Der Schrank von 1912

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  • 7/26/2019 Der Schrank von 1912

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    Der Schrank von 1912

    Meine lteste Erinnerung stammt aus dem Jahr 1912. Ich stand zusammen mit meinen

    Brdern in der Schreinerei meines Vaters Hans Imboden als der brtige Mann die

    Werkstatt betrat. An diesem Tag nderte sich mein Leben von Grund auf. Hatte ichbisher, sofern mich meine Erinnerung nicht trgt, den grssten Teil meines noch

    jungen Lebens in der Werkstatt verbracht, so verkaufte mich mein Vater nun an diesen

    Herrn, welcher sich, nachdem er uns alle eindringlich gemustert hatte, fr mich

    entschieden hatte. Spter erfuhr ich, dass sein Name Ueli Haudenschild lautete, er eineFrau besessen hatte welche vor kurzem verstorben war und er selber schon vierzig

    Jahre alt war. Mit ihm hatte ich spter jedoch nur wenig zu tun. Die meiste Zeit meines

    Lebens verbrachte ich mit seiner Tochter Lisbeth, damals einjhrig.Ich sah sie zum ersten Mal am Tag meines Umzugs zu Haudenschilds, in ein grosses

    Bauernhaus im Emmental. Man brachte mich im selben Zimmer wie Lisbeth unter und

    da ich ein paar Jahre lter war als sie, passte ich auf sie auf. Zuerst liess der alteHaudenschild mich nur selten mit Lisbeth alleine, denn Lisbeth schien das einzige zu

    sein, was ihm an Familie geblieben war. Aber als Lisbeth lter wurde und bereits zur

    Schule ging, verbrachte sie viel Zeit mit mir und vertraute mir Dinge an, die sie den

    anderen nicht anvertraute. Spter, Lisbeth hatte gerade ihr Haushaltslehrjahr

    abgeschlossen, zog sie in die Stadt und nahm mich mit in ein kleines, enges Zimmer in

    der Altstadt, in welcher ausser Lisbeth und mir nur Lisbeths Bett wohnte. Sie arbeitete,

    wenn ich mich richtig erinnere, in einem kleinen Warengeschft, gerade um die Ecke.

    Nun, heute schme ich mich fast ein bisschen, dass sie diejenige war, die die ganze

    Zeit arbeiten ging und dafr sorgte, dass Geld hereinkam und ich immer nur in

    unserem Zimmer hockte. Fr Lisbeth schien das jedoch nie ein Problem zu sein, siewar froh, wenn ich am Abend fr sie da war und sie mir ihre Probleme anvertrauen

    konnte.

    Dann kam der Zweite Weltkrieg. Whrenddem ich vom ersten auf dem Bauernhof nur

    wenig mitbekommen hatte, sprte man den zweiten in der Stadt umso mehr. Stndig

    lebten wir in Furcht davor, kein Essen mehr zu bekommen, denn dieses war rationiert

    worden. Und Lisbeth sorgte sich um ihre Stelle im Warenhaus, welches fast kein

    Geschft mehr mit Lebensmitteln machte.

    In dieser Zeit verstarb auch der alte Haudenschild. Fr Lisbeth war diese Zeit ein

    Albtraum und meine Trostfhigkeiten waren sehr begrenzt. Vor allem da ich den

    Alten, wenn ich ehrlich bin, nicht besonders gemocht hatte, was ich Lisbeth natrlichnicht erzhlt habe. Nun, die Zeit verging und mit ihr auch der Krieg. Lisbeth war

    dreiunddreissig, als die Russen Berlin einnahmen, was wir beide durch den Radio

    vernahmen. Den alten Bauernhof von Lisbeths Vater hatten wir lngst verkauft, was es

    uns am Tag danach ermglichte, in eine Wohnung zu ziehen. Dann kam Herbert der

    Uhrmacher. Herbert Stegmann war zwei Jahre lter als Lisbeth und 1947 heirateten die

    beiden und 1948 kam Peter zur Welt. Ich will euch nicht verschweigen, dass ich schon

    ein wenig eiferschtig auf Herbert war, doch mit Peter verstand ich michausgezeichnet. Wie schon der alte Haudenschild mir Lisbeth anvertraut hatte, vertraute

    Lisbeth mir Peter an. Peter war ein sehr neugieriges Kind und schon bald hatte er alle

    meine Geheimnisse herausgefunden.

  • 7/26/2019 Der Schrank von 1912

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    Es kommt mir vor als wre es gestern gewesen, als mir Lisbeth schliesslich die alte,

    silberne Erbuhr von Herbert anvertraute. Es war am Tag nach dessen Tod im

    September 93. Ab diesem Tag nahmen die geistigen Fhigkeiten von Lisbeth nach und

    nach ab. Zuerst nur ganz langsam, dann jedoch immer schneller. Ab, ach mein

    Gedchtnis, 1996 oder so wurde es von Tag zu Tag schlimmer, sodass Peterveranlasste, dass seine Mutter in ein Altersheim, an dessen Namen ich mich in Gottes

    Namen nicht mehr erinnern kann, verlegt wurde. Lisbeth war jedoch

    geistesgegenwrtig genug um mich mitzunehmen, doch es wurde trotzdem immer

    schlimmer.

    Am fnfundzwanzigsten Mai 2001 schlief sie, bereits schwer dement, friedlich in

    ihrem Bett fr immer ein.

    Seit diesem Tag stehe ich nun hier in diesem Altersheimflur, wo alle diese altenHeimbewohner hin und her laufen. Herberts Erbuhr besitze ich immer noch. Wie? Ihr

    fragt euch, was es mit dem Schrank auf sich hat? Nun, der Schrank bin ich.