auf eine Wand blicken kön-nen, die dem Eingang entgegengesetzt ist. Von den Gegenständen,die Gaukler vor der Höhle vorbeitragen, wobei die Gaukler selbstwegen einer Mauer nicht sichtbar sind, können die gefesseltenMenschen nur Schatten auf der Höhlenwand erkennen. Sie könnenauch das Echo der Stimmen der Menschen vor der Höhle hörenund halten ihre visuellen und akustischen Wahrnehmungen für diewahre Welt. Wenn es einem Höhlenbewohner gelingt, sich derFesseln zu entledigen und aus der Höhle herauszutreten, kann erdie Dinge erkennen und weiß dann, dass die Schatten nur Abbilderdieser Gegenstände sind.

Ich greife dieses Gleichnis auf und ergänze es folgendermaßen:Nehmen wir an, ein Gaukler trägt eine modellhafte Pyramide mitquadratischer Grundfläche so vorbei, dass die Spitze der Pyramidenach oben zeigt, dann sehen die Höhlenbewohner einen dreiecki-gen Schatten.

Diese Sinneswahrnehmung ist nicht total falsch, denn die vierSeitenflächen der Pyramide sind dreieckige Flächen. Trägt derGaukler jedoch die Pyramide so, dass die Spitze auf die Höhlen-wand (bzw. genau entgegen gesetzt) gerichtet ist, sehen die Höh-lenbewohner ein Quadrat.

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26 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Das so erweiterte Gleichnis halte ich dafür geeignet, das angebli-che Paradox im Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts aufzulösen. Jenachdem, mit welcher Methode man das Licht untersucht, er-scheint es als elektromagnetische Wellen oder als materielle Teil-chen (Photonen). Es gibt keine totale Gleichheit (Identität) zwi-schen Wahrnehmung und Realität, aber man muss auch nicht einegrundsätzliche totale Verschiedenheit voraussetzen.

Im logischen Denken schließen Gleichheit und Verschiedenheiteinander aus, denn entweder ist etwas gleich oder verschieden.Aber viele Philosophen in der europäische Geistesgeschichte – vonPlaton und Aristoteles angefangen über die Patristik und Scholastikhinaus bis ins 20. Jahrhundert – haben herausgefunden, dass esaußerhalb der formalen Logik manchmal notwendig ist, Gegensätz-liches im selben Betrachtungsobjekt gleichzeitig zu denken.

Dieses Sowohl-als-auch, dieses Ineinander von Gleichheit undVerschiedenheit im Erkennen, erklärt Platon mit Hilfe des BegriffsAnalogie, denn für ihn ist alles Erkennen analogisch (ana ton lo-gon). Der flächenhafte dreieckige Schatten einer Modellpyramideist dem dreidimensionalen Objekt analog, es besteht eine Ver-schiedenheit und Gleichheit zugleich. Ein anderer platonischerGrundbegriff hängt damit zusammen, nämlich der Begriff Teilhabe(Methexis; participatio). Das Abbild, das die Höhlenbewohnerwahrnehmen, ist vom Urbild nicht total getrennt, denn mit Hilfeseiner Seele kann der Mensch den Gegensatz überbrücken. Sin-nenwelt (kosmos horatos) und Ideenwelt (kosmos noëtos) sinddaher keine absoluten Gegensätze.

Formen der Analogie

Hier möchte ich die Interpretation der platonischen Philosophieverlassen. Ich verdanke ihr zwar grundlegende Erkenntnisse unddie Übernahme der Begriffe Analogie und Teilhabe, aber es würdezu weit führen, die Begriffs-Entwicklung über Aristoteles, die Pat-ristik und die Scholastik hinaus bis ins 20. Jahrhundert ausführlichzu verfolgen. Dennoch möchte ich die Formen der Analogie kurzskizzieren und zusammenfassen, um sie zu präzisieren,

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1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität 27 27

voneinander abzugrenzen und klarzustellen, was ich nicht damitverbinde. Alle Formen der Analogie haben gemeinsam, dass dasGleiche (Identität) und das Verschiedene (Differenz) zugleich aus-gesagt werden. Ich unterscheide vier Bereiche:

1. Die Proportions- und die Sprachanalogie in der Gedankenwelt2. Das Verhältnis zwischen inneren Modellen und der äußeren

Realität in der Erkenntnistheorie3. Ein Lebewesen ist – wie jedes reale System – ein gemeinsames

Ganzes (Synholon) aus Materie und Form, aus Potenz (Möglich-keit) und Akt (Verwirklichung). Aristoteles kennzeichnet diesesVerhältnis als analogisch.

4. Jedes Lebewesen ist sowohl Individuum (Erste Substanz) alsauch Exemplar seiner Art-Seele (Zweite Substanz). In der Rück-verfolgung der Ursachen spreche ich dabei von einer vertikal-transzendenten Dimension, welche die horizontal-immanenteDimension durchkreuzt. Da ich Gott mit der transzendentenDimension gleichsetze, die in der Seele beginnt und beim kos-mischen Urgrund endet, umfasst die so genannte Analogia entisauch das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, zwischen Ge-schöpf und Schöpfer.

Es ist strikt darauf zu achten, dass die Proportions- und die Sprach-Analogie aus Bereichen 2 bis 4 ausgeklammert bleibt. Die Propor-tions-Analogie spielt in der Mathematik (12 : 4 = 6 : 2) und in derPhysik eine Rolle. Zur Bestimmung der Geschwindigkeit (v) teiltman die proportionale Größe der Strecke (s) durch die umgekehrtproportionale Größe der Zeit (t): v = (z. B. Kilometer pro Stunde,km/h).

Der metaphorisch-analoge Sprachgebrauch beruht auf einerÄhnlichkeit zwischen der Metapher und dem damit Bezeichneten.Durch das unausgesprochene Dritte des Vergleichs (tertium com-parationis) wird das Gemeinsame betont, gleichzeitig wird jedochder offensichtliche Unterschied nicht verwischt. Wenn ich meinFahrrad als Drahtesel bezeichne, wird sowohl das Gemeinsame,nämlich die vergleichbare Fortbewegung auf einem Esel und einem

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28 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Fahrrad, als auch der Unterschied durch das Wort Draht imRahmen eines leicht ironischen Sprachgebrauchs zum Ausdruckgebracht. In der religiösen Sprache ist die Aufhebung des Unter-schieds zwischen dem metaphorischen Sprachgebrauch und demdamit Bezeichneten eine Quelle von Missverständnissen und Fehl-deutungen theologischer Inhalte.

Im Anschluss an Aristoteles findet man in der Scholastik häufigden Hinweis auf das Wort gesund, das in einem vielfachen Sinnebenutzt wird. Wir sprechen z. B. von einem gesunden Menschen,einer gesunden Gesichtsfarbe, einem gesunden Essen oder einergesunden Medizin. Dabei verwenden wir diese Wörter nicht ein-deutig (univok), aber auch nicht in total verschiedenem Sinn (äqui-vok), so wie das Wort Lama ein südamerikanisches Lasttier undeinen tibetanischen Mönch bezeichnen kann. Der mehrdeutigeSprachgebrauch des Adjektivs gesund ist ein Mittleres zwischenunivok und äquivok, und dafür sagt man dann analog.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Beispiel des vielfa-chen Sinnes von gesund nicht einfach als Beleg für Sprach-Analogien herangezogen wurde, sondern zur Erläuterung desmehrfach ausgesprochenen Satzes des Aristoteles, dass das Wortsein (einschließlich der Flexionsformen, z. B. ist) ein vieldeutigerAusdruck (polachōn legoumenon) sei. Daher muss man die Unter-schiede beachten, wenn man z. B. sagt: Sokrates ist ein Menschoder: Sokrates ist der Lehrer Platons (vgl. Kategorienlehre). DieDifferenzierung der Bedeutungen des Verbs sein bzw. ist bedeutetaber für Aristoteles mehr als die Analyse dieses Wortes, denn demWesen dem Begriffe nach (Ousia kata ton logon) entspricht dasWesen (Ousia, Substanz) des Seienden an sich (siehe 3.1.1).

Den Analogie-Begriff in meiner Erkenntnistheorie (dialektisch-analoge Teilhabe) werde ich im Anschluss an diesen Überblick be-schreiben.

Der Analogie-Begriff des dritten und vierten Bereichs unterschei-det sich von den ersten beiden Bereichen dadurch, dass nicht nurdie Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz ausgedrückt wird,sondern auch eine gegenseitige Durchdringung, die mit einemFachausdruck als Perichorese bezeichnet wird. Es handelt sich hier

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1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität 29 29

nicht um eine rein formale, sondern um eine materiale Analogie.Russel und Whitehead anerkennen nur die formale Analogie, diesie als Isomorphie bezeichnen. Als isomorph bezeichnen sie zweiformale Strukturen, deren Verknüpfungsregeln identisch sind. Da-her könnte man meine Theorie von der analogen-dialektischenTeilhabe auch als Theorie einer partiellen Isomorphie bezeichnen,wovon auch Vollmer (s. v.) in seiner Evolutionären Erkenntnistheo-rie spricht.

Ich gehe aber in darüber hinausweisenden Bereichen von einerinhaltlichen (materialen) Analogie aus, die im Begriff Perichoresezum Ausdruck kommt. Das formale Sowohl-als-auch wird durch einmateriales Ineinander überhöht. Die Perichorese, das Ineinanderzweier unterschiedlicher ontologischer Bestandteile, beinhaltet,dass das eine ohne das andere nicht sein kann und die Einheitnicht additiv, sondern nur im Zusammenwirken erklärbar ist.

Aristoteles verwendet den Begriff Analogie häufig im Sinne derProportionsanalogie. Manchmal spricht er von Paronymie oder vonder Bezogenheit auf etwas (pros-hen). Im 6. Kapitel des 9. Buchsder Metaphysik erklärt er, man müsse das Analoge (to analogon)im Verhältnis zwischen dem „Bauenden und dem Baukünstler“,dem „Wachenden und dem Schlafenden“, … und dem „Bearbeite-ten dem Unbearbeiteten“ beachten. Dann fährt er fort: „In diesemGegensatz soll durch das erste Glied die Wirklichkeit, durch dasandere die Möglichkeit bezeichnet werden.“ (Met. 1048 b, 1-6).Wirklichkeit (energeia) und Möglichkeit (dynamis), zwei grundle-gende Bestandteile der aristotelischen Ontologie, verhalten sichalso analogisch zueinander.

Auf die Analogia entis werde ich im Kapitel 6.5 Wege zu Gotteingehen.

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30 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Dialektisch-analoge Teilhabe

Zur Beschreibung meiner Erkenntnistheorie genügt hier eine ver-einfachte Erklärung dessen, was ich unter dialektisch-analogerTeilhabe verstehe. Die Teilhabe, bzw. Partizipation, lässt sich mitHilfe von Kreisen veranschaulichen, wie dies in der Mengenlehreder Mathematik lange Zeit üblich war und von der Kommunikati-onstheorie übernommen wurde. Die Kommunikation zwischeneinem Sprecher (Sender) und einem Hörer (Empfänger) ist so großwie die Schnittmenge (zweier sich überschneidender Kreise) derCodierung des Senders und der Decodierung des Empfängers. Die-se Erkenntnis der Kommunikationstheorie lässt sich auf das Ver-hältnis von inneren Modellen und äußerer Wirklichkeit übertra-gen.7

Ich gehe davon aus, dass es zwischen den inneren Modellen undder äußeren Wirklichkeit eine Schnittmenge gibt, die vergrößerbarist, wenn auch nicht bis zur Deckungsgleichheit. Vor allem im Be-reich der emotionalen Konnotation (das, was bewusst oder unbe-wusst mitnotiert wird) ist die Differenz häufig sehr groß. Die Gren-zen im Erfassen der Wirklichkeit setzt unser angeborenes Pro-gramm zur Verarbeitung von Sinnesdaten, dessen Ergebnis ich alsWahrnehmungswelt bezeichne, was ich im folgenden Unterkapitelnäher erörtern werde. Außerdem muss man beachten, dass dasanschauliche Bild der Schnittmenge darüber hinwegtäuscht, dassnicht dieselbe Qualität der Erkenntnis zur Deckung kommt. Umdiese Differenz auszudrücken, verwende ich das Attribut analo-gisch.

Verstehen bedeutet im Rahmen der Kommunikationstheorie, zuversuchen, die Schnittmenge zwischen Codierung und Decodierungso groß wie möglich zu gestalten. Nach einem ersten vorläufigenVerstehen soll die Schnittmenge vergrößert werden. Auch dasErkennen im Allgemeinen ist meistens nicht punktuell, sondern einVorgang, und dieser Vorgang ist prinzipiell nicht abgeschlossen,sondern erfordert in vielen Fällen ein erneutes Erkennen. Daher

7 Vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophi-schen Hermeneutik. Gesammelte Werke. Bd. 1, Tübingen 61990.

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1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität 31 31

muss die bisher statische Betrachtung des Erkennens durch einedynamische Fassung vervollständigt werden – nicht nur im Bereichder Kommunikation, sondern auch im Erfassen der Wirklichkeit.Nachdem Kopernikus erkannt hatte, dass sich die Erde um dieSonne dreht, musste sein heliozentrisches Weltbild, in dem dieSonne im Mittelpunkt des Weltalls steht, korrigiert werden.

Mir scheint der Begriff Dialektik zur dynamischen Betrachtungdes Erkennens am geeignetsten. Der Ursprung dieses Begriffs (gr.dialegestai = ein Zwiegespräch, einen Dialog führen) geht auf dieMethode des Sokrates zurück, im Zwiegespräch von einer unre-flektierten Meinung zu einem reflektierten Wissen zu gelangen(Maieutik, Hebammenkunst). Für Kant ist der Begriff Dialektiküberwiegend negativ besetzt (dialektischer Schein), während Hegeldavon ausgeht, dass alle Erkenntnis einem Entfaltungsprozess un-terliegt, der antithetischen Grundstrukturen (These-Antithese-Synthese) entspringt. Gadamer wirft Hegel vor, nur an einer Be-griffsklärung interessiert gewesen zu sein und betont den Bezugzur Erfahrung.8 Ich verwende das Attribut dialektisch zur Bezeich-nung des Rückkoppelungs-Prozesses zwischen inneren Modellenund äußerer Realität. Daher bezeichne ich meine Erkenntnistheo-rie als dialektisch-analoge Teilhabe.

Das Oszillieren zwischen Hypothese und Überprüfung wird im 20.Jahrhundert (z. B. in den Werken Karl Popper

s) häufig mit Hilfe der Begriffe: Verifikation, Falsifikation undModifikation beschrieben. Als vorläufige Antwort auf eine unge-klärte Frage stellt man eine Hypothese auf, die anschließend über-prüft werden muss. Stellt sich die vorläufige Antwort als richtigheraus, spricht man von der Verifikation, die den Erkenntnispro-zess beendet, was aber nicht ausschließt, dass er später wiederaufgegriffen wird. Stellt es sich heraus, dass die Hypothese falschist (Falsifikation), erfordert der Erkenntnisprozess eine erneuteHypothese, die wiederum überprüft werden muss. Es besteht auchdie Möglichkeit, dass man die Antwort als teilweise richtig, teilwei-

8 Vgl. H -G. Gadamer: Der Begriff der Erfahrung und das Wesen der hermeneuti-schen Erfahrung. in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. 20.Jahrhundert. Stuttgart 1981, S. 254/255.

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32 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

se als falsch bewertet. Dann muss die Hypothese entsprechendmodifiziert werden.

Die entscheidende Frage ist nun, woran diese Überprüfung ge-messen werden soll. Meine Antwort auf diese Frage schließt eineReduktion auf logische Kriterien aus, wobei die Wirklichkeit außer-halb des gedanklich-logischen Bereichs als bloße Vermutung be-trachtet wird. Die Überprüfung muss an objektiven Fakten orien-tiert sein – und zwar im Bereich dessen, was ich vorläufig mit denBegriffen: Realität oder Wirklichkeit bezeichne, soweit deren Be-schaffenheit messbar und intersubjektiv erfassbar ist, d. h. dassjedermann jederzeit zum gleichen Ergebnis der Überprüfungkommen muss, wenn die hinreichenden Bedingungen dazu gege-ben sind. Die Überprüfung an der Realität kann dabei nicht von dergedanklichen Durchdringung isoliert werden.

Dem Protest aller, die grundsätzlich eine Erkennbarkeit der Wirk-lichkeit und ihrer Beschaffenheit bestreiten, möchte ich folgendeArgumente entgegensetzen:

Erkennen ist wesentlich mehr als die Kombination von Sinnes-wahrnehmung und ihrer Bearbeitung mit Hilfe von Verstand undVernunft. Es lässt sich auch nicht auf ein logisches Kalkül und schongar nicht auf reine Sprachanalyse reduzieren, wie einige Vertreterdes logischen Positivismus behaupten.

Die Wahrheitsdefinition des Thomas von Aquin „Veritas estadaequatio rei et intellectus / Wahrheit ist Angleichung eines Din-ges und des Verstandes“9 ist auch heute noch gültig, auch wennman nicht alle Grundlagen seines Wahrheitsbegriffs, seiner Er-kenntnistheorie und seiner Ontologie teilt. Das in dieser Definitionenthaltene Wort res/Ding, Sache lässt sich durch den Begriff der(objektiven) Realität (realitas ist von res abgeleitet) ersetzen. Intel-lectus kann man mit Verstand oder Vernunft übersetzen. Thomasist stark von der Illuminationstheorie des Augustinus beeinflusst,nach welcher der menschliche Intellekt von der göttlichen Wahr-heit erleuchtet werden kann. Ich setze an die Stelle des intellectusdas personale Ich, das ich im Rahmen meines psychischen Modells

9 Thomas von Aquin: Von der Wahrheit. De veritate. Questio I, 10,3.Hamburg 1986.

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1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität 33 33

(siehe 2.5) als Spitze in der Hierarchie aller psychischen Elementedes Menschen begreife, das sowohl Vernunft und Sprache als auchVerstand, Gewissen und Gefühl übergeordnet ist. Die nach Er-kenntnis suchende Person ist in der Lage, ein inneres Modell unddie äußere Realität einander anzugleichen.

1.2.2 „Welten“: Wege zur Wirklichkeit

Ein Universum, verschiedene „Welten“

Auch wer daran festhält, dass wir teilweise die Wirklichkeit adä-quat erfassen können (s. v. adaequatio rei et intellectus), mussdennoch eingestehen, dass diese Erkenntnis unvollständig unddamit defizitär ist. Ein Ausweg aus dem Dilemma, das sich darausergibt, nämlich entweder ganz zu schweigen oder eine Erkenntniszu postulieren, von der man weiß, dass sie defizitär ist, ist derStandpunkt, dass wir Teilnehmer verschiedener „Welten“ sind.Von verschiedenen „Welten“ sprechen auch Platon (kosmosnoëtos/Ideenwelt, kosmos horatos/Sinnenwelt), Immanuel Kant(mundus intelligibilis, mundus sensibilis) und Karl Popper (Körper-welt, Welt der Bewusstseinszustände, Welt des Denkens).

Ich unterscheide vier verschiedene „Welten“, in denen derMensch die eigene und die ihn umgebende Wirklichkeit erfasst:1. die Gedankenwelt, 2. die Wahrnehmungswelt, 3. die Erfah-rungswelt und 4. die Welt der transzendenten Ursachen.

Das Wort „Welten“ könnte den Eindruck erwecken, es gäbemehr als nur eine Welt, z. B. eine natürliche Welt und eine überna-türliche (supranaturale) Welt. Die Argumentation des Aristotelesgegen eine Verdoppelung der Welt bleibt nach wie vor gültig: Mangerät in einen unendlichen Regress, wenn man die Voraussetzungder Voraussetzung der Voraussetzung usw. behauptet. Wenn dieIdee des Menschen eine höhere Wirklichkeit sein soll als der Ein-zelmensch, müsste man eine noch höhere Wirklichkeit (Argumentvom dritten Menschen) annehmen, welche die Idee des Menschenund den Einzelmenschen begründet. Die gleiche Argumentation

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34 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

gilt auch gegen eine Verdreifachung oder eine Vervierfachung derWelt.

John Eccles und Karl Popper bekennen sich in ihrem gemeinsamherausgegebenen Werk: „Das Ich und sein Gehirn“ zum Dualismus,den ich aber aus dem genannten Grund ablehne.

Außerdem bin ich der Meinung, dass alle dualistischen Erklärun-gen des Verhältnisses von Geist und Körper nicht vollständig aufdem Boden der Evolutionslehre stehen; denn dann müsste maneingestehen, dass die Tierpsyche sich aus den Koordinations-Programmen mehrzelliger Lebewesen und dass die menschlichePsyche sich aus der Tierpsyche entwickelt hat und folglich nichtwesensmäßig verschieden sein kann.

Die Gegenposition zum Dualismus (Zweiheitslehre) wird meis-tens als Monismus (Einheitslehre) bezeichnet. Auch der Materia-lismus (Alles ist Materie) und der Spiritualismus (Alles ist gedank-lich-geistiger Natur) sind monistisch. Die darin enthaltenen Apo-rien habe ich in meinem Buch: „Das Lebensprinzip im Kosmos,Band I“ dargelegt. Mein Ansatz basiert auf dem aristotelischenSynholismus (gemeinsames Ganzes), der den Ideenrealismus(Ideen nur in den Dingen existent) und den Hylemorphismus (Ein-heit von Form und Stoff) einschließt.

Daraus folgt: Es gibt nur eine Welt, wenn man darunter das ge-samte Universum versteht. Dennoch ist es sinnvoll, von mehreren„Welten“ zu sprechen, weil das Weltbild davon abhängig ist, aufwelche Art und Weise die Welt betrachtet wird. Genau genommenbeschreibe ich verschiedene Methoden (Wege; gr. hodos = derWeg), mit denen ein Weltbild aufgebaut wird. Auf diese Weise löstsich der scheinbare Widerspruch zwischen dem Bekenntnis zumMonismus (nur eine Welt) und verschiedenen „Welten“ auf.

Die Grenzziehung zwischen den einzelnen Weltbildern ist not-wendigerweise schematisierend, mit anderen Worten nicht freivon Vereinfachungen und Generalisierungen. Außerdem über-schneiden und durchdringen sich einige dieser „Welten“. Dennochhalte ich die Schematisierung aus zwei Gründen für notwendig:

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1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität 35 35

um mein Gedankensystem in klarer Sprache darzustellen; um Grenzüberschreitungen bei all denen nachzuweisen, die ihr

Weltbild nicht kritisch hinterfragen oder unbewusst zwischensich widersprechenden Positionen hin- und herwechseln.

I Die Gedankenwelt

Ich werde auf die Frage: Was sind Gedanken? im Kapitel 2.3.2 nä-her eingehen. Hier möchte ich den Kern meiner Antwort vorweg-nehmen: Gedanken sind eine Aktivierung der angeborenen Denk-fähigkeit. Die Kombination von angeborenen Fähigkeiten und ak-tuellen Aktionen schließt viele Theorien über das Wesen von Ge-danken aus, z. B. Gedanken seien eine denkende Sache oder nichtsanderes als das Feuern der Neuronen.

Die Gedankenwelt wird auch als Ideenwelt bezeichnet und heißtbei Kant: mundus intelligibilis, bei Platon: kosmos noëtos. In derkantischen Philosophie ist die Idee ausschließlich im Geist behei-matet, sie ist für ihn etwas bloß Gedachtes. Für Platon hat die Ideeeine doppelte Bedeutung: sie kann wie bei Kant ein Gedanke sein(subjektive Idee), oder aber ein Gegenstand, den wir in seinerwahren Natur erkennen (objektive Idee).

Das Bewusstsein meines Selbst ist die unmittelbarste Wirklich-keit, die mit meiner Existenz verknüpft ist. Descartes hat recht,wenn er sagt: Ich kann alles bezweifeln, aber nicht, dass ich imZweifeln etwas denke, bzw. diesen Gedanken des Zweifels in mirfeststelle. Er geht allerdings einen Schritt weiter, den ich ablehne,nämlich indem er eine radikale Trennung zwischen der Gedanken-welt und der Körperwelt vollzieht (siehe 3.1.1).

Die Erforschung des Mikrokosmos und speziell die Quantenphy-sik haben gezeigt, dass der menschliche Beobachter aus dem Un-tersuchungsergebnis nicht eliminiert werden kann. Heisenbergerklärt dies auf folgende Weise: „Die Naturwissenschaft beschreibtund erklärt die Natur nicht einfach, so wie sie ‘an sich’ ist. Sie istvielmehr Teil des Wechselspiels zwischen der Natur und uns selbst.

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36 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Sie beschreibt die Natur, die unserer Fragestellung und unserenMethoden ausgesetzt ist.“10

In der Gedankenwelt kann man Luftschlösser bauen und Gedan-kensysteme entwickeln, die von der Wirklichkeit abgehoben sind.Der Mensch hat jedoch ein Mittel dafür, solche Fehlbildungen zukorrigieren, nämlich die beständige Rückkoppelung von inneremModell und äußerer Wirklichkeit. Der empirische Nachweis ist da-bei aber nicht die einzige Möglichkeit der Rückkoppelung, auch diegedankliche Durchdringung muss damit Hand in Hand gehen.

Bei allen Warnungen vor Luftschlössern und Fehlbildungen in derGedankenwelt darf man nicht die ungeheuer fruchtbare und fürden Menschen so bedeutsame Welt des Geistes übersehen, die ichals den kulturellen Bestandteil der Gedankenwelt betrachte. Indieser Welt des Geistes trifft man auf die Wissenschaften, wie siean den Universitäten gelehrt werden, und zwar nicht nur auf dieMathematik und die Naturwissenschaften, sondern auch auf die sogenannten Geisteswissenschaften, z. B. Philosophie, Psychologieund Theologie. In dieser Welt sind alle kulturellen Werke des Men-schen beheimatet, welche die verschiedenen Ausdrucksformen derKunst, wie Dichtung, Musik, Malerei und Architektur enthalten,und generell alle Werke der Geistesgeschichte. Ein Mensch, derauf den Vollzug seines Alltagslebens fokussiert ist und darüberhinaus nur über einen minimalen Kontakt zur aktuellen und zurgeschichtlichen Geisteswelt mit Hilfe der Boulevard-Presse odertrivialer Fernsehsendungen verfügt, ähnelt dem Besucher einesBarock-Schlosses, der nur bis zur Außenmauer gelangt und vonden Kunstschätzen im Innern nichts mitbekommt.

II Die Wahrnehmungswelt

Dieses Weltbild beruht auf der Kombination von Sinnesdaten mitangeborenen Formen der Verarbeitung der Sinneseindrücke. Es istbei allen Menschen im Wesentlichen gleich, wenn man vonAbweichungen durch Behinderung der Sinneswahrnehmung

10 W. Heisenberg: Physik und Philosophie. Stuttgart 62000, S. 117.

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1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität 37 37

absieht. Die Verarbeitung der Sinnesdaten bei Tieren ist davonverschieden; höchstens bei den Affen mag es gewisse Parallelengeben.

Was ich als Wahrnehmungswelt bezeichne, deckt sich größten-teils mit dem Begriff Mesokosmos, wie ihn Gerhard Vollmer inseinem Buch: „Was können wir wissen?“ entwickelt hat. JedesLebewesen hat eine spezielle Umwelt, an die sich sein Erkenntnis-apparat im Verlauf der Evolution angepasst hat. Analog zum Be-griff: ökologische Nische (Koala-Bären können z. B. als einzige TiereEukalyptusblätter als Nahrung zu sich nehmen) verwendet Vollmerden Begriff: kognitive Nische.

Die kognitive Nische des Menschen nennen wir ‘Mesokos-mos’. Unser Mesokosmos ist also jener Ausschnitt der realenWelt, den wir wahrnehmend und handelnd, sensorisch undmotorisch, bewältigen.11

Die dem Altgriechischen entlehnte Vorsilbe meso bedeutet einMittleres; daher ist der Mesokosmos grob gesagt die Welt dermittleren Dimensionen. Vollmer präzisiert den Begriff folgender-maßen:

Der Mitte-Charakter ist nicht auf räumliche Abmessungen(Meterwelt) beschränkt. Er bezieht auch andere physikalischeGrößen ein: Zeit, Geschwindigkeiten, Beschleunigungen,Massen, Temperaturen. Er reicht von Millimetern zu Kilome-tern, von Sekunden zu Jahren, von Geschwindigkeit Null zueinigen Metern pro Sekunde, von gleichförmiger Bewegung(Beschleunigung Null) zur Erdbeschleunigung (g = 10 m/s2,entspricht der Sprinterbeschleunigung), von Gramm zu Ton-nen, vom Gefrier- zum Siedepunkt des Wassers.12

Der Mesokosmos umfasst nicht alle makrokosmischen Strukturen.Der Makrokosmos ist der Bereich der Großkörperphysik, der z. B.

11 G. Vollmer, Was können wir wissen? Bd. 1, Stuttgart 1988, 2. Aufl. S. 77.12 Ebd. S. 103, 104.

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38 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

an einer technischen Universität im Vordergrund steht. Elektrischeund magnetische Felder können makrokosmische Abmessungenhaben, gehören aber nicht zur wahrnehmbaren Umwelt des Men-schen. Das Magnetfeld der Erde ist für den Menschen nur indirektmit einem Kompass wahrnehmbar, während Zugvögel das Magnet-feld der Erde wahrnehmen und als Orientierungshilfe verwendenkönnen.

Vollmer hält nur den Mesokosmos für anschaulich; der Makro-kosmos und der Mikrokosmos der klassischen Physik können erstdurch Transformation in mesokosmische Strukturen anschaulichgemacht werden. Beim Licht sind beispielsweise weder der Wel-lencharakter noch der Teilchencharakter wahrnehmbar oder me-sokosmisch, und doch sind Wellen- und Korpuskel-Theorie desLichts typische klassische Theorien.13

Die angeborene Verarbeitung der Sinnesreize, die von der Sonneausgehen, entwirft in uns das Bild einer hell erleuchteten undWärme ausstrahlenden Scheibe, die im Osten aufgeht, bogenför-mig durch den Horizont wandert und im Westen untergeht. DerMensch ist jedoch in der Lage, die angeborene Verarbeitung durchselbst erworbene oder kollektive Erfahrung in Kombination mitMessungen und Berechnungen zu verbessern, und dann entstehtdie Erfahrungswelt.

III Die Erfahrungswelt

Bei Platon heißt die Erkenntnisstufe, die ein Weltbild aufbaut, dasauf Erfahrung beruht Empeiria (= die Erfahrung). Bleibt ein Menschder Wahrnehmungswelt, der Eikasia (Welt der Bilder; Bild = gr.eikōn), unkritisch verhaftet, ist er Sensualist; d. h. er erkennt nurdas als wahr an, was mit den Sinnen erfassbar ist. Ein Empirist hatden naiven Sensualismus überwunden, beharrt aber dennoch aufdem Standpunkt, dass nur das wirklich existiert, was direkt oderindirekt der Sinneswahrnehmung zugänglich ist.

13 Ebd. S. 120.

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1.2 Innere Vorstellung und äußere Realität 39 39

Parallel zur Wahrnehmung, die ja aus einer Kombination vonSinnesdaten und angeborener Verarbeitung besteht, ist die Empi-rie eine Kombination aus direkter oder indirekter Sinneswahrneh-mung und gedanklicher Durchdringung. Die Methode zur Erfor-schung der Erfahrungswelt ist das Zählen und Messen, das Experi-ment und der Versuch, Gesetzmäßigkeiten in mathematischerForm zu erfassen. Die Erfahrungswelt ist zunächst auf den Makro-kosmos (Großkörperphysik) bezogen, und es entsteht so das Welt-bild der klassischen Physik, die von Newton begründet wurde.Diese Welt ist anschaulich, wenn sie auf direkter Sinneswahrneh-mung beruht. Aber wegen der Anerkennung der indirekten Sin-neswahrnehmung (mit Hilfe von Messgeräten) umfasst sie auchnicht-anschauliche Bereiche, die jedoch in anschauliche mesokos-mische Strukturen umgewandelt werden können.

Die Erfahrungswelt umfasst darüber hinaus auch den Mikrokos-mos und den Megakosmos, die nicht anschaulich sind und auchnicht ohne weiteres in mesokosmische Dimensionen transformiertwerden können. Die klassische Physik hielt den Mikrokosmos füreinen verkleinerten Mesokosmos. Im 20. Jahrhundert wurde dieswiderlegt. Elektronen kreisen beispielsweise nicht in der gleichenArt und Weise um den Atomkern wie ein Planet um einen Stern.Sie können nur auf festgelegten Bahnen kreisen, und der Heisen-bergschen Unschärferelation entsprechend haben sie keinengleichzeitig bestimmbaren Ort und Impuls.Die gleichen Übertragungsprobleme bestehen in Bezug auf denMegakosmos (gr. megas = groß; heute als vorangestellter Wortbe-standteil: sehr groß), also auf die Strukturen des Weltalls.

Zeit und Raum der Erfahrungswelt sind nicht identisch mit Zeitund Raum der Wahrnehmungswelt. Während die Wahrneh-mungswelt auf mesokosmische Dimensionen beschränkt ist (voneiner Sekunde bis zu einigen Jahren; vom Millimeter bis zu einigenKilometern), umfasst die Erfahrungswelt Entfernungen und Zeit-räume in 10er Potenzen (positiv und negativ). Im Gegensatz zurabsoluten Zeit Newtons und zur Zeit der makrokosmischen Physikist die Zeit im Mikro- und Megakosmos dehnbar (Zeitdilation). Der

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40 1. Grenzen und Möglichkeiten im Erkennen

Zeitdilationseffekt steigt proportional mit der Geschwindigkeit anund wird beim Erreichen der Lichtgeschwindigkeit unendlich.

Auch der Raum des Makrokosmos ist nicht identisch mit demRaum des Mikro- und Megakosmos. Der Raum ist dabei so eng mitder Zeit verknüpft, dass man von einer vierdimensionalen Raum-zeit spricht. Der Raum ist gekrümmt, so dass eine immer gerade-aus fliegende Rakete an den Ausgangspunkt zurückkäme. Außer-dem wirkt sich die Masse eines Sterns derartig auf den ihn umge-benden Raum aus, dass das vorbeistrahlende Licht bzw. die vorbeifliegenden Photonen abgelenkt werden.

Dass hier keine Anschaulichkeit mehr vorliegt, ist nun wohlüberdeutlich geworden. Gleichzeitig ist damit auch gezeigt, wieunhaltbar die dogmatische Behauptung von Positivisten und Empi-risten ist, nur Anschauliches bzw. nur, was direkt oder indirekt derSinneswahrnehmung zugänglich ist, sei real.

IV Die Welt der transzendenten Ursachen

Die Inhalte dieser Welt sind größtenteils der Metaphysik zuzurech-nen, da es sich um tiefere Ursachen handelt. Ich werde sie im An-schluss an die Untersuchung und Differenzierung der Kausalitätgenauer beschreiben, daher sollen sie hier zur Vermeidung vonWiederholungen nur angedeutet werden. Die ein System in Raumund Zeit übersteigenden Ursachen nenne ich transzendente Ursa-chen. Dass damit kein Überstieg in eine übernatürliche (supranatu-rale) Welt gemeint ist, habe ich bereits zum Ausdruck gebracht.

Auch die transzendenten Ursachen sind natürliche Ursachen, al-lerdings darf man sich den Blick nicht durch einfache physischeUrsachen aus unserer Wahrnehmungswelt verstellen lassen: Wennder Fuß an einen Ball tritt (Ursache), wird Bewegungsenergie aufden Ball übertragen (Wirkung), und vergeht danach. Das generelleVerhältnis von Ursache und Wirkung kann aber nicht auf solchsimple Beispiele transitiver physischer Kausalität reduziert werden.

Die transzendente-vertikale Kausalität ist als Ursache der Ord-nung eines Systems erfassbar, insofern als Schnittpunkt zwischender horizontal-immanenten und der vertikal-transzendenten