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Der Positronik Boy

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Nr. 61

Der Positronik-Boy von William Voltz

Auf Terra, den Welten des Solaren Imperiums und den Stützpunkten der USO schreibt man Ende Mai des Jahres 2841. Dieses 29. Jahrhundert ist eine Zeit, in der die solare Menschheit oder die Menschheit von den Welten der ersten Siedlungswelle wieder nach den Sternen greift und sich weiter im All ausbreitet. Es ist eine Zeit der großen Erfolge und großen Leistungen, es ist aber auch eine Zeit der Gefahren und eine Zeit, in der Rückschläge nicht auf sich warten lassen. Ein solcher Rückschlag für die solare Menschheit scheint sich anzubahnen, als die ROPOS-1, der erste vollautomatische Robotraumer des Experimentalkommandos, vom Planeten Helderon kommend, mit Verspätung ins Solsystem einfliegt. Es kommt zu seltsamen, unerklärlichen Ereignissen, die immer weitere Kreise ziehen. Nathan, die lunare Biopositronik, auf deren reibungsloses Funktionieren praktisch die gesamte Menschheit angewiesen ist, spielt verrückt, und der Konflikt zwischen Mensch und Maschine entbrennt. Ein seltsamer junger Mann greift in diesen Konflikt ein: DER POSITRONIK-BOY ...

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Die Hauptpersonen des Romans:Atlan – Der Lordadmiral läßt den »Positronik-Boy« wecken. Perry Rhodan – Der Großadministrator hat eine schwere Entscheidung zu treffen. Nathan – Die Biopositronik rebelliert. Dr. Pantam Nurherere – Leiter einer Station auf dem Medo-Planeten Tahun. Purpose DeStaglaav – Atlans letzte Hoffnung.Gucky – Der Mausbiber betätigt sich als »Bademeister«.

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MAN VERSTEHT DIE KINDER NICHT, IST MAN NICHT SELBST KINDLICHEN HERZENS; MAN WEISS SIE NICHT ZU BEHANDELN, WENN MAN SIE NICHT LIEBT, UND MAN LIEBT SIE NICHT, WENN MAN NICHT LIEBENSWÜRDIG IST. LUDWIG BÖRNE (Inschrift an der Energiegruft von Purpose »Purp« DeStaglaav, besser bekannt als »Positronik-Boy«.)

1.

Die Sache mit den Nahrungsmittelsilos Der Impuls, mit dem die Traummaschine Ihns

Carmon weckte, war so sanft, daß der schlanke junge Mann den Übergang zwischen Traum und Realität kaum wahrnahm. Der Impuls schaltete gleichzeitig die Massagedecke ein, so daß Carmons Körper von angenehmen Vibrationen durchlaufen wurde. Er lag völlig entspannt auf dem Rücken, seine Augen waren noch immer geschlossen. Bis zum Beginn der Arbeit hatte er noch zwei Stunden Zeit.

Ihns Carmon genoß alle Vorzüge der modernen Technik; um in ihren vollen Genuß zu kommen, ließ er sich eine Stunde früher wecken als die Mehrzahl seiner Kollegen im Verwaltungsbüro von RAT.

Als die Massage vorüber war, stand Carmon auf und begab sich ins Bad. Warme Luft umschmeichelte seinen Körper. Dann wurde seine nackte Haut vom Massagestrahl des lauwarmen Wassers getroffen. Nach einer halben Stunde hatte Carmon seine Morgentoilette beendet. Er setzte sich vor den Heimdiagnostiker, der ihm einmal mehr vollkommene Gesundheit attestierte. Danach begab Carmon sich in die Küche.

Er ließ mit ein paar wenigen Schaltvorgängen Tisch und Kontursessel aufstellen, dann wählte er sein Frühstück.

Erwartungsvoll ließ er sich am Tisch nieder. Sekunden später öffnete sich die Wandklappe, aus der die bestellten Mahlzeiten von der Zentralküche des Hochhauses geliefert wurden.

Doch es kam nichts heraus. Carmon wählte noch einmal. Wieder öffnete sich die Klappe, aber die

bestellten Sachen wurden nicht auf den Tisch geschoben.

Zum ersten Mal seit sieben Jahren, so lange wohnte Carmon jetzt in diesem Gebäude, hatte der Mechanismus versagt. Carmon, der sich keinen Grund für das Versagen denken konnte, versuchte es noch einmal. Aber auch beim dritten Versuch blieb sein Tisch leer.

Der Techniker schaltete die Fernsehwand ein und wählte eine Musiksendung, dann begab er sich

zum Hausvisiphon. Der Anschluß der Zentrale war besetzt, so daß er sieben Minuten warten mußte.

Endlich erschien das Gesicht des Verwalters auf der kleinen Bildfläche. Horpson Fitas war ein kleiner Mann mit einem abgezehrten Gesicht. Meistens war er unrasiert und schlecht gelaunt. An diesem Morgen schien er die gesamte Welt zu hassen, denn er fuhr Carmon ohne ein Grußwort an.

»Was wollen Sie?« »Irgend etwas stimmt nicht mit der

Transportanlage der Zentralküche. Ich habe gerade mein Frühstück bestellt, aber trotz dreimaligen Versuchs nichts bekommen.«

Fitas kicherte bösartig und rieb mit einem Handrücken über sein stoppeliges Kinn.

»Niemand im gesamten Haus wird etwas bekommen!«

»Nun gut«, erwiderte Carmon. »Wie lange wird es dauern, bis der Schaden behoben ist?«

»Das weiß ich doch nicht«, erklärte Fitas. Carmon runzelte die Stirn. Seine gute Laune

verflog. »Sie sind für die Reparaturen verantwortlich.

Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Transportanlage in Ordnung zu bringen, müssen Sie eben einen Spezialisten von der Installationsfirma bestellen.«

»Ich brauche keinen Spezialisten«, sagte Fitas säuerlich. »Ich weiß genau, was nicht in Ordnung ist.«

»Dann beheben Sie endlich den Schaden.« Fitas grinste Carmon überlegen an. »Es liegt überhaupt kein Schaden vor!« »Was ist passiert?« erkundigte sich Carmon. »Die Zentralküche hat keinen Nachschub vom

Silo bekommen.« »Sicherlich wurde zu spät bestellt«, vermutete

Carmon. »Sie sollten sich mit dem Siloverwalter in Verbindung setzen, damit er die Sache in Ordnung bringt.«

»Was, glauben Sie, habe ich zuerst getan, nachdem ich feststellen mußte, daß die Küche leer ist?« fragte Fitas gedehnt.

Carmon entschuldigte sich. Er wollte wegen dieser Sache keinen Streit anfangen. Zwar sah er Fitas erst zum zweiten Mal auf dem Bildschirm, denn alle Arbeiten im Haus wurden fast ausschließlich von Robotern erledigt, aber man

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konnte nie sicher sein, ob man nicht eines Tages die Hilfe des Hausverwalters in Anspruch nehmen mußte.

»Ich habe eine Überraschung für Sie«, fuhr Fitas fort. »Im ganzen verdammten Silo befindet sich kein einziger Brocken Nahrung mehr.«

Carmon lächelte unsicher. »Sie scherzen!« »Er ist leer!« rief Horpson Fitas. »Vollkommen

leer! Verstehen sie das?« Der junge Techniker hatte sich noch nie das

Innere eines Silos angesehen, aber er war schon oft über eines dieser riesigen Gebäude hinweg geflogen. Er wußte, daß die Silos vollrobotisch be- und entladen wurden; nur einmal im Jahr kontrollierte eine Prüfungskommission die Funkstation dieser Gebäude. Bisher hatte es noch nie Schwierigkeiten gegeben.

Aber diesmal schien einer der Silos durch irgendwelche Umstände zwar geleert, aber nicht wieder aufgefüllt worden zu sein. Im Grunde genommen war das nicht tragisch, denn die Versorgung des betreffenden Stadtviertels konnte für die Dauer des Ausfalls von einem anderen, nahe gelegenen Silo aus übernommen werden.

Im Hintergrund verstummte die Musik auf der Fernsehwand.

Ein Glockenton ertönte. Carmon drehte den Kopf und sah das Zeichen

der Großadministration auf der Leinwand. »Da kommt eine wichtige Nachricht durch!«

rief Carmon dem Hausverwalter zu. »Ich mache jetzt Schluß.«

Fitas nickte gequält. Wahrscheinlich mußte er an diesem Morgen noch andere erregte Hausbewohner beruhigen.

Carmon nahm vor der Fernsehwand Platz. Ein Sprecher wurde sichtbar. »Guten Morgen«, sagte er mit ernstem Gesicht.

»Wir bringen eine Sondermeldung über alle Kanäle. Aus noch unbekannten Gründen wurde die Mehrzahl aller Nahrungsmittelsilos auf der Erde in den letzten Monaten nicht aufgefüllt. Die Großadministration bittet die Erdbevölkerung Ruhe zu bewahren. Es besteht keine Gefahr. Der Fehler wird in kurzer Zeit behoben sein. Inzwischen wird die Versorgung der Erdbevölkerung von der Solaren Flotte übernommen. Wenn es auch zu einigen Verzögerungen kommen kann, so ist doch niemand auf der Erde gefährdet. Wir bringen in Kürze weitere Hinweise.«

Das Musikprogramm wurde fortgesetzt. Carmon saß einige Zeit wie erstarrt in seinem

Sessel. Er versuchte, sich das Ausmaß der Katastrophe vorzustellen. Wieviel Silos gab es

überhaupt auf der Erde? Wieviel Menschen wurden daraus ernährt? Mehr als neunzig Prozent der Erdbevölkerung.

Carmon erhob sich und griff nach seinen Kleidern. Dann sagte er sich, daß es wohl keinen Sinn hatte, wenn er jetzt zum Spezialitätengeschäft ein paar Häuser weiter lief. Wahrscheinlich hatte der clevere Mattlock an diesem Morgen früher geöffnet und alles verkauft, was er nicht für seinen privaten Bedarf zurückhalten wollte.

Die Versorgung wird von der Solaren Flotte übernommen!

Dieser Satz klang noch immer in Carmons Ohren.

Er wußte genau, was das bedeutete. Einschränkungen und Unbequemlichkeiten.

Rationierung und Bedarfsscheine. Zumindest bedeutete es zwei Tage ohne Essen. Er kehrte in die Küche zurück und schaltete den

Wasserversorger ein. Er atmete auf, als er die Flüssigkeit ins Becken sprudeln sah. Eigentlich war sein Versuch unsinnig, denn er hatte an diesem Morgen ja auch ohne Schwierigkeiten duschen können.

Immerhin brauchte er nicht zu verdursten. Wie konnte so etwas passieren? fragte er sich.

Wenn er sich richtig erinnerte, war die Großpositronik Nathan auf Luna für die reibungslose Versorgung der Erdbevölkerung mit Nahrungsmitteln verantwortlich. Undenkbar, daß Nathan sich getäuscht hatte. Der Fehler mußte woanders liegen.

Vielleicht erwies sich alles als ein Irrtum. Bestimmt nicht! dachte Carmon. Wenn die

Großadministration eine offizielle Erklärung abgab, dann tat sie das bestimt nicht ohne Grund. Carmons Blick fiel auf die Uhr.

26. Mai 2841 las er das Datum ab. Er zog sich an. Eigentlich bestand kein Grund,

nicht ins RAT-Verwaltungsgebäude zu gehen. Solange er arbeitete, konnte er alle Schwierigkeiten vergessen.

Im Verlauf des Tages würde die Großadministration der Bevölkerung Hinweise geben. Carmon hoffte, daß in diesem Augenblick schon Frachtraumschiffe mit Nachschub zur Erde unterwegs waren.

Das Visiphon summte. Carmon begab sich ins andere Zimmer und

schaltete das Gerät ein. »Luc!« rief er überrascht, als er seine Freundin

auf dem Bildschirmteil sah. »Guten Morgen!« rief sie sarkastisch. »Wie ich

feststelle, siehst du noch gut aus.« »Wie sollte ich denn deiner Meinung nach

aussehen?« erkundigte er sich begriffsstutzig.

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»Nun, zum Skelett abgemagert.« »Du solltest darüber keine Witze machen!« fuhr

er sie an. »Die Sache ist schlimm genug.« Sie lachte fröhlich. »Aber Ihns! Weil wir vielleicht ein paar

Stunden nichts zu essen haben! Ich bin froh, daß in dieser langweiligen Stadt endlich einmal etwas Ungewöhnliches geschieht.«

Carmon kannte die unkomplizierte Art seiner Freundin. Sie machte sich niemals Gedanken über irgend etwas. Vielleicht war diese Art zu leben richtiger als alles andere, überlegte Carmon. Vielleicht war es auch der Grund, weshalb er Luc Apparchie liebte.

»Es geschieht nicht nur in dieser Stadt«, erklärte er geduldig, »sondern auf der gesamten Erde. All die Milliarden Menschen, die sich auf die Versorgung durch Nathan verlassen haben, stehen jetzt vor leeren Silos.«

Sie wurde ernst. »Du scheinst dir tatsächlich Sorgen zu

machen.« »Es ist nicht allein wegen der fehlenden

Nahrungsmittel«, sagte er. »Die Silos lassen sich mit Hilfe der Solaren Flotte schnell wieder füllen, und die Unannehmlichkeiten, die mit diesem Zwischenfall verbunden sind, müssen wir eben ertragen. Viel schlimmer erscheint mir die Möglichkeit, daß ein so wichtiges biopositronisches Gehirn wie Nathan offenbar versagt hat. Zumindest hätte es die Fehlerquelle rechtzeitig melden müssen. Warum hat es das nicht getan?«

»Davon verstehe ich nichts«, sagte Luc. »Ich glaube auch, daß du dir eine Menge Gedanken machst, obwohl du doch nichts ändern kannst.«

Er starrte auf den Bildschirm. »Woran denkst du, Luc?« »An dich«, sagte sie. »Und daran, wie ich dich

vor dem Verhungern retten kann.«

* Die sechzig Meter lange und zwanzig Meter

hohe Leuchtwand zeigte in verkleinertem Maßstab das Gebiet der Rechenanlage Nathan. Diese Wand war einen halben Meter dick, Leuchtkörper und Plastikteile waren in das durchsichtige Material eingegossen worden. Immer dann, wenn es innerhalb Nathans zu einer Störung kam, flammte an der betreffenden Stelle der Wand ein rotes Licht auf.

In den letzten vierundzwanzig Stunden war diese Wand dreimal überprüft worden.

Es bestanden keine Zweifel daran, daß ihre Verbindung mit Nathan nach wie vor einwandfrei

funktionierte, daß sie jede Fehlerquelle anzeigen mußte.

Aber sie tat es nicht. Allan D. Mercant, Chef der Solaren Abwehr,

stand zusammen mit Perry Rhodan, Atlan, sowie einigen Mutanten und Wissenschaftlern vor dieser Wand und ließ seine Blicke immer wieder über ihre Oberfläche wandern.

Vor wenigen Augenblicken war die Nachricht eingetroffen, daß die Nahrungsmittellager auf Terra geleert und nicht wieder gefüllt worden waren.

Acht bis neun Milliarden Menschen waren ohne Nahrung. Die Solare Flotte war von Perry Rhodan unmittelbar nach Bekanntwerden des alarmierenden Zwischenfalls in höchste Einsatzbereitschaft versetzt worden. Die ersten Frachtraumer waren bereits zur Erde unterwegs, um Nachschub zu bringen.

Trotzdem war es bereits in einigen großen Städten zu panikartigen Überfällen auf leere Silos gekommen. Die Menschheit war beunruhigt.

Mercant kratzte sich am Kinn. »Seit ein paar Jahrhunderten ging alles glatt«,

sagte er leise. »Die Nahrungsmittel- und Bedarfs-güterfabriken werden vollrobotisch gesteuert. Oberstes Steuerelement in diesem Versorgungsblock ist Nathan.« Er deutete auf die leuchtende Wand. »Aber bei Nathan ist alles in Ordnung.«

»Trotzdem muß die Fehlerquelle in diesem Riesengehirn liegen«, meinte Atlan. »Die ersten Berichte beweisen, daß der Fehler nicht bei irgendeiner Verteilerstation liegen kann, denn alle Silos und Lager sind leer.«

»Aber in den vergangenen Monaten wurde doch produziert!« rief einer der Wissenschaftler. »Wohin sind diese riesigen Mengen an Nahrungsmitteln und Bedarfsgütern verschwunden? Sie müssen doch, wenn sie sich nicht in den Silos befinden, an anderen Plätzen gelagert werden.«

Perry Rhodan, dem die allgemeine Ratlosigkeit nicht entging, trat an ein Schaltpult und schaltete die Leuchtwand aus. Sie versank im Boden.

»Mit der Geheimhaltung ist es jetzt auf jeden Fall vorbei«, stellte er fest. »Wir haben uns bemüht, die ersten Zwischenfälle nicht bekannt werden zu lassen. Doch jetzt ist das Versagen von Nathan offensichtlich. Jeder Schüler auf der Erde weiß, daß Nathan für die Versorgung verantwortlich ist. Es kommen also nicht nur ernährungstechnische Schwierigkeiten auf uns zu. Es wird auch Proteste gegen die Administration und gegen Nathan geben.«

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»Wir müssen den Fehler so schnell wie möglich finden!« sagte Tako Kakuta, der Teleporter.

Atlan lachte spöttisch auf. »Nathan wurde mehrfach überprüft. Die

Kybernetiker und Techniker sind pausenlos an der Arbeit. Aber es ist wie verhext, es scheint keine Fehlerquelle zu geben.«

»Nathan hat sich sogar mehrfach selbst überprüft«, erinnerte Professor Taychinger, einer der berühmten terranischen Robotiker. »Das Sicherheitssystem des Rechengehirnes ist vollkommen in Ordnung.«

»Und die Zellplasmamasse ebenfalls«, bemerkte John Marshall, der zusammen mit Gucky und Fellmer Lloyd in den letzten Stunden immer wieder Kontakt zu der biologischen Masse im Kern des Rechengehirns aufgenommen hatte.

»Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir einen entscheidenden Faktor übersehen«, warf Allan D. Mercant ein. »Manchmal glaube ich der Lösung ganz nahe zu sein.«

Taychinger winkte ab. »Ich kann mir schon denken, worauf sie

hinauswollen: Revolte eines Rechengehirns. Aber Sie wissen selbst, daß dies bei diesen unzähligen Sicherheitssystemen, die in Nathan eingebaut wurden, einfach unmöglich ist, zumal diese Sicherheitssysteme autark sind und nicht von Nathan beeinflußt werden können.«

Der kleine Mann, dessen Kopf von einem schütteren Haarkranz umgeben war, antwortete fest: »Alle Vorfälle deuten aber darauf hin, daß Nathan revoltiert. Er will uns Schaden zufügen.«

»Mir erscheint diese Behauptung nicht ganz logisch«, mischte Rhodan sich ein. »Wenn Nathan uns tatsächlich Schaden zufügen wollte, brauchte er sich nur abzuschalten.«

»Dann wäre er tot«, meinte Professor Taychinger. »Zwar nicht im klassischen Sinne des Wortes, aber immerhin.«

»Wollen Sie etwa behaupten, daß Nathan ein Bewußtsein besitzt?« rief einer der Wissenschaftler erregt.

»Der Zellplasmateil bestimmt!« Taychinger ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wir wissen außerdem von den Posbis, daß die Hypertoyktische Verzahnung so etwas wie ein maschinelles Bewußtsein hervorrufen kann. Mit anderen Worten: Nathan würde sich niemals abschalten, um uns zu schaden, weil er dann nichts empfinden würde. Das Erfolgserlebnis ginge ihm verloren.«

»Psychologieunterricht für eine Positronik!« rief jemand spöttisch.

»Oder für ein Ungeheuer!« fügte Mercant leise hinzu.

»Wir müssen auf weitere Ergebnisse warten«, beendete Perry Rhodan die Diskussion. »Erst, wenn wir genau wissen, was auf der Erde geschehen ist, können wir uns ein einwandfreies Bild machen.«

»Es wird zu weiteren Zwischenfällen kommen!« prophezeite der Arkonide.

»Und was sollen wir offiziell bekannt geben?« wollte Mercant wissen.

»Wir müssen die Wahrheit sagen«, entschied Rhodan. »Inzwischen hat die Presse den Fall bestimmt aufgegriffen. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter der großen Zeitungen und der TV-Gesellschaften sind klug genug, um Nathan als den Hauptschuldigen zu erkennen.«

Der Arkonide preßte die Lippen zusammen. Er ahnte, was nun folgen würde. Die Opposition im Solaren Parlament würde den schwerwiegenden Zwischenfall ausnutzen, um gegen die Versorgungspolitik der Administration zu protestieren. Radikale Kräfte würden die Ausschaltung Nathans verlangen.

Dabei wußten die meisten Menschen überhaupt nicht, wie sehr sie von dieser Riesenpositronik abhängig waren.

Die völlige Ausschaltung Nathans würde ein Chaos auslösen.

Atlan wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt, als neue Nachrichten von der Erde eintrafen. Die spezialisierten Robotkommandos, die den Transport und die Verteilung der Nahrungsmittel und Bedarfsgüter ausgeführt hatten, reagierten nicht mehr. Robotiker und Techniker, die in die Silos eingedrungen waren, hatten mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn sie wurden immer wieder von Reparatur- und Wartungsrobotern angegriffen. Das gesamte Versorgungssystem war in Unordnung geraten.

Den größten Schock löste in Atlan jedoch die Nachricht aus, daß die gelagerten Nahrungsmittel alle vernichtet worden waren. Zu jedem Silo und zu jedem Lagerhaus gehörte ein Konverter, in dem Abfälle und verdorbene Vorräte verbrannt wurden. In den letzten fünf bis sechs Monaten waren alle Vorräte in den Konverter gewandert.

»Jetzt wissen wir also, wo die Nahrungsmittel geblieben sind«, bemerkte Perry Rhodan. »Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mit einer ähnlichen Nachricht gerechnet.«

»All diese Berichte erhärten Mercants Vermutung«, sagte John Marshall. »Auch die Angriffe der Spezialroboter sind ein Beweis. Nathan hat uns den Krieg erklärt.«

Rhodan trat abermals an das Schaltpult. Mehrere durchsichtige Zellen, in denen je eine

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Person Platz hatte, schoben sich aus dem Boden. Innerhalb jeder Zelle befanden sich mehrere Instrumente.

»Wir werden jetzt gemeinsam mit Nathan sprechen!« kündigte Rhodan an. »Ich verspreche mir zwar nicht viel davon, denn das Gehirn wird sich unwissend stellen, aber vielleicht bekommen wir irgendeinen Anhaltspunkt.« Er unterbrach sich, denn er sah, daß Atlan sich abgewandt hatte und zum Ausgang ging. Mit wenigen schnellen Schritten holte er den USO-Chef ein und packte ihn am Arm.

»Warum gehst du jetzt?« Atlan sah ihn an. »Wir müssen handeln!« »Woran denkst du?« »An den Positronik-Boy«, erwiderte Atlan. Ohne zu antworten, kehrte Rhodan zu den

Zellen zurück. Die anderen warteten bereits auf ihn. Mercant und Marshall standen bereits in den Zellen.

Rhodan nickte ihnen zu. »Fangen wir an«, sagte er. »Wir wollen

versuchen, die Riesenpositronik in die Enge zu treiben.«

2.

Die Sache mit der Versorgungsflotte »Bier«, erklärte Scottilencer Agvuhrian, »ist

nahrhafter als Brot und hat außerdem den Vorteil, daß man es nicht zu kauen braucht.«

Er trank sein Glas in einem Zug leer und stellte es auf den Schreibtisch. Dann warf er einen Blick auf Sektor 13 C des Landefeldes hinaus. Von seinem Platz in der obersten Etage des Kontrollturms aus konnte er fast den gesamten Sektor überblicken. Hier standen etwa dreißig von insgesamt fünftausend Versorgungsschiffen. Es war ein angenehmes Gefühl zu wissen, daß alle diese Schiffe mit Nahrungsmitteln und Bedarfsgütern beladen waren.

»Wieviel Flaschen hast du eigentlich in deinem Schreibtisch?« erkundigte sich Grasen Blerk, der neben Agvuhrian saß und die Monitorschaltung bediente.

»Jetzt sind es noch sieben«, erwiderte Agvuhrian. »Danach werde ich Wasser trinken müssen, wie jeder andere auch.«

Blerk grinste. »Ein bißchen Diät kann dir nicht schaden«,

bemerkte er mit einem boshaften Seitenblick auf Agvuhrians Bauch.

Vor sechs Stunden hatten die Männer im Kontrollturm von Sektor 13 C erfahren, was mit

den Nahrungsmittelvorräten auf der Erde geschehen war. Die Techniker und Astronauten in den Kontrolltürmen waren Überraschungen aller Art gewöhnt. Keiner von ihnen hatte seinen Arbeitsplatz verlassen. Berichte besagten, daß es in anderen Gebieten des riesigen Raumhafens von Terrania-City zu Unruhen gekommen war, doch im Sektor 13 C und in den benachbarten Sektoren blieb alles ruhig.

Blerk schnalzte mit der Zunge. »Wenn man bedenkt, daß wir hinausgehen und

eines der Robotschiffe ausräumen können, wenn wir hungrig sind, läuft einem das Wasser im Mund zusammen.«

»Du darfst nicht ständig daran denken!« verwies ihn Agvuhrian und holte noch eine Flasche Bier her.

»He!« rief einer der Ortungstechniker. »Willst du dich betrinken, Scotti?«

»Bevor ich mich von euch ausrauben lasse, trinke ich mein Bier«, antwortete Agvuhrian. »Wie ich euch kenne, macht ihr heute alle Überstunden und ...«

Er unterbrach sich und starrte mit geöffnetem Mund nach draußen, wo dreißig kugelförmige Raumschiffe vom Landefeld abhoben.

»Da... das gibt es doch nicht!« stieß er hervor. Die Aufmerksamkeit, die sich bisher

ausschließlich auf Agvuhrians Bier konzentriert hatte, richtete sich auf die Ereignisse außerhalb des Kontrollturms.

»Die Robotschiffe der Versorgungsflotte starten!« rief jemand.

»Das sehe ich auch!« rief Agvuhrian nervös. »Hat irgend jemand von euch Halunken etwas von einem entsprechenden Befehl gehört?«

Stille. Die Männer sahen sich an. In ihren Blicken lagen Angst und Unsicherheit.

Scottilencer Agvuhrian stieß eine Verwünschung aus und beugte sich über das Funkgerät. Während er Großalarm gab, beobachtete er aus den Augenwinkeln, daß auch von den anderen Landefeldern Raumschiffe starteten. Er sah sie erst jetzt, nachdem sie über den Dächern der Verwaltungsgebäude sichtbar wurden.

»Alle Schiffe!« rief jemand entsetzt. »Alle Versorgungsschiffe starten.«

»Zentrale!« schrie Agvuhrian ins Mikrophon. »Warum, zum Teufel, meldet sich denn niemand?«

Endlich wurde der Bildschirm hell. Der Diensthabende Offizier wurde sichtbar.

»Wir wissen bereits, was geschehen ist«, erklärte er.

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»Aber es gibt doch keine Startgenehmigung. Die Schiffe sollten zurückgehalten und als Versorgungsreserve benutzt werden.«

Der Offizier, ein Major der Solaren Flotte, gab sich Mühe, gelassen zu wirken, aber seine Hände, die für einen kurzen Augenblick auf dem Bildschirm sichtbar wurden, zitterten stark.

»Der Startbefehl kam vom Mond!« erklärte er. »Von Nathan!« erriet Agvuhrian. Der Major nickte. Agvuhrian verließ seinen Platz am Funkgerät

und trat zu seinen Mitarbeitern, die an der Transparentwand standen und den Start von fünftausend robotisch gesteuerten Versorgungsschiffen beobachteten.

»Da fliegen sie!« sagte Blerk verzweifelt. »Und ich hatte gehofft, daß wir wenigstens eines davon ausplündern könnten.«

*

Rhodan mußte sich gewaltsam von der

Vorstellung losreißen, daß er mit Nathan »sprach«. Sein direkter Partner war ein kleiner Computer,

der die Symbole des biopositronischen Riesengehirns in Worte umwandelte und aussprach. Ebenso wie Rhodan waren auch Mercant und John Marshall mit Nathan verbunden.

»Wahrscheinlich hast du bereits alle von der Erde eingetroffenen Berichte ausgewertet«, wandte sich Rhodan an Nathan. Diese Art der Verbindungsaufnahme war ungewöhnlich, sie wurde nur in äußerst seltenen Fällen praktiziert. Im allgemeinen wurde die Verbindung zu Nathan über das große Rechen- und Auswertungszentrum aufrechterhalten. Dort wurden Daten und Antworten in Form von Zahlen- und Buchstabenreihen geliefert.

»Die Auswertung läuft noch«, sagte eine angenehm klingende Stimme.

»Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen?« fragte Mercant.

»Dafür gibt es keine Erklärung!« lautete die prompte Antwort.

»Die Erkenntnis der Robotiker deutet an, daß der Fehler nur bei dir liegen kann«, sagte John Marshall.

»Wenn es einen Fehler innerhalb dieser Anlage gibt, wird er gefunden und beseitigt werden.«

Rhodan ahnte, daß sie auf diesem Weg nicht weiterkamen. Nathan schien von seiner Schuldlosigkeit überzeugt zu sein. Er konnte offenbar auch keinen Fehler finden.

Trotzdem gab es keinen Zweifel daran, daß Nathan die Verantwortung an allen schweren Zwischenfällen der letzten Tage trug.

»Auf der Erde ist jetzt bekannt geworden, wie es zu den Zwischenfällen kam«, nahm Rhodan die Unterhaltung wieder auf. Er saß auf einem kleinen Schemel in der Zelle und sprach in ein Mikrophon, das in Kopfhöhe vor ihm aus dem Instrumentenbrett ragte. Die Kontrolleuchten zeigten ihm an, daß die Verbindung weiterhin ungestört war.

»Eine erste Stellungnahme der parlamentarischen Opposition liegt bereits vor«, fuhr Rhodan fort. »Die Solare Ordnungsliga verlangt die sofortige Stillegung der Biopositronik.«

»Es erscheint unlogisch, eine Rechenanlage kurzzuschließen, die die Verantwortung über die meisten positronisch-mechanischen Bewegungsabläufe im Solsystem übernommen hat.«

»Das ist richtig«, gab Allan D. Mercant zu. »Was aber sollen wir tun, wenn es weiterhin zu schweren Störungen kommt?«

»Nach den vorliegenden Ergebnissen kann es zu keinen weiteren Störungen kommen, denn die Anlage ist völlig intakt.«

Rhodan seufzte. Nun waren sie wieder da angelangt, wo sie ihr Gespräch begonnen hatten. Er hatte befürchtet, daß sie Nathan auf diese Weise nicht beikommen konnten, aber er hatte es versuchen wollen.

Er schaltete die Sprechanlage ab und verließ die Zelle.

Professor Taychinger sah ihn erwartungsvoll an.

»Nichts!« sagte Rhodan. Der Wissenschaftler war enttäuscht. »Wir müssen weiterhin allein nach dem Fehler

suchen«, stellte Rhodan fest. »Was halten Sie davon, Nathan abzuschalten?«

fragte Ras Tschubai, der sich ebenfalls auf Luna aufhielt.

»Nichts«, entgegnete Rhodan. »Es wäre die schlechteste Lösung. Ich werde den Befehl zur Abschaltung Nathans nur geben, wenn eine Katastrophe für die Menschheit drohen sollte.«

Tschubai wollte etwas einwenden, doch in diesem Augenblick traf eine weitere Meldung von der Erde ein.

Vom Raumhafen in der Nähe Terrania-Citys waren fünftausend Versorgungsraumschiffe gestartet. An Bord dieser Schiffe hielt sich kein einziges lebendes Wesen auf. Sie wurden ausschließlich von Nathan überwacht und gesteuert. Die Raumschiffe versorgten die anderen solaren Planeten mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern aller Art.

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Ein Start war für den genannten Zeitpunkt nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Rhodan hatte Nathan befohlen, die Schiffe auf der Erde zurückzuhalten, damit sie im Notfall entladen werden konnten.

»Was bedeutet das schon wieder?« erkundigte sich Taychinger beunruhigt.

»Eine neue Eigenmächtigkeit Nathans!« vermutete Mercant. »Wenn wir die Sache überprüfen, werden wir feststellen, daß Nathan die Schiffe starten ließ.«

Rhodan ließ eine Direktverbindung zur Erde herstellen und sprach über Bildfunk mit Reginald Bull. Der Staatsmarschall war genauso verwirrt wie die Männer auf dem Mond.

»Der Start erfolgte ohne jede Vorankündigung«, berichtete Bull. »Die Schiffe müssen jetzt die Mondbahn kreuzen. Sie nehmen offenbar Kurs auf Jupiter.«

»Was hast du unternommen, Dicker?« erkundigte sich Perry.

Der Staatsmarschall hob die Schultern. »Was hätte ich tun sollen? Zwei

Wachraumschiffe folgen der Flotte. Außerdem werden die Schiffe von allen Raumstationen aus beobachtet.«

Andere Möglichkeiten gab es nicht. Rhodan wußte das. Man konnte keine Raumschiffe zurückrufen, die von Nathan aus programmiert und gesteuert wurden.

Der Großadministrator schüttelte den Kopf. Zwei schwere Zwischenfälle an einem Tag. Nathan schien tatsächlich verrückt zu spielen. Was war der Grund dafür? Warum konnten die Robotikspezialisten keine

Fehler finden? Rhodan verlangte eine erneute Kontrolle

Nathans. Eine blitzschnelle Überprüfung der Biopositronik ergab, daß immer noch keine Fehlerquelle gefunden worden war. Es bestanden jedoch keine Zweifel daran, daß der Befehl zum Start der Versorgungsflotte von Nathan gekommen war. Nathan bestritt jedoch, einen solchen Befehl gegeben zu haben.

Die Situation wurde immer komplizierter. Berichte über schwere Unruhen auf der Erde

trafen ein. Reginald Bull meldete sich abermals und beschwor seinen alten Freund, über TTV zu der Menschheit zu sprechen und ein paar Erklärungen abzugeben.

Rhodan jedoch zögerte. Er wußte, was man von ihm fordern würde. Aber Nathan war nahezu unersetzlich. Seine

Abschaltung hätte einen schweren Rückschlag bedeutet.

Der Großadministrator fühlte sich in die Enge getrieben. Die Situation spitzte sich immer mehr zu.

Während er darüber nachdachte, was er tun konnte, erreichte die Flotte der fünftausend Versorgungsschiffe den Planeten Jupiter.

*

Major Coover Leihan war ein kleiner,

griesgrämig wirkender Raumfahrer, der sich der Besatzung des Wachkreuzers THULE gegenüber im allgemeinen sehr zurückhielt. Am Abend des 26. Mai des Jahres 2841 jedoch gab Leihan seine fast sprichwörtliche Schweigsamkeit jedoch für eine halbe Minute auf. Ein Schwall von Verwünschungen kam über seine Lippen, dann wandte er sich an den Ersten Offizier der THULE.

»Sehen Sie das, was ich sehe, Martinson?« Captain Martinsons Gesicht war blaß. Er

konnte ebenso wenig wie Leihan verstehen, was sich zweihunderttausend Kilometer von ihnen entfernt im Weltraum abspielte.

»Es ist unglaublich, Sir!« stieß Martinson hervor.

Die THULE war einer der beiden Wachkreuzer, die die fünftausend Einheiten starke Versorgungsflotte bis zum Jupiter verfolgt hatte. Das zweite Schiff, die LINGSTER, schwebte ein paar hundert Meter von der THULE entfernt im freien Fall durch das Weltall.

Coover Leihan beugte sich vor, als wollte er sichergehen, daß er keine Einzelheit der unglaublichen Geschehnisse versäumte. Was er auf den Bildschirmen beobachtete, konnte keine Täuschung sein.

Es geschah tatsächlich. Es geschah, obwohl auf der Erde in diesem

Augenblick fast neun Milliarden Menschen ohne Nahrung waren.

Nacheinander stießen die Versorgungsschiffe in die obersten Schichten der Jupiteratmosphäre vor. Dort öffneten sich die automatisch gesteuerten Schleusen der Schiffe, und aus den Laderäumen stürzten riesige Pakete mit Nahrungsmitteln und anderen Bedarfsgütern. Die Pakete zerplatzten, und die Behälter verglühten in der Atmosphäre. Auf diese Weise entluden sich alle fünftausend Schiffe.

Major Leihan sagte mit unsicherer Stimme: »Eine Funkverbindung nach Luna.«

Wenige Sekunden später sah er das Gesicht Perry Rhodans vor sich auf dem Bildschirm. Er gab sich einen Ruck. Rhodan sollte nicht hören, wie verwirrt der Kommandant der THULE war.

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Der Major nannte seinen Rang und den Namen seines Schiffes, dann berichtete er über den Grund seiner Mission.

»Der Staatsmarschall hat mich bereits davon unterrichtet, daß zwei Wachkreuzer die Verfolgung der Versorgungsflotte übernommen haben«, sagte Rhodan ungeduldig. »Außerdem liegen uns die ersten Berichte der Jupiterstationen vor. Danach sollen die Schiffe ihr Ladegut über dem Jupiter abwerfen.«

»So ist es, Sir! Alle fünftausend.« Leihan konnte sehen, daß Rhodan sich zu

einem für den Major Unsichtbaren umwandte und mit ihm sprach. Als Rhodan sich wieder dem Raumfahrer zuwandte, wirkte sein Gesicht ungewöhnlich ernst.

»Welche Manöver führen die Robotschiffe in diesem Augenblick durch?«

Leihan beobachtete den Panoramabildschirm. »Sie formieren sich, Sir. Wenn mich meine

Erfahrung nicht trügt, würde ich sagen, daß sie sich für eine Rückkehr zur Erde vorbereiten.«

»Das dachte ich mir!« Obwohl es nicht üblich war, daß ein

Flottenoffizier in einer solchen Situation Fragen stellte, konnte Leihan sich nicht länger zurückhalten.

»Was bedeutet das alles, Sir? Warum haben die Schiffe ihre Fracht vernichtet, als sie gerade dringend gebraucht wurde?«

»Nathan gab den Befehl zum Start dieser Flotte«, erwiderte Rhodan. »Sie können zu Ihrem Stützpunkt zurückkehren, wenn es feststeht, daß die Robotflotte die Erde anfliegt.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Major Leihan ließ sich im Sitz zurücksinken und holte tief Atem.

»Das ist ja Wahnsinn!« stieß Martinson hervor. Der Kommandant nickte langsam. »Dieses verdammte Gehirn läuft offenbar

Amok«, sagte er. »Es wird Zeit, daß sie es abschalten.«

Die letzten Schiffe der Versorgungsflotte hatten sich ihrer Last entledigt und sammelten sich in der Nähe Jupiters. In Zehnerverbänden begannen die Schiffe zu beschleunigen und Kurs auf Terra zu nehmen.

»Sie kehren zurück, als wäre nichts geschehen!« stellte Martinson fest.

»Es sind schließlich nur Roboter«, sagte der Funker.

Leihan warf ihm einen Blick zu. »Auch Nathan ist nur ein Roboter.«

*

Die Sondersitzung des Solaren Parlaments in Terrania-Hall begann unmittelbar nach Mitternacht. Perry Rhodan war über Transmitter vom Mond nach Terra gekommen und saß zusammen mit Reginald Bull in der Loge der Administration.

Inzwischen war auf der Erde auch der Zwischenfall mit der Versorgungsflotte bekannt geworden, so daß sich die Stimmung noch verschlechtert hatte. Drei große Konzerne hatten schon am vergangenen Abend die Schließung ihrer Fabriken bekannt gegeben, denn sie arbeiteten ausschließlich mit von Nathan erstellten Grunddaten, den sogenannten Exportprogrammen. Die ersten Gerüchte über schlimme Ereignisse auf Luna kursierten, und ein Reporter von Terra-Television beschuldigte die Administration in Terrania-City offiziell der Verschleierung.

Als erster Redner trat Haarn Boyten von der Solaren Ordnungsliga an das Mikrophon. Seine Partei hatte einen Antrag zu dieser Sondersitzung eingebracht.

Haarn Boyten war Schatzmeister seiner Partei und gleichzeitig deren bester Redner. Außerdem galt Boyten als Favorit im Rennen um die Nachfolgeschaft des alten Karsten, der in einem halben Jahr den Parteivorsitz der Solaren Ordnungsliga niederlegen würde.

Boyten war mittelgroß, sein Gesicht war schmal. Eine scharfrückige Nase und schmale Lippen waren die äußeren Zeichen seiner Härte und seiner Entschlossenheit. Boyten war der beliebteste Politiker der Solaren Ordnungsliga.

Bully beugte sich zu Perry Rhodan hinüber. »Wie ich befürchtet habe – sie bringen zuerst

ihren Scharfmacher.« Rhodan, der tausend parlamentarische

Schlachten miterlebt hatte, blieb gelassen. Er lächelte seinem Freund zu.

»In dieser Stunde«, sagte Boyten, »trete ich nicht vor Sie als Vertreter meiner Partei. In dieser Stunde, da die Menschheit von einer schrecklichen Katastrophe bedroht wird, darf es weder Parteien noch Interessengruppen geben.« Boyten lehnte seinen Oberkörper zurück und ließ sich dann ruckartig nach vorn fallen, wobei er mit einer Faust auf das Rednerpult hieb. »Ich stehe hier als einer von neun Milliarden Menschen, die nicht wissen, wovon sie sich in den nächsten Tagen ernähren sollen. Ich stehe hier als einer von neun Milliarden Menschen, die sich fragen, was überhaupt noch geschehen muß, damit endlich etwas geschieht.«

Rhodan hörte nicht länger zu. Schon diese wenigen Worte genügten, um die Marschrichtung Boytens erkennen zu lassen.

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»Dieser Narr!« rief Bully wütend. »Er schürt noch die Angst, anstatt sie zu unterdrücken.«

»Das ist das Vorrecht der Opposition. Natürlich wird die Solare Ordnungsliga versuchen, uns an den Kragen zu gehen.«

Boyten begann jetzt lauter zu sprechen. Er steigerte sich in eine Erregtheit, die zweifellos nicht geschauspielert war. In den Minuten, die ihm als Redezeit zur Verfügung standen, glaubte Boyten an das, was er sagte. Das machte ihn so gefährlich. Er konnte überzeugen.

Boyten dramatisierte die Ereignisse. Er sprach von einem völligen Zusammenbruch der Wirtschaft und von einer Hungerkatastrophe. Das totale Versagen Nathans stand für ihn fest.

»Und wer«, rief er aus, »hat uns in diese Sackgasse geführt?« Sein Arm schnellte vor, und er deutete in Richtung der Loge, in der Rhodan und Bull saßen. »Die Verantwortlichen aus der Administration. Seit Jahrhunderten haben sie die Menschheit in Abhängigkeit gebracht. In die Abhängigkeit eines einzigen Roboters. Jetzt, da ihr mechanischer Gott versagt, wissen sie nicht, was sie tun sollen. Ihre Hilflosigkeit ist offensichtlich, denn sie haben mit solchen Zwischenfällen nicht gerechnet. In dieser Situation kann man nur hoffen, daß sich die guten Kräfte des Imperiums zusammenfinden und gemeinsam nach einem Weg aus dem Untergang suchen.«

Er erhielt tosenden Beifall von der gesamten Opposition.

Die Sprechanlage in der Administrationsloge summte.

»Möchten Sie antworten?« fragte der Parlamentspräsident.

»Natürlich!« sagte Rhodan und erhob sich. Er ging zum Rednerpult. »Ich möchte Ihnen zunächst eine Frage

stellen«, wandte Rhodan sich an den Schatzmeister der Solaren Ordnungsliga. »Haben Sie in Ihrem Haushalt einen Vorrat an Nahrungsmitteln angelegt?«

Boyten sprang von seinem Platz auf. »Nein!« schrie er. »Meine Familie wird ebenso

von Hunger bedroht wie alle anderen.« »Daraus schließe ich, daß auch ein so

weitblickender Mann wie Sie sich vollkommen auf Nathan verlassen hat«, sagte Rhodan freundlich. Er wandte sich an das Parlament. »Noch vor Tagesanbruch wird eine sechshundert Frachtschiffe starke Flotte mit Nahrungsmitteln auf Terra eintreffen. Außerdem haben wir dafür gesorgt, daß die Nahrungsmittel- und Bedarfsgüterindustrie ihre Produktion in den nächsten Stunden wieder aufnimmt. Von einer Hungerkatastrophe kann also nicht die Rede sein.

Es wird einen Engpaß geben, so daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß ein paar Menschen ein oder zwei Tage hungern müssen. Aber deshalb wird niemand sterben. Auch der Ausfall von fünftausend Versorgungsschiffen kann unsere solaren Planeten nicht bedrohen, es gibt auf allen Welten Vorratslager, die, so wissen wir inzwischen, gut gefüllt sind.«

»Wollen Sie leugnen, daß schon drei der größten Konzerne geschlossen haben?« rief ein Abgeordneter der Opposition. »Morgen werden sich alle großen Unternehmen anschließen.«

»Alle Fabriken, die mit Exportprogrammen Nathans arbeiten, werden sich für einige Zeit einschränken müssen«, gab Rhodan zu. »Aber wir werden den Fehler, der zu den Schwierigkeiten geführt hat, in kürzester Zeit finden.«

Nach Rhodan sprachen noch andere Abgeordnete. Die Rhodanisten riefen zur Mäßigung auf, obwohl ihre Unruhe unverkennbar war. Alle Abgeordneten der Opposition verlangten eine Abschaltung Nathans, und Haarn Boyten prophezeite in einer dramatischen Abschlußrede weitere Zwischenfälle, wenn die Administration nicht endlich entscheidende Schritte unternehmen würde.

Die Sondersitzung wurde gegen fünf Uhr morgens vertagt. Ein Ausschuß, dem Mitglieder der Regierung, der Opposition und parteilose Fachwissenschaftler angehörten, sollte den Fall überprüfen.

»Sie haben alle an der Sache vorbeigeredet«, beklagte sich Bully, als er zusammen mit Rhodan Terrania-Hall verließ.

Rhodan nickte nur. Die Reden der meisten Abgeordnete waren von Furcht bestimmt worden. Solange Nathan nicht abgeschaltet wurde, konnte es ständig zu neuen Zwischenfällen kommen, denn das gesamte Leben im Solsystem wurde praktisch vom Mond aus gesteuert. Von Nathan hing fast alles ab.

Eine Abschaltung des Riesenrechengehirns hätte ebenso katastrophale Folgen haben können wie weitere Zwischenfälle.

»Wir haben nur eine Wahl«, sagte Perry zu seinem Freund. »Wir müssen weiter nach dem Fehler suchen und ihn finden.«

Der Staatsmarschall blickte auf die Uhr. »Der Kristallprinz könnte inzwischen auf

Tahun gelandet sein.« »Ja«, bestätigte Rhodan. »Aber ich weiß nicht,

ob der Positronik-Boy uns helfen kann.« »Willst du seinen Einsatz dulden?« »Warum nicht? In dieser Situation greift man

nach einem Strohhalm.«

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»Dieses bedauernswerte Kind«, sagte Bully leise. »Manchmal frage ich mich, ob es nicht schamlos ist, was wir mit ihm machen.«

»Der Junge lebt«, antwortete Rhodan. »Eines Tages finden unsere Mediziner vielleicht einen Weg, ihn aus der Gruft holen zu können.«

»Du meinst für immer?« »Ja, für immer.«

3.

Die Sache mit der Flotte des Robotregenten

An Bord der Funkrelaisstation AXPRA hielten

sich siebzehn Besatzungsmitglieder auf. Kommandant der Station war Captain Yale Schmilling, der eine abgeschlossene Ausbildung als Hyperfunker besaß. Die AXPRA war zwischen Neptun und Uranus stationiert. Die Station war scheibenförmig, durchmaß einhundert Meter und war sieben Meter hoch. Zahlreiche Antennen und kuppelförmige Auswüchse ragten aus ihrer Oberfläche. Nach sechs Monaten Dienst wurde jede Mannschaft abgelöst; Schmilling und seine Mitarbeiter hielten sich an jenem 27. Mai des Jahres 2841 genau fünf Monate und sieben Tage an Bord der Station auf. Die Stimmung war entsprechend schlecht, obwohl sich die zehn Männer und sieben Frauen gerade während der letzten vierundzwanzig Stunden nicht über Langeweile zu beklagen brauchten. Ständig gingen Funknachrichten von der Erde an die Kolonialwelten. Antworten trafen ein, mußten entschlüsselt und an die Erde abgestrahlt werden. Fast alle Funkgespräche hatten das Problem Nathan zum Inhalt.

Yale Schmilling und seine Mannschaft wurden von der Nahrungsmittelknappheit nicht betroffen; an Bord der AXPRA lagerten Vorräte für insgesamt sieben Monate. Trotzdem machte Schmilling sich Sorgen, denn seine Frau und seine drei Kinder lebten auf der Erde.

Schmilling war dreiundvierzig Jahre alt, hochgewachsen und langsam in seinen Bewegungen. Er war Pfeifenraucher und bastelte in seiner Freizeit Modelle von Raumschiffen.

Es war mehr oder weniger Zufall, daß die Station AXPRA in der Nähe der alten Robotregenten-Flotte Position bezogen hatte. Diese Flotte aus alten arkonidischen Kampfschiffen verschiedener Größe war den Terranern von Atlan zur Verfügung gestellt worden. Da diese Schiffe jedoch nur Transitionstriebwerke besaßen, waren sie von den

terranischen Raumfahrern eingemottet worden und schwebten in dichten Pulks zwischen Neptun und Uranus. Seit Jahrhunderten trieben diese Schiffe auf weiten Bahnen um die äußeren solaren Planeten herum. Sie waren abrufbereit, denn sie wurden von ihren Robotbesatzungen ständig gewartet. Schon mehrmals war der Antrag gestellt worden, diese Schiffe zu demontieren, doch Perry Rhodan hatte sie als letzte Einsatzreserve zurückgehalten. Wiederholt war dem Großadministrator vorgeworfen worden, daß er diese Schiffe aus einer gewissen Sentimentalität heraus nicht vernichten ließ, doch Rhodan hatte solche Behauptungen ignoriert.

Wenn Captain Yale Schmilling durch das große Bullauge neben den Bildschirmgalerien und Kontrollinstrumenten blickte, konnte er ein halbes Dutzend Schiffe dieser Robotflotte mit bloßen Augen erkennen. Es waren winzige glitzernde Punkte, die das schwache Licht der Sonne reflektierten.

Schmilling lehnte sich in seinem Sitz zurück, ohne die Augen von dem Bullauge zu wenden. Er dachte an nichts Bestimmtes, sondern genoß die wenigen Minuten völliger Funkstille. Acht seiner Mitarbeiter hielten sich zusammen mit ihm in der Zentrale auf, die anderen schliefen in ihren Kabinen.

Als der Captain sich im Sitz umdrehen und mit Calpow Mattsen sprechen wollte, erloschen die sechs Lichtpunkte draußen im All.

Unwillkürlich zuckte Schmilling zusammen. Dann kniff er die Augen zu und beugte sich

nach vorn, um festzustellen, ob er sich vielleicht getäuscht hatte.

Die Schiffe blieben verschwunden. Schmilling sprang auf und schaltete die

Bildschirme der Raumortung ein. »Was ist passiert?« fragte der neben ihm

sitzende Mattsen irritiert. »Die Robotschiffe!« rief Schmilling. »Sie

bewegen sich.« Er regulierte die Feineinstellung. Auf den

Bildschirmen der Raumortung wurden jetzt Tausende von Lichtpunkten sichtbar, die sich alle bewegten.

»Das gibt es doch nicht!« brachte Mattsen hervor. »Sie bewegen sich alle. Was bedeutet das?«

Die anderen Besatzungsmitglieder waren aufmerksam geworden. Sie verließen ihre Plätze und drängten sich hinter Schmilling und Mattsen zusammen, um das unerwartete Schauspiel zu beobachten.

»Sie verlassen ihre Position«, stellte Ira Vantee, eine rothaarige Funktechnikern, fest.

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»Jemand muß sie abberufen haben!« sagte Mattsen.

Der rechts neben Schmilling stehende Funker zuckte mit den Schultern.

»Warum machen wir uns deshalb Gedanken? Rhodan wird wissen, warum er die Reserveeinheiten aus ihren Positionen abzieht.«

Schmilling antwortete nicht, sondern ließ sich am Hyperfunkgerät nieder.

»Auf jeden Fall werden wir Terra informieren!« entschied er.

Mattsen runzelte die Stirn. »Glaubst du etwa, daß man dort von diesen

Ereignissen nichts weiß?« »Ich bin nicht sicher!« Die Hände des Captains

glitten über die Schalttasten. Wenige Sekunden später war eine Verbindung zum Hauptquartier hergestellt.

Schmilling sprach mit einem Oberst der Solaren Abwehr, der von einem Abruf der Robotregent-Flotte nichts wußte, aber sehr aufgeregt wirkte, als er davon erfuhr.

»Der Großadministrator ist nach Luna zurückgekehrt. Ich werde ihn sofort unterrichten.«

Die Verbindung brach ab. Schmilling ließ sich in seinen Sitz fallen. »Da stimmt etwas nicht. Niemand scheint für

die Positionsveränderung verantwortlich zu sein.« Mattsen kratzte sich am Kinn. »Die Überwachung dieser Flotte untersteht

Nathan.« Die Raumfahrer und Techniker an Bord der

Station AXPRA sahen sich an. Sie ahnten, daß weitere Verwicklungen bevorstanden. Einmal mehr hatte die Riesenpositronik auf Luna eigenmächtig gehandelt.

»Ich frage mich, was Nathan mit diesen Schiffen vorhat«, sagte Schmilling leise.

Er ertappte sich dabei, daß er anfing, in Nathan ein lebendes Wesen zu sehen. Jahrelang hatte er sich bei der Erwähnung des Namens Nathan keine Gedanken gemacht. Jetzt dachte er an die Positronik wie an eine Person.

Er stieß eine Verwünschung aus. Die Verantwortlichen mußten doch in der Lage sein, auch mit dieser Krise fertig zu werden. Schmilling besaß kein Fachwissen, das ihn befähigt hätte, die Hintergründe der Vorfälle zu erkennen.

Er kannte jedoch die obersten Robotgesetze, die auch auf Nathan zutrafen.

Das Erste Gesetz besagte, daß kein Roboter einem Menschen Schaden zufügen durfte.

Die obersten Gesetze der Robotik waren auch in Nathan programmiert worden.

Trotzdem verstieß das größte Rechengehirn, das jemals von Menschen erbaut worden war, gegen diese Gesetze.

Ein Gefühl der Furcht machte sich in Schmilling breit. Er wußte, welchen Einfluß Nathan auf das tägliche Leben aller Menschen besaß. Wenn das Riesengehirn abgeschaltet werden mußte, konnte es zu einem Zusammenbruch der gesamten menschlichen Zivilisation kommen. Das Solare Imperium konnte einen Rückschlag erleiden, von dem es sich so schnell nicht wieder erholen würde.

Die Schiffe des Robotregenten von Arkon begannen zu beschleunigen.

»Sie setzen zu einer Transition an«, erkannte Mattsen. »Wenn sie alle gleichzeitig im Hyperraum verschwinden, wird es schwere Strukturerschütterungen geben.«

Wenige Augenblicke später geschah es: Die zwölftausend alten arkonidischen Schiffe erreichten die notwendige Anfangsgeschwindigkeit und transistierten.

*

LaParte stand am Rande der großen

Keveerwüste und wechselte das Antriebsrad seines Schleppers aus, als die Oberfläche des Planeten Mars sich plötzlich zu bewegen begann. Der Boden unter LaPartes Füßen schwankte heftig. Der Geologe verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Er hatte auf dem Mars noch nie ein Erdbeben erlebt und ahnte, daß es durch außergewöhnliche Umstände hervorgerufen wurde. Auf Händen und Knien kroch er über den Sand und zog sich in die Fahrerkabine des Schleppers. Als er die Funkanlage einschaltete, um Mars-Port zu rufen, bekam er keine Verbindung. Nur Störgeräusche drangen aus dem Sender.

Die Erschütterungen ließen an Intensität nach, verstärkten sich aber nach einiger Zeit wieder.

LaParte blickte aus der Kanzel des Schleppers. Im Hintergrund sah er seinen Assistenten Japin Delmond herankommen. Delmond versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten.

LaParte streckte den Kopf aus dem Seitenfenster.

»Japin!« schrie er. »Beeilen Sie sich!« Delmond winkte mit einer Hand, zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Dabei, überlegte LaParte, war der Platz im Schlepper auch nicht sicherer als der dunkelbraune Sand draußen in der Keveerwüste.

Endlich beruhigte sich der Planet. Als Japin Delmond in den Schlepper stieg, stieß

er die Luft aus und ließ sich auf den Sitz fallen.

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»Ich dachte immer, daß wir alles über diesen Planeten wissen.«

LaParte nickte langsam. »Das ist richtig. Das Beben ist nicht natürlichen

Ursprungs. Es wurde durch äußere Einflüsse hervorgerufen.«

Delmond sah ihn beunruhigt an. »Woran denken Sie?« »Ich weiß nicht, wodurch das Beben ausgelöst

wurde«, gab LaParte zu. »Es gibt zahlreiche Möglichkeiten.«

Er beschäftigte sich wieder mit dem Funkgerät. Endlich kam eine Verbindung mit der Forschungszentrale in Mars-Port zustande. Professor Valdenhooven meldete sich.

»LaParte!« rief er erleichtert. »Haben Sie dort draußen Schwierigkeiten?«

»Nein!« versetzte der Geologe grimmig. »Aber wir hatten bis vor wenigen Augenblicken ein mittelstarkes Beben.«

»Kein Wunder!« meinte der Professor. »Sie wissen also, wodurch es ausgelöst

wurde?« »Ja«, bestätigte der Wissenschaftler. »Vor

wenigen Augenblicken brachen etwa zwölftausend alte Arkonschiffe unweit des Mars aus dem Hyperraum.«

LaParte, der schon immer die Fähigkeit besessen hatte, schnelle Schlüsse zu ziehen, sagte impulsiv: »Nathan!«

»Wahrscheinlich«, erwiderte Valdenhooven vorsichtig.

»Und was geschieht jetzt?« erkundigte sich Japin Delmond.

»Sie sammeln sich«, berichtete Valdenhooven. »Es sieht so aus, als wollten sie den Mars angreifen.«

LaParte und sein Assistent sahen sich an. »Den Mars?« brachte LaParte schließlich

hervor. »Die Flotte ist alarmiert worden«, erwiderte

Valdenhooven. »Sie wird rechtzeitig hier sein, um das Schlimmste zu verhindern.«

LaParte blickte hinaus in die Wüste. Er hatte sich in diesem Gebiet immer sehr sicher gefühlt. Vielleicht würden hier in weniger als einer Stunde die ersten Bomben detonieren.

Delmond war blaß geworden. Er zerrte nervös am Haltegurt seiner Hose.

Die Verbindung nach Mars-Port wurde unterbrochen.

LaParte zog seine Wasserflasche hervor und nahm einen großen Schluck. Dann bot er die Flasche Delmond an. Der junge Mann schüttelte den Kopf.

LaParte grinste.

»Nervös?« »Wundert Sie das? »Eigentlich nicht«, gab LaParte zu. Er war ein

großer, eckig wirkender Mann, dem man anmerkte, daß er den größten Teil seines Lebens in der Einsamkeit zugebracht hatte. »Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Diese Robotschiffe sind viel zu alt, um uns gefährlich werden zu können.«

»Ich bin nicht so sicher«, sagte Delmond. »Sie haben einen Vorsprung. Die Bodenforts dieses Planeten können gegen eine so große Flotte nichts ausrichten.«

»Ich muß das Rad noch befestigen«, sagte LaParte. »Es besteht kein Grund, unsere Arbeit zu unterbrechen.«

Delmond schaltete den Systemsender ein. In den Sondernachrichten wurde gemeldet, daß es während des heftigen Bebens auf dem Mars drei Tote und zweihundertvierzehn Verletzte gegeben hatte. Der Schaden war noch nicht zu übersehen.

Über die Absichten der Robotschiffe sagte der Sprecher nichts. Offensichtlich sollte verhindert werden, daß es in den Städten des Mars zu einer Panik kam.

»Fertig!« rief LaParte und schwang sich wieder ins Innere des Fahrzeugs.

Delmond schaltete den Motor ein. Das schwere Fahrzeug machte einen Ruck. Dann rollte es langsam über den feinen Sand.

*

Zwei Minuten nach denn Auftauchen der alten

Arkonflotte in der Nähe des vierten Planeten startete die Hälfte aller auf Mars stationierten Einheiten der Solaren Flotte, um die im Anflug befindliche Robotflotte anzugreifen.

Die Verantwortlichen auf dem Roten Planeten hatten sofort Alarm und die notwendigen Befehle gegeben.

Perry Rhodan hatte unmittelbar nach Erhalt der Nachricht vom Aufmarsch der alten Kugelschiffe einen Teil der Solaren Flotte in Marsch setzen lassen. Zweitausend Schiffe waren unterwegs, um einen Angriff auf den Mars zu verhindern.

Der Großadministrator ordnete Katastrophenalarm an. Der Zwischenfall ließ sich nicht geheim halten. Er war einwandfrei auf einen Befehl des biopositronischen Gehirns Nathan zurückzuführen. Zwischen den Schiffen des Robotregenten und Nathan waren mehrere offene Funksprüche hin und her gegangen, die von terranischen Schiffen geortet worden waren.

Nathan selbst konnte zu den Ereignissen keine Erklärung geben. Das Riesengehirn gab zu, den

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Befehl zum Angriff auf den Mars gegeben zu haben. Für die Befehlsschaltung war jedoch nur ein kleiner Teil des Rechenzentrums verantwortlich. Nathan behauptete, daß er in seiner Gesamtheit nicht verantwortlich war.

Als der Zwischenfall auf der Erde bekannt wurde, kam es zu spontanen Demonstrationen gegen die Administration und Nathan. Die Menschen, die sich gerade von den ersten schweren Schocks erholt hatten, wurden erneut mit der Tatsache konfrontiert, daß die größte Biopositronik der Menschheit rebellierte.

Auf dem Mond berief Perry Rhodan eine Blitzkonferenz ein.

Es sollte über weitere Maßnahmen entschieden werden. Dabei war den Teilnehmern dieser Konferenz klar, daß es nur eine Lösung gab: Wenn weitere Gefahren abgewendet werden sollten, mußte Nathan abgeschaltet werden.

Zweihunderttausend Kilometer vom roten Planeten entfernt prallten die ersten Schiffe der Solaren Flotte mit den Robotschiffen zusammen. Der Vormarsch der arkonidischen Schiffe kam zum Stehen, denn sie waren in waffentechnischer Hinsicht den Einheiten der Solaren Flotte weit unterlegen.

Immer mehr terranische Schiffe tauchten innerhalb des gefährdeten Gebietes auf. In schweren Gefechten, die manchmal zu einer Raumschlacht ausarteten, wurden die Robotschiffe vernichtet. Nur zweihundertvierzig Einheiten blieben übrig. Sie zogen sich zurück, als sie einen entsprechenden Befehl von Nathan erhielten.

Auf dem Mars atmeten die Menschen auf. Die Gefahr war noch einmal abgewendet worden.

Aber auf allen Welten des Solsystems herrschte furchtsame Spannung.

Man wartete auf den nächsten Schlag der Riesenpositronik.

4.

Die Sache mit dem Schutzschirm Perry Rhodan stand am Fenster des großen

Kontrollturms und blickte über das Gebiet, wo sich die Zentrale der großen Biopositronik befand. Vor wenigen Minuten war ihm eine Resolution übergeben worden, in der führende Wissenschaftler eine Abschaltung Nathans verlangten. Eine zweite Resolution von Kommandanten der Solaren Flotte lag ebenfalls vor. Die Raumfahrer forderten sogar eine Vernichtung der Biopositronik. Auf der Erde wurde die Administration von mehreren hunderttausend Demonstranten umlagert, die

ebenfalls eine Vernichtung Nathans verlangten. Im Solaren Parlament hatte die Opposition einen Mißtrauensantrag eingebracht.

Rhodan fühlte sich immer mehr in die Enge getrieben. Er wollte der Menschheit diese unersetzliche Rechenzentrale erhalten, obwohl er wußte, daß sie zu einer Gefahr geworden war.

Pseudowissenschaftliche Erklärungen in den Massenmedien verunsicherten die Menschen noch mehr. Es gab Wissenschaftler, die nachwiesen, daß Nathan die Macht ergreifen wollte. Ernstzunehmende Robotiker schlossen nicht aus, daß eine Biopositronik von dieser Größe durchaus in der Lage war, ein Eigenbewußtsein zu entwickeln.

Dabei, dachte Rhodan ironisch, sah von hier oben alles so friedlich aus.

Er wandte sich zu Allan D. Mercant um. Der Abwehrchef senkte die Augen. »Ich fürchte, daß wir keine andere Wahl mehr

haben, Chef.« »Ja«, sagte Rhodan. »Um ein Chaos zu

vermeiden, muß Nathan abgeschaltet werden. Lassen Sie eine Ansprache über Terra-Television vorbereiten. Ich werde zu den Menschen sprechen und die Abschaltung Nathans bekannt geben.«

Niemand brauchte Mercant zu erklären, was dieser Entschluß für Perry Rhodan bedeutete.

»Nachrichten von Atlan?« fragte Rhodan. »Der Lordadmiral ist auf Tahun angekommen.«

Nach kurzem Zögern fügte Mercant hinzu: »Sie machen sich doch nicht etwa Hoffnungen wegen des Positronik-Boys?«

»Diese Situation läßt mich nach dem berühmten Strohhalm suchen«, meinte Rhodan. »Aber Sie haben sicher Recht, der Junge kann uns in dieser Situation nicht helfen.«

Mercant gab ein paar Befehle über Sprechfunk. Die Fernsehansprache Rhodans wurde vorbereitet. Bereits jetzt wurde sie überall angekündigt. Rhodan hoffte, daß er auf diese Weise zur allgemeinen Beruhigung beitragen konnte.

Eine halbe Stunde später saß er vor den Kameras von TTV.

*

»Obwohl keine direkte Gefahr für das Leben

von Menschen besteht, hat sich die Administration entschlossen, Nathan abzuschalten und nötigenfalls zu vernichten.« Die eigene Stimme kam Rhodan wie die eines Fremden vor. »Diese Sicherheitsmaßnahme geschieht im Interesse der Menschheit, die sich darüber im klaren sein muß, daß der Verlust Nathans ein schwerer Rückschlag sein wird.

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Auf dem Monitor wurden Bilder von der Mondoberfläche eingeblendet. Raumfahrer, Techniker und Kybernetiker wurden gezeigt. Sie trafen Vorbereitungen, um den Befehl der Administration durchzuführen.

»Sie werden auf dem Bildschirm die Abschaltung Nathans miterleben«, kündigte Rhodan an.

Er wollte verhindern, daß es zu Gerüchten kam. »Ich hoffe, daß ich bei meiner nächsten Rede

bessere Nachrichten für Sie haben werde«, schloß der Administrator. Er wurde ausgeblendet und erhob sich.

Mercant und Tifflor, die ihn während der Rede beobachtet hatten, kamen zu ihm.

»Sicher habe ich schon besser gesprochen«, sagte Rhodan. »Aber ich kann mich einfach nicht mit dem Gedanken an eine Zerstörung Nathans abfinden.«

»Wir verstehen Sie, Chef«, erwiderte Tifflor. »Uns geht es nicht anders. Aber wir haben offenbar keine andere Wahl.«

Rhodan blickte auf die Uhr. »Wann wird es soweit sein, Tiff?« »In einer knappen Stunde«, sagte Tifflor. »Vielleicht geschieht irgend etwas, das mir die

Möglichkeit gibt, diesen unsinnigen Befehl zu widerrufen.«

»Glauben Sie an Wunder?« fragte Mercant. »Ich sehne eines herbei!« Sie verließen den Aufnahmeraum. Sie begaben

sich ins Hauptquartier der Abwehr auf Luna. Dort hielten sich auch Marshall und Gucky vom Mutantenkorps auf. Die Mutanten bekamen noch immer keinen Kontakt zu der Zellmasse im Innern Nathans.

Rhodan wurde ständig über die Vorbereitungen zur Abschaltung Nathans unterrichtet.

Als die Spezialisten in Begleitung von zweihundert schwer bewaffneten Männern endlich aufbrachen, um die Biopositronik lahm zu legen, geschah etwas Unerwartetes.

Nathan riegelte sein Gebiet mit einem dreifachen Hochenergieüberladungsschirm ab. Davor lag ein undurchdringlicher Paratronschirm, der an seiner Außenhülle noch von einem auf mechanisch-paraphysikalischer Basis arbeitenden Rotationsformatorfeld verstärkt wurde. Der gesamte Bereich Nathans war damit mit einem Schlag völlig abgeriegelt.

Auf einem der Bildschirme im Hauptquartier konnte Perry Rhodan den kuppelförmigen Energieschirm sehen, der sich über der Anlage spannte.

Die Spezialisten und Soldaten befanden sich noch vor diesem Schirm.

Mercant war der erste, der sich von seiner Überraschung erholte.

»Nathan hat alle Funksprüche abgehört«, stellte er fest. »Die Biopositronik wußte, daß wir sie abschalten wollten und hat entsprechend reagiert.«

»Sie schützt sich auf jede nur mögliche Weise«, fügte John Marshall hinzu. »Jetzt müssen wir schon den gesamten Mond zerstören, wenn wir Nathan lahm legen wollen.«

»Man wird Ihnen vorwerfen, daß es ein Trick ist, Chef«, prophezeite Tifflor.

Rhodan mußte lachen. »Deshalb mache ich mir bestimmt keine

Sorgen.« »Ah!« rief Gucky. »Seht ihr nicht, daß er

erleichtert ist? Er freut sich geradezu über Nathans unerwartete Maßnahme, denn jetzt müssen wir erst durch die Energiebarriere, wenn wir das Gehirn abschalten wollen.«

Zunächst, gestand Rhodan sich ein, hatte er tatsächlich Erleichterung verspürt. Doch er war ehrlich gegen sich selbst. Diese Erleichterung war ein Trugschluß. Die Absicherung Nathans bedeutete weitaus mehr, als im Augenblick zu erkennen war.

Nathan handelte tatsächlich wie ein lebendes Wesen mit einem Eigenbewußtsein. Er hatte erfahren, daß er abgeschaltet werden sollte und alle nur denkbaren Schutzmaßnahmen ergriffen, um das zu verhindern.

Nun gab es keinen Zweifel mehr an der Rebellion der Biopositronik.

Nathan verfolgte eigene Ziele. Er arbeitete nicht länger für die Menschheit. Welche tief greifenden Veränderungen mußten

im Innern der Positronik geschehen sein? Was hatte die Menschheit in den nächsten

Tagen zu erwarten, wenn es nicht doch noch gelang, das große Rechenzentrum abzuschalten?

Professor Taychinger, der die Spezialisten geführt hatte, meldete sich über Funk.

»Etwas ist eingetreten, das wir auf Grund der letzten Ereignisse hätten voraussehen müssen«, sagte er zu Rhodan.

»Wir haben alles beobachtet«, erklärte Rhodan. »Sie können Ihre Männer zurückrufen. Vorläufig werden wir nichts unternehmen.«

Auf einem der Bildschirme wurde Taychingers Gesicht eingeblendet. Der Wissenschaftler trug einen flachen Helm.

»Wir haben einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen«, sagte Taychinger. »Auf jeden Fall hätten wir wissen müssen, daß Nathan alle Funkgespräche und TV-Sendungen verfolgt. Die Biopositronik weiß genau, was wir vorhaben. Entsprechend hat sie gehandelt.«

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»Es hat jetzt keinen Sinn, wenn wir uns Vorwürfe machen«, mischte sich Mercant ein. »Kommen Sie ins Hauptquartier, damit wir uns über die nächsten Schritte unterhalten können.«

Taychinger schien zu überlegen. Offenbar zögerte er, das Gebiet von Nathan zu verlassen.

»Wir müssen handeln, solange wir noch Gelegenheit dazu haben. Auf keinen Fall dürfen wir Nathan unterschätzen.«

»Sie wissen, daß wir im Augenblick nichts tun können.« Rhodan trat vor den Bildschirm. »Wir müßten den Mond zerstören, wenn wir Nathan vernichten wollten.«

Der Kybernetiker schloß die Augen und schüttelte den Kopf.

»Es muß auch eine andere Möglichkeit geben.« »Wir werden darüber nachdenken«, versprach

Perry. »Doch jetzt ist es besser, wenn Sie sich mit Ihrer Truppe zurückziehen, bevor es zu einer Auseinandersetzung mit Nathan kommt.«

Außer den Schutzschirmen besaß Nathan noch andere Waffen. Zahlreiche Mondforts wurden direkt von Nathan aus kontrolliert. Das Robotgehirn konnte jederzeit aus zahlreichen Geschützen das Feuer eröffnen.

»Wir mußten Spezialschiffe heranschaffen«, sagte Tifflor, nachdem Rhodan das Gespräch mit Taychinger abgebrochen hatte. »Vielleicht könnten wir mit Hilfe von schweren Desintegratorkanonen das zweiundvierzig Quadratkilometer große Gelände aus dem Mond schneiden.«

»Ist das Ihr Ernst?« entfuhr es Mercant. »Natürlich!« bekräftigte Tiff. »Sind Sie sich darüber im klaren, was das

bedeuten würde?« »Ich weiß, daß wir zahlreiche Werften,

Industrieanlagen und Hauptschaltstationen, die im Umkreis liegen, vernichten würden.« Tifflor trat an eine Karte der Mondoberfläche und zog mit dem Zeigefinger einen unsichtbaren Kreis um ein Gebiet, in dem auch Nathan lag. »Alles das wäre gefährdet. Aber ein solches Unternehmen wäre, wenn es Erfolg hätte, immer noch einer Vernichtung des gesamten Mondes vorzuziehen.«

»Ich werde eine entsprechende Meldung ans Hauptquartier geben, damit man ein paar Spezialschiffe mit schweren Desintegratoren ausrüstet«, entschied Rhodan. Dann jedoch biß er sich auf die Lippen. »Besser wird sein, wenn ich einen Kurier schicke, denn Nathan hört sicher nach wie vor alle Funkgespräche ab.«

Mercant warf einen nachdenklichen Blick auf die überall im Raum verteilten Instrumente.

»Vielleicht gibt es gar keine Möglichkeit, irgend etwas vor Nathan geheim zu halten. Es ist doch denkbar, daß er auf irgendeine Weise

mithören kann, worüber wir sprechen. Er hatte lange genug Zeit, um überall entsprechende Anlagen einzubauen. Hunderttausende von Robotern werden von ihm gesteuert.«

»Das wäre schrecklich«, sagte Rhodan leise. »Ein allgegenwärtiges Positronengehirn, dem nichts entgeht.«

Es ließ sich nicht länger leugnen, daß sie die Gefahr unterschätzt hatten. Nathan war zu einer systemumspannenden Bedrohung geworden.

Er war jetzt ein Feind der Menschheit. Wie hatte so etwas passieren können? fragte

Rhodan sich verzweifelt. »Ich wette, daß in ein paar Minuten die ersten

Anfragen von der Erde kommen, warum wir Nathan noch immer nicht abgeschaltet haben«, bemerkte Allan D. Mercant mit einem Blick auf die Uhr.

»Bestimmt sogar!« gab ihm Rhodan recht. »Doch das müssen wir jetzt ignorieren.«

»Was wollen Sie den Menschen sagen?« »Die Wahrheit! Beschönigungen haben jetzt

keinen Sinn mehr.« Ein Flottenoffizier kam herein. Rhodan schickte

ihn mit einer Nachricht für das Hauptquartier der Solaren Flotte wieder weg. Sekunden später meldete sich Reginald Bull, der sich auf der Erde aufhielt.

Das Gesicht des alten Freundes, das auf einem Bildschirm zu sehen war, drückte Sorgen aus.

»Soeben wurde bekannt, daß eine Abschaltung Nathans nicht möglich ist. Ein übereifriger Reporter hat es herausgefunden. Die Reaktion reicht von Resignation bis zu wilder Wut.«

Bully zeigte Rhodan ein paar Fernsehaufnahmen, die in diesem Augenblick in den Hauptstädten der Erde gemacht wurden. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. Niemand schien noch zu arbeiten. Die Demonstrationswelle hatte ihren Höhepunkt erreicht.

»Ich weiß nicht, wie lange du dich unter diesen Umständen noch halten kannst«, sagte Bull. »Die Solare Ordnungsliga spricht bereits von einer Notregierung, die die jetzige Administration ablösen soll.«

»Karsten und Boyten wissen genau, daß Sie nichts tun können«, antwortete Rhodan. »Im Grunde genommen haben sie Angst davor, daß ihr Mißtrauensantrag Erfolg haben könnte. Sie wüßten im Falle eines Sieges nicht, wie sie sich Nathan gegenüber verhalten sollten.«

»Boyten wirkt entschlossen«, warnte Bull. »Er würde den Befehl zur Vernichtung des Mondes geben.«

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»Das überlegt er sich dreimal«, behauptete Rhodan. »Außerdem ist es noch lange nicht soweit.«

Eine Stunde später traf eine Funknachricht von Nathan ein. Die Biopositronik stellte der Menschheit ein Ultimatum und verlangte die Macht im Solsystem und über das Solare Imperium.

5. Die Station »Parapsi-Abnorm II« auf Tahun

wurde von Dr. Dr. Pantam Nurherere geleitet. Nurherere war ein kleiner schwarzhäutiger Mensch, dessen Fachgebiete die Gehirnchirurgie und die Parapsychologie waren. Er galt als still und zurückhaltend; tagelang hielt er sich in seinen Arbeitsräumen auf, um irgendwelche Experimente durchzuführen.

So wunderte sich Atlan nicht, daß er nach seiner Ankunft auf Tahun in Nurhereres Station zwanzig Minuten warten mußte, bis der Mediziner endlich erschien.

Nurherere lächelte scheu, als er den Arkoniden sah.

»Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, Lordadmiral.«

»Man sagte mir, daß Sie eine für den Patienten lebenswichtige Operation durchführten«, erwiderte Atlan. »Sie brauchen sich also nicht zu entschuldigen.«

Nurherere wischte sich seine Hände am Kittel ab. Seine Bewegungen wirkten nervös, er vermied es auch, den Arkoniden direkt anzusehen, während sie gemeinsam das Büro des Arztes betraten.

»Wie ich hörte, gibt es im Solsystem Schwierigkeiten, Sir.«

»Mehr als das!« erwiderte Atlan verdrossen. »Die letzte Funknachricht, die ich bekam, läßt mich befürchten, daß Nathan sich endgültig gegen die Menschen gestellt hat. Als man ihn abschalten wollte, errichtete er alle verfügbaren Schutzschirme, um sich zu retten.«

»Ich habe mit einigen Kollegen über die Vorfälle der letzten Tage diskutiert«, berichtete der Mediziner. »Wir sind alle sehr bestürzt.«

Atlan ließ sich vor dem Schreibtisch Nurhereres nieder.

»Sie können sich denken, warum ich gekommen bin?«

Nurherere nickte. »Der Junge!« »Ja«, bestätigte Atlan. »Ich bin gekommen, um

ihn zu holen und zum Mond zu bringen.«

»Ich habe die ganze Zeit über damit gerechnet, daß jemand kommen würde, um ihn abzuholen«, bekannte Nurherere. »Als Arzt muß ich Ihr Ansinnen jedoch ablehnen. Sie wissen, daß Purp nur neunzehn Tage lebensfähig ist. Während dieser Zeit kann er das Problem Nathan sicher nicht lösen. Wer weiß, ob Sie ihn rechtzeitig zurückbringen würden? Sein Leben wäre in Gefahr.«

»Leben!« wiederholte Atlan sarkastisch. »Er schläft. Er schläft fast immer. Sie können es nicht riskieren, ihn immer wieder zu wecken. Wäre er normal und ein erwachsener Mensch, hätte er sich wahrscheinlich schon umgebracht.«

Der Arzt zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ich bin sein Arzt!« »Ich verstehe Ihre Bedenken, Doc! Trotzdem

werde ich ihn mitnehmen.« Nurherere streckte die Beine unter den Tisch

und faltete die Hände über dem Bauch. »Sie können sich natürlich über meine

Wünsche hinwegsetzen, Lordadmiral. Aber ich beschwöre Sie, Purpose DeStaglaav in seiner Energiegruft schlafen zu lassen.«

»Sie wissen offenbar nicht, worum es geht«, sagte Atlan erregt. »Die Menschheit wird von einer großen Gefahr bedroht. Nathan kann das gesamte Imperium zum Zusammenbruch bringen, wenn er weiterhin verrückt spielt.«

»Hier geht es um das Leben eines Menschen!« rief Nurherere. Seine Augen blitzten. »Dieser Junge kann vielleicht geheilt werden, wenn man ihn nicht immer wieder mit seiner unseligen Vergangenheit konfrontiert. Aber Sie wollen seine Heilung nicht, denn Sie brauchen ihn ja ab und zu.«

»Schon möglich«, sagte Atlan knapp. Nurherere starrte ihn wütend an. Da war nichts

mehr von Zurückhaltung an ihm festzustellen. Trotzdem sagte er: »Entschuldigen Sie diesen

Ausbruch, Sir. Natürlich weiß ich, daß Sie ebenfalls an der Heilung des Jungen interessiert sind.«

»Wir brauchen ihn«, sagte Atlan ruhig. »Ich bringe Sie zu ihm.« Sie verließen das Büro des Arztes und

gelangten durch eine Transmitterverbindung ins Zentrum der Station »Parapsi-Abnorm-II«.

Mit einem Antigravlift fuhren sie in die Station, die unter der Planetenoberfläche lag. Nachdem sie alle Kontrollen passiert hatten, gelangten sie in einen abgelegenen Teil von »Parapsi-Abnorm-II«. Hier unten war es so still, daß die Schritte der beiden Männer in den Gängen zu dröhnen schienen. Alle Räume und Korridore waren vollklimatisiert. Atlan befand sich zum sechsten

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Mal in dieser Umgebung, aber er fand die Stille und die Wände mit ihrem einfarbigen Anstrich noch immer deprimierend.

Der Diensthabende Arzt, ein schlanker Ara, erwartete sie am Eingang von Purps Gruft.

»Das ist Dr. Fetin-Rascha«, stellte Nurherere vor. »Er gehört zu dem Team von sieben Ärzten, die sich um den Positronik-Boy kümmern.«

Dr. Fetin-Rascha hatte einen starren Blick. Seine Haut sah wie Pergament aus. Die Hand, die er dem Arkoniden bot, war kalt und glatt.

»Öffnen Sie jetzt!« befahl Nurherere. Fetin-Rascha drückte auf einen Knopf neben

der Tür, die lautlos zur Seite glitt. Der Vorraum der Gruft wurde sichtbar. Hier standen ein Tisch, ein Sessel und ein Bett, auf dem sich der Diensthabende Arzt ausruhen konnte. Durch eine Transparentwand konnte man in die eigentliche Gruft blicken. Neben der Wand waren zahllose Instrumente angebracht, mit deren Hilfe man die Körperfunktionen des Schläfers kontrollierte.

Atlan trat dicht an die Glaswand. Er blickte in einen zehn mal acht Meter großen

Raum. Inmitten des Raumes schwebte ein junger Mensch unter einem Energieschirm. Dreißig Zentimeter unter dem Jungen befand sich die Projektionsplatte eines bettähnlichen Tisches.

Der Junge war nackt, so daß man sehen konnte, daß er sehr mager war.

Purpose DeStaglaav war zehn Jahre alt, aber er war in seiner körperlichen Entwicklung zurückgeblieben. Er war nur 1,30 Meter groß, seine rostroten Haare hingen lang und strähnig herab. Sein Gesicht war schmal, fast spitz, das Kinn ragte ebenso hervor wie die scharfrückige Nase. Obwohl der Junge schlief, standen seine Augen offen. Sie waren pechschwarz.

»Er hat sich äußerlich nicht verändert«, stellte Atlan fest. Unwillkürlich dämpfte er seine Stimme.

»Natürlich nicht«, antwortete Nurherere. »Seit seinem achten Lebensjahr ist diese Wachstumsstörung eingetreten.«

Atlan las das Zitat am Eingang der Gruft und lächelte.

»Welcher Kinderfreund hat das anbringen lassen?« erkundigte er sich.

»Ich«, sagte Nurherere. »Ich habe selbst zwei Kinder und liebe sie. Ich liebe auch diesen Jungen.«

»Sie bemitleiden ihn«, korrigierte der Arkonide.

»Wir lieben ihn alle«, sagte eine rauhe Stimme hinter ihnen. Es war der Ara. »Wenn Sie öfter mit ihm zu tun hätten, würden auch Sie ihn lieben.«

Atlan erinnerte sich an das ungewöhnliche Schicksal dieses Jungen.

Purpose DeStaglaav war an Bord eines Aussiedlerraumschiffes am 5. Mai 2831 geboren worden. Das Schiff war auf dem Planeten Arsuk-EX-9904 auf der Eastside der Galaxis, 32032 Lichtjahre von Terra entfernt, abgestürzt. Alle Kolonisten bis auf Purps hochschwangere Mutter wurden bei diesem Unglück getötet. Die Medo-Roboter und die Schiffspositronik funktionierten noch und halfen Purps Mutter, ihr Kind zur Welt zu bringen.

Unmittelbar nach der Geburt des Jungen starb die Frau und überließ ihr Kind einem ungewissen Schicksal. Doch Purpose DeStaglaav wurde von der Schiffspositronik und den Medo-Robotern ernährt und großgezogen. Purps Gehirn, von Natur aus latent parapsychisch begabt, reagierte auf die seltsame Erziehung durch Roboter unerwartet. Der Junge begann von frühester Kindheit an wie ein Roboter zu »denken« und zu handeln. Er erwarb sich einen natürlichen Instinkt und größtmögliches Verständnis für die Rechenvorgänge einer Positronik. Was sich in den ersten acht Jahren von Purps Leben zugetragen hatte, konnte niemals richtig ergründet werden.

Während der ersten Jahre seines Lebens entwickelte Purpose eine Psi-Fähigkeit, die später von USO-Spezialisten mit dem Begriff »Posipulsinkarnation« bezeichnet wurde.

Im Alter von sieben Jahren wurde der Junge endlich von einem USO-Kommando auf Arsuk-EX-9904 gefunden und nach Tahun gebracht. Der Gerettete war jedoch aus seiner gewohnten Umgebung gerissen worden und drohte zu sterben. Es gab keinerlei Heilmittel. Auch Psychologen und Mutanten versagten.

Es stellte sich heraus, daß das überzüchtete und zum abstrakten Denken erzogene Gehirn des Jungen in dieser für ihn fremden Umgebung nur neunzehn Tage überleben konnte. Danach mußte es zum Gehirntod kommen, zu einer Paraimplosion abstrakter Gehirnzellen.

Die Gefahr wurde rechtzeitig erkannt. Purp wurde in Tiefschlaf gelegt. Ab und zu weckte man ihn und erkannte dabei, daß Purpose DeStaglaav positronische Probleme schneller lösen konnte als jeder andere Mensch. Purp wurde mit jeder Positronik fertig. Der von Robotern und einer Positronik erzogene Junge konnte alle Fehler in einer Positronik entdecken.

Aber er durfte nie länger als neunzehn Tage wach bleiben, da er sonst vom Tod bedroht war.

Nach jedem Wiedererwecken mußte er mindestens so lange schlafen, wie man ihn bei Bewußtsein gehalten hatte.

Atlans Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Wahrscheinlich konnte niemand diesen

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Jungen richtig verstehen und behandeln. Nur in der Umgebung, in der er aufgewachsen war, hätte er halbwegs wie jeder andere Mensch leben können. Doch es war nicht mehr möglich, Purp in seine ursprüngliche Umgebung zurückzubringen: Längst war das Wrack des Aussiedlerschiffes samt Positronik weggeschafft worden, in der Nähe der Absturzstelle gab es jetzt eine große Stadt, in der der Positronik-Boy ähnliche Schwierigkeiten wie überall in der Zivilisation gehabt hätte.

Solange kein Heilmittel gefunden wurde, mußte Purp immer wieder in seine Energiegruft zurückkehren.

»Man sieht ihn nicht atmen«, sagte Atlan, um das Schweigen zu beenden.

»Seine Körperfunktionen sind auf ein Minimum reduziert«, erwiderte Nurherere.

»Wecken Sie ihn!« entschied Atlan. »Es wird vier Stunden dauern.« »Ich warte.« Nurherere und Fetin-Rascha begannen mit den

Vorbereitungen. Sie riefen zwei weitere Ärzte in die Gruft, damit sie ihnen helfen konnten. Atlan fühlte sich in die Rolle des Zuschauers gedrängt, er konnte nichts tun, um den Vorgang zu beschleunigen.

Trotzdem blieb er in der Station, denn er wollte sofort nach der Wiedererweckung mit dem Positronik-Boy sprechen. Er wußte, daß das nicht ganz einfach sein würde. Unterhaltungen mit Purpose DeStaglaav waren niemals einfach.

Atlan fragte sich, was inzwischen im Solsystem geschehen sein mochte.

Vielleicht konnte Purpose DeStaglaav nichts mehr retten. Nathan war schließlich nicht irgendeine Positronik.

Trotzdem setzte Atlan seine ganze Hoffnung in den Jungen.

Wenn es überhaupt einen Menschen gab, der eine Verständigung mit Nathan herbeiführen konnte, dann war es dieses magere Kerlchen, das jetzt nach einem Jahr wieder geweckt wurde.

*

Der siganesische Wissenschaftler, der mit

einem Spezialraumschiff siganesischer Bauart auf Luna gelandet war, stand vor Rhodan auf dem Tisch und schrie den Großadministrator an, um sich über den allgemeinen Lärm hinweg verständlich zu machen.

»Sagen Sie den Kerlen, daß sie endlich den Mund halten sollen!« Dr. Croly Edosman zog die Augenbrauen zusammen. »Ich bin nicht hierher gekommen, um mir die Trommelfelle ruinieren zu lassen.«

Rhodan stand auf und klatschte in die Hände. »Ich bitte um Ruhe!« rief er den heftig

diskutierenden Wissenschaftlern und Spezialisten zu. »Unser siganesischer Gast möchte etwas zu der Theorie sagen, nachdem die auf Siga konstruierten und innerhalb Nathans arbeitenden Mikroroboter für die Katastrophe verantwortlich sein könnten.«

»Ganz recht!« bestätigte das Männlein auf dem Tisch. »Aber als Wissenschaftler kann man erwarten, daß man respektiert wird.«

Er stolperte über eine Heftklammer und wäre fast vom Tisch gefallen.

Rhodan hielt den Zeigefinger an den Tischrand und fing den Wissenschaftler damit auf. Trotz des Größenunterschieds konnte er registrieren, daß Croly Edosman ihm einen bösen Blick zuwarf.

»Lassen Sie das!« Edosman glättete seinen Rock. »Schließlich bin ich kein Kind mehr.«

Die Konferenzteilnehmer versammelten sich um den Tisch.

»Sie können beginnen«, sagte Rhodan zu dem Siganesen.

»Gut! Hier wurde vermutet, daß die von uns gebauten und in Nathan tätigen Roboter in irgendeiner Weise die Verantwortung für das katastrophale ... äh ...« Er unterbrach sich und sah Rhodan an. »Die Luft in diesem Raum ist trocken. Geben Sie mir etwas zu trinken, damit meine Stimme nicht versagt.«

»Hm!« Rhodan sah sich nachdenklich um. »Ich fürchte, wir haben keinen passenden Behälter, aus dem Sie trinken könnten.«

»Ich habe schon davon gehört, daß die Gastfreundschaft der Terraner alles andere als vorbildlich ist.« Er machte eine bedauernde Geste. »Im Notfall trinke ich auch aus einer Flasche.«

»Um so besser!« meinte Rhodan. Er hob den Spezialisten hoch und trug ihn zum Wasserbehälter.

Croly Edosman schüttelte sich, als er Rhodans Ziel erkannte.

»Doch kein Wasser!« Er wand sich in Rhodans Hand. »Wenn ich von einer Flasche spreche, denke ich doch nicht an Wasser.«

»Und woran denken Sie?« Croly Edosman vergaß seine akademische

Ausbildung und versuchte Rhodan in den Daumen zu beißen. Doch das gelang ihm bei aller Anstrengung nicht.

Rhodan trat an einen Wandschrank und öffnete ihn.

Edosman bekam glänzende Augen, als er die Flaschen vor sich stehen sah.

»Das ist richtig!« jubelte er.

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Rhodan nahm eine Flasche heraus und trug sie zusammen mit dem Siganesen zum Tisch zurück. Dort stellte er Edosman und die Flasche ab.

»Zufrieden?« Croly Edosman blickte zu ihm herauf. »Und wie soll ich trinken?« »Das ist Ihr Problem!« Der Siganese breitete die Arme aus und

versuchte die Flasche zu umarmen, um auf diese Weise an ihr hochzuklettern. Als ihm dies nicht gelang, zog er einen winzigen Antigravprojektor aus seiner Gürteltasche und schaltete ihn ein. Dann schwebte er zum Flaschenhals hinauf.

»Öffnen Sie bitte den Verschluß!« rief er Rhodan zu.

Rhodan tat ihm den Gefallen. Die Wissenschaftler, die die Szene beobachteten, gaben Mißfallenskundgebungen von sich. Rhodan ließ den Siganesen jedoch gewähren. Ein bißchen Abwechslung konnte den unter ständiger Anspannung stehenden Spezialisten nichts schaden.

Croly Edosman schwebte jetzt genau über dem offenen Flaschenhals.

Langsam ließ er sich abwärts sinken. Er landete am Rand der Öffnung und hielt sich fest. Dann streckte er einen Arm in die Flasche und schöpfte mit der hohlen Hand Flüssigkeit heraus. Nachdem er getrunken hatte, kehrte er zur Tischplatte zurück.

»Wollen Sie ihn nicht endlich dazu bringen, daß er uns die gewünschte Auskunft gibt, Sir?« rief einer der Kybernetiker.

»Nur nicht ungeduldig werden!« ermahnte ihn Croly Edosman. »Ich versichere Ihnen, daß die auf Siga produzierten Mikroroboter nichts mit dem Versagen Nathans zu tun haben. Es gibt zwar einige tausend dieser Roboter im Innern Nathans, aber sie sind alle auf eine bestimmte Aufgabe spezialisiert und könnten gar nicht in einer Weise tätig werden, die solche Folgen hätte, wie wir sie jetzt beobachten können. Es gibt Mikroroboter, die für die Sauberkeit im Innern Nathans verantwortlich sind und andere, die Reparaturen ausführen. Die Reinigungsroboter können die Arbeit der Reparaturroboter nicht erledigen, umgekehrt ist es genauso.«

»Das bestätigt nur unsere Meinung«, meldete sich Taychinger zu Wort. »Wir haben nie daran gezweifelt, daß die Roboter harmlos sind, aber wir wollten es uns noch einmal von einem siganesischen Spezialisten bestätigen lassen.«

Edosman breitete die Ärmchen aus. »Ich bin hier im Dienste der Wissenschaft und

jederzeit bereit, Ihnen weiterhin Rede und Antwort zu stehen.« Er kämpfte gegen einen gewaltigen

Schluckauf, konnte ihn aber nicht unterdrücken. Sein gesamter Körper wurde erschüttert. Er mußte sich auf einen Papierstapel setzen.

»Sie können sich jetzt in Ihr Quartier begeben und sich ausruhen«, bot Rhodan an.

»Aber nein!« protestierte der Zwerg entschieden. »Ich will auch weiterhin an ...«

Er unterbrach sich und starrte mit offenen Augen auf eine Stelle zwei Meter neben Perry Rhodan, wo in diesem Augenblick die Luft zu flimmern begann.

Gucky materialisierte. Edosman streckte ein Ärmchen aus, deutete auf

den Ilt und rief entsetzt: »Wer ist dieses Tier und woher kommt es?«

Der Mausbiber machte einen Schritt auf den Tisch zu und trommelte angriffslustig mit dem Schwanz auf den Boden.

»Du grünhäutiges Monstrum!« fuhr er den Siganesen an. »Ich bin Birschon, der Siganesenfresser.«

Edosman zog ein mikroskopisch kleines Messer und fuchtelte damit in der Luft herum.

»Nur keine Angst!« beruhigte ihn Rhodan. »Das ist Gucky!«

»Ich habe mir Gucky immer ganz anders vorgestellt«, erklärte der Spezialist.

Gucky stemmte die Arme in die Seite. »So?« erkundigte er sich mißtrauisch. »Wie

denn?« »Seriöser!« Edosman kratzte sich am

Hinterkopf. »Der Kerl sieht ja aus wie ein Tier!« Wie von unsichtbaren Kräften bewegt, hob

Croly Edosman plötzlich von der Tischplatte ab und flog auf die Flasche zu, die noch immer neben ihm stand. Er zappelte mit den Beinen.

»Hilfe!« schrie er. »Was bedeutet das schon wieder?«

Über dem Flascheninhalt kam er einen Augenblick zum Stillstand, dann stürzte er in die Flasche. Man sah ihn in der braunen Flüssigkeit herumschwimmen.

»Du kannst die Flasche jetzt schließen«, sagte der Ilt zu Rhodan.

Der Großadministrator hielt den kleinen Finger in den Flaschenhals und Croly Edosman klammerte sich daran fest.

Rhodan zog den Siganesen heraus. Edosman verdrehte die Augen. »Was für ein ... hicks ... herrliches Bad«, sagte

er. »Schade, daß es auf ... hicks ... Siga nicht solche Badehäuser gibscht.«

»Gibt!« verbesserte Gucky. »Das meine ich ja auch«, versetzte Edosman.

»Gibscht!«

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Er schwankte über den Tisch und kam zwischen zwei Papierstapeln zu Fall. Dort blieb er liegen.

Gucky wandte sich an Perry Rhodan. »Es gibt Neuigkeiten«, berichtete er. »John und

ich haben einen schwachen Impuls des in Nathan verankerten Zellplasmas empfangen.«

Augenblicklich wurde es im Konferenzraum still. Rhodan und die Wissenschaftler sahen den Ilt erwartungsvoll an.

»Es war eine Nachricht«, fuhr Gucky fort. »Das Plasma teilte mit, daß jemand in ihm ist und Nathan zwangsmanipuliert wird.«

»Bist du sicher?« rief Rhodan. »Da John und ich diesen Impuls gleichzeitig

empfingen, obwohl wir in verschiedenen Räumen waren, ist ein Irrtum ausgeschlossen.«

Rhodan schnippte mit den Fingern. »Also doch!« stieß er hervor. »Es gibt irgend

jemand, der Nathan beeinflußt.« »Das muß eine Täuschung sein«, behauptete

Taychinger. »Wer sollte sich innerhalb Nathans aufhalten? Er wäre von den Mutanten und den Kontrollen längst entdeckt worden!«

»Aber die Botschaft kam von dem Zellplasma!« beharrte der Ilt.

»Das bestreite ich nicht«, sagte der Kybernetiker. »Aber es kann sich um ein Täuschungsmanöver handeln. Vielleicht will uns das Plasma auf eine falsche Spur locken?«

»An der Loyalität des Zellplasmas besteht kein Zweifel«, mischte sich Tifflor ein. »Wenn diese Nachricht von ihm kommt, ist sie in jedem Fall richtig.«

Rhodan hob beide Arme. Sofort trat Ruhe ein. »Vielleicht gehen wir von einer falschen

Voraussetzung aus«, überlegte er. »Es muß ja nicht unbedingt ein menschliches Wesen sein, was sich im Innern Nathans aufhält. Es kann sich auch um etwas anderes handeln.«

»Aber was könnte es sein?« fragte ein Wissenschaftler.

Croly Edosman, der die gleiche Frage gehört hatte, hob mühselig den Kopf und lallte: »Das ist beschtimmt diescher Brischon, diescher Schiganeschenfrescher.«

Sein Kopf fiel auf die Tischplatte zurück. »Wenn wir die Antwort auf diese Frage finden,

haben wir das Rätsel von Nathans Versagen gelöst.« Rhodan blickte sich im Kreis der Versammelten um. »Auf jeden Fall wissen wir jetzt, daß Nathan unschuldig ist. Er wird zu dieser Handlungsweise gezwungen.«

»Wir müssen versuchen, noch einmal mit Nathan zu sprechen«, schlug Mercant vor.

»Keine schlechte Idee«, stimmte Rhodan zu. »Gehen wir.«

Sie verließen nacheinander den Konferenzraum.

Die ungewöhnliche Stille brachte Croly Edosman, den man in der allgemeinen Aufregung völlig vergessen hatte, noch einmal zur Besinnung.

Er zog sich am Papierstapel hoch und verdrehte die Augen.

»Bademeischter!« rief er. »Heben Sie mich bitte wieder in die ... hicks ... Flasche.«

6. Purpose DeStaglaav sank auf das tischähnliche

Gestell hinab. Sein Körper wurde schlaff. Der Energieschirm über ihm erlosch.

Dr. Nurherere deutete auf den Eingang zum Schlafraum.

Nur Nurherere, der Ara und Atlan begaben sich in die Gruft. Die anderen Ärzte blieben im Vorraum zurück.

»Sie müssen ihm Zeit lassen«, wandte Nurherere sich an den Arkoniden. »Er findet sich nach dem Erwachen immer sehr schwer zurecht.«

Sie nahmen neben dem seltsamen Bett Aufstellung. In der Gruft war es sehr warm.

Atlan blickte in das Gesicht des Jungen. Die Augen Purposes waren jetzt geschlossen. Das Gesicht sah weder jungenhaft noch weich aus, aber es war auch nicht hart.

Ausdruckslos! dachte Atlan unwillkürlich. »Kann er uns schon hören?«

»N ei n!« sagte der Ara. Der USO-Chef konnte Purp jetzt atmen sehen.

Die Brust des Jungen hob und senkte sich gleichmäßig.

Dann öffnete der Positronik-Boy die Augen. Niemals zuvor hatte Atlan solche Augen

gesehen. Sie wirkten verträumt und zwingend zugleich. Sie schienen ein eigenes Leben zu besitzen.

Atlan wollte etwas sagen, doch Nurherere, der ihn beobachtete, hob warnend die Hand.

Der Arkonide schwieg und beschränkte sich darauf, Purpose DeStaglaav zu beobachten.

Nach einiger Zeit bewegten sich die Augen des Jungen hin und her. Obwohl er die drei Männer alle ansah, schien er sie nicht zu erkennen.

Nurherere beugte sich über den Tisch. »Purp«, sagte er sanft. »Du bist jetzt wach,

Purp.« »Ja«, sagte Purp. Seine Stimme war klar und

laut. »Ich kann feststellen, daß ich wach bin.«

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»Laß dir Zeit, Purp«, beschwor ihn Nurherere. »Du darfst nichts überstürzen.«

»Warum ist Jotos nicht dabei?« erkundigte sich Purpose DeStaglaav.

»Jotos hält sich zur Zeit nicht auf Tahun auf«, erklärte Nurherere. »Mein Sohn besucht die Weltraumakademie auf Terra.«

»Wie schade«, bedauerte Purp. »Jotos ist sehr schön unkompliziert. Man kann sehr leicht mit ihm Übereinstimmung in einfachen Dingen erzielen.«

Atlan hörte Purpose DeStaglaav nicht zum ersten Mal sprechen. Deshalb war er über die seltsame Redeweise des Jungen nicht erstaunt.

»Du hast Besuch, Purp«, sagte Nurherere nach einiger Zeit.

»Der Mann mit dem Silberhaar!« DeStaglaav drehte den Kopf – es war seine erste deutlich sichtbare Bewegung – und sah Atlan direkt an.

Der Arkonide wollte ein Lächeln aufsetzen, aber unter dem Blick des Jungen wurde eine Grimasse daraus.

»Du kennst mich also noch, Purp?« »Natürlich kennt er Sie!« warf Nurherere bissig

ein. »Er vergißt niemals etwas, schon gar nicht irgendein Gesicht.«

»Kann ich jetzt mit ihm über alles sprechen?« fragte Atlan.

»Später«, sagte der Mediziner. »Er muß sich erst an das Wachsein gewöhnen.«

Er faßte Purp am Arm. »Richte dich langsam auf«, forderte er den

Positronik-Boy auf. »Du darfst dich nicht gleich zu sehr anstrengen.«

Purp schwang langsam die Beine über den Tisch. Die Kleider, die Fetin-Rascha für ihn hergerichtet hatte, fielen dabei auf den Boden. Atlan hob sie auf.

Purpose DeStaglaav saß zusammengekrümmt auf der Tischkante. Jede Bewegung tat ihm weh, das konnte man seinem Gesicht ansehen.

»Wie lange habe ich geschlafen?« erkundigte er sich.

»Ein Jahr!« Nurherere reichte ihm einen Kalender.

»Ein Jahr, sechs Tage, drei Stunden und sechzehn Minuten«, stellte der Junge fest. »Wahrscheinlich hat der Mann mit dem Silberhaar gefordert, daß man mich aufweckt. Oder hat man eine Methode gefunden, damit ich ungefährdet länger als neunzehn Tage wach bleiben kann?«

»Noch nicht«, bedauerte Fetin-Rascha. »Aber wir werden dir eines Tages helfen können.«

»Sie wirken sehr entschlossen«, gab Purpose zu. »Aber natürlich hat Ihre Wissenschaft noch andere Aufgaben.«

Atlan reichte dem Jungen die Kleider.

»Zieh dich jetzt an, ich werde dir helfen.« Purpose brauchte ein paar Minuten, bevor er

sich angezogen hatte. In dem weiten Umhang sah er noch magerer aus. Ohne seine seltsamen Augen hätte er häßlich ausgesehen.

Nurherere und Fetin-Rascha halfen ihm vom Tisch. Als sie ihn losließen, stand er einen Augenblick schwankend da, dann machte er einen Schritt auf den Ausgang zu.

Die drei Männer blieben dicht hinter ihm. Die Ärzte im Vorraum begrüßten Purpose mit

Applaus. Sie hatten ein paar Geschenke für den Positronik-Boy bereitgestellt, unter anderem eine Pflanze von Arsuk-EX-9904.

Atlan wandte sich ärgerlich an Nurherere. »Sie wissen, daß dafür keine Zeit ist. Trotzdem

haben Sie zugelassen, daß dieses Schauspiel inszeniert wurde.«

Der Mediziner antwortete nicht. Er beobachtete Purp, der vor seinen Geschenken stand und eine Hand nach der Pflanze ausstreckte.

Atlan fragte sich, ob es vernünftig war, wenn man den Jungen immer wieder auf diese Weise an seine Vergangenheit erinnerte.

Purp berührte die Pflanze. Eine Weile stand er da, dann wandte er sich plötzlich zu Atlan um.

»Sie sind ungeduldig!« stellte er fest. »Ich muß mit dir reden«, sagte der Arkonide.

»Es gibt Arbeit für dich, deshalb haben wir dich geweckt.«

»Für neunzehn Tage?« »Ich weiß nicht, ob es so lange dauern wird,

aber es ist ein schwieriges Problem.« »Können wir das nicht im Büro erledigen?«

mischte sich Fetin-Rascha ein. »Meinetwegen«, stimmte Atlan zu. »Aber wir

wollen uns beeilen.« Purpose DeStaglaav, genannt der Positronik-

Boy, wurde auf eine Antigravtrage gebettet und weggefahren. Fetin-Rascha und seine Kollegen blieben innerhalb der Station zurück. Nur Nurherere und Atlan begleiteten den jungen Mutanten.

Auf dem Weg nach oben schlief Purp ein. Das Wachsein war für ihn in den ersten Stunden immer sehr anstrengend. Nurherere schickte alle seine Mitarbeiter hinaus, so daß er mit Atlan und dem Jungen allein war. Dann weckte er DeStaglaav wieder.

»Du kannst während des Fluges nach Luna schlafen«, sagte der Arkonide. »Aber ich will dir bereits jetzt sagen, worum es geht.«

Er berichtete dem Jungen in allen Einzelheiten, was in den letzten Tagen geschehen war. Purpose hörte schweigend zu. Durch keine Geste gab er zu verstehen, was er von der Sache hielt.

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»Glaubst du, daß du etwas erreichen kannst?« fragte Atlan abschließend.

»Es hört sich alles sehr kompliziert an«, erwiderte Purpose. »Ich halte es für unmöglich, daß eine Positronik aus eigenem Antrieb auf solche Weise reagiert. Sie muß falsch programmiert oder manipuliert worden sein.«

»Aber wir konnten bisher keinen Fehler finden«, sagte Atlan. »Jetzt ist die Situation noch schlimmer, denn Nathan hat sich abgeriegelt und niemand kommt zu ihm hinein. Das ist unser Hauptproblem. Vielleicht gelingt es dir, eine vernünftige Verbindung mit Nathan herzustellen und in sein Gebiet vorzudringen.«

Der Positronik-Boy schwieg. Es war nicht festzustellen, ob er über das Problem nachdachte oder sich nur ausruhte.

»Er wird jetzt keinen Kommentar abgeben«, meinte Nurherere.

»Am besten bringen wir ihn jetzt an Bord meines Schiffes.«

Der Mediziner rief zwei Männer herein, die den Transport des Jungen übernehmen sollten.

Auch Atlan brach auf. Als er sich von Nurherere verabschiedete, sah ihn der Mediziner ernst an.

»Sie haben jetzt die Verantwortung für diesen Jungen.«

»Schon gut!« beschwichtigte ihn der Lordadmiral. »Sie brauchen sich um Purp keine Sorgen zu machen.«

»Er hat Vater und Mutter niemals kennengelernt«, erinnerte der Arzt. »Seine Eltern waren Roboter und eine Schiffspositronik. Von ihnen wurde er erzogen. Trotzdem ist er ein Kind.«

»Ja«, sagte Atlan und wandte sich zum Gehen. »Man weiß Kinder nicht zu behandeln, wenn

man sie nicht liebt!« rief ihm Nurherere nach. »Ich werde daran denken!« versprach der

Arkonide.

* Als Atlan gerade die Zentrale der

IMPERATOR verlassen wollte, wurde er über Funk davon benachrichtigt, daß Purpose DeStaglaav seine Kabine verlassen hatte.

Dr. Flothin, der Bordarzt, erkundigte sich, ob er Purp zurückholen sollte.

»Ich werde mich um den Jungen kümmern«, sagte Atlan. »Lassen Sie ihn vorläufig in Ruhe. Wissen Sie, wohin er gegangen ist?«

»Vermutlich ins Bordobservatorium.« »Benachrichtigen Sie Dr. Stacco, daß man Purp

nicht stören soll, wenn er ins Observatorium kommt.«

Der Mediziner verzog mißbilligend das Gesicht, dann wurde der Bildschirm wieder dunkel. Atlan verließ die Zentrale und begab sich zum nächsten Antigravschacht. In wenigen Augenblicken hatte er das Bordobservatorium erreicht.

Als er eintrat, wurde er von Bordastronom Wayu Stacco begrüßt. Der hagere Astronom deutete zur Beobachtungskuppel inmitten des Raumes hinauf.

»Er ist dort oben«, erklärte er. »Er sagte kein Wort, als er hereinkam.«

Atlan blickte in die angegebene Richtung, unmittelbar unter der Kuppel hockte Purpose DeStaglaav und starrte in den Weltraum hinaus. Auf der Plattform unter der Kuppel sah er verloren aus. Niemand war bei ihm.

»Werden Sie zu ihm gehen, Sir?« »Ja«, sagte Atlan. Er stieg die schmale Treppe zur Plattform

hinauf und machte dabei absichtlich Lärm, damit Purp ihn hören konnte. Doch der Junge drehte den Kopf nicht zu ihm um. Wie erstarrt saß er da und betrachtete die Sterne.

Atlan blieb am Rande der Plattform stehen. Etwas von der Einsamkeit des Jungen griff auf ihn über. Der Arkonide rührte sich nicht. Plötzlich war er sicher, daß Purp wußte, wer hinter ihm stand. Minutenlang bewegten sich der Mann und der Junge nicht.

»Wie alt sind Sie eigentlich?« fragte DeStaglaav unvermittelt.

Unwillkürlich war Atlan zusammengezuckt. »Ist das so wichtig? Mehr als zehntausend

Jahre.« »Wie lange dauern für Sie neunzehn Tage? Wie

empfinden Sie einen solchen Zeitraum?« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

Atlan überquerte die Plattform und ließ sich in einem der freien Sessel neben Purpose nieder. »Wahrscheinlich ist es relativ. Neunzehn Tage können sehr kurz aber auch sehr lang sein.«

»Ich möchte gern viele Planeten sehen«, erklärte Purpose. »Aber ich werde wohl kaum Gelegenheit dazu haben, weil ich nie länger als neunzehn Tage aktiv sein kann.«

»Eines Tages wird man eine Lösung finden, damit du nicht mehr zu schlafen brauchst.« Atlan fragte sich, was ihm an dem Jungen auffiel. Es war etwas Besonderes, dessen er sich unterschwellig zwar deutlich bewußt war, was er aber noch nicht verstandesmäßig erfaßt hatte.

»Sie denken, daß es mich stört, wenn ich schlafen muß?« Purp sah unablässig in den Weltraum hinaus.

»Ich weiß es nicht«, gab Atlan zu.

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Wieder wurde es still zwischen ihnen. Nach einer Weile hob Purp die Hand. »Was ist das für ein Stern?« »Die Sonne«, sagte Atlan. »Der Stern der Menschen?« »Ja, dort wurden deine Mutter und dein Vater

geboren. Sie verließen den dritten Planeten dieser Sonne, um auf einer Kolonialwelt ihr Glück zu machen.«

»Bisher konnte mir noch niemand erklären, was Glück ist«, bemerkte Purpose DeStaglaav.

»Das ist auch sehr schwer zu erklären.« Atlan suchte nach Worten. »Du wolltest unmittelbar nach deinem Erwachen mit Jotos Nurherere sprechen, aber er war nicht da. Vielleicht bedeutet es Glück für dich, wenn er in deiner Nähe ist.«

»Ist das Glück?« »Ich weiß es nicht!« In diesem Augenblick erkannte Atlan, was ihm

an diesem Jungen immer wieder auffiel und was Purpose von anderen Kindern unterschied.

Atlan hatte den Positronik-Boy noch niemals lachen sehen.

*

Die Straßen rund um die Administration in

Terrania-City waren vollgestopft mit Menschen. Die parlamentarische Opposition hatte mit ihrem Aufruf fast eine Million Demonstranten auf die Beine gebracht. Die Organisation war gut, überall wurden Spruchbänder entfaltet und Plakate aufgestellt. Redner der Solaren Ordnungsliga standen auf den freien Plätzen und wiederholten immer wieder die Forderung ihrer Partei.

Reginald Bull, der neben Homer G. Adams und einem Piloten in einem Gleiter der Solaren Abwehr saß und einen Rundflug über die Stadt hinter sich hatte, lehnte sich im Sitz zurück.

»Mich interessieren vor allem die wirtschaftspolitischen Auswirkungen dieser Krise. Allein die General Cosmic Company hat in den letzten Tagen ein paar Millionen Solar verloren. Die meisten Konzerne haben geschlossen, weil sie von den Exportprogrammen Nathans abhängig sind und sich erst auf andere Positroniken umstellen müssen. Die großen Gesellschaften werden diese Krise überstehen, aber kleinere Firmen werden Schwierigkeiten bekommen und subventioniert werden müssen.«

Bully stieß eine Verwünschung aus. »Auch mit der Versorgung klappt es noch nicht

richtig. Wir hatten uns zu sehr auf die Silos verlassen.«

»Niemand braucht zu verhungern«, meinte Adams. »Der Engpaß wird bald überwunden sein.«

»Die Verteilung der Nahrungsmittel ist ein Problem geworden, da viele Menschen ihren Arbeitsplätzen fernbleiben und den Aufrufen der Administration nicht Folge leisten.«

»Glauben Sie an eine Revolution?« Bully sah Adams von der Seite her an. »Wir dürfen diese Demonstrationen nicht

überschätzen«, sagte Bull. »Zwar demonstrieren allein in dieser Stadt fast eine Million Menschen, aber das bedeutet noch lange nicht, daß alle Terraner jetzt Anhänger der Solaren Ordnungsliga geworden sind. Die Rhodanisten sind nach wie vor in der Mehrzahl.«

»Aber auch die Rhodanisten kritisieren die Haltung des Großadministrators.«

An der Richtigkeit dieser Behauptung war nicht zu zweifeln. Bully wußte, daß sogar loyale Flottenoffiziere eine Resolution unterschrieben hatten, in der man Rhodan aufforderte, Nathan vernichten zu lassen.

Der Gleiter landete auf dem flachen Dach des Administrationsgebäudes. Der Pilot ließ die Maschine ausrollen und parkte sie auf einem abgeteilten Platz. Dann öffnete er die Kanzel und half Homer G. Adams heraus. Der Wirtschafts- und Finanzminister des Solaren Imperiums war körperlich verkrüppelt und konnte sich nicht so gut bewegen wie ein normal gewachsener Mann.

Bully sprang ins Freie. Kühler Wind fuhr ihm ins Gesicht. Er trat an den Rand des Daches und blickte auf. die Straße hinab. Die riesige Menschenmenge verhielt sich relativ ruhig, nur das Heulen von Sirenen der Polizei- und Krankenwagen drang ab und zu an Bullys Gehör.

»Von hier oben sehen sie wie Ameisen aus«, sagte Adams, der an Bulls Seite getreten war. »Jeder dieser Menschen befindet sich uns gegenüber in völliger Anonymität. Und doch denkt und fühlt jedes dieser Wesen und möchte als Individualist anerkannt werden.«

»Das ist in einer Massengesellschaft schlecht möglich«, erwiderte Bull. »Sie wissen selbst, was wir alles getan haben, um die Katalogisierung und Verameisung der Menschheit zu verhindern.«

Adams hob den großen Kopf und blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf.

»Der Weltraum hat uns gerettet«, sagte er. »Ohne die Sterne und ihre Planeten wäre es auf der Erde zu einer Katastrophe gekommen. Jeder, der daran interessiert ist, kann auf einen Kolonialplaneten auswandern und dort seiner Beschäftigung nachgehen. Allein die Tatsache, daß es eine solche Möglichkeit gibt, hat die zweifellos vorhandenen Aggressionen abbauen helfen.«

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»Wenn ich da hinabblicke, merke ich nichts von einem Abbau der Aggressionen«, sagte der Staatsmarschall sarkastisch.

Sein Armbandfunkgerät summte. Er schaltete es ein und sprach mit dem Hauptbüro der Admini-stration. Seufzend wandte er sich an Adams.

»Schon wieder eine Konferenz. Ein paar Administratoren von Kolonialplaneten sind auf der Erde eingetroffen, um sich zu informieren. Sie befürchten, daß ihre Welten nicht mehr von der Erde versorgt werden können. Außerdem möchten sie darüber aufgeklärt werden, inwieweit die Solare Flotte von Nathan abhängig ist. Sie fürchten offenbar, Nathan könnte die gesamte Flotte in Marsch setzen, so wie er es mit den alten arkonidischen Robotschiffen getan hat.«

Adams kicherte, aber sein Gesicht blieb ernst. »Wir können die Kolonisten beruhigen. Die

Frage ist nur, ob sie uns glauben werden.« Die beiden Männer begaben sich zum

Antigravlift, der sie in die unteren Etagen des Gebäudes trug. Dort trennten sie sich. Adams begab sich in die Terrania-Hall, um als Regierungsvertreter an einer Sondersitzung des Parlaments teilzunehmen. Außerdem wollte er den Abgeordneten sein Programm zur wirtschaftlichen Soforthilfe für die Hauptgeschädigten unterbreiten.

Bully dagegen zog sich in sein Büro zurück und führte ein paar Videogespräche mit den überall auf der Erde im Einsatz befindlichen Mutanten. Was sie zu berichten hatten, gab nicht gerade zu Optimismus Anlaß. Die Unruhen in den Städten verstärkten sich. Es kam zu Angriffen auf die Verwaltungs- und Ordnungsbehörden. Lediglich die Versorgungslage hatte sich etwas entspannt.

In allen Gesprächen, die die Mutanten mit Bürgern Terras geführt hatten, kam die Sorge zum Ausdruck, daß Nathan jeden Augenblick erneut zuschlagen konnte.

Sie verlangten immer dringender die Vernichtung der Riesenbiopositronik.

Nachdem Bully alle Gespräche hinter sich gebracht hatte, schaltete er die Anlage ab und schickte seine Mitarbeiter hinaus. Er wollte ein paar Minuten ungestört nachdenken, bevor er sich zur Konferenz mit den Administratoren begab. Wenn die letzten Nachrichten vom Mond stimmten, wurde Nathan durch eine unbekannte Macht beeinflußt. Bully fragte sich, wer bei den vorbildlichen Sicherheitsmaßnahmen auf Luna an Nathan herangekommen sein konnte. Eigentlich war es unvorstellbar, daß eine gegnerische Macht bis ins Innere der Rechenanlage vorgedrungen war und Manipulationen vorgenommen hatte. Jeder Fremde wäre sofort entdeckt worden. Trotzdem war irgend etwas passiert.

Die Sicherheitseinrichtungen mußten irgendwann einmal versagt haben.

Bully überlegte weiter. Es stand jetzt fest, daß die Nahrungsmittelsilos

auf der Erde schon seit sechs Monaten nicht mehr beliefert worden waren.

Vor ein paar Stunden erst hatte die Zellmasse in Nathan telepathisch mitgeteilt, daß sich jemand in Nathan aufhielt.

Das bedeutete, daß der Feind sich jetzt schon mindestens sechs Monate in der Biopositronik befand.

Reginald Bull war alles andere als phantasielos, aber er konnte sich niemand vorstellen, der so lange Zeit unentdeckt in Nathan bleiben konnte.

Vielleicht war der Gegner nicht menschlich. Es war nicht ausgeschlossen, daß eine bisher unbekannte Macht aus dem Weltraum eine Invasion des Solsystems vorbereitete.

Bull öffnete die Augen und stand auf. Alle diese Gedanken waren fruchtlos. Solange

sie keine Anhaltspunkte besaßen, waren die Verantwortlichen auf Vermutungen angewiesen.

Der Staatsmarschall beugte sich über die Kontrollanlage auf seinem Schreibtisch.

»Eine Verbindung mit Luna-Port!« befahl er. »Sagen Sie dem Großadministrator, daß ich ihn sprechen möchte.«

Bull mußte fast sechs Minuten warten, dann zeichnete sich Perrys Gesicht auf dem kleinen Bildschirm der Sprechanlage ab.

»Entschuldige, daß du warten mußtest, Dicker.« Rhodan wischte sich über die Stirn. »Aber wir stecken mitten in der Evakuierung.«

»Evakuierung?« Bull starrte seinen Gesprächspartner verständnislos an.

»Die Spezialschiffe mit den schweren Desintegratorgeschützen sind vor Luna eingetroffen und haben Position bezogen«, erklärte Perry Rhodan. »Die Gunner sollen versuchen, Nathan mitsamt dem Gesteinsbrocken, in den er eingebettet ist, aus dem Mond herauszutrennen.«

»Puh!« machte Bull. »Wir lassen ein Gebiet von fünfhundert

Quadratkilometern evakuieren«, berichtete der Großadministrator weiter. »In zwei Stunden kann es losgehen.«

Bully nagte an seiner Unterlippe. Er versuchte sich vorzustellen, was bei einer solchen Aktion alles passieren konnte. Auf jeden Fall waren die umliegenden Werften und Verwaltungszentren nicht zu retten. Es konnte sogar dazu kommen, daß der Mond auseinandergerissen wurde. Niemand wußte, wie das Mondgestein auf konzentrierten Desintegratorbeschuß reagieren würde.

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»Wir haben Berechnungen angestellt«, fuhr Rhodan fort. »Danach haben wir eine gute Chance, daß die Sache klappt. Nathan wäre natürlich nicht zu retten. Die Produktion auf dem Mond müßte für Monate ausfallen.«

»Verdammt!« Das war alles, was Bull dazu zu sagen hatte.

»Es bietet sich keine andere Lösung an. Nachdem wir wissen, daß Nathan von irgend jemand manipuliert wird, müssen wir handeln, bevor es zu weiteren Katastrophen kommt.«

»Wir zerstören das Herz des Solaren Imperiums.«

»Nicht das Herz«, korrigierte Rhodan. »Das Gehirn.«

»Ich komme sofort nach Luna«, entschied der Staatsmarschall.

Rhodan schüttelte den Kopf. »Du mußt auf der Erde bleiben. Halte mir

Boyten und die anderen vom Hals, bis alles vorüber ist.«

Zögernd willigte Reginald Bull ein. Im Grunde genommen konnte er Rhodan doch nicht helfen. Was hätte er auf dem Mond tun sollen.

»Gib mir Nachricht, wenn irgend etwas Entscheidendes geschieht!« bat er den Freund.

»Du wirst das Schauspiel von der Erde aus beobachten können. Wenn du dich auf die Nachtseite begibst.«

Rhodan lächelte matt und brach die Verbindung ab.

7. Der magere Junge saß zusammengekrümmt vor

dem Tisch und aß mit den Händen. Er schlang seine Mahlzeit ungekaut hinunter. Neben dem Teller lagen Messer und Gabel. Purpose DeStaglaav schmatzte beim Essen und verschmierte sich das Gesicht. Ab und zu rülpste er. Nach ein paar Bissen setzte er die Flasche an den Mund und trank daraus, obwohl ein Glas auf dem Tisch stand.

Atlan saß auf der anderen Seite des Tisches und beobachtete den Jungen.

Purp aß mit animalischer Gier. Er ließ sich auch durch die Anwesenheit des Arkoniden nicht ablenken.

Schließlich verlor Atlan die Geduld. »Kannst du nicht mit Messer und Gabel

umgehen?« »Ich weiß es nicht«, gab Purp zu. »Ich habe es

noch nie versucht.« »Hat Dr. Nurherere nie versucht, es dir

beizubringen?«

»Einmal schon.« Purp aß und redete zugleich. Er blickte nicht vom Teller auf. »Aber ich erklärte ihm, daß ein Besteck überflüssig ist, denn man kann sehr schön mit den Händen essen.«

»Es gehört zu den Sitten und Gebräuchen der Menschen, daß man ein Besteck benutzt. Nur Barbaren essen mit den Händen.«

Zum ersten Mal unterbrach Purp sein Schlingen. Er hielt Atlan eine mit Salat und Fleischfetzen gefüllte Hand entgegen und schob dann den Inhalt in den Mund.

»Es funktioniert ausgezeichnet«, erklärte er. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Mir scheint, Nurherere tut nichts für deine Erziehung.«

Purps Kaumuskeln mahlten. »Meine Erziehung war abgeschlossen, als ich

zu den Menschen kam. Eine sehr schöne Erziehung.«

»Weißt du überhaupt, was sehr schön bedeutet?«

»Es ist nur so eine Redewendung. Ich habe sie von Jotos.«

»Das dachte ich mir fast.« Atlan griff nach seinem eigenen Besteck und begann zu essen. Purp, der inzwischen satt war, sah ihm eine Weile zu.

»Es ist umständlich!« stellte er fest. »Es kostet Zeit und Übung.«

Atlan schob seinen Teller zurück und stand auf. Er warf einen Blick auf seine Uhr.

»Wir werden in wenigen Minuten auf Luna landen.«

»Ja«, sagte Purp. »Ich weiß.« »Ich weiß aus meinem letzten Funkkontakt mit

Perry Rhodan, daß man die Vernichtung Nathans beschlossen hat. Das gesamte Gebiet, in dem sich das Rechenzentrum befindet, soll aus dem Mond herausgetrennt werden. Zu diesem Zweck sind ein paar Spezialschiffe mit schweren Desintegratorgeschützen eingetroffen. Die besten Feuerleitoffiziere befinden sich an Bord. Trotzdem ist der Ausgang dieses Unternehmens mehr als fragwürdig. Ich weiß nicht, ob Rhodan noch damit einverstanden ist, dich einzusetzen. Bei unserem Gespräch lehnte er weitere Experimente ab, da die Gefahr weiterer Angriffe Nathans zu groß ist. Es wird von dir abhängen, ob wir Rhodan davon überzeugen können, daß dein Einsatz Erfolg haben könnte.«

Der Positronik-Boy hatte aufmerksam zugehört. »Und was muß ich tun, um ihn zu

überzeugen?« Atlan sah den mageren Jungen an.

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»Nichts«, sagte er müde. »Ich hoffe, daß es dir nichts ausmacht, wenn ich dir sage, daß du traurig aussiehst.«

»Traurig?« »Traurigkeit ist das Gegenteil von Glück!« »Das Aussehen eines Subjekts ist völlig

unbedeutend. Man kann kein Subjekt nach seinem Aussehen klassifizieren, es sei denn, man wollte Schwarzhaarige und Rothaarige voneinander trennen, oder ähnliche sinnlose Einstufungen durchführen. Doch äußerliche Unterschiede sagen nichts über die Qualifikation eines Subjekts aus. Ein Großadministrator sollte das wissen.«

Atlan war versucht, sich die Ohren zuzuhalten. Als er jedoch in die großen schwarzen Augen des Jungen blickte, sah er, daß Purp voller Ernst gesprochen hatte.

»Trotz deiner Fähigkeiten bist du nur ein Junge«, Atlan sprach betont langsam. »Danach wird man dich beurteilen.«

»Wenn ein Baby meine Fähigkeiten besitzen würde, könnte man es also überhaupt nicht einsetzen.«

»Es ist eben ein Unterschied«, ereiferte sich Atlan. »Daran ändert auch deine verrückte Logik nichts.«

Ein Summsignal ertönte. »Die Landung!« Atlan packte den Jungen am

Arm. »Ich werde dir das Gesicht abwaschen und mich nach einem anderen Umhang für dich umsehen. Das Ding, das man dir auf Tahun gegeben hat, sieht aus wie ein Zelt.«

»Es ist sehr schön!« Der Lordadmiral zog Purp aus der

Mannschaftsmesse. Je länger er mit dem Positronik-Boy zusammen war, desto stärker zweifelte er an dessen Fähigkeiten. Dagegen gelangte er allmählich zu der Überzeugung, daß er auf Tahun nur seine Zeit vergeudet hatte.

Die Kleiderkammer war verlassen, als Atlan und Purp eintraten. Der Versorgungsoffizier war wahrscheinlich schon auf dem Weg zur Hauptschleuse.

Atlan war es nur recht, daß er mit dem Jungen allein war.

Er blickte an den Wandregalen entlang. »Ich weiß nicht, ob wir für dich etwas finden«,

sagte er zu Purp. »Aber wir wollen es wenigstens versuchen.«

Purp blieb neben dem Eingang stehen und sah interessiert zu, wie der Arkonide in den Regalen herumzuklettern begann und ab und zu einen Packen herunter warf.

»Glücklicherweise haben wir Ausrüstungsgegenstände für Kolonialwelten an

Bord«, sagte er. »Dazu gehört auch Kinderkleidung.«

Er kam zurück und schnürte die einzelnen Kleiderballen auf. Nach längerem Suchen entdeckte er einen einteiligen gelben Anzug.

»Der könnte passen. Zieh ihn bitte an.« Widerspruchslos schlüpfte Purp in den gelben

Anzug. Atlan kratzte sich am Hinterkopf. »Besonders gut sieht es nicht aus, aber es ist

besser als das Zelt. In Ordnung, gehen wir jetzt.« Als sie die Kleiderkammer verließen, spürte

Atlan plötzlich eine Berührung. Eine dürre Hand tastete nach ihm und umklammerte seine Finger.

Purp sah zu Atlan auf. »Sie gehen sehr schnell. Ich kann nicht so

schnell gehen.« Unwillkürlich zog Atlan seine Hand zurück. »Entschuldige!« sagte er rauh. »Ich werde

langsamer gehen.« Der Korridor, an dessen Ende der

Antigravschacht lag, erschien ihm endlos lang. Die Anwesenheit des Jungen wurde allmählich bedrückend für ihn, obwohl er nicht wußte, woran das lag.

Er warf einen Blick zur Seite. Purp trottete mit gesenktem Kopf neben ihm

her. »Hm!« machte Atlan. Dann packte er plötzlich die Hand des Jungen

mit seiner eigenen und umschloß sie fest. Purp reagierte nicht, aber er zog auch die Hand nicht zurück.

Auch als sie im Antigravschacht nebeneinander nach unten schwebten, ließ Atlan die Hand des Jungen nicht los, obwohl seine Hand schweißnaß geworden war.

Vor der Hauptschleuse blieb Purp stehen, und seine dunklen Augen sahen zu dem Arkoniden auf.

»Ich glaube, Sie sind sehr schön traurig, Sir.« Atlan räusperte sich. »Du mußt deinen verdammten Mund halten!«

fuhr er Purp an. Er blickte ihn von oben bis unten an. »Ich hätte nicht dieses verdammte gelbe Ding nehmen sollen.«

Dann zog er den Jungen in die Schleusenkammer.

*

Die drei ernstblickenden Männer – Rhodan,

Mercant und Tifflor – standen nebeneinander mitten im Versammlungsraum und warteten. Atlan, der zusammen mit Purpose DeStaglaav eintrat, senkte unwillkürlich den Kopf. Ein unerklärliches Schuldgefühl stieg in ihm auf.

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Er packte Purp derb an den Schultern und schob ihn vor sich her.

»Das ist er!« rief er trotzig. »Und sagt mir nicht, wie er aussieht. Das weiß ich selbst.«

»Guten Tag, Purp!« sagte Rhodan. Die beiden anderen Männer lächelten. »Es ist schön, daß du gekommen bist, aber Atlan wird dir schon gesagt haben, daß es für einen Einsatz zu spät ist.«

»Ja«, sagte Purp gelassen. »Er hat es mir gesagt. Und er hat mir auch gesagt, daß Sie sehr schön nach dem Alter klassifizieren, obwohl Sie Großadministrator sind.«

Mercant und Tifflor öffneten den Mund, brachten aber keinen Ton hervor. In Atlans Gesicht erschienen ein paar rote Flecken.

»Es ist ...«, unternahm er einen schwachen Versuch, alles zu erklären, »... es ist – ach, lassen wir das!«

»Es wird dir hier auf dem Mond an nichts fehlen«, fuhr Rhodan fort. »In ein paar Tagen bringen wir dich nach Tahun zurück.«

»Ich werde mich um ihn kümmern«, verkündete Atlan. Er warf einen Blick auf die Uhr. »Wie weit ist die Evakuierung?«

»Wir sind in ein paar Minuten fertig. Dann werden die Schiffe ihre Positionen beziehen. Sobald das geschehen ist, stellen wir Nathan ein Ultimatum. Davon, wie er reagieren wird, hängt unsere Reaktion ab.«

Der Arkonide nickte und sah Purp an. »Komm!« sagte er. »Auf Wiedersehen!« sagte der Junge höflich.

Dann drehte er sich um und folgte dem USO-Chef. Als die Tür sich hinter den beiden geschlossen

hatte, fragte Allan D. Mercant: »Haben Sie diese Augen gesehen?« »Seine Augen helfen uns nicht weiter«, meinte

Tifflor. »Es hätte keinen Sinn, den Jungen einzusetzen. Er kann gegen Nathan nichts ausrichten.«

Rhodan wandte sich ab. »Wir haben jetzt wichtigere Dinge zu tun. Ich

brauche eine Funkverbindung zu den Spezialschiffen.«

Wenig später sprach er mit Oberst Lavonta Kasura. Der Offizier war der Kommandant des kleinen Verbandes.

»Gehen Sie mit den Schiffen jetzt in Schußposition und warten Sie auf den Feuerbefehl«, sagte Rhodan.

»Es gibt also keine andere Möglichkeit«, stellte Kasura enttäuscht fest.

»Nein!« »Ich muß mich erst mit dem Gedanken

abfinden, auf eine der wichtigsten Stationen des

Solsystems schießen zu lassen«, erklärte der Oberst.

»Die Evakuierung ist jetzt abgeschlossen«, berichtete Perry. »Wir haben das Gebiet weit über die Gefahrenzone hinaus räumen lassen.«

In Wirklichkeit, überlegte Rhodan, konnte niemand vorhersagen, wie groß die Gefahrenzone eigentlich war. Wenn sie Pech hatten, kam es auf Luna zu einer Katastrophe.

Er blickte auf einen Bildschirm der Raumortung und sah, daß sich die zwölf Spezialschiffe über dem Gebiet von Nathan verteilten.

Er wollte wieder mit Kasura sprechen, als eine Funkbotschaft von Atlan eintraf.

»Der Junge ist verschwunden!« rief Tifflor verwirrt. »Atlan hat ihn aus den Augen verloren.«

Rhodan sprang auf und begab sich zu Tifflors Platz. Auf einem Bildschirm der Funkanlage sah er Atlan.

»Was hat das zu bedeuten?« fuhr er den Arkoniden an. »Purp verließ in deiner Begleitung den Versammlungsraum. Du wolltest dich um ihn kümmern. Jetzt ist er angeblich verschwunden.«

»Das stimmt!« Atlan wirkte nervös. »Ich sprach mit Krestin vom Tarba-Stützpunkt, weil ich den Jungen dort für ein paar Tage unterbringen wollte. Während des Gesprächs ließ ich Purp unbeobachtet. Er nutzte die Gelegenheit, um zu verschwinden.«

»Er kennt sich hier nicht aus«, erwiderte Rhodan. »Es dürfte doch nicht schwierig sein, ihn zu finden.«

»Die Suche hat sofort begonnen«, berichtete der USO-Chef. »Aber wir haben bisher keine Spur von ihm entdeckt.«

»Genug davon!« Rhodan war ärgerlich. »Ich muß mich jetzt um die Vernichtung Nathans kümmern. Die Feuerleitoffiziere warten auf den Angriffsbefehl.«

»Nein!« rief Atlan schnell. »Du darfst diesen Befehl nicht geben.«

»Warum nicht?« »Purps wegen! Ich befürchte, daß er in das

Gebiet von Nathan geflogen ist und sich jetzt dort aufhält. Ein Beschuß Nathans würde Purps Tod bedeuten.«

Tifflor, der alles mitgehört hatte, fluchte leise. Er wußte genau, in welche Lage Atlan seinen terranischen Freund gebracht hatte. Der Verdacht lag nahe, daß der Arkonide die »Flucht« Purps inszeniert hatte.

»Du hast eine halbe Stunde Zeit, DeStaglaav zurückzuholen«, sagte Rhodan ruhig. »Dann werden die Schiffe das Feuer eröffnen.«

»Das kann unmöglich dein Ernst sein!«

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»Eine halbe Stunde«, wiederholte Rhodan. »Von jetzt an.«

Ohne zu antworten, beendete Atlan das Gespräch.

»Sie denken, daß er den Jungen absichtlich entkommen ließ?« fragte Mercant.

»Ich bin überzeugt davon.« Rhodan stand auf und sprach wieder mit Oberst Kasura. Er forderte ihn auf, noch dreißig Minuten zu warten.

»Es gibt also wieder eine Chance?« hoffte der Oberst.

Rhodan schüttelte den Kopf. »Wann stellen wir Nathan das Ultimatum?« »Das können wir jetzt tun«, entschied Rhodan. Diesmal bekamen sie keine Verbindung mit der

Biopositronik. Nathan reagierte nicht. Er ließ alle Fragen und Aufrufe unbeantwortet.

»Ich bin sicher, daß Nathan uns richtig versteht«, sagte Professor Taychinger. »Wahrscheinlich halten jene, die ihn manipulieren, das Ultimatum für einen Bluff.«

Obwohl Rhodan nicht mit einer Verständigung gerechnet hatte, war er enttäuscht. Insgeheim hatte er immer noch gehofft, daß sich die Vernichtung der unersetzlichen Anlage verhindern lassen würde. Aber Nathan ignorierte das Ultimatum.

»Sobald die Zeit abgelaufen ist, gebe ich den Feuerbefehl«, verkündete Perry Rhodan.

*

Zehn Minuten vor Ablauf der Frist, die Perry

Rhodan ihm gegeben hatte, landete Atlan mit einem Ein-Mann-Gleiter im Gebiet Nathans. Nur hundert Meter vom Schutzschirm entfernt setzte die kleine Maschine auf. Atlan wußte, daß er auf der Stelle tot sein würde, wenn die Spezialschiffe jetzt das Feuer aus ihren Desintegratorgeschützen eröffneten.

Als Atlan aus dem Gleiter kletterte, hatte er das Gefühl, daß er dabei von unsichtbaren Augen beobachtet wurde. Er überwand diese unsinnige Vorstellung.

Unmittelbar vor dem Schutzschirm, den Nathan errichtet hatte, sah Atlan den Jungen stehen. Purpose DeStaglaav hielt ein kleines Funkgerät in den Händen.

Zögernd blieb Atlan stehen. Der Positronik-Boy bewegte sich nicht. Er schien sich völlig auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Nachdem zwei weitere Minuten verstrichen waren, setzte Atlan sich in Bewegung. Er durfte nicht länger warten, wenn er das Leben des Jungen nicht gefährden wollte.

Als er Purp fast erreicht hatte, drehte der Positronik-Boy den Kopf. Instinktiv schien er die Nähe des Mannes gefühlt zu haben.

»Purp!« rief Atlan. »Wir müssen hier verschwinden. In ein paar Minuten wird Rhodan das Feuer eröffnen lassen.«

»Ich glaube, daß es mir gelingen wird, durch den Schutzschirm zu gehen«, erwiderte Purp, der Atlans Warnung offenbar überhaupt nicht verstanden hatte. »Eine Verbindung zu Nathan habe ich schon hergestellt.«

»Bist du sicher?« fragte Atlan eindringlich. »Ja.« Atlan überlegte fieberhaft. Ein Junge wie Purp

wußte wahrscheinlich überhaupt nicht, was eine Lüge war. Wenn Purp behauptete, daß er eine Chance hatte, den Schutzschirm zu durchdringen, waren das keine leeren Worte.

Lordadmiral Atlan faßte einen Entschluß. Er rannte zurück zum Gleiter und schaltete das Funkgerät ein. Er bekam sofort Verbindung mit dem Hauptquartier der Solaren Abwehr auf dem Mond. Mercant meldete sich.

»Atlan!« rief der kleine Mann überrascht. »Wo sind Sie jetzt? Perry versucht schon seit ein paar Minuten, Sie zu erreichen.«

»Ich bin da, wo der Junge ist«, versetzte Atlan grimmig. »Ich bin im Gebiet der Riesenpositronik Nathan.«

Auf dem Bildschirm war deutlich zu erkennen, daß Mercants Gesicht sich verfärbte.

»In ein paar Minuten wird dort die Hölle los sein!« Mercant hob beschwörend die Hände. »Nehmen Sie den Jungen und verlassen Sie das gefährdete Gebiet.«

Atlan grinste. »Ich bleibe hier, Allan!« »Warten Sie!« Mercant verschwand vom

Bildschirm, an seiner Stelle erschien Perry Rhodan.

»Was soll das?« erkundigte sich der Großadministrator. »Du kannst die Vernichtung Nathans nicht verhindern. Ich werde ein paar Roboter hinausschicken, die den Jungen und dich festnehmen.«

»Das kann schon zu spät sein«, gab Atlan zurück. »Purp behauptet, daß er eine Möglichkeit gefunden hat, durch den Schutzschirm ins Zentrum der Positronik zu gelangen.«

Rhodans Augen weiteten sich ungläubig. »Wie will er das schaffen?« Darauf wußte Atlan keine Antwort. »Er schafft es«, sagte er nur. »Ich fordere dich noch einmal auf, das

Gefahrengebiet zusammen mit dem Positronik-Boy zu verlassen.«

Der Arkonide schüttelte den Kopf und schaltete das Funkgerät ab. Er kannte seinen Freund genau.

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In diesem Augenblick würde Rhodan ein Dutzend Roboter und ein paar Spezialisten losschicken.

Atlan verließ den Gleiter. Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Seinen

Augen bot sich ein phantastischer Anblick. Der undurchdringliche Schutzschirm, den Nathan errichtet hatte, war an einer Stelle aufgespalten. Purpose DeStaglaav stand genau vor der Strukturlücke.

»Purp!« schrie Atlan. »Geh nicht hinein, Purp!« Er rannte los. Auch der Positronik-Boy setzte sich in

Bewegung. Er schritt durch die Strukturlücke. »Purp!« schrie Atlan verzweifelt. DeStaglaav verschwand. Gleichzeitig schloß

sich die Öffnung hinter ihm. Atlan blieb stehen. Es hatte keinen Sinn, wenn er weiterrannte. Er konnte dem Jungen nicht mehr helfen.

Der Arkonide wandte sich ab. In der Nähe seines Gleiters tauchten ein paar

Roboter und sechs Männer in Raumanzügen auf. »Schon gut«, sagte Atlan. »Ihr braucht mich

nicht zu verhaften. Ich komme freiwillig mit.«

* Die Zeit war um. Rhodan starrte auf den Bildschirm. Ein Wort

von ihm würde genügen, Kasura zu veranlassen, seinen Feuerleitoffizieren den entscheidenden Befehl zu geben.

Doch der Großadministrator zögerte. Der Feuerüberfall würde nicht nur das Ende

Nathans, sondern auch den Tod von Purpose DeStaglaav bedeuten.

Atlan stand hinter Perry Rhodan und beobachtete den Terraner. Er sagte kein Wort.

»Wir müssen eine Entscheidung treffen«, sagte Mercant in die Stille hinein. »Nathan kann jeden Augenblick wieder zuschlagen. Dann kann es für einen Angriff schon zu spät sein. Auf der Erde spitzen sich die politischen Auseinandersetzungen immer mehr zu. Die Menschen sitzen vor den Bildwänden und warten, daß die angekündigte Vernichtung des verrückten Positronikgehirns endlich verwirklicht wird.«

Rhodan schloß die Augen. Er versuchte, seine Gedanken nur auf das eine Problem zu konzentrieren.

Hatte er das Recht, das Leben dieses seltsamen Jungens zu opfern?

»Es ist möglich, daß Purp bereits tot ist«, hörte er Professor Taychinger sagen. »Nathan wird den gefährlichen Eindringling ausgeschaltet haben.«

Beweise? fragte sich Rhodan. Wer gab ihm die Beweise, daß Purp nicht mehr am Leben war.

Reginald Bull meldete sich von der Erde aus und fragte, warum der Angriff auf Nathan noch immer auf sich warten ließ.

»Ich werde später mit ihm sprechen«, sagte Rhodan.

»Purpose hat genau gewußt, in welche Gefahr er sich begibt«, sagte Taychinger. »Er besitzt einen größeren IQ als die meisten Erwachsenen.«

»Ich verlängere die Frist um eine weitere Stunde.« Rhodan stellte eine Verbindung zu den Spezialschiffen her und teilte Oberst Kasura seinen Entschluß mit. »Wenn Purp sich nach einer Stunde nicht gemeldet hat, müssen wir eingreifen.«

8. Als sich der Schutzschirm wieder hinter ihm

geschlossen hatte, blieb Purpose DeStaglaav stehen und beobachtete die nähere Umgebung. Seine Augen funktionierten nicht anders als die anderer Menschen, doch sein Gehirn verarbeitete die optischen Impulse, wie es eine Positronik getan hätte. Jeder Blick vermittelte Purpose eine Reihe von Daten, die zusammen ein Ergebnis ausmachten. Dieses Ergebnis war für den Jungen nicht befriedigend, denn er fand den Eingang ins Innere Nathans nicht auf Anhieb.

Aus den vorliegenden Daten konnte er jedoch den wahrscheinlichen Punkt erreichen, wo sich der Eingang befinden mußte.

Entschlossen bewegte Purpose sich auf diese Stelle zu. Das Funkgerät hielt er griffbereit in den Händen, denn es war möglich, daß Nathan sich wieder mit ihm in Verbindung setzen würde.

Nathan hatte ihn als ein Teil seiner selbst anerkannt und den Schutzschirm einen Augenblick geöffnet. Diesen Trick wendete DeStaglaav nicht zum ersten Mal an. Während des Targin-Aufstands im Japol-Sektor hatte Purpose die Großpositronik des Gegners falsch geschaltet, nachdem er ihr »Vertrauen« gewonnen und in ihre Zentralstation eingedrungen war. Auf diese Weise war der Targin-Aufstand völlig unblutig beendet worden, denn die Targins waren mit einer kleinen Streitmacht zu einem Ödplaneten geflogen und hatten ihre Bomben abgeworfen. Danach waren sie von den USO-Schiffen gestellt und von den Spezialisten verhaftet worden. Die Targins hatten die Positronik, auf die sie sich so sehr verlassen hatten, immer wieder verflucht. Auch nach dem Scheitern ihres geplanten Angriffs hatten sie nicht verstehen können, daß ihnen ihre große Rechenanlage falsche Koordinaten geliefert hatte.

Mit seinen abstrakten Sinnen konnte Purpose DeStaglaav Entscheidungen einer Positronik sofort

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verstehen. Nicht nur das, er konnte sich die Denkweise solcher Rechengehirne zu eigen machen.

Nathan hatte ihn als Schaltsegment anerkannt. Doch Purp war sich darüber im klaren, daß

Nathan nicht mit einer gewöhnlichen Großpositronik verglichen werden konnte. Früher oder später würde Nathan bei Vergleichsrechnungen und Rückermittlungen herausfinden, daß er betrogen worden war.

Alles hing davon ab, wann dieser Zeitpunkt kommen würde.

Der Positronik-Boy hoffte, daß er genügend Zeit haben würde, den Fehler in Nathan zu finden. Zumindest wollte er das Gehirn abschalten. Er machte sich keine Sorgen darüber, daß Nathan so groß war. Purpose hatte sich innerhalb einer solchen Anlage noch niemals verirrt. Ein einziger Raum konnte ihm genügend Hinweise auf die Raumaufteilung der gesamten Station liefern. In seinem Gehirn gab es keinen Leerlauf. Vom Tag seiner Geburt an war er zu streng logischer Denkweise erzogen worden.

Purpose nahm immer neue Bilder in sich auf und wertete sie aus. Der Eingang konnte nicht mehr weit entfernt sein. Hoch über Purpose leuchtete der kuppelförmige Schirm. Die riesige Kuppel, die sich über das gesamte Gebiet von Nathan spannte, und in der eine künstliche Atmosphäre gehalten wurde, konnte Purpose von der Mondoberfläche aus nicht sehen.

Bisher hatte alles so funktioniert, wie Purp vorhergesehen hätte Die erste Frist war bereits abgelaufen, aber Purp hatte Rhodan richtig eingeschätzt. Noch immer hielt Rhodan die Schiffe zurück. Aber der Großadministrator konnte es nicht riskieren, noch lange zu warten. Purpose schätzte, daß er eine Stunde dazu gewonnen hatte. Es war ein doppelter Wettlauf mit der Zeit. Er mußte schneller als Nathan und schneller als Perry Rhodan sein.

Zwei beachtliche Probleme! dachte Purpose. Die Gefühle der Traurigkeit und völliger

Einsamkeit, die ihn während der Wachperioden immer überfielen, waren völlig zurückgedrängt. In diesen Minuten dachte Purpose nur an seine Aufgabe. Dann sah er den Eingang.

Es war eine überdachte Schaltstation mit einem Transmitteranschluß und mehreren Antigravlifts.

Der Positronik-Boy rannte darauf zu, so schnell ihn seine dürren Beinchen trugen. Völlig außer Atem kam er bei der Station an. Seine Kondition war nicht die beste. Als er vor dem ersten Antigravlift stand, bekam er einen Wadenkrampf. Er ignorierte die Schmerzen und stampfte ein paar Mal mit denn Fuß auf.

Er blickte sich um. Alle Anlagen waren funktionsbereit, Nathan

hatte nichts abgeschaltet. Unter dem großen Schutzschirm arbeitete die Biopositronik mit voller Leistungsstärke. Das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie an einer entscheidenden Stelle schwer beschädigt worden war.

Im Gegensatz zu den Kybernetikern benutzte Purpose im Zusammenhang mit Positroniken niemals das Wort »Manipulation«. Er sprach stets von Beschädigungen oder sogar von »Krankheiten«.

Purpose entschied sich für den mittleren von sieben Antigravschächten, weil er sicher war, daß er durch diesen in die Nähe der Zentrale gelangen würde.

Als er den Lift betrat, sprach sein Funkgerät an. Purp zuckte zusammen und blieb stehen. Das war Nathan! Wenn sich die Biopositronik meldete, hatte sie

vielleicht Verdacht geschöpft. Bestimmt nicht! versuchte Purp sich zu

beruhigen. So schnell konnte sie den Betrug unmöglich festgestellt haben.

Es sei denn, jene, die die Beschädigungen vorgenommen hatten, griffen jetzt ein!

Purpose wartete, bis der Impuls wiederholt wurde, dann gab er ein Erkennungssignal durch. Es war sinnlos, wenn er überhaupt nicht antwortete, denn Nathan würde ihn in Bruchteilen von Sekunden aufspüren, wenn er nur einen geringen Teil seiner Kapazität für diese Aufgabe verwandte.

Purpose erhielt den Befehl, sich in die Sektion 4567/7/7-c-39 zu begeben.

Ohne nachzufragen, wo diese Sektion lag, wußte Purp, daß es sich um einen Lagerraum handelte.

Nathan war also »mißtrauisch« geworden. Er wollte das angebliche Teilstück

neutralisieren, bis er sich völlige Sicherheit über den Charakter des Eindringlings verschafft hatte.

Purpose wußte, daß mit dieser Entscheidung seine Bewegungsfreiheit eingeengt wurde. Er hatte zwar nicht die Absicht, in die angegebene Sektion zu gehen, aber er mußte damit rechnen, daß Nathan nachprüfen würde, ob seine Anordnung ausgeführt worden war.

Das bedeutete, daß Purp nicht mehr lange Zeit hatte.

Trotzdem verlor er nicht die Übersicht. Er bestätigte den Erhalt der Aufforderung.

Während des kurzen Wechsels von Daten war kein Wort gesprochen worden. Ebenso wie Nathan bediente sich Purpose der Symbolsprache. Wahrscheinlich war er der einzige Mensch in der

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ATLAN 61 – Der Positronik-Boy

Galaxis, der sie einwandfrei beherrschte. Nur ein Kind, daß niemals zuvor mit anderen Informationen konfrontiert worden war, konnte diese »Sprache« erlernen.

Als Purpose den Lift betrat, war er sich darüber im klaren, daß jeder Schritt sein letzter sein konnte. Er befand sich jetzt in einem Gebiet, das ausschließlich von Nathan beherrscht wurde. Die Positronik hatte tausend Möglichkeiten, einen unerwünschten Eindringling zu vernichten. Zwar verbat ihr das Erste Gesetz, einen Menschen zu töten oder zu verletzen, aber es war mehr als fraglich, ob Nathan noch nach diesem Grundsatz arbeitete. Irgend jemand hatte das Erste Gesetz durch etwas anderes ersetzt.

Der Positronik-Boy schätzte seine Erfolgsaussichten nüchtern ein. Die Chancen standen nicht gut für ihn. Trotzdem mußte er den Versuch wagen.

Eines stand fest: Der Fehler konnte nur in der Zentrale liegen. Die aufgetretenen Störungen waren so gravierend, daß es sich nicht um einen Ausfall einer Außensektion handeln konnte.

Der Lift setzte sich in Bewegung und glitt lautlos ins Innere des Mondes und damit der Zentrale von Nathan entgegen.

*

»Es ist Dr. Nurherere«, erklärte der Funker, der

die Verbindung in den Versammlungsraum umschaltete. »Er ruft von Tahun aus an.«

Atlan stieß eine Verwünschung aus. »Ausgerechnet jetzt!« »Soll ich den Anruf zurückweisen?« Im ersten

Moment war der Arkonide versucht, auf dieses Angebot einzugehen, doch dann schüttelte er den Kopf. Schließlich hatte er die Verantwortung für Purpose DeStaglaav übernommen, deshalb wollte er sich nicht verleugnen lassen.

Er trat vor die Funkanlage. Ein Blick auf den Bildschirm zeigte ihm, in

welcher Gemütsverfassung Nurherere sich befand. »Ich verfolge die Fernsehübertragung«,

eröffnete Nurherere ohne Umschweife. »Den Zuschauern können Sie alles mögliche erzählen, aber jeder Eingeweihte merkt sofort, daß etwas nicht in Ordnung ist.«

»Purp ist noch im Einsatz!« »Im Gebiet Nathans?« »Ja«, gab Atlan widerwillig zu. »Sie müssen ihn herausholen«, beschwor ihn

Nurherere. »Wenn die mir vorliegenden Informationen stimmen, wird Rhodan die Spezialschiffe endgültig kurz vor siebzehn Uhr einsetzen.«

Atlan schwieg. Was sollte er auch sagen? Dr. Nurherere würde sich nicht mit ein paar lapidaren Erklärungen abfinden.

»Also stimmt es!« folgerte der Arzt. »Verdammt, Sir! Sie haben die Verantwortung für dieses Kind. Wollen Sie zulassen, daß man es ermordet.«

»Das ist ein hartes Wort!« »Holen Sie ihn heraus!« beschwor ihn

Nurherere. »Tut mir leid!« Atlan bemühte sich, ruhig zu

bleiben. »Auch wenn ich es wollte, könnte ich Purp nicht helfen. Der Junge ist durch den Schirm gegangen, der Nathan umschließt. Niemand kann zu ihm.«

»Wie soll es weitergehen?« »Wir werden versuchen, Nathan aus dem Mond

herauszutrennen und ihn abseits von der Erde mit schwereren Waffen zu vernichten.«

»Zusammen mit Purpose?« »Wenn er bis dahin nicht zurückgekommen

ist.« Der Arzt stöhnte auf. Ratlos blickte Atlan auf

den Bildschirm. Was sollte er Nurherere sagen? Zwischen Purpose und dem Mediziner bestand eine überaus freundschaftliche Verbindung; Nurherere begriff vielleicht als einziger Mensch die Mentalität dieses Jungen.

»Sie haben die Verantwortung!« wiederholte er. »Vergessen Sie das nicht.«

Der Bildschirm wurde dunkel. Der Arkonide blickte auf die Uhr. Noch sechzehn Minuten, dann würde Perry Rhodan den Befehl zum Angriff geben. In Atlans Brust zog sich alles zusammen. Das Bewußtsein, daß er zur Rettung des Jungen nichts tun konnte, machte ihn fast verrückt. Er stand auf und ging vor den Kontrollen auf und ab. Ein paar Schritte von ihm entfernt saß Rhodan in seinem Sitz. Der Terraner hatte die Augen geschlossen, aber er schlief nicht. Ständig trafen Nachrichten von der Erde ein, aber niemand im Hauptquartier der Solaren Abwehr auf Luna schien sich dafür zu interessieren.

Atlan trat an die Bildschirme, auf denen das Gebiet von Nathan zu sehen war. In dem von Menschen verlassenen Gebiet gab es nichts zu beobachten. Der mehrschichtige Schutzschirm stand unverändert. Irgendwo darunter befand sich jetzt Purpose DeStaglaav.

Vielleicht war er bereits tot. Atlan preßte die Lippen zusammen. Seine

Hilflosigkeit war schlimmer als alles andere. Wieder sah er auf die Uhr. Noch zwölf Minuten! Der Arkonide ging zu Rhodan. »Du musst die Frist verlängern!«

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»Noch einmal?« Der Terraner öffnete die Augen. »Du weißt, daß das unmöglich ist. Nathan würde die Pause zu neuen gefährlichen Angriffen gegen die Menschheit nutzen. Es ist nicht abzusehen, wieviel Menschen dann sterben müßten.« Er unterbrach sich, um eine Nachricht von Oberst Kasura entgegenzunehmen, dann fuhr er fort: »Vielleicht können wir Purp herausholen, sobald wir Nathan aus dem Mond getrennt haben.«

An eine solche Möglichkeit glaubte Atlan nicht. Trotzdem wollte er alle Vorbereitungen treffen, um zur Stelle zu sein, wenn der Positronik-Boy ihn brauchen sollte.

*

Der Lift kam zum Stillstand, und Purpose

DeStaglaav trat in einen verlassenen Korridor hinaus, der quer durch das Zentrum von Nathan führte. Der Gang war beleuchtet; in diesem Teil der Anlage gab es keine Türen, sondern nur Durchgänge zwischen den einzelnen Hallen, so daß Purp bereits beim Verlassen des Lifts ganze Reihen von Speicherbänken erblickte.

Doch das eigentliche Herz der Riesenpositronik lag am Ende des Korridors. Dort befand sich eine breite, verschlossene Tür. In dem Raum dahinter wurde das Zellplasma aufbewahrt. Von Atlan wußte Purpose, daß dieses Plasma einen telepathischen Hilferuf abgestrahlt hatte, der von den Mutanten aufgefangen worden war. Der Junge hatte nicht vor, sich mit der organischen Masse zu beschäftigen. Den Fehler würde er dort nicht finden.

Er blieb mitten im Gang stehen und sah sich um.

Seine Augen entdeckten den Durchgang in einen größeren Raum am Ende des Ganges. Dort befanden sich große Schalteinheiten. Purpose erkannte sie als Kontaktstellen zwischen der Positronik und dem Bioplasma. Unendlich empfindliche Sensoren registrierten dort jeden Impuls des Plasmas und übertrugen ihn auf die Rechenanlage. Schon die geringste Störung konnte diese Verbindung vernichten. Eine Hyperinpotronik war gegenüber äußeren Einflüssen sehr anfällig, deshalb lag sie stets im Zentrum großer Rechenanlagen.

Lautlos bewegte sich der magere Junge durch den Korridor. Noch immer hielt er das Funkgerät in den Händen. Er wußte, daß er wahrscheinlich keinen Kontakt mehr mit Nathan bekommen würde. Die nächste Reaktion Nathans konnte nur in einem Angriff bestehen.

Purp betrat den Raum mit den großen Schaltelementen. Auch hier deutete nichts auf die

Anwesenheit fremder Wesen hin. Die gesamte Anlage schien verlassen zu sein.

Aber wer hatte Nathan beschädigt? Sollte es sich tatsächlich um eine von Nathan

allein geplante Revolte handeln? Das war nicht vorstellbar. Purps Blicke glitten über die Schaltanlagen. Er

wußte, daß er auf diese Weise nichts entdecken würde, doch er wollte die empfindlichsten Teile heraussuchen, bevor er mit der Kontrolle begann.

In diesem Augenblick erlosch das Licht. Purp machte einen Schritt nach vorn. Das Bild

der Anlage hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis geprägt. Er sah die Stellen, die er zu untersuchen beabsichtigte, mit großer Deutlichkeit vor sich.

Das Abschalten der Beleuchtung mußte keine besondere Bedeutung haben, aber der Positronik-Boy befürchtete, daß Nathan ihn endgültig als gefährlichen Eindringling erkannt und den ersten Versuch unternommen hatte, ihn an der Ausführung seiner Aufgabe zu hindern.

Purps dünne Finger berührten die Oberfläche einiger Schaltelemente. Dann tastete er sich bis zu den eigentlichen Kontaktstellen vor. Entschlossen schaltete er das Funkgerät ein. Jede Anlage innerhalb Nathans konnte angerufen werden. Purp gab einen kurzen Funkimpuls an alle Schalteinheiten der Kontaktstellen durch. Auf diese Weise verriet er sich endgültig, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Wenn seine Vermutung stimmte, daß der Fehler nur an den Kontaktstellen zwischen dem Zellplasma und der Positronik liegen konnte, hatte er einen kleinen Vorsprung gegenüber Nathan.

Die Antworten trafen prompt ein. Es waren sinnlose Reflexsymbole, mit denen lediglich die Funktionsbereitschaft der jeweiligen Kontaktstellen bestätigt wurde.

Eine Kontaktstelle antwortete nicht. Purp fuhr herum. Mit einer Hand tastete er sich

weiter. Der Querpolungssynchronisator des Bio-

Wachbewußtseins hatte nicht angesprochen. In Kurzform nannten die Kybernetiker diesen

Teil der Anlage QSBW-Segment. Purp wußte genau, wie dieses Segment funktionierte.

Seine kleinen Hände fanden die Verkleidung, unter der die Kontaktstelle lag.

Entschlossen löste er die dünnen Metallplatten. Als er sie auf den Boden fallen ließ, erhielt er

einen heftigen Schlag gegen den Rücken. Er kippte vornüber und wäre mit dem Kopf heftig gegen die Schalteinheiten geprallt, wenn er nicht die Hände hochgerissen und sich abgefangen hätte.

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ATLAN 61 – Der Positronik-Boy

Mit der Reaktion, zu der ihn sein von Robotern ausgebildetes Gehirn befähigte, warf er sich zur Seite, denn er erwartete den zweiten Schlag. Er wußte nicht, was ihn angriff, aber er zweifelte nicht daran, daß er getötet oder zumindest aktionsunfähig gemacht werden sollte. Das war ein so klarer Bruch des Ersten Gesetzes, daß Purpose keine Zweifel mehr daran hatte, daß fremde Mächte für das Versagen des Rechenzentrums verantwortlich waren.

Etwas klirrte gegen die Verkleidung der Schaltanlage. Purp wußte, daß sein Gegner robotischer Art war und ihn deshalb »sehen« konnte. Trotz dieses eindeutigen Vorteils, den der Angreifer besaß, ergriff der Junge nicht die Flucht.

Er wollte unter allen Umständen das QSBW-Segment abschalten. Wenn ihm das gelang, würde sich die Lage sofort normalisieren. Nathan würde den Ausfall eines wichtigen Teilstücks registrieren und sich selbst abschalten.

Purpose DeStaglaav rollte quer über den Boden. Etwas streifte ihn an der Schulter. Purp sprang auf und wich bis zur Wand zurück. Dort duckte er sich blitzschnell und rannte quer durch den Raum an jene Stelle zurück, wo man ihn angegriffen hatte.

Doch diesmal hatte er falsch kalkuliert. Sein Gegner war ihm nicht gefolgt, sondern wartete vor den Schalteinheiten. Purp erhielt einen Schlag, der ihm fast den Brustkorb eindrückte. Er wurde weggeschleudert und landete unsanft auf dem Boden. Atemlos kam er wieder hoch. Seine rechte Hand fuhr in die Tasche des gelben Umhangs. Dort umschlossen seine Finger den kleinen Desintegrator, den Atlan ihm gegeben hatte.

Vor kurzem hätte er die Waffe zurückgewiesen. Niemals zuvor in seinem Leben hatte er eine Waffe benutzt.

Purp war sich darüber im klaren, daß er ein großes Risiko einging, wenn er den Desintegrator benutzte. Wenn er Pech hatte, beschädigte er unersetzliche Teile der Schalteinheiten.

Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Er berechnete den Standort des Gegners.

Purp zielte und drückte ab. Die unsichtbaren Strahlen erhellten das Dunkel

nicht, aber dann blitzte es ein paar Meter von Purp entfernt auf, als der Kopf eines Roboters explodierte.

Es wurde sofort wieder dunkel. Purp vernahm ein Knirschen, dann polterte die

Maschine auf den Boden. Der Junge wartete das Ende des Sturzes nicht

ab, sondern setzte sich in Bewegung. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er mußte in wenigen Minuten fertig sein.

Fast wäre er über das Roboterwrack gestolpert. Vor den Schalteinheiten blieb er stehen. Er wußte, daß er die Synchronisatoren

vernichten mußte. Es blieb ihm keine Zeit, sie herauszunehmen oder gar auszutauschen.

Seine Hände tasteten über unebene Stellen. Dann hatte er den richtigen Punkt gefunden. Hier fand der Kräfteausgleich zwischen lebender Plasmamasse und rechnerisch begabter Mechanik statt.

Purpose DeStaglaav wußte, daß der Augenblick der Entscheidung gekommen war.

Einen Fehler konnte er sich jetzt nicht mehr erlauben.

9. Als Reginald Bull die Terrania-Hall betrat,

konnte er den Tumult im Parlament bis auf den Hauptgang hören. Um diese Zeit wäre der Staatsmarschall gern in der Administration gewesen, um die Vorgänge auf Luna zu verfolgen, doch Homer G. Adams, der als oberster Vertreter der Regierung an der Sitzung teilnahm, hatte Bull dringend um sein Erscheinen gebeten.

Bull wußte, daß die Vernichtung Nathans um fast eine Stunde überfällig war. Vom Mond kamen auf alle Anfragen keine vernünftigen Antworten, sogar Rhodan hatte sich geweigert, mit seinem Freund zu sprechen.

Die Lage war für die Regierung alles andere als beruhigend.

Vor wenigen Minuten hatte Boyten als Sprecher der Opposition einen Mißtrauensantrag eingebracht. Homer G. Adams hatte zwar verhindern können, daß über diesen Antrag sofort abgestimmt wurde, doch er sah sich auch im Lager der regierungsfreundlichen Abgeordneten wachsender Ungeduld gegenüber.

Die Situation wurde noch durch die Anwesenheit einiger Administratoren von Kolonialwelten kompliziert, die als Gastabgeordnete an der Sitzung teilnahmen und sich schlimmer gebärdeten als die Mitglieder der Solaren Ordnungsliga.

Bull betrat die Versammlungshalle mit gemischten Gefühlen. Im Grunde genommen konnte nur eine Klärung der Ereignisse auf dem Mond für Ruhe sorgen.

Die Menschheit fühlte sich von Nathan bedroht. Keine Regierungserklärung konnte daran etwas ändern, solange die Riesenpositronik noch funktionsfähig war.

Reginald Bull sah Homer G. Adams am Rednerpult stehen. Vergeblich versuchte der

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Finanz- und Wirtschaftsminister Ruhe herbeizuführen und zur Versammlung zu sprechen. Der Parlamentspräsident hatte sich von seinem Platz erhoben und schrie ins Mikrophon. Aber auch seine Intervention nützte wenig.

Ein Teil der Abgeordneten stand auf den Bänken und klatschte in die Hände. Von einem Pfeifkonzert begleitet, gelangte Bull zum Rednerpult. Es war nicht die erste politische Krise, die Bully miterlebte, aber diesmal konnte er seine Gegner sogar verstehen. Er selbst sorgte sich um die Menschen auf der Erde, denn er wußte besser als jeder andere, daß Nathan noch viele Möglichkeiten hatte, um sein Ultimatum durchzusetzen.

Als Bull das Rednerpult erreicht hatte, sah er, daß Boyten auf seine Parteifreunde einredete. Offenbar wollte er für Ruhe sorgen, damit der Staatsmarschall eine Erklärung abgeben konnte.

Homer G. Adams zuckte mit den Schultern. »Sie sehen selbst, was hier los ist, Reginald. Ich

werde nicht mit ihnen fertig.« Er machte den Platz an den Mikrophonen frei. »Ich habe auch keine Lust dazu, mich länger mit ihnen herumzustreifen. Sie sind keinem noch so vernünftigen Argument zugänglich.«

Bull nickte und nahm den Platz des Halbmutanten ein.

Der Lärm legte sich allmählich. Bully wartete geduldig. In der Loge der

Administration sah er Fellmer Lloyd und Wuriu Sengu sitzen. Er wußte nicht, ob es klug war, die beiden Mutanten den Abgeordneten in dieser Stimmung zu präsentieren. Wahrscheinlich hatte Adams um ihre Anwesenheit gebeten.

Endlich konnte Reginald Bull sprechen. »Ihr Erregung ist verständlich«, begann er,

»aber sie ist auch grundlos. Auf dem Mond ist eine Verzögerung eingetreten. Nathan wird in den nächsten Minuten aus der Mondoberfläche herausgetrennt und vernichtet werden.«

»Das hörten wir schon einmal!« schrie einer der Administratoren.

Es war Kylkal vom Kargo-System. »Der Mond ist unser wichtigster Stützpunkt«,

fuhr Bully unbeeindruckt fort. »Wir können nicht das Risiko eingehen und ihn bei dem Beschuß völlig zerstören. Das hätte auch für die Erde schlimme Folgen. Alles muß sorgfältig geplant werden.«

»Nathan hat den Mond schon erobert!« behauptete jemand in den hinteren Reihen.

Bully lächelte gelassen. »Das glauben Sie doch selbst nicht! Wir

empfangen ständig Bilder vom Mond.« Er drehte sich um und deutete auf die Projektionswand im

Hintergrund. »Überzeugen Sie sich doch, daß alles in Ordnung ist. Die Spezialschiffe stehen über dem Gebiet von Nathan und werden jeden Augenblick den Einsatzbefehl erhalten.«

»Sie wollen nur Zeit gewinnen!« warf ihm Boyten vor. »Doch wir lassen uns nicht länger hinhalten. Wir haben einen Dringlichkeitsantrag gestellt und wollen dem Großadministrator das Vertrauen entziehen. Nach Artikel vierzehn, Absatz drei, haben wir das Recht, das zu tun.«

Bully lächelte matt. »Ich bin überzeugt davon, daß Sie die

Verfassung genau kennen, Boyten. Deshalb wissen Sie auch, daß nur über einen Mißtrauensantrag abgestimmt werden kann, wenn der Großadministrator anwesend ist. Eine Ausnahmeregelung besteht nur dann, wenn der Großadministrator durch Tod, Krankheit oder durch langes Fernbleiben vom Heimatplaneten nicht an der Sitzung teilnehmen kann. Im letzteren Fall ist dem Administrator eine dreitätige Frist einzuräumen, während der er eine Stellungnahme abgeben kann.«

Wieder brach Tumult los. Die Solare Ordnungsliga war mit Bulls Erklärung nicht einverstanden.

Doch der Lärm legte sich schnell. Die Abgeordneten setzten sich und starrten zur Projektionswand hinter Bull.

Bully drehte sich um. Auf dem großen Bildschirm waren die

Spezialschiffe unter dem Kommando von Oberst Kasura zu sehen, wie sie langsam auf das Gebiet von Nathan zuflogen. Aus den Geschütztürmen der Schiffe ragten die Desintegratoren.

Bully schluckte. Er hatte immer noch gehofft, daß sich eine Zerstörung Nathans verhindern lassen würde. Doch es sah so aus, als hätte Perry Rhodan keine andere Wahl mehr.

In weniger als drei Minuten würden die Schiffe ihr endgültiges Ziel erreicht haben und das Feuer eröffnen.

Bull verließ seinen Platz und ging zu Boytens Bank hinüber.

»Sie sind kein Dummkopf«, sagt er zu dem Schatzmeister der Solaren Ordnungsliga. »Deshalb wissen Sie auch, was die Zerstörung von Nathan für die Menschheit bedeutet.«

»Es ist nicht unser Fehler, daß die Menschheit in eine so große Abhängigkeit von Nathan geraten ist«, sagte Boyten verbissen.

Bull sah ihn abschätzend an. Zweifellos war Boyten machthungrig, aber er war kein blinder Fanatiker, der seine Grenzen nicht gekannt hätte.

»Sobald Nathan zerstört ist, wird es zu erheblichen Schwierigkeiten kommen«,

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prophezeite Bully. »Ihre Partei wird, sollte sie die Abstimmung gewinnen, nicht allein damit fertig werden.«

Boyten versteifte sich. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Werden Sie den Mißtrauensantrag

zurückziehen, wenn das Problem Nathan ausgeschaltet wird?«

Jetzt grinste Boyten. »Natürlich!« Absichtlich hatte Bull dem Schatzmeister der

Solaren Ordnungsliga einen Ausweg aus der Sackgasse gezeigt, in die Boyten sich hineinmanövriert hatte. Wenn Nathan weiterhin Anschläge gegen die Menschheit verübte, würde Boyten seinen Mißtrauensantrag durchbringen – andernfalls würde er verlieren.

»Ich werde jetzt Ihre Entscheidung bekannt geben«, verkündete Bully.

»Danke«, sagte Boyten spöttisch. Als Bully zum Rednerpult zurückkehrte, fiel

auf dem Mond die Entscheidung.

* »Die Zeit ist um!« Perry Rhodan beugte sich nach vorn, um mit

Oberst Kasura zu sprechen. Der Großadministrator war sich darüber im klaren, daß er in wenigen Sekunden ein Todesurteil gegen Purpose DeStaglaav verhängen würde. Auch der Verdacht, daß der Positronik-Boy längst nicht mehr am Leben war, erlöste Perry Rhodan nicht von seiner Verantwortung.

Das Gesicht des Obersten erschien auf dem Bildschirm.

»Wir sind bereit, Sir!« »Gut! Sie wissen, worum es geht. Sie können

jetzt ...« »Halt!« schrie Atlan. »Warten Sie!« befahl Rhodan dem

Kommandanten. »Es scheint etwas passiert zu sein.«

Er wandte sich dem Arkoniden zu. Atlan hatte einen Arm ausgestreckt. Seine Hand, die auf einen Bildschirm deutete, zitterte.

»Der Schutzschirm!« stieß er hervor. »Der Schutzschirm um Nathan ist zusammengebrochen.«

Rhodan sprang auf. Mit wenigen Schritten hatte er den Platz seines Freundes erreicht. Auf einem der Bildschirme war das Gebiet von Nathan zu sehen. Die Bilder wurden von Robotkameras übertragen.

Der Schirm war tatsächlich erloschen.

»Nathan reagiert nicht mehr!« rief in diesem Augenblick einer der Funktechniker. »Es sieht so aus, als hätte er sich selbst ausgeschaltet.«

»Der junge DeStaglaav!« Atlan sprang von seinem Platz auf. »Du kannst die Schiffe zurückschicken, Perry. Purp hat es geschafft.«

Noch immer ungläubig starrte Rhodan auf den Bildschirm. Aber an dem, was er sah, bestanden keine Zweifel. Nathan hatte sich selbst ausgeschaltet. Dabei waren auch die Schutzschirme zusammengebrochen.

»Ich kümmere mich um Purp!« rief Atlan und stürmte hinaus.

Mercant sah ihm lächelnd nach. »Sein Vertrauen, das er in diesen Knaben

setzte, war also gerechtfertigt.« Ohne zu antworten, trat Rhodan an das

Funkgerät und unterrichtete den Obersten über die neueste Entwicklung.

»Halten Sie Ihre Schiffe einsatzbereit, bis wir sicher sein können, daß es sich nicht um einen Trick handelt!« befahl Rhodan abschließend.

Das Gesicht des Offiziers entspannte sich. »Ich bin sehr erleichtert, Sir.« »Das glaube ich Ihnen!« Rhodan lachte rauh.

»Auch wir sind erleichtert.« »Ich werde sofort die Erde benachrichtigen!«

verkündete Mercant. »Man wird aufatmen, sobald bekannt wird, was geschehen ist.«

Für Rhodan stand fest, daß die Abschaltung Nathans nur eine vorläufige Lösung war. Der Schaden an der Riesenpositronik mußte so schnell wie möglich behoben werden, damit Nathan seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. Die gesamte Industrie hing von Nathan ab. Auch in der Verwaltungsarbeit konnte die Biopositronik nicht ersetzt werden. Die Menschen, die bei der Nachricht, daß Nathan sich abgeschaltet hatte, Erleichterung empfanden, würden schnell merken, wie sehr sie auf ihn angewiesen waren.

Vielleicht, überlegte Rhodan sarkastisch, kam es bald zu Demonstrationen, in denen die Administration aufgefordert wurde, Nathan wieder einzuschalten.

Völlig unvorbereitet traf das Ereignis das Solare Imperium jedoch nicht. Es gab sogenannte Notprogramme. Die wichtigsten Aufgaben wurden von anderen Positroniken übernommen, die natürlich nicht Nathans Kapazität besaßen und auch nicht so schnell arbeiten konnten.

Wie schwer der Schaden letztlich sein würde, hing allein davon ab, wie lange Nathan außer Funktion bleiben mußte.

Das hing von zwei Dingen ab. Die Riesenpositronik mußte repariert werden.

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Jene, die die Manipulation ausgeführt hatten, mußten gefunden und verhaftet werden.

Bisher gab es nicht die geringste Spur, die auf die Übeltäter hingewiesen hätte. Auch die Wissenschaftler standen vor einem Rätsel.

»Bull möchte Sie sprechen!« wurde Rhodan aus seinen Gedanken gerissen.

Der Großadministrator erhob sich und begab sich zur zweiten Funkanlage.

»Boyten hat den Mißtrauensantrag der Solaren Ordnungsliga soeben zurückgezogen«, teilte Bully seinem Freund mit. »Er weiß genau, was uns jetzt bevorsteht, und hat Angst, daß seine Partei zerrieben werden könnte. Jetzt kann er sich immerhin rühmen, daß seine Partei die Abschaltung Nathans durchgesetzt hat.«

Politische Streitigkeiten erschienen Rhodan sinnlos, aber er mußte sich auch mit diesen Problemen auseinandersetzen. Er kannte Boyten und wußte, daß dieser Mann ein Gegner war, den man nicht unterschätzen durfte.

Aber auch Boyten würde eines Tages sterben, vergessen werden und Platz machen für andere Oppositionspolitiker.

Wenn er nicht eines gewaltsamen Todes starb, würde Rhodan dann noch immer leben und versuchen, die Politik durchzusetzen, die der Menschheit dienlich war.

»Träumst du?« erkundigte sich Bully. Der Großadministrator schreckte hoch. »Auf der Erde wird gefeiert«, berichtete der

Staatsmarschall. »Es wäre Zeit, daß jemand kommt und den Menschen sagt, daß so gut wie nichts gewonnen wurde. In ihrer Euphorie vergessen die Terraner, was die Abschaltung Nathans bedeutet. Sie werden einen bösen Schock erleben, wenn nicht jemand kommt und sie auf die kommenden Tage vorbereitet.«

»Und was soll ich tun?« »Du mußt über Terra-TV zu allen Menschen

sprechen«, schlug Bully vor. »Sage ihnen, was der Verlust Nathans bedeutet.«

»Ich hoffe, daß wir Nathan bald wieder einschalten können«, erwiderte Rhodan.

»Die Riesenpositronik ist keine Waschmaschine«, versetzte Bull. »Das weißt du sehr genau. Wenn ein so riesiges, empfindliches System einmal gestört ist, dauert es lange, bis es wieder nach Wunsch arbeitet.«

Was Bull sagte, war kein übertriebener Pessimismus. Auch Rhodan kannte die Konsequenzen, die sich aus der Selbstabschaltung Nathans ergäben.

»Vielleicht kann uns Purpose DeStaglaav noch einmal helfen«, sagte er zu Bully.

»Der Junge muß in ein paar Tagen nach Tahun zurück«, erinnerte ihn Bull.

Rhodan dachte einen Augenblick nach. »Ich werde eine Konferenz mit den

Wissenschaftlern abhalten und dann nach Terra kommen«, verkündete er. »Vielleicht ist es wirklich vernünftig, wenn man den Menschen sagt, was in nächster Zeit alles passieren kann.«

»Wir erwarten dich«, sagte Bully abschließend. Als Rhodan aufstand, blickte er in Mercants

sorgenvolles Gesicht. »Ich habe gerade über unsere Schwierigkeiten

nachgedacht«, sagte der Abwehrchef. »Noch so ein Sieg – und wir sind verloren.«

*

Das biopositronische Leben um ihn herum war

erloschen. Purpose DeStaglaav spürte es mit einer

Intensität, wie andere Menschen den Tod eines Freundes empfunden hätten.

Der magere Junge lag bewegungslos auf dem Rücken. Er befand sich noch immer in dem Raum, wo er das QSBW-Segment ausgeschaltet hatte. Seine Aufgabe war damit erledigt. Nathan hätte entsprechend seinen Sicherheitssystemen reagiert und sich völlig abgeschaltet.

Der »Tod« einer Biopositronik, auch wenn er nur vorübergehend war, besaß für Purp immer etwas Tragisches. Aufgrund seiner Erziehung hatte er Positroniken zwar nicht als lebende Wesen, aber immerhin als gleichwertige Partner anerkannt.

Das galt besonders für Nathan, der durch das Zellplasma in seinem Innern über eine besondere Art maschinellen Bewußtseins verfügte.

In der Dunkelheit dieses Raumes fühlte sich der Positronik-Boy in seine Gruft zurückversetzt. Die Einsamkeit war ihm nicht fremd, sie war vom Augenblick seiner Geburt an sein ständiger Begleiter gewesen.

Auch Nurherere und sein Sohn konnten Purpose DeStaglaav davon nicht befreien. Sie gaben sich zwar große Mühe, aber für Purp waren sie doch Randfiguren geblieben. Fremde, die besonders freundlich zu ihm waren. Zwar vermißte er Nurhereres Sohn, wenn dieser im Stadium des Erwachens in seiner Nähe war, aber sobald Purp mit Positroniken in Verbindung kam, vergaß er die Menschen.

Purps Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit, auf die Welt, wo er geboren worden war.

Dort hatte er sich zufrieden gefühlt. Er wußte genau, daß er sich von anderen

Menschen unterschied. Nicht so sehr äußerlich als

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in seiner Denkweise und in seiner Mentalität. Im Grunde genommen hatten er und andere Jungen seines Alters nichts Gemeinsames.

Junge Menschen wurden von Menschen erzogen, in der Regel von ihren Eltern.

Purpose jedoch war von einer Bordpositronik erzogen worden, die dem Ersten Gesetz der Robotik gefolgt war.

Wissenschaftler bezeichneten diesen Vorgang als unglaublich und einmalig, aber diese Feststellung lieferte ihnen noch nicht den Schlüssel zu Purps Seele.

Vielleicht, dachte der Positronik-Boy, war er eine lebende Hyperinpotronik. Sein Körper repräsentierte die Mechanik und sein Gehirn die biologische Masse.

»Nathan!« flüsterte Purp. »Es war notwendig, dich auszuschalten. Du hast nicht mehr wie eine Positronik gehandelt. Eher wie ein Mensch. Ja, ein Mensch würde so handeln.«

Die Kälte des Bodens, auf dem er lag, machte Purp nichts aus. Trotz seiner Magerkeit war er psychisch stärker, als die Ärzte glaubten.

»Aber man wird dir helfen, Nathan«, fuhr Purp fort. »Die Kybernetiker werden dich in Ordnung bringen, dann wirst du wieder so sehr schön funktionieren wie früher.«

Purpose DeStaglaav fragte sich, ob bereits die ersten Spezialisten in das Gebiet von Nathan eingedrungen waren. Mit der Abschaltung Nathans waren auch die Schutzschirme erloschen, so daß der Zugang in diesen Sektor wieder frei war.

Der Positronik-Boy richtete sich auf und lauschte.

Es war so still, daß er das Schlagen seines Herzens hören konnte. Das und sein angestrengtes Atmen waren die einzigen Geräusche, die er wahrnahm.

Einem normal entwickelten Menschen in Purps Alter wäre diese Situation wahrscheinlich unheimlich erschienen, doch Purp kannte diese alles ausfüllende Stille von seinem Lager auf Tahun.

Sie störte ihn nicht. Plötzlich flammte das Licht wieder auf. Purp registrierte es und schloß daraus, daß

jemand die Notaggregate eingeschaltet hatte. Er blickte sich um. Neben ihm am Boden lag ein mannsgroßer

Roboter, dessen kugelförmiger Schädel explodiert war. Purp hatte genau getroffen.

Der Junge berührte das Wrack behutsam mit den Füßen.

»Du mußtest es tun«, sagte er. »Du hattest keine andere Wahl. Aber wer zwang dich dazu, das

Erste Gesetz auf diese schreckliche Weise zu brechen?«

Zweifellos hatten sich im Innern Nathans verbrecherische Elemente aufgehalten.

Es war sogar denkbar, daß sie noch da waren! Aber wo? fragte sich Purp. Man hätte sie doch

längst entdecken müssen. Wie konnten sie sich verbergen?

Purp ging zu den Schaltelementen und untersuchte das QSBW-Segment. Er hatte es mit dem kleinen Desintegrator völlig zerschossen. Man würde es erneuern müssen. Das, sowie die Wiederherstellung des Kontakts, würde einige Zeit in Anspruch nehmen.

Draußen im Gang wurden Schritte hörbar. Der Junge fuhr herum. Kam einer der Unbekannten, die Nathan

beschädigt hatten? Unwillkürlich hob Purpose den kleinen

Desintegrator. Er bezweifelte, daß er auf einen Menschen schießen könnte, denn die Bordpositronik hatte ihn auf Arsuk-EX-9904 nach dem Ersten Gesetz der Robotik erzogen. Aber vielleicht konnte er den mutmaßlichen Gegner vertreiben, ohne einen Schuß abgeben zu müssen.

Die Schritte verstummten. »Purp!« rief jemand. Der Junge identifizierte die Stimme. Sie gehörte dem Arkoniden Atlan, dem Mann

mit dem silbernen Haar. Der Positronik-Boy bewegte sich auf den

Durchgang zum Korridor zu. »Ich bin hier!« Die Schritte wurden erneut hörbar, diesmal

rannte der Mann. Gleich darauf wurde er sichtbar. »Purp!« rief Atlan. Seine Blicke fielen auf den

zerstörten Roboter. »Ist alles in Ordnung?« »Das kann man sehr schön sehen«, erklärte

Purp. Atlan stieß eine Verwünschung aus. »Ich habe mir tatsächlich Sorgen um dich

gemacht.« Purp deutete auf das zerschossene QSBW-

Segment. »Das ist die entscheidende Stelle. Jemand muß

den Kontakt zwischen der Bioplasmamasse und dem mechanischen Gehirn beschädigt haben.«

»Hast du jemand entdeckt oder Spuren gefunden?«

Der Positronik-Boy verneinte. »Einen Augenblick!« Atlan schaltete sein

Armbandsprechgerät ein und informierte die in das Gebiet von Nathan eingedrungenen Spezialisten, wo er sich befand. Er teilte dann den Wissenschaftlern mit, was Purpose getan hatte.

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»Das wäre erledigt, Purp. Du kannst jetzt mit mir nach oben kommen. Wir werden dich noch einen Tag pflegen und dann nach Tahun zurückbringen.«

»Ich will nicht zurück«, erklärte Purpose impulsiv.

Der Arkonide hob die Augenbrauen. »In ein paar Tagen mußt du wieder in deiner

Energiegruft liegen, mein Freund. Oder willst du sterben?«

»Ich will bei Nathan bleiben, bis ich sicher sein kann, daß wieder alles in Ordnung ist.«

Für den Arkoniden war dieser Wunsch unverständlich, aber er spürte, daß dieser magere Junge voller Überzeugung gesprochen hatte.

»Du mußt nach Tahun und dich ausruhen«, beharrte Atlan. »Wenn du das nächstemal aufwachst, wird Nathan wieder wie früher funktionieren. Dann werde ich dich persönlich von Tahun abholen und hierher bringen.«

Einen Augenblick hoffte er, den Positronik-Boy überzeugt zu haben, doch dann schüttelte Purp langsam den Kopf.

»Ich möchte hier bleiben. Das ist die größte Positronik, die ich jemals gesehen habe. Sie ist größer als meine Eltern.«

»Deine Eltern«, sagte Atlan erschüttert, »waren ein Mann und eine Frau.«

»Nein«, sagte Purp. »Meine Eltern wurden von einer Bordpositronik repräsentiert. Sie existiert nicht mehr. Aber Nathan könnte an ihre Stelle treten. Ich bin überzeugt davon, daß ich mich sehr gut mit Nathan verstehen würde.«

»Du hast dich schon zu sehr verändert, seit du von Arsuk gekommen bist. Auch Nathan könnte deinen Tod nicht verhindern.«

Doch Atlan konnte Purpose nicht überzeugen. Er sah den Jungen ratlos an. Wenn Purpose sich weiterhin sträubte, würde man ihn gewaltsam aus Nathan herausholen müssen.

»Du kommst mit mir!« befahl Atlan. Der Positronik-Boy hob plötzlich den

Desintegrator. Aber er zielte nicht auf Atlan, sondern auf einige Schaltanlagen im Hintergrund.

»Verschwinden Sie, Sir!« schrie er mit schriller Stimme. »Wer mich hier wegholen will, muß damit rechnen, daß ich noch ein paar Segmente zerstrahle. Dann wird die Reparatur des Positronengehirns ein paar Monate dauern.«

Atlan starrte ihn fassungslos an. »Das ist mein sehr schöner Ernst!« Purps

Stimme gellte durch den Korridor und fand in den verschiedenen Räumen ein Echo. »Gehen Sie jetzt.«

»Purp«, sagte Atlan geduldig. »Du kannst logisch denken wie kein anderer Mensch. Aus

diesem Grund mußt du wissen, daß es falsch ist, was du jetzt tust.«

In diesem Augenblick meldete sich Atlans Extrahirn.

Natürlich weiß er, daß seine Handlungsweise falsch ist. Aber auch dieser Junge zeigt einmal Gefühle, die stärker sind als alle logischen Überlegungen.

»Ja«, flüsterte Atlan und zog sich langsam zum Ausgang zurück. »Ich verstehe dich, mein Junge. Du bist in einer Krise, denn du glaubst, in Nathan einen Elternersatz gefunden zu haben.«

Purps Hand, die den Desintegrator hielt, zitterte heftig, doch er ließ die Waffe nicht sinken.

»Wir werden dir Zeit lassen«, versprach Atlan. »Ich werde dafür sorgen, daß man dich mit Nahrung versorgt. Man wird dir sogar ein Bett in diesen Raum stellen. Aber du darfst nicht vergessen, daß du nach Tahun mußt, wenn du nicht hier umkommen willst.«

Der Positronik-Boy antwortete nicht. Atlan zog sich in den Korridor zurück. Erst dort

merkte er, unter welcher Anspannung er gestanden hatte. Er schaltete sein Sprechgerät ein. Nach mehreren Versuchen bekam er Verbindung mit Professor Taychinger.

Er schilderte dem Wissenschaftler den Vorfall. »Die Mutanten!« sagte der Robotiker. »Mit

Guckys und Kakutas Hilfe hätten wir den Jungen schnell überwältigt und dort unten herausgeholt.«

»Gewalt!« sagte Atlan verächtlich. »Sie wollen es mit Gewalt versuchen.«

»Sie sind sich offenbar nicht darüber im klaren, was auf dem Spiel steht, wenn dieser verrückte Junge dort unten bleibt. Er kann wertvolle Teile vernichten.«

»Sie denken nur an diesen Computer!« »Natürlich!« gab Taychinger gelassen zu. »Das

ist schließlich meine Aufgabe.« Atlan gab sich Mühe, die Ruhe zu bewahren. »Wir müssen Purp überzeugen. Er muß

begreifen, daß er einen Fehler begeht. Wenn wir Gewalt anwenden, auch wenn Purps Sicherheit dadurch nicht gefährdet wird, richten wir nicht wiedergutzumachenden Schaden an.«

»Sind Sie Purps Anwalt?« »Sie können mich als solchen ansehen.« »Sie werden sich mit dem Großadministrator

auseinandersetzen müssen.« Ein Knacken im Armbandgerät bewies dem

Arkoniden, daß Taychinger die Verbindung unterbrochen hatte. Weder ihn noch einen anderen Robotiker würde Atlan überzeugen können. Doch die Wissenschaftler würden sich einem Entschluß Perry Rhodans beugen. Konnte Perry die Situation verstehen, in der sich der Positronik-Boy befand?

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ATLAN 61 – Der Positronik-Boy

Purpose DeStaglaav wurde im Gang sichtbar. Er hielt den Desintegrator noch in der Hand.

»Ich habe alles gehört«, sagte er. »Schon gut«, gab Atlan heftig zurück. »Geh

zurück in den Raum.« »Sie werden mich mit Mutanten herausholen.

Dagegen kann ich nichts tun.« »Das werden sie nicht!« versprach Atlan.

»Warte nur ab.« Sein Armbandgerät summte. Er schaltete auf

Empfang. Diesmal meldete sich Perry Rhodan. »Ich war gerade unterwegs zum Transmitter,

um nach Terra zu gehen«, erklärte der Terraner. »Taychinger sagte mir, daß wir Schwierigkeiten mit Purp haben.«

»Nicht nur mit Purp – auch mit mir.« Atlan schilderte Rhodan, was geschehen war. Abschließend sagte er: »Wir müssen versuchen, diesen Jungen zu verstehen und ihm zu helfen.«

»Hier geht es um den Fortbestand der Zivilisation«, erinnerte Rhodan.

Atlan vermied es, Purpose, der im Durchgang zum Schaltraum stand, anzusehen. Mit einer Hand wischte er sich über die Stirn. Sie war schweißnaß.

Es ist sinnlos! meldete sich sein Extrahirn. »Zivilisation«, sagte Atlan, »das ist nicht nur

die gesamte Menschheit mit allen ihren Sorgen und Problemen. Zivilisation – das ist auch dieser junge Mensch in seiner Zwangssituation.«

»Das eine wiegt das andere nicht auf.« »Wir müssen ihn überzeugen. Wenn wir ihn

gewaltsam herausholen, haben wir sein Vertrauen für immer verloren.«

»Ich schlage dir einen Kompromiß vor«, entschied Rhodan. »Du hast zwei Stunden, Purp zum freiwilligen Abgang zu bewegen, dann werden Gucky und Kakuta eingreifen.«

»Gut«, sagte Atlan grimmig. »Ich hoffe, daß diese Zeit reichen wird. Inzwischen kannst du dafür sorgen, daß hier unten keine Wissenschaftler auftauchen.«

»Versuche es schnell zu erledigen!« drängte Rhodan. Damit unterbrach er die Verbindung.

Atlan wandte sich an den Jungen. »Du kannst die Waffe wegstecken, Purp. Wir

haben jetzt zwei Stunden Zeit, um uns einig zu werden.«

*

In gewisser Weise, dachte Atlan, waren

Purpose und er einander ähnlich. Sie beide unterschieden sich von den normalen Menschen. Purp war ein von Robotern erzogener Mutant, der in den ersten Jahren seines Lebens nie einen Menschen gesehen hatte. Die lebenden Wesen, die

Purp in seiner frühen Jugend kennengelernt hatte, waren die Eingeborenen von Arsuk gewesen.

Aber es gab noch eine Gemeinsamkeit zwischen Atlan und dem Positronik-Boy.

Atlans Extragehirn konnte streng logisch denken, wenn auch nicht in der abstrakten Weise wie das Gehirn des Jungen. Aber der Arkonide konnte sich das Verhalten des Zehnjährigen erklären.

Er verstand es. Der USO-Chef gestand sich ein, daß dies nicht

von Anfang an so gewesen war. Erst sein Zusammentreffen mit Purp im Bordobservatorium der IMPERATOR hatte sein Verständnis für den Jungen geweckt.

Atlan und Purpose saßen schweigend nebeneinander auf dem kalten Boden im Kontaktschaltraum von Nathan. Hinter der Metallwand, gegen die sie sich lehnten, befand sich die Plasmamasse, die von der Hundertsonnenwelt hierher gebracht worden war.

»Ich bin sehr alt«, sagte Atlan mit geschlossenen Augen. »Und ich habe vergessen, wie mein Vater und meine Mutter ausgesehen haben. Trotzdem weiß ich, daß sie großen Einfluß auf meine Entwicklung hatten. Es gilt als sicher, daß die ersten drei bis fünf Jahre im Leben eines Menschen entscheidend sind. Das war auch bei dir der Fall. Du hast eine Positronik respektiert und als Eltern anerkannt. Sie gab dir dein abstraktes Denkvermögen und die Fähigkeit, wie eine Positronik zu reagieren. Das wurde durch dein mutiertes Gehirn noch unterstützt. Aber du bist trotzdem ein Mensch, und du hast Gefühle. Du brauchst Zuneigung und Anerkennung.«

»Das hat alles keine Bedeutung für mich«, sagte Purpose. »Ich weiß nur, daß es mir bei Nathan gut gefallen würde. Es wäre ein Verhältnis, wie ich es bereits auf Arsuk hatte.«

»Du lügst!« rief Atlan. »Wie könnte ich lügen?« fragte Purp. »Sie

wissen genau, daß ich nicht lügen kann.« »Nicht bewußt«, gab Atlan zu. »aber du machst

dir selbst etwas vor, mein Junge.« Der Arkonide stand auf und begab sich zum

QSBW-Segment. Dann deutete er auf die zerschossene Stelle.

»Hast du nicht die Positronik beschädigt, an der dir soviel liegt? Könntest du deinen Vater oder deine Mutter erschießen – oder hättest du die Positronik vernichtet, die dich erzogen hat?«

»Niemals!« schrie Purp. Er verbarg sein Gesicht in den Händen. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Sie wollen mich überzeugen, daß ich im Grunde genommen doch wie ein Mensch

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handle, daß es nur eines Anstoßes bedarf, um mich fühlen zu lassen, wie alle anderen fühlen.«

»Purp«, sagte Atlan unerbittlich. »Du hast dieses Segment zerstört, ein wichtiges Teil von Nathan. Wie kannst du jemand anerkennen, den du in dieser Form beschädigt hast? Als du den Schuß abgabst, war es eine Parteiergreifung für die Menschheit. Du hast deine robotischen Eltern verleugnet, weil du unbewußt weißt, daß es nicht deine richtigen Eltern waren.«

Der Junge hielt sich die Ohren zu und begann zu schreien. Atlan sah ihn sorgenvoll an. Nach einer Weile beruhigte sich der Positronik-Boy.

»Ich möchte sehr schön tot sein«, sagte er. »Logischerweise ist das die optimale Lösung, um alle Probleme zu lösen.«

In Atlans Gehirn schlug ein Warnsignal an. Entsetzt erkannte er, daß er den Jungen in eine Richtung trieb, an die er nicht gedacht hatte.

Aber natürlich! Die Überlegungen seines Extragehirns brannten sich in sein Bewußtsein. Dieser Junge wurde wie ein Roboter erzogen. Und er handelt wie ein Roboter.

Und was, fragte sich Atlan, tat ein in die Enge getriebener Roboter?

Die Antwort konnte er sich selbst geben. Eine Positronik, die vor einem unlösbaren

Problem stand, schloß sich selbst kurz. Sie beging »Selbstmord«.

Und Purp war gerade dabei, ähnliche Überlegungen anzustellen.

Er besaß einen Desintegrator. Atlan hob einen Arm und sagte beschwörend:

»Purp, solange wir allein hier unten sind, mußt du mir deine Waffe geben, damit ich sicher sein kann, daß du mich nicht angreifst. Wenn die zwei Stunden um sind, ohne daß wir uns verständigt haben, erhältst du die Waffe zurück. Das ist ein Versprechen.«

Der Positronik-Boy schien überhaupt nicht zuzuhören. Er sah den Desintegrator an und überlegte.

Er wird zu dem Entschluß kommen, daß er sich töten muß, meldete sich Atlans Extragehirn.

Atlan bewegte sich langsam auf den Jungen zu. »Du mußt ruhig bleiben, Purp! Alles wird sich

so lösen, daß jeder von uns zufrieden sein kann.« Der Lauf der Waffe deutete plötzlich in seine

Richtung. »Stehenbleiben!« Atlan hielt so abrupt inne, als wäre er gegen

eine Mauer gerannt. Gebannt sah er Purpose DeStaglaav an.

»Purp!« sagte er nur.

Seine Augen weiteten sich, als der Positronik-Boy die Waffe hob und die Mündung an die Schläfe preßte.

»Nein, Purp!« Atlans Stimme war kaum noch zu hören. »Du darfst es nicht tun.«

So standen sie da. Atlan war unfähig sich zu rühren, weil er wußte, daß die geringste Bewegung die schreckliche Reaktion auslösen konnte. Purp hatte die Waffe gegen seinen Kopf gerichtet. In seinem Gehirn mußten sich unverständliche Denkvorgänge abspielen.

Ich habe ihn in diese Situation getrieben! dachte der Arkonide.

Purps große Augen schimmerten feucht. Tränen liefen über die Wangen des Jungen. Sein Körper wurde von einem Schluchzen erschüttert, dann sanken seine Arme kraftlos herab.

Er taumelte auf Atlan zu. Atlan fing Purp auf und hielt ihn fest. »Du hast entschieden wie ein Mensch«, sagte

Atlan sanft und drückte die Schultern des Jungen. Purpose DeStaglaav weinte. Es dauerte lange,

bis er sich beruhigt hatte. Als er aufblickte, lächelte er. »Das mußt du noch üben«, meinte Atlan. »Sehr

schön zu lächeln.«

10. Die Mutanten, die sich auf telepathischem Weg

mit dem Zellplasma in Nathan unterhielten, erfuhren, daß fremde Eindringlinge für die Beschädigung verantwortlich waren. Das Plasma konnte jedoch nicht erklären, wer diese Fremden waren und wohin sie gegangen waren. Es gab keinerlei Spuren, so gründlich man auch danach suchte. Doch die Kontrollen hatten erst begonnen, sie würden Tage dauern.

Nathan blieb völlig abgeschaltet. Rhodan wollte kein Risiko eingehen.

Die Lage auf der Erde und den solaren Welten begann sich zu beruhigen. Stillgelegte Betriebe nahmen die Arbeit wieder auf. Raumschiffe starteten und landeten, sie wurden be- und entladen. Hunderte von Kleinpositroniken, die von Nathan völlig unabhängig waren, übernahmen die wichtigsten Aufgaben. Dadurch standen sie für ihre früheren Arbeiten nicht mehr zur Verfügung, was teilweise zu beträchtlichen Schwierigkeiten führte.

Doch die Situation war nicht so gefährlich wie während der Revolte Nathans. Die Menschheit wußte, daß sie von keiner Großpositronik angegriffen werden konnte.

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ATLAN 61 – Der Positronik-Boy

* Dr. Nurherere stand am Fenster seines Büros

und blickte in den Park hinaus. Seit drei Stunden regnete es. Trotzdem hatte der Arzt das Fenster geöffnet. Sein Gesicht war naß, die Haare vom Regen verklebt. Dr. Nurherere empfand weder Kälte noch Feuchtigkeit als unangenehm.

Endlich wurde der Gleiter, auf den er seit einer Stunde wartete, über dem Park sichtbar. In einer flachen Landebahn steuerte der Pilot die Maschine auf den Landeplatz vor der Station. Die Kanzeltür öffnete sich.

Lordadmiral Atlan erschien. Er hob Purpose DeStaglaav heraus. Zu seinem Erstaunen sah Nurherere, daß Purp an der Hand des Arkoniden auf das Haus zuging.

Nurherere drehte sich zu dem Ara-Mediziner um, der bei ihm im Büro arbeitete.

»Sie sind da!« sagte er. »Wir werden Purp wieder schlafen legen.«

Er ging nach unten und traf im Hauptgang auf Atlan und den Positronik-Boy.

Der Arzt begrüßte Atlan mit einem knappen Kopfnicken, dann wandte er sich an Purp.

»Ich bin froh, daß du wieder hier bist, Purp«, sagte er. »Hoffentlich hast du nicht zuviel durchmachen müssen.«

Purpose DeStaglaav sah seinen Betreuer an. Nach ein paar Sekunden entspannte sich das

Gesicht des Jungen, seine Lippen teilten sich, und er begann zu lächeln.

»Das ...«, setzte Nurherere fassungslos an. Er blickte zu Atlan. »Er ... er lacht!«

»Warum sollte er nicht lachen?« fragte Atlan. »Schließlich ist er ein junger Mensch.«

Dr. Nurherere schluckte ein paar Mal. Dann legte er einen Arm um die Schulter des Jungen und führte ihn auf den nächsten Lift zu. Atlan blieb im Eingang der Klinik stehen.

Du bist sehr schön überflüssig! meldete sich sein Extragehirn.

»Ja«, sagte Atlan leise. »Und dabei hatte ich mich schon fast wie eine Art Vater gefühlt.«

ENDE

Weiter geht es in Band 62 der ATLAN-ebooks mit: Kampf im Mondgehirn

von H. G. Ewers Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2003, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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